Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 28.10.1998

OVG NRW (gutachten, amnesty international, politische verfolgung, türkei, 1995, bundesrepublik deutschland, auskunft, verfolgung, amt, berlin)

Oberverwaltungsgericht NRW, 25 A 1284/96.A
Datum:
28.10.1998
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
25. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
25 A 1284/96.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 18 K 3732/93.A
Tenor:
Auf die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten wird
das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 2. Februar 1996 geändert.
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens
in beiden Instanzen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die
Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand: Der 1975 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger islamisch-
alevitischen Glaubens. Er stammt aus N. (Provinz Kahramanmaras) und reiste nach
eigenen Angaben am 28. August 1992 in die Bundesrepublik Deutschland ein und war
dabei im Besitz eines am 22. Februar 1991 in Pazarcik ausgestellten türkischen
Personalausweises (Nüfus). Mit Schriftsatz seiner Prozeßbevollmächtigten vom 28.
August 1992 beantragte der Kläger Asyl und machte zur Begründung geltend, sein
Heimatdorf sei seit dem Militärputsch im September 1980 immer wieder von Militär
besetzt worden. Der Terror habe 9/10 der Dorfbevölkerung zum Verlassen des Dorfes
veranlaßt. Geblieben seien im wesentlichen die Alten und die Kinder. Sein Vater habe
das Dorf im Januar 1988, die Mutter sowie vier seiner Geschwister hätten es im
September 1991 verlassen und in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt. Da
der Vater politisch aktiv gewesen sei und sich oft außerhalb des Dorfes aufgehalten
habe, sei das Haus der Familie fast täglich durch die Gendarmerie durchsucht worden.
Bei einem Überfall des türkischen Militärs auf das Heimatdorf am 29. März 1991 sei
auch das Haus der Familie durchsucht worden. Die Mutter sei geschlagen worden, um
den Aufenthaltsort des Vaters zu erfahren. Ihn selbst, den Kläger, habe man auf dem
Feld gestellt und gezwungen, vom Traktor abzusteigen. Anschließend habe man ihn
brutal zusammengeschlagen, weil auch er auf die Frage nach dem Aufenthaltsort des
Vaters nicht habe antworten wollen. Seit seinem 16. Lebensjahr nehme er auch selbst
aktiv am Befreiungskampf teil. Anläßlich des Newroz- Festes in Pazarcik im März 1991
sei er von der Polizei gegriffen und wiederum zusammengeschlagen worden. Seine
politische Basis sehe er bei der TDKP. Mit etwa zehn politischen Freunden habe er sich
regelmäßig etwa einmal im Monat außerhalb des Dorfes in den Bergen getroffen, um
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hier Flugblätter und sonstige politische Schriften zu lesen und zu diskutieren. Dabei
habe es sich hauptsächlich um die Zeitschriften "Devrim Sesi" und "Denge Sores"
gehandelt. Am 2. Februar 1992 habe er aus Anlaß des 12. Gründungsjahres der Partei
Flugblätter verteilt und Plakate geklebt. Am 21. März 1992 habe er wiederum am
Newroz-Fest in Pazarcik teilgenommen. Dabei sei er festgenommen und vom 22. März
bis zum 4. April 1992 in der Wache in Pazarcik gefoltert worden. Man habe ihm dabei
seine eigenen Aktivitäten zum Vorwurf gemacht und ihn unter ständigen Schlägen und
Todesdrohung gefragt, wo sein Vater sei. Bei der persönlichen Anhörung durch das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) am 5. Oktober
1993 erklärte der Kläger, er habe bis zum 29. März 1991 im Heimatdorf gelebt und sei
dann zu seinen Großeltern nach Pazarcik gezogen. Dort habe er ein Jahr lang die
Mittelschule besucht und sei dann am 22. März 1992 wieder in das Heimatdorf
zurückgekehrt und dort bis zur Ausreise geblieben. Insgesamt habe er sechs
Geschwister, nur ein Bruder sei im Dorf geblieben; alle anderen Geschwister seien in
Deutschland, ebenso die Eltern. Der Vater habe das Dorf 1985 verlassen und sei im
Jahre 1988 nach Deutschland gereist. Am 29. März 1991 hätten ihn Soldaten mit dem
Traktor vom Feld geholt, ins Dorf gebracht und dabei nach dem Versteck seines Vaters
gefragt. Für den Fall, daß er das Versteck nicht nennen würde, habe man ihn mit dem
Tode bedroht. Danach sei er immer wieder wegen des Vaters vom Militär geschlagen
und unter Druck gesetzt worden. Dann habe er sich entschlossen, am Kampf
teilzunehmen. Er habe mit der TDKP sympathisiert und im Februar 1992 in Pazarcik
deren 12. Gründungsjahr gefeiert. Dabei sei er verhaftet und bis zum 4. April 1992 im
Gefängnis von Pazarcik festgehalten worden. Man habe ihn geschlagen und nach
seinem Vater befragt. Auf Nachfrage gab er an, insgesamt zweimal verhaftet worden zu
sein, und zwar am 29. März 1991 in der Wohnung und am 22. März 1992, dem 12.
Gründungstag der Partei, in Pazarcik. Am Newroz-Fest, das am 2. Februar gefeiert
werde, habe er niemals teilgenommen. Mit Bescheid vom 3. November 1993 lehnte das
Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter und auf Feststellung der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest,
daß Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, und forderte den Kläger
unter Abschiebungsandrohung zum Verlassen des Bundesgebietes innerhalb einer
Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung auf. Der Kläger hat am 11. November 1993
Klage erhoben und zugleich den Aussetzungsantrag 14 L 1566/93.A VG Köln gestellt,
der erfolglos blieb (Beschluß vom 29. Dezember 1993). Auf den am 21. Februar 1994
gestellten Abänderungsantrag 14 L 306/94.A ordnete das Verwaltungsgericht durch
Beschluß vom 22. Februar 1994 die aufschiebende Wirkung der Klage mit der
Begründung an, eine andere Kammer des Verwaltungsgerichts bejahe inzwischen eine
Gruppenverfolgung nicht assimilierter Kurden. Zur Begründung seiner Klage hat der
Kläger gerügt, seine Antwort auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Newroz-Festes sei
im Protokoll der Bundesamtsanhörung unzutreffend festgehalten. Ergänzend hat er sich
darauf berufen, seit November 1992 an Demonstrationen in Leichlingen, Köln, Bonn und
Solingen teilgenommen zu haben und als Kurde einer Gruppenverfolgung ausgesetzt
zu sein. Der Kläger hat beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des
Ablehnungsbescheides des Bundesamtes vom 3. November 1993 zu verpflichten, ihn
als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, daß bei ihm die Voraussetzungen
des § 51 Abs. 1 AuslG, hilfsweise Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt, die Klage abzuweisen. Mit dem
angefochtenen, dem Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten am 1. März 1996
zugestellten Urteil hat das Verwaltungsgericht der Klage im wesentlichen mit der
Begründung stattgegeben, nicht assimilierten Kurden aus sogenannten sensiblen
Gebieten drohe eine politische Verfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit aus
ethnischen Gründen. Sie könnten nicht auf eine Fluchtalternative in anderen
Landesteilen verwiesen werden. Auf den am 8. März 1996 gestellten Zulassungsantrag
des Bundesbeauftragten hat der Senat die Berufung wegen Abweichung von der
Senatsrechtsprechung zur Gruppenverfolgung der Kurden zugelassen. Der
Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beantragt, das Urteil des
Verwaltungsgerichts Köln vom 2. Februar 1996 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Wegen der weiteren Einzelheiten
des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten dieses
Verfahrens und der Verfahren 15 K 12179/89, 15 K 107/92.A, 1 K 1127/93.A, 18 K
898/95.A, 18 K 1071/95.A, 18 K 1399/95.A und 18 L 409/96.A VG Köln betreffend die
Eltern und Geschwister des Klägers, der Verfahren 14 L 1566/93.A und 14 L 306/94.A
VG Köln betreffend den Kläger sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der
Beklagten (8 Hefte) und des Oberkreisdirektors des Rheinisch-Bergischen Kreises (1
Heft). Entscheidungsgründe: Die vom Senat zugelassene und auch im übrigen
zulässige Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist begründet. Die
zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 3. November
1993 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz
1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). A. Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art.
16 a Abs. 1 GG Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter
gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG. Dieser Anspruch ist zwar nicht schon durch die
Drittstaatenregelung von vornherein ausgeschlossen (I., S. 6). Dem Kläger steht jedoch
der Asylanspruch nicht zu, weil er nicht politisch Verfolgter im Sinn dieser Vorschrift ist
(II., S. 6). Er hat das Land, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unverfolgt verlassen
(1., S. 7), und auch nach seiner Ausreise sind keine Umstände eingetreten, die aus
heutiger Sicht die Annahme drohender politischer Verfolgung im Rückkehrfall
rechtfertigen: Der Kläger hat wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit eine
politische Verfolgung nicht zu befürchten (2., S. 9) und verfügt unabhängig davon - bei
unterstellter volkszugehörigkeitsbedingter Verfolgung - über eine inländische
Fluchtalternative in der Westtürkei (3., S. 39). Nicht über eine inländische
Fluchtalternative in der Westtürkei verfügen lediglich vorbelastete Personen (4., S. 74).
Politische Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Aleviten
findet nicht statt (5., S. 81). Dem Kläger droht ferner politische Verfolgung weder wegen
seiner exilpolitischen Aktivitäten (6., S. 83) noch im Zusammenhang mit der etwa
bevorstehenden Ableistung seines Militärdienstes (7., S. 107) noch unter dem
Gesichtspunkt der Sippenhaft (8., S. 114). Schließlich hat er als abgelehnter
Asylbewerber auch im übrigen bei der Rückkehr in die Türkei nicht mit asylerheblichen
Maßnahmen zu rechnen (9., S. 129). I. Drittstaatenregelung Der Anspruch auf
Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG ist im Fall des Klägers
nicht schon durch die Drittstaatenregelung des Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung
mit § 26 a Abs. 1 AsylVfG von vornherein ausgeschlossen. Diese Bestimmungen finden
auf den Kläger, der am 28. August 1992, also vor deren Inkrafttreten am 30. Juni 1993/1.
Juli 1993 auf dem Landweg in das Bundesgebiet eingereist ist, noch keine Anwendung.
