Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 03.12.1996

OVG NRW (erker, aufschiebende wirkung, 1995, zahl, wirkung, beschwerde, stadt, zweck, bezug, verwaltungsgericht)

Oberverwaltungsgericht NRW, 7 B 2771/96
Datum:
03.12.1996
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
7 B 2771/96
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 2 L 2020/96
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,-- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die zulässige Beschwerde mit dem sinngemäßen Begehren,
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den angefochtenen Beschluß zu ändern und die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs der Antragstellerin gegen das mit Baugenehmigung vom 7. Juni 1996
genehmigte Bauvorhaben der Beigeladenen auf dem Grundstück Gemarkung M. , Flur
24, Flurstücke 515 und 183 (C. Weg 181 bis 183 in L. ) anzuordnen und den
Antragsgegner zu verpflichten, die Bauarbeiten bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen
Entscheidung über den Widerspruch stillzulegen,
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ist unbegründet.
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Der zulässige Antrag ist unbegründet.
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Das Vorhaben der Beigeladenen verstößt nicht gegen nachbarschützende Vorschriften
des Bauplanungsrechts. Zwar teilt der Senat die Auffassung des Verwaltungsgerichts,
daß das Vorhaben der Beigeladenen über drei Vollgeschosse verfügen dürfte und damit
mit den Festsetzungen des Bebauungsplanes 60450/03 der Stadt L. zur zulässigen
Vollgeschoßzahl nicht übereinstimmt. Ungeachtet der Frage, ob sich das Dachgeschoß
schon deshalb als Vollgeschoß darstellt, weil Erker und Treppenhaus in die
maßgebende Grundfläche einzuberechnen sein könnten, dürfte die
Geschoßflächenberechnung der Beigeladenen deshalb fehlerhaft sein, weil sie die nicht
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überdachten Austrittsflächen vor den Terrassentüren zwar der maßgebenden
Grundfläche, nicht aber der Fläche zugerechnet haben, auf der das Mindesthöhenmaß
von 2,30 m erreicht wird (vgl. § 2 Abs. 5 Satz 3 BauO NW 84/95). Hierauf kommt es im
Ergebnis jedoch deshalb nicht an, weil die Festsetzungen des Bebauungsplanes
60450/03 zur Zahl der zulässigen Vollgeschosse sowie der Geschoßflächenzahl keine
nachbarschützende Wirkung haben.
Aus Bundesrecht läßt sich die nachbarschützende Wirkung der Festsetzungen zum
Maß der baulichen Nutzung nicht ableiten.
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Vgl. BVerwG, Beschluß vom 23. Juni 1995 - 4 B 52.95 -, DVBl. 1995, 1025 = BauR
1995, 823.
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Maßgebend ist vielmehr, ob die Gemeinde der Festsetzung nachbarschützende
Wirkung beimessen wollte.
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Vgl. BVerwG, Beschluß vom 19. Oktober 1995 - 4 B 215.95 -, BauR 1996, 82 = NVwZ
1996, 888.
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Zur Bestimmung des Regelungswillens der Gemeinde sind Sinn und Zweck der
Festsetzung und der ihr zugrundeliegenden Ermächtigungsnorm zu berücksichtigen und
ggfs. auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift heranzuziehen, soweit sich der
Wille des historischen Normgebers ermitteln läßt, die Interessen Dritter zu schützen.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 1986 - 4 C 8.84 -, BRS 46 Nr. 173.
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Dem Bebauungsplan lassen sich keine Anhaltspunkte für die Absicht des Rates der
Stadt L. entnehmen, den in Rede stehenden Festsetzungen zur Vollgeschoßzahl und
zur Geschoßflächenzahl nachbarschützende Wirkung beizumessen, und zwar auch
nicht für die an das Bebauungsplangebiet angrenzenden Grundstücke. Diese
Grundstücke waren nach dem Beschwerdevorbringen eingeschossig mit "äußerst
geringer GRZ und GFZ" bebaut. Diese Bauweise hat der Plangeber offensichtlich nicht
aufgegriffen. Vielmehr hat er durch die Festsetzungen zur Geschoßzahl,
Geschoßflächenzahl und durch Baugrenzen bestimmte überbaubare
Grundstücksflächen die Bebauung auch mit Hausgruppen bis zu 50 m ermöglicht und
wollte damit eine deutlich dichtere Wohnbebauung erreichen als dies in der Umgebung
des Bebauungsplanbereichs aber auch am Rande des Bebauungsplanbereichs der Fall
war.