Später eingereisten Asylbewerbern hingegen, die behaupten, nicht durch einen
sicheren Drittstaat, sondern auf dem Luftweg in das Bundesgebiet eingereist zu sein,
obliegt der volle Nachweis für diese Behauptung. Die in der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts für den Asylprozeß entwickelte Nachweiserleichterung für
Vorgänge im Verfolgerland ist in diesem Zusammenhang nicht anzuwenden.
Senatsbeschluß vom 13. Januar 1998 - 25 A 5687/97.A -, AuAS 1998, 76; im Ergebnis
ebenso Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (BayVGH), Beschluß vom 3. September
1996 - 19 AA 96.33922 -; Beschluß vom 19. Februar 1998 - 27 B 96.34202 -, InfAuslR
1998, 248 = BayVBl. 1998, 370; Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (OVG RP),
Beschluß vom 20. August 1996 - 7 A 11994/96.OVG -. Der volle Beweis für eine
Luftwegeinreise ist regelmäßig als erbracht anzusehen, wenn das Bundesamt - wie es
ständiger Verwaltungspraxis entspricht - , aufgrund der Anhörung des Asylbewerbers
oder entsprechender Eintragungen in seinen Ausweisdokumenten eine Einreise des
Asylbewerbers über einen bestimmten Flughafen im Bundesgebiet in den Akten positiv
feststellt. In derartigen Fällen besteht für die Verwaltungsgerichte grundsätzlich kein
Anlaß, die Einreise auf dem Luftweg in Zweifel zu ziehen und den Asylbewerber etwa
aufzufordern, seinen diesbezüglichen Mitwirkungsobliegenheiten nach den §§ 15 Abs. 2
Nr. 5, Abs. 3 Nrn. 3 und 4, 25 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG weitergehend nachzukommen.
Ebensowenig sind die Verwaltungsgerichte in derartigen Fällen gehalten, das
Nichteingreifen der Drittstaatenregelung besonders zu begründen. II. Politische
Verfolgung im Sinn des Art. 16 a Abs. 1 GG Der Kläger ist nicht politisch Verfolgter im
Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG. Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem
einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse
Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein
prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der
übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Vgl. BVerfG,
Beschluß vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (333 ff.). Nach dem
durch den Zufluchtgedanken geprägten normativen Leitbild des Asylgrundrechts gelten
für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16 a Abs.
1 GG ist, unterschiedliche Maßstäbe je nach dem, ob er seinen Heimatstaat auf der
Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat
oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist. Im
erstgenannten Fall ist Asyl zu gewähren, wenn der Asylsuchende vor erneuter
Verfolgung nicht hinreichend sicher sein kann. Hat der Asylsuchende sein Heimatland
jedoch unverfolgt verlassen, so kann sein Asylanerkennungsbegehren nach Art. 16 a
Abs. 1 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen
Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht. Vgl. BVerfG, Beschluß vom 2. Juli
1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341 (360); Beschluß vom 10. Juli 1989 - 2 BvR
502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (344 ff.); BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -,
InfAuslR 1995, 24 = NVwZ 1995, 391 = DVBl. 1995, 565. 1. Vorfluchtgründe Bei
Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall der gewöhnliche
Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Denn der
Kläger ist im Juli 1992 nicht als politisch Verfolgter aus der Türkei ausgereist. Er war vor
seiner Ausreise aus der Türkei von politischer Verfolgung weder betroffen noch bedroht.
a) Keine individuellen Vorfluchtgründe Von individuell gegen seine Person gerichteten
Rechtsverletzungen war der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise weder betroffen noch
bedroht. Nach dem vorliegenden Akteninhalt steht für den Senat fest, daß das
Vorfluchtvorbringen des Klägers insgesamt unglaubhaft ist und daß er sich in der Türkei
auf politischem Gebiet nicht betätigt hat. Dies belegen sein gänzlich unsubstantiiert und
detailarm gebliebener Vortrag zum Ablauf der beiden von ihm behaupteten
Verhaftungen sowie - unabhängig davon - seine widersprüchlichen Angaben zur
Bedeutung und zum Zeitpunkt des Newroz-Festes und zu seiner Teilnahme an den
Newroz-Festen 1991 und 1992 in Pazarcik sowie zu Anlaß, Zeitpunkt und Dauer der für
das Frühjahr 1992 behaupteten Verhaftung. Auf diese Widersprüche hat bereits das
Bundesamt in seinem Ablehnungsbescheid vom 3. November 1993 (S. 4, dritter und
vierter Absatz) zutreffend hingewiesen. Auf diese Ausführungen nimmt der Senat Bezug
(§ 77 Abs. 2 AsylVfG) . Sie werden auch durch die Einwendungen, die der Kläger im
erstinstanzlichen Klageverfahren hiergegen erhoben hat, insbesondere das nicht näher
substantiierte Bestreiten seiner Protokollangaben zum Zeitpunkt des Newroz-Festes,
lediglich marginal zu entkräften versucht und deshalb im Ergebnis nicht erschüttert.
Ebensowenig vermögen die dargelegten Vortragsdefizite durch die Benennung der
Mutter des Klägers sowie des Nachbarn Zülfü Dündar als Zeugen ausgeglichen zu
werden. Vgl. zur Beweiserhebung bei unglaubhaftem Vortrag: BVerwG, Beschluß vom
26. Oktober 1989 - 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38; Beschluß vom 20. Juli 1998 - 9 B
10.98 -. b) Keine Gruppenverfolgung bei Ausreise Ferner war der Kläger im Zeitpunkt
seiner Ausreise keiner Verfolgung wegen kurdischer Volkszugehörigkeit ausgesetzt.
Daß der Kläger dem kurdischen Volk angehört, unterliegt keinen durchgreifenden
Zweifeln. Die Zuordnung eines türkischen Asylbewerbers zu dieser Volksgruppe setzt
im allgemeinen (vgl. zu den Ausnahmen unten S. 49) voraus, daß dieser nachweislich
die kurdische Sprache beherrscht oder aber aus einer ausschließlich von Kurden
bewohnten Provinz stammt. Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -, S. 10 - 19;
ferner: Amnesty International, Gutachten vom 21. August 1997 an VG Berlin, S. 9; Kaya,
Gutachten vom 11. März 1998 an VG Berlin hinsichtlich der Gemeinde Ayran im Kreis
Birecik (Provinz Sanliurfa); Gutachten vom 20. Mai 1998 an VG Hamburg hinsichtlich
des Dorfs Yeniköy im Kreis Karakocan (Provinz Elazig); Gutachten vom 10. Juni 1998
an VG Bremen hinsichtlich der Provinz Bitlis; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an
VG Berlin, S. 82 f. Der Kläger ist hiernach kurdischer Abstammung, obwohl er sich in
allen Stationen des Asylverfahrens der türkischen Sprache bedient und in der
mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht angegeben hat, die kurdische
Sprache nur "einigermaßen" zu beherrschen. Das alles rechtfertigt nicht den Schluß auf
eine türkische Volkszugehörigkeit, weil er aus dem ausschließlich durch alevitische
Kurden besiedelten Dorf N. (Kücük Üngüt) in der Provinz Kahramanmaras stammt, das
früher zum Kreis Pazarcik gehörte und 1985 in den Kreis Cagliyancerit eingemeindet
wurde. Aydin, Gutachten vom 4. Juni 1998 an VG Aachen, S. 4, 9. Im übrigen erscheint
es plausibel und für die Bejahung der kurdischen Abstammung hinreichend, daß der
Kläger die kurdische Sprache zumindest als Kind erlernt hat und daher auch heute noch
zumindest in Ansätzen beherrscht. Denn sein Vater hat sich bei der Anhörung durch das
Bundesamt in dessen Asylverfahren am 23. August 1988 der kurdischen Sprache
bedient. Eine Verfolgung wegen kurdischer Volkszugehörigkeit fand jedoch zur Zeit der
Ausreise des Klägers aus der Türkei nicht statt. Insoweit folgt der Senat den
Feststellungen in dem ins Verfahren eingeführten Urteil des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs (HessVGH) vom 23. November 1992 - 12 UE 2590/89 - (S. 33
ff.). 2. Keine Gruppenverfolgung bei Rückkehr Auch nach der Ausreise des Klägers aus
der Türkei sind keine Umstände glaubhaft gemacht, die nunmehr die Annahme
rechtfertigen, ihm drohe im Rückkehrfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische
Verfolgung. Insbesondere hat der Kläger zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine politische
Verfolgung zu befürchten, die seiner kurdischen Volkszugehörigkeit gilt. Die Gefahr
eigener politischer Verfolgung des Asylbewerbers kann sich auch aus gegen Dritte
gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen
Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer
nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Vgl. BVerfG,
Beschluß vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216 (231) = DVBl.
1991, 531 = NVwZ 1991, 768. Voraussetzung für die Annahme einer
Gruppenverfolgung - wie für jede politische Verfolgung - ist, daß die festgestellten
asylrechtsrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an
das die verfolgte Gruppe kennzeichnende asylerhebliche Merkmal, hier also die
Volkszugehörigkeit, treffen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es also darum, ob die
zu beurteilenden Verfolgungsmaßnahmen türkischer Stellen sich gegen die kurdische
Volkszugehörigkeit oder gegen eine tatsächliche oder vermeintliche separatistische
Überzeugung des Betroffenen richten. Während das Merkmal "Volkszugehörigkeit"
typischerweise zur Gruppenverfolgung in Beziehung gesetzt wird, kennzeichnet das
Merkmal "politische Überzeugung" eher den Tatbestand einer Individualverfolgung.
Unter bestimmten Umständen können jedoch beide Merkmale mit dem Ergebnis einer
festzustellenden Gruppenverfolgung zusammenfließen. Wenn der Staat nämlich einer
ganzen Bevölkerungsgruppe pauschal zumindest eine Nähe zu separatistischen
Aktivitäten oder gar generell deren Unterstützung unterstellt, so stellt sich die Frage, ob
die Verfolgungsmaßnahmen - objektiv gesehen - nicht auch auf die Volkszugehörigkeit
gerichtet sind und an diese anknüpfen. Der pauschale Verdacht separatistischer
Aktivitäten einer ganzen Volksgruppe kann auf die ganze Volksgruppe durchschlagen
und eine "Separatismus-Verfolgung" je nach den Umständen des Falles als "ethnische"
Gruppenverfolgung erscheinen lassen. Vgl. BVerfG, Beschluß vom 9. Dezember 1993 -
2 BvR 1638/93 -, InfAuslR 1994, 105, 108; BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94
-, BVerwGE 96, 200 (205) = DVBl. 1994, 1409 = DÖV 1995, 26 = InfAuslR 1994, 424 =
NVwZ 1995, 175; Beschluß vom 7. Februar 1996 - 9 B 27.96 -. Die Annahme einer
Gruppenverfolgung setzt darüber hinaus eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Vgl.
BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (204) = DVBl. 1994,
1409 = DÖV 1995, 26 = InfAuslR 1994, 424 = NVwZ 1995, 175; Urteil vom 30. April
1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (125) = DVBl. 1996, 1257 = NVwZ 1996, 1110.
Die Prüfung einer ethnischen Gruppenverfolgung erfordert zunächst, daß das
Verfolgungsgeschehen möglichst umfassend und erschöpfend festgestellt und darauf
untersucht wird, welche asylrelevanten politischen Verfolgungsmaßnahmen -
differenziert nach Eingriffen in bestimmte asylrechtlich geschützte Rechtsgüter wie
Leben oder körperliche Unversehrtheit, nach Intensität und Schwere sowie jeweils nach
Ort, Zeit und Häufigkeit der Eingriffe - vorliegen. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C
158.94 -, BVerwGE 96, 200 (208) = DVBl. 1994, 1409 = DÖV 1995, 26 = InfAuslR 1994,
424 = NVwZ 1995, 175. Ausgehend von diesen Maßstäben ist zunächst einmal das für
eine Gruppenverfolgung der Kurden in Betracht zu ziehende Verfolgungsgebiet näher
einzugrenzen (a). Sodann ist festzustellen, in welcher Art und in welcher Häufigkeit die
kurdische Bevölkerung dort Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist (b). Die in dieser
Weise festgestellte Verfolgung erweist sich als politisch, denn sie knüpft an
asylerhebliche Merkmale der Betroffenen an, allerdings nicht an die kurdische
Volkszugehörigkeit als solche, sondern an die mutmaßliche Sympathie der betroffenen
kurdischen Bewohner Ostanatoliens mit den Zielen der PKK (c). Unabhängig davon
weisen die genannten Verfolgungsmaßnahmen nicht die für eine Gruppenverfolgung
erforderliche Verfolgungsdichte auf (d). Aus der übrigen obergerichtlichen
Rechtsprechung ergeben sich keine Anhaltspunkte, die abweichend von den
vorstehenden Feststellungen die Annahme einer Gruppenverfolgung der Kurden in
Ostanatolien rechtfertigen (e). Den in Ostanatolien festgestellten Maßnahmen der
Individualverfolgung ist die Asylerheblichkeit auch nicht aus anderen Gründen
abzusprechen (f). a) Eingrenzung des Verfolgungsgebiets Für die Kurden in der Türkei
ist von vornherein lediglich eine regional begrenzte Gruppenverfolgung in bestimmten
Provinzen im Südosten in Betracht zu ziehen. Regional begrenzte Gruppenverfolgung
liegt vor, wenn das festgestellte Verfolgungsgeschehen objektiv den Schluß darauf
zuläßt, daß der Verfolger die gesamte - durch unverfügbare Merkmale wie Rasse,
Ethnie oder Religion verbundene - Gruppe im Blick hat, diese aber beispielsweise aus
Gründen politischer Opportunität - als sog. mehrgesichtiger Staat - nicht oder jedenfalls
derzeit nicht landesweit verfolgt. Kriterium für die Abgrenzung der Gruppe, auf die die
Verfolgung zielt und die darum von der Verfolgung betroffen ist, auch wenn die
Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung für die gesamte Gruppe noch nicht erfüllt
sind, ist das tatsächliche Verfolgungsgeschehen. Dieses Verfolgungsgeschehen ist
nicht immer so eindeutig, daß sich Art und Zusammensetzung der
verfolgungsbetroffenen Gruppe ohne weiteres anhand der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Ethnie oder Religion bestimmen lassen. In vielen Fällen begeht der
Verfolger Übergriffe nur in bestimmten Teilen des Staatsgebietes, während es anderswo
diese Übergriffe nicht gibt. BVerwG, Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 171.95 -, BVerwGE
101, 134 (141 f.); Urteil vom 9. September 1997 - 9 C 43.96 -, DVBl. 1998, 274. Nach
diesem Maßstab zieht der Senat als Verfolgungsgebiet einer etwaigen
Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei diejenigen 22 im Südosten des Landes
gelegenen Provinzen in Betracht, in denen entweder gegenwärtig noch der Notstand gilt
(Diyarbakir, Hakkari, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van), in denen das Notstandsrecht vor
kurzem aufgehoben wurde (Batman, Bingöl, Bitlis, Mardin) oder die ebenfalls zum
traditionellen Siedlungsgebiet der Kurden in der Türkei zählen, überwiegend oder zum
erheblichen Teil von Kurden besiedelt sind und von kurdischen Intellektuellen und
Journalisten als "kurdische Provinzen" bezeichnet werden (Adiyaman, Agri, Elazig,
Erzincan, Erzurum, Gaziantep, Igdir, Kahramanmaras, Kars, Malatya, Mus, Sanliurfa).
Das aus diesen 22 Provinzen bestehende Gebiet soll im folgenden als Ostanatolien
bezeichnet werden. Vgl. dazu Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -, S. 11 ff.
mit entsprechenden Nachweisen; ferner: Kaya, Gutachten vom 17. März 1997 an VG
Stuttgart, S. 2; Gutachten vom 11. Juli 1997 an VG Hamburg, S. 2; teilweise
abweichend: Kaya, Gutachten vom 14. Oktober 1997 an das Oberverwaltungsgericht
Mecklenburg-Vorpommern (OVG MV), S. 1; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997
an OVG MV, S. 1. Das Notstandsgebiet besteht in der vorstehend beschriebenen
Ausdehnung seit dem 6. Oktober 1997. Mit Wirkung von diesem Tag hat das türkische
Parlament das Notstandsrecht in den Provinzen Batman, Bingöl und Bitlis auf Initiative
der Regierung Yilmaz aufgehoben, für die Provinz Mardin war es bereits zum 28.
November 1996 aufgehoben worden. Das Notstandsrecht wird vom türkischen
Parlament gemäß Art. 120 Abs. 2 der Türkischen Verfassung wegen "Ausweitung von
Gewaltakten und bei ernsthafter Störung der öffentlichen Ordnung" für höchstens sechs
Monate ausgerufen und in entsprechenden Abständen verlängert. Vgl. Auswärtiges Amt,
Auskunft vom 27. Juni 1997 an VG Regensburg; Lagebericht vom 20. November 1997,
S. 4; Lagebericht vom 31. März 1998, S. 4; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 6;
Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1996 an das Schleswig-Holsteinische
Oberverwaltungsgericht (SchlHOVG), S. 2 (Fn. 1); Gutachten vom 17. Februar 1997 an
VG Hamburg, S. 27. Die Beschränkung des Verfolgungsgebiets auf Ostanatolien
rechtfertigt sich aus der unterschiedlichen Bedrohungslage, in der sich die kurdische
Bevölkerung dort einerseits und diejenige in den übrigen Teilen der Türkei andererseits
befindet. Es handelt sich hierbei um diejenigen Provinzen, in denen - in
unterschiedlichem Maße - die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK
(Partiya Karkeren Kurdistan/Partei der Arbeiter Kurdistans) und den türkischen
Sicherheitskräften stattfinden. Im wesentlichen auf dieses Gebiet erstrecken sich vor
allem auch die Zwangsräumungen von Dörfern und Weilern mit den damit
einhergehenden massiven Eingriffen in die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit
sowie in die wirtschaftliche Existenz der Dorfbewohner, die, soweit in der
obergerichtlichen Rechtsprechung eine regionale Gruppenverfolgung der Kurden
angenommen wird, den maßgeblichen Grund für diese Annahme abgeben. HessVGH,
Urteil vom 24. November 1997 - 12 UE 725/94 -, S. 48. Vorrangig betroffen von diesen
Zwangsräumungen sind und waren diejenigen Provinzen, in denen der Notstand gilt
und galt. Immerhin enthalten Art. 9 a, 11 des Notstandsgesetzes die Ermächtigung zur
"Evakuierung bzw. Umsiedlung der Einwohner bestimmter Ortschaften". Vgl.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31. März 1998, S. 4; Lagebericht vom 18. September
1998, S. 6 . Daraus allerdings zu schließen, die Räumungsaktionen der
Sicherheitskräfte seien auf das Notstandsgebiet begrenzt, wäre verfehlt. Vielmehr haben
Zwangsräumungen nach dem Bericht der parlamentarischen
Untersuchungskommission zur Erforschung der Dorfräumungen in Ost- und
Südostanatolien, der der türkischen Nationalversammlung am 14. Januar 1998
vorgelegt wurde, bisher in insgesamt 20 Provinzen Ostanatoliens stattgefunden.
Insbesondere auch die Randprovinzen Elazig und Mus sind davon betroffen, während
etwa für die Provinz Sanliurfa zuletzt für 1994 über derartige Maßnahmen berichtet wird.
Kommissionsbericht, Abschnitt 3.1. (S. 20); vgl. auch Amnesty International, Gutachten
vom 21. August 1997 an VG Berlin, S. 2; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. April 1997
an VG Berlin, S. 1; Kaya, Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 20 f., 36;
Gutachten vom 11. Juni 1997 an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH
BW), S. 7; Gutachten vom 11. Juli 1997 an VG Hamburg, S. 7 ff.; Oberdiek, Gutachten
vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 50 f.; Rumpf, Gutachten vom 20. August 1997 an
VG Hamburg, S. 12; Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 12 f. b)
Verfolgungshandlungen in Ostanatolien Im Ostanatolien kommt es neben den
militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und der PKK
auch zu zahlreichen Aktionen der Sicherheitskräfte gegen die kurdische
Zivilbevölkerung, die mit dem dort seit 1984 stattfindenden Guerillakampf
zusammenhängen. Die dabei häufig festzustellenden Eingriffe in Leib, Leben, Freiheit
und wirtschaftliche Existenz der Betroffenen sind ihrer Intensität nach asylerheblich. Der
Guerillakampf, den die PKK am 15. August 1984 mit Überfällen auf
Gendarmeriestationen in den Provinzen Siirt und Hakkari eröffnet hat, hat die Errichtung
eines unabhängigen Kurdenstaates zum Ziel. Er richtet sich hauptsächlich gegen die
Sicherheitskräfte und deren Einrichtungen, insbesondere gegen Gendarmeriestationen
und andere militärische Ziele, aber auch gegen sonstige staatliche Einrichtungen wie
Schulen und Gerichte. Die PKK geht rücksichtslos gegen diejenigen vor, die sich in
diesem Konflikt auf die Seite des Staates stellen. Opfer sind vor allem Dorfschützer und
deren Familien, ferner Sicherheitsbeamte, Staatsanwälte, Richter und Lehrer. Vgl.