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Die Bebauungsplanbegründung bestätigt, daß den Bebauungsplanfestsetzungen zur
Geschoßflächenzahl und zur Zahl zulässiger Vollgeschosse keine nachbarschützende
Wirkung zukommen sollte, denn die Grundstücke sollten lediglich unter
"Berücksichtigung" der angrenzenden Bebauung einer baulichen Nutzung zugeführt
werden. Anhaltspunkte, daß der Plangeber die vorhandene Bebauung nicht nur
berücksichtigen wollte, sondern den Nachbarn auch einen Anspruch auf Beachtung
bestimmter Nutzungsmaße gewähren wollte, fehlen. Vielmehr war es "Ziel (der
Planung), die noch unbebauten Wohnbaureserven soweit wie möglich dem
Eigenheimbau zuzuführen", und zwar unter Berücksichtigung auch der Möglichkeit
"Hausgruppen mit einer Länge von höchstens 50 m" zuzulassen. Demnach sollte
gegenüber der vorhandenen Bebauung eine deutliche Verdichtung erreicht werden, die
(nur) "aus städtebaulich architektonischen Gründen" in sich gestaffelt werden sollte, um
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eine Auflockerung des Straßenbildes zu erzielen. Die Bebauungsplanbegründung
verdeutlicht damit ein in sich geschlossenes Plankonzept, das zur umliegenden
Bebauung keinen weiteren Bezug hat, als dieser im Hinblick auf die Anforderungen
sachgerechter Abwägung, die die vorhandene Bebauung selbstverständlich zu
"berücksichtigen" hat, ohnehin geboten ist.
Den Planaufstellungsunterlagen läßt sich über den dargestellten Inhalt des
Bebauungsplanes und seine Begründung hinaus die Absicht des Rates der Stadt L.
nicht entnehmen, den Festsetzungen zur Vollgeschoßzahl und zur Geschoßflächenzahl
nachbarschützende Wirkung beizumessen. Die Bebauung ist gerade nicht, wie dies
dem das Bebauungsplanverfahren einleitenden Antrag der CDU-Fraktion vom 29. April
1977 noch als Planungsvorstellung zugrundelag, der Nachbarschaft "angepaßt"
worden. Auch belegt das Verfahren, daß die Nachbarbebauung zwar "berücksichtigt"
wurde, darüber hinaus aber keinen maßgebenden Einfluß auf das
Bebauungsplankonzept hatte. Die mit der Beschwerde zitierte Stellungnahme der
Verwaltung im Rahmen der Bürgeranhörung am 17. Dezember 1979 führt dann auch
nicht nur aus, daß die Geschoßflächenzahl unter Berücksichtigung der umliegenden
Bebauung bewußt nicht höher angesetzt worden sei. Vielmehr heißt es dort weiter, daß
"Verdichtung bzw. Auflockerung der Bebauung... beim jetzigen Planungsstand... noch
möglich (sei)."
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Daß die Abweichung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes über die zulässige
Vollgeschoßzahl und die Geschoßflächenzahl der Antragstellerin gegenüber nicht
rücksichtslos ist, was bauplanungsrechtlich zu ihren Gunsten von Bedeutung sein
könnte, hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluß, der von der
Beschwerde insoweit nicht in Frage gestellt wird und auf den der Senat deshalb zur
Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt, zutreffend ausgeführt.
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Das Bauvorhaben führt nicht zu einer Verletzung von die Antragstellerin schützenden
Vorschriften des Bauordnungsrechts. Dies hat das Verwaltungsgericht in dem
angefochtenen Beschluß, auf den der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen
Bezug nimmt, zutreffend ausgeführt. Zum Beschwerdevorbringen ist anzumerken, daß
die Berechnung der zur östlichen Nachbargrenze zur Verfügung stehenden
Abstandfläche nicht zum Nachteil der Antragstellerin fehlerhaft ist. Die in der von der
Antragstellerin zutreffend zitierten Entscheidung des 10. Senats,
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vgl. Beschluß vom 31. Januar 1994 - 10 B 1414/93 -, BauR 1994, 752,
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vertretenen Auffassung zur Berechnung der nach § 6 Abs. 4 Satz 4 Nrn. 1 und 2 BauO
NW 1984/1995 maßgebenden Giebelhöhe im Falle eines Krüppelwalmdachs wird vom
Senat geteilt.
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Beschluß vom 23. November 1995 - 7 B 2752/95 -.
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Der an der Ostseite des Vorhabens der Beigeladenen vorgesehene Erker verringert das
zur Verfügung stehende Abstandmaß nicht, da er nach § 6 Abs. 7 BauO NW 1984/1995
bei der Bemessung außer Betracht bleibt.