Amnesty International, Gutachten vom 21. August 1997 an VG Berlin, S. 10;
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. November 1997, S. 6; Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 9; Kaya, Gutachten vom 29. August 1996 an VG Stuttgart, S. 3 f.;
Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 69; UNHCR,
Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 23. Seit 1994 sind die kriegerischen
Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der kurdischen
Guerilla in Ostanatolien zurückgegangen, wenngleich hier beachtliche regionale
Unterschiede festzustellen sind. So sind etwa die Provinzen Gaziantep und Sanliurfa
als relativ ruhig bekannt, weil sie von staatsloyalen Stämmen kontrolliert werden,
während es der PKK 1997 vor allem in der Provinz Tunceli gelungen ist, stärker Fuß zu
fassen. Kaya, Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 15; Oberdiek, Gutachten
vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 46 f.; Gutachten vom 4. Februar 1998 an VG
Hamburg, S. 8; Rumpf, Gutachten vom 20. August 1997 an VG Hamburg, S. 4;
Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 4 f.; Gutachten vom 29.
Dezember 1997 an VG Bremen, S. 6; Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S.
8. aa) Ländliche Gebiete (1) Durchsuchungsaktionen, Versammlungen auf dem
Dorfplatz (Razzien) In den ländlichen Regionen begegnen die türkischen
Sicherheitskräfte den Guerillaangriffen der PKK durch zahlreiche - zum Teil groß
angelegte - Durchsuchungsaktionen ("Razzien") in den Dörfern. Dabei wird zunächst
das Dorf umstellt, so daß es nicht mehr ohne weiteres verlassen oder betreten werden
kann. Sodann dringen die Sicherheitskräfte in Gruppen in die einzelnen Häuser ein und
holen die jeweiligen Bewohner heraus. Diese werden zumeist auf dem Dorfplatz,
manchmal auch in der Dorfschule oder in der Moschee, zusammengetrieben. Dort
müssen sie jeweils strammstehend oder mit dem Gesicht nach unten oder auf dem
Rücken liegend warten. Währenddessen werden ihre Häuser nach Angehörigen der
PKK- Guerilla durchsucht und dabei die Wände und die Fußböden aufgerissen. Der
Hausrat wird zerstört, Nahrungsmittelvorräte, Kleidung, Bettdecken, Lampen, Öfen usw.
werden vernichtet oder beschlagnahmt. Dasselbe geschieht mit Traktoren, Pferden,
Eseln, Maultieren und anderen Transportmitteln, die der Beförderung von Waffen,
Nahrung und Kleidung für die Guerilla dienen können. Zunehmend kommt es darüber
hinaus zur Beschlagnahme und Zerstörung von Satellitenempfangsanlagen, mit denen
der kurdische Sender MED-TV empfangen werden kann. Vgl. Amnesty International,
Gutachten vom 26. August 1997 an VG Chemnitz, S. 3; Aydin, Gutachten vom 7. Mai
1998 an VG Hamburg, S. 19 f.; Kaya, Gutachten vom 18. Juni 1996 an VG Sigmaringen,
S. 15; Gutachten vom 29. August 1996 an VG Stuttgart, S. 5; Gutachten vom 30. April
1997 an VG Berlin, S. 21 f., 27; Gutachten vom 16. Juni 1998 an VG Stuttgart, S. 10 ff.;
Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 44; Gutachten vom 4. Februar
1998 an VG Hamburg, S. 4. (2) Festnahmen, Folter im Polizeigewahrsam Die
vorbezeichneten Durchsuchungen sind von zahlreichen Festnahmen begleitet, von
denen Personen betroffen sind, die den Verdacht auf sich gelenkt haben, PKK-
Kämpfern Unterschlupf gewährt oder Nahrung, Kleidungsstücke oder Geld gegeben
oder für sie Kurierdienste geleistet zu haben. Derartige Unterstützungshandlungen für
die kurdische Guerilla sind nach Art. 169 TStGB ("Unterstützung einer bewaffneten
Bande") strafbar. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 4. Mai 1998 an VG Sigmaringen;
Kaya, Gutachten vom 25. Mai 1998 an VG Stuttgart, S. 4. Rumpf, Gutachten vom 29.
Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 48. Von derartigen Festnahmen ferner betroffen
sind Personen, die in die Verteilung verbotener Publikationsorgane, insbesondere
solcher der PKK einbezogen sind. Kaya, Gutachten vom 5. März 1997 an VG Hamburg,
S. 1 f. Häufig werden dabei nicht nur einzelne Personen aufgrund eines konkreten
Unterstützungsverdachts festgenommen, sondern es genügt oftmals die zufällige Nähe
eines Dorfes beispielsweise zu einer bewaffneten Auseinandersetzung der Guerilla mit
den Sicherheitskräften, um letztere zur Festnahme auch größerer Personengruppen
eines Dorfes, vorzugsweise der jungen Männer im wehrfähigen Alter, zu veranlassen.
Bis zu 50 Personen sind manchmal von derartigen Festnahmeaktionen betroffen.
Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 70 f. Vor allem in den ersten
Tagen des Polizeigewahrsams ist die Gefahr für den Inhaftierten, Opfer erheblicher
körperlicher Mißhandlungen bis hin zur Folter zu werden, sehr hoch, weil versucht wird,
neben der Informationsbeschaffung über dritte Personen ein Geständnis über die
eigenen Aktivitäten des Festgenommenen herbeizuführen; denn die Beweisführung
türkischer Sicherheitskräfte und Gerichte beruht in hohem Maß auf Geständnissen. Vgl.
Amnesty International, Gutachten vom 19. Februar 1998 an VG Hamburg, S. 2;
Gutachten vom 19. August 1998 an VG Frankfurt/Main, S. 3; Auswärtiges Amt, Auskunft
vom 21. Juli 1997 an VG Bremen, S. 4, 6; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 16;
Rumpf, Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 34 ff.; Gutachten vom 1.
Februar 1998 an VG Berlin, S. 55, 58. Foltermethoden sind unter anderem: Fußtritte und
Fausthiebe sowie Schläge mit Knüppeln und anderen Schlaginstrumenten,
"palästinensisches Hängen", d.h. stundenlanges Hängen an Hand- oder Fußgelenken
oder an auf dem Rücken zusammengebundenen Händen, Elektroschocks an sensiblen
Körperteilen und sexuelle Übergriffe. Es wird immer wieder von Todesopfern durch
Folter sowie über das Verschwindenlassen festgenommener Personen berichtet. Vgl.
Amnesty International, Gutachten vom 19. Februar 1998 an VG Hamburg, S. 2;
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. November 1997, S. 12; Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 15; Kaya, Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 31 ff.;
Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1997 an VG Stuttgart, S. 10 ff.; Rumpf,
Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 31 ff.; Gutachten vom 1.
Februar 1998 an VG Berlin, S. 47 ff.; Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S. 23.
Erleichtert wurde diese Vorgehensweise durch die - noch bis 1997 geltenden - langen
Verweilzeiten im Polizeigewahrsam ohne Haftbefehl und garantierten Anwaltszugang
(Incommunicadohaft). In Staatssicherheitssachen durfte die Polizeihaft bei
Gruppendelikten - diese betreffen die Mehrzahl der Fälle - 15 Tage und im
Notstandsgebiet 30 Tage dauern. Die in Staatssicherheitssachen zuständigen
Staatsanwaltschaften bei den Staatssicherheitsgerichten lehnten Anträge auf
Einschaltung eines Rechtsanwalts während des Ermittlungsverfahrens in der Regel mit
der Begründung ab, die Ermittlungen dürften nicht gefährdet werden. Vgl. Amnesty
International, Gutachten vom 19. Februar 1998 an VG Hamburg, S. 2; Auswärtiges Amt,
Lagebericht vom 18. September 1998, S. 15 f. Durch das am 12. März 1997 im Amtsblatt
veröffentlichte Gesetz Nr. 4229 ist die maximal zulässige Dauer des Polizeigewahrsams
verkürzt worden. In Staatssicherheitssachen darf die Polizeihaft nach der Neuregelung
nunmehr bei Gruppendelikten sieben Tage und im Notstandsgebiet maximal zehn Tage
dauern. Anwaltszugang ist in den ersten vier Tagen in Staatssicherheitssachen nicht
gesichert. Ein von der türkischen Regierung am 4. Dezember 1997 verabschiedeter
Menschenrechtserlaß bezieht sich nur auf Untersuchungshäftlinge, nicht jedoch auf
solche Personen im Polizeigewahrsam, gegen die noch kein Strafverfahren eingeleitet
wurde und die den weitaus überwiegenden Teil der dokumentierten Folterfälle
ausmachen. Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10. April 1997, S. 1, 11;
Lagebericht vom 31. März 1998, S. 14; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 16;
Amnesty International, Gutachten vom 19. Februar 1998 an VG Hamburg, S. 2;
Oberdiek, Gutachten vom 17. März 1997 an VG Ansbach, S. 15; Rumpf, Gutachten vom
1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 42. Durch die starke Verkürzung der Fristen ist die
Möglichkeit, Folterspuren zu vertuschen, zweifellos erschwert worden. Gleichwohl gilt
weiter die Einschätzung, daß vor allem in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams die
Gefahr für den Inhaftierten, Opfer erheblicher körperlicher Mißhandlungen zu werden,
sehr hoch ist. Denn es gibt auch aus der jüngsten Zeit nach wie vor zahlreiche Berichte
über menschenrechtswidrige Behandlung im Polizeigewahrsam. Der im Juli 1998
erschienene Jahresbericht 1997 der Türkischen Menschenrechtsstiftung (Türkiye Insan
Haklari Vakfi - TIHV) weist insgesamt 518 Fälle von Folter aus, die Mehrzahl davon,
nämlich 357 Fälle, soll sich auf Polizeiwachen ereignet haben. Regionaler Schwerpunkt
der Foltervorwürfe türkischer Menschenrechtsorganisationen ist neben den Großstädten
des Westens das Notstandsgebiet im Südosten. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 15; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 60 ff.;
vgl. auch Oberdiek, Gutachten vom 25. Juli 1997 an VG Berlin, S. 10. Skepsis
gegenüber einer durchgreifenden Verbesserung der Menschenrechtssituation in der
Türkei allein aufgrund der Fristverkürzung sind vor allem auch deshalb angebracht, weil
auch die bis 1997 geltenden längeren Verweilfristen im Polizeigewahrsam nicht selten
überschritten wurden. Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 70, 119.
Von "Unbekannten" verübte, offenbar politisch motivierte Morde, die von kurdennahen
Oppositionskreisen Geheimorganisationen ("Kontra-Guerilla", "Hisbollah") mit
Verbindungen zum Staatsapparat zugeschrieben werden und deren Opfer in erster Linie
kurdische Politiker und Journalisten waren, vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20.
November 1997, S. 6; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 8; Oberdiek, Gutachten
vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 63 ff., erlauben keine generelle Aussage zum
Schicksal der Bewohner Ostanatoliens. Gleichfalls um Einzelfälle handelt es sich bei
Personen, die nach ihrer Festnahme spurlos verschwunden sind und teilweise später
ermordet aufgefunden wurden. Vgl. Amnesty International, Gutachten vom 19. August
1998 an VG Frankfurt/Main, S. 7; Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin,
S. 2 ff.; Gutachten vom 20. Dezember 1997 an VG Stuttgart, S. 2 ff.; Taylan, Gutachten
vom 1. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 5. (3) Dorfschützerrekrutierung Sowohl bei den
Razzien auf dem Dorfplatz als auch bei Einzeldurchsuchungen als auch im Rahmen der
geschilderten Festnahmen werden die betroffenen Dorfbewohner unter Druck gesetzt,
sich als bewaffnete Dorfschützer gegen die Guerilla zur Verfügung zu stellen.
Dorfschützer gab es nach dem Gesetz Nr. 442 vom 18. März 1924 in geringer Zahl
schon immer in der ganzen Türkei. Darüber hinaus gilt nunmehr die durch Gesetz Nr.
3175 vom 26. März 1985 eingeführte und durch Gesetz Nr. 3612 vom 7. Februar 1990
abgeänderte Sonderregelung des Art. 74 Absätze 2 und 3 DorfG. Danach können in den
durch den Ministerrat zu bestimmenden Provinzen auf Vorschlag des Gouverneurs und
mit Genehmigung des Innenministeriums eine ausreichende Anzahl von
"vorübergehenden" Dorfschützern eingestellt, bewaffnet und aus dem Staatshaushalt
alimentiert werden, wenn in dem Dorf oder seiner Umgebung ernste Anzeichen für
Gewalttaten, die als Grundlage zur Verhängung des Notstandes dienen können,
vorhanden sind. Inzwischen versieht eine hohe fünfstellige Zahl von Menschen in
Ostanatolien das Dorfschützeramt, ohne daß Zahlen zu den im einzelnen vorliegenden
Rechtsgrundlagen angegeben werden können. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 12.
Juli 1995 an VG Freiburg; Auskunft vom 12. Juli 1995 an VG Regensburg; Auskunft vom
10. Januar 1997 an VG Würzburg; Aydin, Gutachten vom 7. Mai 1998 an VG Hamburg,
S. 15 f.; Kaya, Gutachten vom 12. Mai 1996 an VG Sigmaringen, S. 1 f.; Gutachten vom
18. Juni 1996 an VG Sigmaringen, S. 6; Gutachten vom 29. August 1996 an VG
Stuttgart, S. 4; Gutachten vom 2. Juli 1997 an VG Stuttgart, S. 2 f.; Rumpf, Gutachten
vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 72 f.; Taylan, Gutachten vom 1. Februar 1997 an
SchlHOVG, S. 5; UNHCR, Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 9. In denjenigen
Provinzen, in denen vorübergehende Dorfschützer eingestellt werden können, herrscht
kein Mangel an freiwilligen Bewerbern für dieses Amt, da Dorfschützer als Staatsbeamte
gelten und neben dem Gehaltsanspruch auch Anspruch auf Entschädigungszahlungen
und Rente haben. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 12. Juli 1995 an VG
Regensburg; Auskunft vom 30. Januar 1996 an VG Freiburg; Auskunft vom 25.
September 1996 an VG Sigmaringen. Seit 1994 gibt es zusätzlich ein ehrenamtliches
Dorfschützeramt ("freiwillige Dorfschützer"), welches dem Inhaber im Gegensatz zum
Amt des "vorübergehenden" Dorfschützers keinen Gehaltsanspruch vermittelt, für ihn
aber statt dessen mit einer Reihe sonstiger Vergünstigungen verbunden ist. Dabei
handelt es sich z.B. um die Freistellung vom Militärdienst sowie um die bevorzugte
Behandlung bei der Verteilung von Boden, bei der Verpachtung von staatlichem Land,
bei der Gewährung von Krediten, bei der Einstellung in den Staatsdienst und bei der
Schulaufnahme der Kinder. Auch diesen Angeboten sind bereits Tausende von
kurdischen Dorfbewohnern gefolgt. Vgl. Aydin, Gutachten vom 7. Mai 1998 an VG
Hamburg, S. 15; Kaya, Gutachten vom 12. Mai 1996 an VG Sigmaringen, S. 1;
Gutachten vom 18. Juni 1996 an VG Sigmaringen, S. 8; Gutachten vom 30. April 1997
an VG Berlin, S. 33. Weder ein vorübergehender noch ein freiwilliger Dorfschützer muß,
um das Amt übernehmen zu können, zuvor den Wehrdienst abgeleistet haben. Nur für
den vorübergehenden Dorfschützer ist in Art. 71 DorfG ein Mindestalter von 22 Jahren
vorgeschrieben, das früher bewirkte, daß nur solche Personen Dorfschützer werden
konnten, die den Wehrdienst schon abgeleistet hatten. In der Praxis werden jedoch seit
1991 zunehmend auch Jugendliche als vorübergehende Dorfschützer eingestellt.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Juli 1997 an VG Stuttgart, S. 2; Kaya, Gutachten
vom 2. Juli 1997 an VG Stuttgart, S. 2. Die hiervon abweichende Rechtsprechung des
erkennenden Gerichts aus dem Beschluß vom 29. Januar 1991 - 18 B 22588/90 - ist
damit überholt. Bei den Waffen, die den Dorfschützern von der Regierung zur Verfügung
gestellt werden, handelt es sich um die auch in der Armee benutzten Kriegswaffen (Art.
73 Satz 1, 75, 78 Nr. 4 des Dorfgesetzes). Die Dorfschützer werden mit Gewehren,
überwiegend vom Typ "Kalaschnikow", ausgerüstet. Ein Teil der Dorfschützer verrichtet
den Dienst mit eigenen, vom Staat zugelassenen Waffen. Alle Dorfschützer werden von
den Sicherheitskräften im Waffengebrauch unterwiesen. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft
vom 12. Juli 1995 an VG Freiburg; Auskunft vom 5. Januar 1998 an VG Bremen, S. 2;
Kaya, Gutachten vom 18. Juni 1996 an VG Sigmaringen, S. 15 f.; Gutachten vom 10.
März 1997 an VG Hamburg, S. 2; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin,
S. 74. Nach der Rechtslage, wie sie sich aus den einschlägigen Bestimmungen des
Dorfgesetzes ergibt, ist keine Person gezwungen, den Posten des Dorfschützers zu
übernehmen. Die Praxis sieht jedoch anders aus: Häufig wird die gesamte männliche
Bevölkerung eines Dorfes zusammengetrieben oder festgenommen, um diese zur
Übernahme des Dorfschützeramtes zu zwingen. Die Männer werden vor die Wahl
gestellt, entweder das Amt anzunehmen oder aber das Dorf zu räumen und die Gegend
zu verlassen, weil die Sicherheitskräfte aus der Weigerung regelmäßig den Verdacht
ableiten, der Betreffende sympathisiere mit der kurdischen Guerilla. Um der Forderung
Nachdruck zu verleihen, werden die Wohnungen der Betroffenen durchsucht, sie selbst
werden verprügelt. Auch besteht die Gefahr, daß sie auf die Polizeiwache verbracht und
dort mißhandelt werden. Es kommt vor, daß ihre Häuser mit der Begründung, sie
würden der Guerilla Unterschlupf und Lebensmittel gewähren, bombardiert und
niedergebrannt werden. Ein weiteres Druckmittel zur Übernahme des
Dorfschützeramtes ist die Verhängung eines Lebensmittelembargos, das zugleich den
Zweck verfolgt, die Weitergabe von Nahrung an die Guerilla zu verhindern. Vgl.
Amnesty International, Gutachten vom 26. August 1997 an VG Chemnitz, S. 2 f.;
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10. Januar 1997 an VG Würzburg; Auskunft vom 4. Mai
1998 an VG Sigmaringen; Kaya, Gutachten vom 18. Juni 1996 an VG Sigmaringen, S. 7,
15; Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 52, 85; Rumpf, Gutachten
vom 20. August 1997 an VG Hamburg, S. 47; Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG
Berlin, S. 75 f.; UNHCR, Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 9 f. Die Feststellung,
daß entgegen der Rechtslage faktisch vielfach Druck zur Übernahme des
Dorfschützeramtes ausgeübt wird, steht nicht im Widerspruch dazu, daß wegen der mit
dem Amt verbundenen Vergünstigungen generell kein Mangel an Bewerbern besteht.
Zum einen gilt letzteres nicht uneingeschränkt für solche Gebiete und Regionen, auf die
sich die Operationen von Sicherheitskräften und Guerilla konzentrieren und in denen die
PKK unter der Bevölkerung besondere Sympathie genießt. Zum anderen läßt jener
Umstand die Neigung der Sicherheitskräfte unberührt, jeweils aus gegebenem Anlaß
durch die Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes die Loyalität der
Bevölkerung des einzelnen Dorfes zu testen. (4) Zwangsräumungen von Dörfern
Diejenigen Dörfer, deren Bewohner sich weigern, das Dorfschützeramt zu übernehmen,
oder aus sonstigen Gründen im Verdacht stehen, die PKK zu unterstützen, werden
zwangsweise geräumt. Vgl. Dinc, Gutachten vom 11. Februar 1998 an VG Berlin, S. 2;
Gesellschaft für bedrohte Völker, Auskunft vom 14. März 1997 an VG Hamburg, S. 2;
Kaya, Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 21; Gutachten vom 11. Juli 1997
an VG Hamburg, S. 3 ff.; Parlamentarische Untersuchungskommission zur Erforschung
der Dorfräumungen in Ost- und Südostanatolien, Bericht vom 14. Januar 1998, Abschnitt
4.1.b. (S. 43 f.); Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 75. Ziel dieser
Zwangsräumungen ist es, der PKK die Operations- und Versorgungsstützpunkte in der
Region zu entziehen. Die Zwangsevakuierungen betreffen entsprechend dieser
Zielsetzung im Regelfall Dörfer, die von der PKK als Operations- oder
Versorgungsbasen genutzt werden, meist am Rande der Rückzugsgebiete der Guerilla,
namentlich am Fuße hoher Berge. Bei einer Dorfräumung werden vielfach die Häuser
der Bewohner in Brand gesetzt oder durch Artilleriebeschuß zerstört. Die Vertreibung
der Bewohner aus den Dörfern hält nach wie vor an. Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht
vom 18. Juli 1997, S. 3; Lagebericht vom 20. November 1997, S. 4; Lagebericht vom 31.