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Ein Erker ist ein aus der Gebäudewand vorspringender und nicht aus dem Boden
aufsteigender Vorbau, der der Verbesserung des Ausblicks und der
Belichtungsverhältnisse sowie der Fassadengestaltung dient.
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Vgl. OVG NW, Beschluß vom 29. November 1985 - 7 B 2402/85 -, BRS 44 Nr. 101;
Beschluß vom 27. Juni 1995 - 7 B 1413/95 -.
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Der Erker an der Ostseite steigt nicht aus dem Boden auf. Entgegen der Darlegung der
Antragstellerin ergibt sich aus der genehmigten Bauvorlage, Ostansicht, daß der Erker
einen Abstand von 0,90 m zum Erdboden einhalten muß. Dies hat der Antragsgegner
durch Grünvermerk ausdrücklich gekennzeichnet.
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§ 6 Abs. 7 BauO NW bevorzugt Erker, weil sie wie die übrigen dort beispielhaft
genannten Bauteile - im Verhältnis zum übrigen Baukörper - die durch die
Abstandflächenregelung geschützten Belange typischerweise allenfalls geringfügig
beeinträchtigen. Die Privilegierung wird durch die Maßangaben des § 6 Abs. 7 BauO
NW begrenzt. Dabei fällt auf, daß - anders als bei Dachgauben und Dachaufbauten -
eine an der Gebäudewand orientierte Begrenzung der Gesamtbreite fehlt. Dessen
ungeachtet mag es aber vortretende Bauteile geben, die schon wegen der von ihnen in
Anspruch genommenen Wandbreite nicht mehr als Erker anzusprechen sind und
deshalb nicht an der von § 6 Abs. 7 BauO NW gewollten Privilegierung teilhaben.
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Davon kann im vorliegenden Fall jedoch nicht ausgegangen werden. Während nämlich
die Breite der gesamten östlichen Giebelwand ohne den Erker 14,25 m beträgt, ist der
zugelassene Erker lediglich 4,33 m breit.
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Auch in funktionaler Hinsicht kann gegen die Privilegierung dieses Bauteils nichts
eingewandt werden. Der Senat verneint die Anwendbarkeit des § 6 Abs. 7 BauO NW
unter diesem Gesichtspunkt, wenn die Abstandflächen durch einen Vorbau in Anspruch
genommen werden, um dadurch erst einen entsprechend seiner Zweckbestimmung
noch nutzbaren Raum zu schaffen. In einem derartigen Fall dient der Vorbau
ausschließlich dem Zweck, weitere Wohnfläche zu gewinnen, und nicht mehr dem - vom
Gesetzgeber gebilligten - Zweck einer Verbesserung des Ausblicks, der Belichtung und
der Fassadengestaltung.
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Vgl. OVG NW, Beschluß vom 29. November 1985 - 7 B 2402/85 - a.a.O.
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Vorliegend kann jedoch davon nicht die Rede sein. Das Erkerzimmer (Wohnzimmer) hat
auch ohne die zusätzliche Wohnfläche, die durch den Vorbau in der Abstandfläche
geschaffen worden ist, mit mehr als 25 qm eine Größe, die seiner Zweckbestimmung
genügt; der Erker mit einem Zugewinn von nicht einmal 2 qm besitzt demgegenüber
eine deutlich untergeordnete Funktion. Darüber hinaus ist in die Bewertung
einzustellen, daß § 6 Abs. 7 BauO NW Erker privilegiert, soweit sie nicht mehr als 1,5 m
vortreten, was hier eingehalten ist (Vortritt um lediglich 0,50 m im Bereich der östlichen
Grundstücksfläche). Bei nicht unüblichen Breiten solcher Vorbauten zwischen 2 m und 3
m sind je nach Außenmauerwerk aufgrund des zugelassenen Vortritts vor die Wand
Wohnflächenzugewinne zwischen 2 qm und 4 qm praktisch vorgegeben und mithin vom
Gesetzgeber als in der Abstandfläche für zumutbar erachtet worden. Ferner besitzt der
vortretende Bauteil seinen äußeren Dimensionen und seiner Funktion nach gegenüber
dem eigentlichen Baukörper eine deutlich untergeordnete Bedeutung. Er tritt nur in
geringfügigem Maß vor die Gebäudeaußenwand vor und ist auch im Verhältnis zur
Gesamtbreite des Hauses zurückhaltend ausgebildet. Auch unter Berücksichtigung des
Umstandes, daß er sich über drei Stockwerke erstreckt, ist er bei wertender Betrachtung
damit insgesamt noch als gemäß § 6 Abs. 7 BauO NW privilegiert anzusehen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Streitwertentscheidung stützt sich auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.
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