März 1998, S. 4; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 6 f.; Kaya, Gutachten vom 11.
Juli 1997 an VG Hamburg, S. 7 ff.; Taylan, Gutachten vom 1. Februar 1997 an
SchlHOVG, S. 4 f. Von den dargestellten Dorfräumungen war bisher nur der kleinere
Teil der kurdischen Dörfer betroffen. In den ländlichen Gebieten des Südostens gibt es
79.000 Siedlungen, davon 35.000 Dörfer. Die Zahl der Dörfer im Notstandsgebiet wird
mit insgesamt 12.000 angegeben. Diese Zahl bezieht sich auf die Ausdehnung des
Notstandsgebietes vor der Beendigung des Notstands in den Provinzen Batman, Bingöl,
Bitlis und Mardin. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. Juli 1997, S. 3; Lagebericht
vom 18. September 1998, S. 7; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S.
90. Bisher wurden hiervon nach offiziellen Angaben etwa 3.400 Dörfer und Weiler
evakuiert und teilweise oder ganz zerstört. Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.
Juli 1997, S. 3; Lagebericht vom 20. November 1997, S. 4; Lagebericht vom 31. März
1998, S. 4 f.; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 7; Kaya, Gutachten vom 14.
Oktober 1997 an OVG MV, S. 29; Parlamentarische Untersuchungskommission zur
Erforschung der Dorfräumungen in Ost- und Südostanatolien, Bericht vom 14. Januar
1998, Abschnitt 3.1. (S. 20 f.); Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG MV,
S. 1; UNHCR, Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 8; Frankfurter Rundschau Nr.
195 vom 24. August 1998, S. 2. Die absolute Zahl der evakuierten Dörfer ist zwar
beachtlich. Sie erlaubt jedoch keinen Schluß darauf, wie hoch der Anteil der kurdischen
Bevölkerung im Notstandsgebiet ist, der bislang asylerheblichen Übergriffen ausgesetzt
war. Solches verbietet sich schon deswegen, weil ein erheblicher und weiterhin
zunehmender Teil der Kurden in Ostanatolien in Städten lebt, die von
Evakuierungsmaßnahmen nicht betroffen sind. Der Anteil der Stadtbewohner an der
Bevölkerung fällt selbst in den Notstandsprovinzen ins Gewicht; allein die
Einwohnerzahl der Provinzhauptstadt Diyarbakir wird auf inzwischen 1,5 bis 2 Millionen
Menschen geschätzt. Vgl. Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG MV, S. 1,
3. Der rasante Anstieg der Einwohnerzahl etwa auf das Vierfache innerhalb von acht
Jahren (Volkszählung 1990: 385.000) kann dabei nur zum geringen Teil seine Erklärung
in Evakuierungsmaßnahmen finden. Zudem bestehen Anhaltspunkte für die Vermutung,
daß die Größe der von Evakuierungsmaßnahmen betroffenen Dörfer von der
durchschnittlichen Dorfgröße in den Notstandsgebieten eher nach unten abweicht.
Denn die Bewohner größerer Ortschaften werden weniger leicht dem kollektiven
Verdacht einer Unterstützung der PKK- Guerilla ausgesetzt sein. Auch lassen sich
solche größeren Dörfer weniger einfach und nur mit größerem Aufsehen im Rahmen
kurzfristiger Militäraktionen auf die oben beschriebene Weise evakuieren und dem
Erdboden gleichmachen. Für die Betroffenheit vor allem kleinerer Dörfer spricht auch
die Abgelegenheit und dünne Besiedlung der als PKK-Rückzugsgebiete geltenden
Regionen. Selbst die Zahl von über 300.000 Menschen, die offiziellen türkischen
Quellen zufolge in den geräumten Ortschaften gelebt haben, Parlamentarische
Untersuchungskommission zur Erforschung der Dorfräumungen in Ost- und
Südostanatolien, Bericht vom 14. Januar 1998, Abschnitt 3.1. (S. 20) (378.335);
Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 55 (359.000), hat im
vorliegenden Zusammenhang wenig Aussagekraft, weil nicht feststeht, in welchem
Umfang jene Menschen ihre Heimatdörfer unter den oben beschriebenen Umständen
verlassen mußten. Die Asylerheblichkeit der Dorfräumungen kann nicht unter Hinweis
darauf verneint werden, daß die türkische Regierung ein Rückkehrprogramm für die
davon betroffenen Personen in Angriff genommen hat. Denn nur ein geringer
Prozentsatz von ihnen ist tatsächlich in den Genuß dieser Rehabilitierungsmaßnahmen
gekommen. Die Größenordnung derjenigen, die zurückgekehrt seien, wird mit Zahlen
zwischen 12.000 und etwa 23.000 Personen angegeben. Teilweise ist den Berichten zu
entnehmen, daß die Rückkehrerlaubnis von der Bedingung nachträglicher Stellung von
Dorfschützern abhängig gemacht wurde. Vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Auskunft
vom 14. März 1997 an VG Hamburg, S. 3; Kaya, Gutachten vom 11. Juli 1997 an VG
Hamburg, S. 11; Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 54 f., 61;
Parlamentarische Untersuchungskommission zur Erforschung der Dorfräumungen in
Ost- und Südostanatolien, Bericht vom 14. Januar 1998, Abschnitt 4.7. (S. 48); Rumpf,
Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 75. Auch der allen Umsiedlern nach
dem Gesetz zustehende Anspruch auf eine staatliche Entschädigung in Geld, die meist
als Startkapital am neuen Wohnort ausreichen soll, vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom
7. April 1996 an VG Wiesbaden, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Denn es gibt nur
ganz vereinzelte Berichte darüber, daß die kurdischen Dorfbewohner, die Opfer der
erwähnten Räumungsaktionen waren, tatsächlich in den Genuß von Entschädigungen
gekommen sind. Ob diese ausreichend waren, um den Aufbau einer neuen Existenz zu
ermöglichen, wird zudem in diesen Berichten bezweifelt. Kaya, Gutachten vom 30. April
1997 an VG Berlin, S. 22 f.; Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG MV, S. 31;
Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 53; Rumpf, Gutachten vom 1.
Februar 1998 an VG Berlin, S. 17. Hingegen hat der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in einem Fall, in welchem die Häuser der Beschwerdeführer durch
türkische Sicherheitskräfte niedergebrannt worden waren, einen schwerwiegenden,
gegen Art. 8 EMRK und Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 verstoßenden Eingriff in das
Recht auf Achtung des Familienlebens und der Wohnung als auch in das Recht auf
friedliche Nutzung des Eigentums gesehen. Auch wenn sich der Gerichtshof gehindert
gesehen hat, aufgrund des ihm vorliegenden Beweismaterials von systematischen
Verstößen zu sprechen, so hat er doch festgestellt, daß im Hinblick auf eine
Wiedergutmachung die Anrufung türkischer Verwaltungs- oder Zivilgerichte nicht als
wirksamer Rechtsschutz angesehen werden kann. Zugleich hat der Gerichtshof einen
Verstoß gegen Art. 25 § 1 EMRK festgestellt, weil die beschwerdeführenden
Dorfbewohner von staatlicher Seite unter Druck gesetzt worden waren, ihre Beschwerde
zurückzuziehen. Vgl. EGMR, Urteil vom 16. September 1996 (99/1995/605/693),
insbesondere Abschnitte 81, 88, 96, 105; vgl. dazu Oberdiek, Gutachten vom 14. März
1997 an VG Berlin, S. 57 ff. bb) Städte In wesentlicher Beziehung anders stellt sich die
Situation in den städtischen Siedlungsformen Ostanatoliens dar: Razzien, von denen
die gesamte Bevölkerung der Siedlung betroffen ist, sowie Evakuierungen scheiden hier
aufgrund der Einwohnerzahl aus. Dorfschützer werden im allgemeinen nur in Dörfern
und kleineren Ortschaften berufen, in denen es keine Gendarmerie- oder
Militäreinheiten gibt. Zudem stehen in den Städten weniger die militärischen Angriffe der
Guerilla und deren materiell-logistische Unterstützung durch die Landbevölkerung im
Vordergrund der Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften, sondern mehr die pro-
kurdische Propaganda. Die Durchsuchungs- und Festnahmeaktionen der
Sicherheitskräfte, die auch für die Klein-, Kreis- und Provinzstädte Ostanatoliens
berichtet werden, vgl. Amnesty International, Gutachten vom 21. August 1997 an VG
Berlin, S. 7; Kaya, Gutachten am 18. Juni 1996 an VG Sigmaringen, S. 9; Gutachten
vom 18. Februar 1997 an VG Aachen, S. 5; Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar 1997
an VG Hamburg, S. 13 ff.; Gutachten vom 25. Juli 1997 an VG Berlin, S. 13; Taylan,
Gutachten vom 1. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 5, unterscheiden sich daher in bezug
auf den Anlaß und den betroffenen Personenkreis von denjenigen, die oben für die
ländlichen Gebiete beschrieben sind: Diese Aktionen konzentrieren sich zum einen auf
politisch oder sonst exponierte Personen wie Funktionäre und Mitglieder pro-kurdischer
Parteien, pro-kurdische Journalisten sowie Funktionäre von
Menschenrechtsorganisationen. Soweit der Menschenrechtsverein oder linksextreme
türkische Gruppen wie DHKP-C und TIKKO in Rede stehen, kann noch nicht einmal
eine kurdische Volkszugehörigkeit der Betroffenen unterstellt werden. Soweit es um pro-
kurdische Parteien und Publikationen geht, war Anknüpfungspunkt für das Vorgehen
der Sicherheitskräfte offensichtlich nicht die Volkszugehörigkeit der Betroffenen,
sondern die bei ihnen vermutete "separatistische" politische Überzeugung. Zum
anderen gelten sie einem jeweils begrenzten Kreis von Personen, die im
Zusammenhang mit Anschlägen der Guerilla in Verdacht geraten sind oder die aufgrund
besonderer Umstände die Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte auf sich gezogen
haben. In den Großstädten Ostanatoliens (z.B. Diyarbakir, Gaziantep, Malatya, Elazig,
Erzincan, Erzurum) scheinen sich die Maßnahmen der Sicherheitskräfte nach Art und
Umfang nicht wesentlich von denjenigen zu unterscheiden, die sich in den Großstädten
außerhalb der traditionellen Siedlungsgebiete der Kurden beobachten lassen und von
denen weiter unten die Rede sein wird (vgl. unten S. 42 ff., S. 55 ff.). Mit den
beschriebenen Vorgängen in den Dörfern sind sie jedenfalls nicht vergleichbar. Zu den
im Gutachten von Oberdiek vom 17. Februar 1997 an VG Hamburg, S. 13 ff.
dokumentierten Fällen vgl. im einzelnen bereits Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - 25 A
3631/95.A -, S. 38 ff. c) Keine Anknüpfung an kurdische Volkszugehörigkeit Art und
Ausmaß der vorstehend festgestellten Verfolgungshandlungen der türkischen
Sicherheitskräfte rechtfertigen nicht die Annahme einer regionalen oder örtlich
begrenzten Gruppenverfolgung in den Notstandsgebieten und erst recht nicht in den
traditionellen Siedlungsgebieten insgesamt. Denn sie knüpfen nicht an die kurdische
Volkszugehörigkeit der Betroffenen an. Im Gegenteil finden sich Anhaltspunkte dafür,
daß die Sicherheitskräfte - wenn auch nach einem sehr groben Muster - zwischen
verdächtigen und unverdächtigen Personen unterscheiden und daß diese
Unterscheidung, nicht jedoch die kurdische Volkszugehörigkeit das Vorgehen der
Sicherheitskräfte in den Dörfern Ostanatoliens bestimmt: aa) Anlaßbezogenheit der
Dorfrazzien und -evakuierungen Ausgelöst werden die beschriebenen
menschenrechtswidrigen Aktionen der türkischen Sicherheitskräfte gegen die
Landbevölkerung jeweils durch konkrete, auf das einzelne Dorf bezogene Ereignisse.
Als solche kommen in Betracht: Auseinandersetzungen der Guerilla mit den
Dorfschützern, Überfälle der Guerilla auf Militärstationen, Streckenkontrollen der PKK
nahe der Ortschaft, Denunziationen über Propagandaaktionen der Guerilla, Herkunft
eines getöteten Guerillakämpfers aus einem nahegelegenen Dorf, Verfolgung flüchtiger
Personen. Vgl. Amnesty International, Gutachten vom 15. April 1998 an VG Hamburg, S.
8; Aydin, Gutachten vom 7. Mai 1998 an VG Hamburg, S. 13 f.; Kaya, Gutachten vom 18.
Juni 1996 an VG Sigmaringen, S. 15; Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 17;
Gutachten vom 11. Juni 1997 an VGH BW, S. 7; Gutachten vom 10. Juni 1998 an VG
Bremen, S. 8 f.; Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar 1997 an VG Hamburg, S. 35, 57;
Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 70; Rumpf, Gutachten vom 20. August
1997 an VG Hamburg, S. 47. Derartige Ereignisse begründen bei den Sicherheitskräften
in aller Regel den Verdacht, die Guerilla werde aus dem Dorf heraus unterstützt, weil die
Dorfbevölkerung mit den Zielen der PKK sympathisiere. Diese Mutmaßung auf Seiten
der türkischen Sicherheitskräfte ist im übrigen keineswegs unrealistisch, da die PKK
sich bei nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung durchaus einer gewissen
Popularität erfreut. Vgl. Kaya, Gutachten vom 18. Juni 1996 an VG Sigmaringen, S. 6;
Gutachten vom 29. August 1996 an VG Stuttgart, S. 4; Rumpf, Gutachten vom 24. Juli
1998 an VG Berlin, S. 6. Ist auf diese Weise ein pauschaler Separatismusverdacht
gegen die Bevölkerung eines Dorfes entstanden, besteht für die Sicherheitskräfte Anlaß,
den verdächtigen Personenkreis näher einzugrenzen, im Dorf nach etwa versteckt
gehaltenen PKK-Kämpfern zu suchen, durch Festnahme und Verhören von
Dorfbewohnern Näheres über die Kontakte zur Guerilla zu erfahren und so an die
eigentlich Verantwortlichen heranzukommen. Soweit aus dieser Zielsetzung heraus
bestimmte Dörfer oder Weiler mit den oben beschriebenen Kollektivmaßnahmen
überzogen werden, handelt es sich weder um eine regionale noch um eine örtlich
begrenzte Gruppenverfolgung aller kurdischen Volkszugehörigen. Denn sie werden
unabhängig von der Volkszugehörigkeit der Bewohner ergriffen, wie man insbesondere
daran erkennt, daß nicht nur Kurden, sondern auch andere Volkszugehörige in diese
Maßnahmen einbezogen werden, soweit ein konkreter Anlaß dafür besteht.
Insbesondere in den Dörfern entlang der türkisch-syrischen und türkisch-irakischen
Grenze besteht das vorrangige Ziel der Sicherheitskräfte darin, ein Eindringen aktiver
PKK- Kämpfer auf türkisches Staatsgebiet zu verhindern. Dort wird von Überfällen auch
auf solche Dörfer berichtet, die überwiegend arabisch besiedelt sind. Oberdiek,
Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 70, 118. Umgekehrt bleiben auch rein
kurdisch besiedelte Dörfer von den oben geschilderten Dorfrazzien verschont, soweit es
deren Bewohnern gelingt, einerseits Distanz zur kurdischen nationalen Opposition zu
wahren und andererseits auch nicht für den Staat Partei zu ergreifen. In diesen Dörfern
finden Aktionen der Guerilla nicht oder nur in geringerem Ausmaß statt, weil diese
aufgrund der Einstellung der Bevölkerung keine Chance sieht, dort Fuß zu fassen.
Ebensowenig hat es in diesen Dörfern gezielte, gegen die Zivilbevölkerung gerichtete
Operationen der Sicherheitskräfte gegeben, wie sie oben beschrieben worden sind.
Insbesondere hat der Staat es auch nicht oder nur in geringem Umfang für erforderlich
gehalten, in solchen Dörfern vorläufige Dorfschützer zu rekrutieren. Verschont bleiben
auch die Angehörigen anderer Volksgruppen, aber nicht ihrer Ethnie wegen, sondern
deshalb, weil sie eine weitgehend neutrale Haltung im Kurdenkonflikt einzunehmen
versuchen. Das gilt etwa für die Angehörigen bestimmter arabischer Stämme in der
Provinz Bitlis. Aydin, Gutachten vom 7. Mai 1998 an VG Hamburg, S. 14 ff.; Dinc,
Gutachten vom 11. Februar 1998 an VG Berlin, S. 2; Kaya, Gutachten vom 20. Mai 1998
an VG Hamburg, S. 1 ff.; Gutachten vom 10. Juni 1998 an VG Bremen, S. 8. Daneben ist
das Vorgehen der Sicherheitskräfte in den Dörfern oftmals auch darauf gerichtet, die
Bevölkerung einzuschüchtern, damit sich diese künftig einer Unterstützung der Guerilla
enthält, oder Rache an ihr zu üben für Angriffe der PKK auf staatliche Einrichtungen.
Daß die Maßnahmen der Sicherheitskräfte in den Dörfern vielfach zumindest auch auf
Abschreckung gerichtet sind, erkennt man daran, daß bei den Razzien in den Dörfern
oftmals alle Häuser durchsucht und alle Dorfbewohner auf dem Dorfplatz
zusammengetrieben und auf verschiedene Art und Weise gedemütigt und geschlagen
werden, ohne einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, Kindern und Alten zu
machen. Kaya, Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 17, 25. Auch dieser
Umstand, der von einem Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung als wichtiges Indiz
für eine auf die kurdische Volkszugehörigkeit gerichtete Verfolgung angesehen wird,
HessVGH, Urteil vom 24. November 1997 - 12 UE 725/94 -, S. 48, rechtfertigt keine
abweichende Beurteilung. Denn solange das Vorgehen der Sicherheitskräfte in
bestimmten Dörfern Ostanatoliens durch die oben näher beschriebenen Anlässe
ausgelöst wird, sind die festgestellten Verfolgungshandlungen insgesamt nicht als
gegen die kurdische Volkszugehörigkeit der Dorfbewohner, sondern lediglich gegen die
ihnen dann unterstellte Sympathie mit der militanten kurdischen Bewegung gerichtet
anzusehen. Es ist nicht das Kurdentum der Bewohner, sondern ihre aus der Sicht des
Staates vorwerfbare politische Überzeugung, welche für die Entscheidung der
Sicherheitskräfte, das jeweilige Dorf zu räumen, bestimmend ist. Vorrangig werden die
Häuser derjenigen zerstört, die sich weigern, Dorfschützer zu werden, oder sonst in
Verdacht der Zusammenarbeit mit der PKK stehen. Überwiegend diesem Personenkreis
scheinen auch diejenigen anzugehören, die festgenommen und in Polizeigewahrsam
mißhandelt werden. Die pauschale Feststellung, die gesamte kurdische
Dorfbevölkerung Ostanatoliens sei davon betroffen, ist damit unvereinbar. Diese
Einschätzung des Senats wird neuerdings auch durch den bereits erwähnten Bericht
der parlamentarischen Untersuchungskommission zur Erforschung der Dorfräumungen
in Ost- und Südostanatolien vom 14. Januar 1998 bestätigt. Als Grund für die
Dorfevakuierungen durch Sicherheitskräfte wird darin nicht etwa die kurdische
Volkszugehörigkeit ihrer Bewohner, sondern vielmehr der aus der Ablehnung des
Dorfschützeramtes abgeleitete Verdacht der PKK- Unterstützung angegeben.
Kommissionsbericht, Abschnitt 4.1.b. (S. 43 f.). bb) Kurden als bewaffnete Dorfschützer
Daß die Sicherheitskräfte in Ostanatolien nicht wahllos gegen die kurdische
Bevölkerung vorgehen, so daß ein nennenswerter Teil der dortigen Kurden von
vornherein davon ausgenommen ist, ergibt sich noch aus einem anderen Gesichtspunkt.
In jener Region stellt, wie erwähnt, eine große fünfstellige Zahl staatlich besoldeter
"vorübergehender" Dorfschützer einen Teil der im Kampf mit den aufständischen PKK-
Militanten befangenen türkischen Sicherheitskräfte. Den aus kurdischen
Volkszugehörigen bestehenden Dorfschützereinheiten wird zum Teil große
Operationsfreiheit gewährt. Diese nutzen sie vielfach dazu, ihre persönlichen Interessen
und die ihrer jeweiligen Großfamilie oder ihres Clans gewaltsam durchzusetzen. Vgl.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. November 1997, S. 6; Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 9; Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 89 f.;
Rumpf, Gutachten vom 22. Januar 1997 an VG Bremen, S. 3; Taylan, Gutachten vom 1.
Februar 1997 an SchlHOVG, S. 5. Die Ausstattung der kurdischen Dorfschützer in
Ostanatolien mit zum Gebrauch bei militärischen Auseinandersetzungen tauglichen
Schußwaffen ist ein wichtiger Hinweis darauf, daß der türkische Staat die dort
siedelnden Kurden nicht pauschal verdächtigt, mit der PKK- Guerilla zu sympathisieren.
Denn die Ausgabe von Kriegswaffen gerade an einen solchen Personenkreis, der dem
militärisch bekämpften Feind zugerechnet wird, macht keinen Sinn. Bei einer solchen
Ausgangslage müßte der Staat nämlich damit rechnen, daß die von ihm bewaffneten
Zivilisten in erheblicher Zahl zur kurdischen Guerilla überlaufen und sodann die Waffen
gegen die eigenen Sicherheitskräfte richten würden. Wenn der türkische Staat dieses -
im Einzelfall nicht auszuschließende - Risiko eingeht, so geschieht dies offenbar
deswegen, weil er sich - aus welchen Gründen auch immer - der Loyalität eines Teils
der kurdischen Bevölkerung sicher sein kann. Einer derartigen Annahme kann nicht
durch bloßen Hinweis auf den Anteil der Dorfschützer an der Gesamtbevölkerung des
betroffenen Gebietes begegnet werden. Denn solange Stammesfehden ein
wesentliches Motiv für die Übernahme und Ausübung des Dorfschützeramtes sind und
in zahlreichen, nicht selten mit besonderer Brutalität durchgeführten Überfällen auf
Dörfer zum Ausdruck kommen, besteht Anlaß zu der Annahme, daß die Dorfschützer ein
auch zahlenmäßig bedeutendes, durch Familien-, Sippen- und Clanbeziehungen
vermitteltes Umfeld repräsentieren. Auch an dieser Stelle offenbart sich, daß Maßstab
für das Verhalten der türkischen Sicherheitskräfte gegenüber den Kurden in
Ostanatolien nicht deren Volkszugehörigkeit, sondern deren politische Überzeugung ist.
Dabei ist vielfach die Bereitschaft oder Weigerung, das Dorfschützeramt zu
übernehmen, aus der Perspektive der Sicherheitskräfte das entscheidende Indiz dafür,
ob der Betreffende dem türkischen Staat loyal oder in Opposition gegenübersteht; es gilt
das Motto: "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich". Das zeigt sich auch an der
Behandlung derjenigen Dorfschützer, die ihre Waffe(n) anläßlich von Überfällen der
Guerilla auf das Dorf und dabei gegen die eigene Person und gegen die Familie
gerichteten Morddrohungen an die PKK übergeben haben. Ihnen wird durchweg eine
Unterstützung der Guerilla aus eigenem Entschluß unterstellt, die eine Festnahme,
Folter und vielfach auch eine Verurteilung nach sich zieht. Auf diese Weise verschärft
der türkische Staat die ohnehin bestehenden innerkurdischen Rivalitäten. Durch den
"Bruderkrieg" zwischen kurdischer Guerilla und kurdischen Dorfschützern und die auf
beiden Seiten zu beklagenden Verluste nimmt die Polarisierung innerhalb des
kurdischen Volkes zu. Vgl. Kaya, Gutachten vom 20. September 1996 an VG Freiburg,
S. 1; Gutachten vom 10. März 1997 an VG Hamburg, S. 3; Oberdiek, Gutachten vom 26.
Mai 1995 an VG München, S. 17 f. cc) Sonstige Mitwirkung staatsloyaler Kurden in
Parlament, Verwaltung und Gesellschaft Bestätigt wird der vorbezeichnete Aspekt
schließlich durch den Umstand, daß Kurden in der Türkei auf allen Ebenen von Staat
und Gesellschaft repräsentiert sind. Es gibt viele hochrangige Kurden, die sich zum
türkischen Staat bekennen, ohne zugleich ihre kurdische Herkunft zu verleugnen. In
Parlament, Kabinett und allgemeiner Verwaltung sind Kurden ebenso vertreten wie in
Stadtverwaltungen, Gerichten und Sicherheitskräften. Ähnlich sieht es in Industrie,
Wissenschaft, Geistesleben und Militär aus. In der Armee gibt es Kurden auf allen
Kommandoebenen, auch im Generalstab. Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20.
November 1997, S. 3; Auskunft vom 9. März 1998 an VG Bremen, S. 2; Lagebericht vom
18. September 1998, S. 5. Beispielhaft zu nennen sind der ehemalige Staatsminister in
der Koalitionsregierung Erbakan/Ciller, Selim Ensarioglu, der sich entschieden zu
seinem Kurdentum bekennt. Ebenfalls allgemein bekannt ist die kurdische Herkunft des
Parlamentspräsidenten Hikmet Cetin und des Wirtschaftsministers Erez, des früheren
Präsidenten des Verbandes der Industrie- und Handelskammern. Vgl. Rumpf, Gutachten
vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 3; Gutachten vom 29. Dezember 1997 an
VG Bremen, S. 4 f.; Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S. 6; Taylan, Gutachten
vom 5. Dezember 1997 an VG Koblenz, S. 4 (Fußnote 2). Die Aussagekraft der
genannten Tatsachen kann nicht unter Hinweis darauf relativiert werden, die Erlangung
hoher Positionen in Staat und Gesellschaft setze Assimilation und Verzicht auf das
Bekenntnis zum Kurdentum voraus. So aber Taylan, Gutachten vom 5. Dezember 1997
an VG Koblenz, S. 4; UNHCR, Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 30. Ein in
Diyarbakir geborener Minister, der die türkische Sprache erst in der Schule gelernt hat
und deswegen mit unüberhörbarem Akzent spricht, kann seine kurdische Herkunft nicht
verleugnen. Indem er aber einer großen staatstragenden Partei der Türkei beigetreten,
dort Funktionen übernommen, sich zum Abgeordneten hat wählen lassen und
schließlich der Regierung beigetreten ist, hat er sich für jedermann erkennbar zum
türkischen Staat auch in seiner Unteilbarkeit bekannt. Entsprechendes gilt für
kurdischstämmige Personen, die im Osten des Landes Ämter in Verwaltung, Justiz und
Polizei versehen. Mit der Übernahme von Verantwortung im staatlichen Bereich wird
nicht die kurdische Herkunft geleugnet, sondern vielmehr positiv eine grundsätzliche
Loyalität dem türkischen Staat gegenüber zum Ausdruck gebracht. Nicht der Verzicht
auf das Kurdentum, sondern der Verzicht darauf, aus der ethnischen Zugehörigkeit
besondere politische Forderungen wie diejenige nach einem unabhängigen Staat oder
Autonomie herzuleiten, macht jenen Eindruck von Loyalität in der Öffentlichkeit aus. Es
ist nicht das ethnisch-kulturelle, sondern das politische Bekenntnis, welches für das
Verhalten "der Türkei" einem Mitbürger kurdischer Herkunft gegenüber entscheidend ist.
Bestätigt wird diese Einschätzung ferner durch die enge Zusammenarbeit einflußreicher
kurdischer Stammesoberhäupter mit dem türkischen Staat. Vorrangig zu nennen ist in
diesem Zusammenhang Sedat Bucak aus Sanliurfa, der als einziger Insasse den
Verkehrsunfall in Susurluk (Provinz Balikesir) Anfang November 1996 überlebt hat. Zu
diesem Unfall vgl. bereits Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -, S. 46 f.;
ferner: Rumpf, Gutachten vom 20. August 1997 an VG Hamburg, S. 42 f.; UNHCR,
Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 11 f. Sedat Bucak gehört als Abgeordneter der
von der ehemaligen Außenministerin Tansu Ciller geführten Partei des Rechten Weges
(DYP) dem türkischen Parlament an. Zugleich befehligt er mit staatlich verliehener
Befugnis und staatlicher Unterstützung in Form von Geld und Waffen in der Provinz
Sanliurfa aus von ihm genehmen Stammesmitgliedern und Bauern bestehende
Dorfschützerbrigaden, deren Stärke teils auf 10.000, teils auf 30.000 Mann geschätzt
wird und die den Staat bei der Bekämpfung der PKK unterstützen sollen. Bei Sedat
Bucak handelt es sich um einen staatsloyalen Kurden, der aus seiner kurdischen
Herkunft keinen Hehl macht. Eine ähnliche Position hat der Chef des Adiyaman-
Stammes, der schon im Jahre 1993 publikumswirksam in kurdischer Sprache im
Fernsehen reden durfte, ohne deswegen strafrechtlich belangt zu werden. Vgl.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10. Januar 1997 an VG Würzburg; Auskunft vom 2. April
1997 an VG Berlin, S. 1 f.; Kaya, Gutachten vom 11. März 1997 an OVG MV, S. 5;
Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 76 ff., 84; Rumpf, Gutachten
vom 22. Januar 1997 an VG Bremen, S. 3; Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S.
6; Taylan, Gutachten vom 18. Mai 1997 an OVG MV, S. 4. Ein weiterer Beleg für die
politischen Kontroversen innerhalb der kurdischen Bevölkerung Ostanatoliens ist ferner
das Ergebnis der Wahl zur Großen Nationalversammlung der Türkei vom 24. Dezember
1995. Denn bei diesen Wahlen hat sich die Bevölkerung Ostanatoliens zum
überwiegenden Teil für die etablierten - konservativen, islamischen und
sozialdemokratischen - türkischen Parteien entschieden. Die Stimmenanteile für die pro-
kurdische HADEP waren zwar beachtlich, erreichten aber mit Ausnahme der Provinz
Hakkari in keiner Provinz die absolute Mehrheit. Vgl. dazu Senatsurteil vom 3. Juni 1997
- 25 A 3631/95.A -, S. 47 ff. Die wiedergegebenen Fakten zeigen, daß das kurdische
Volk in der Türkei hinsichtlich seiner politischen Überzeugung gespalten ist. Dies ist
wegen der Größenordnung des Personenkreises (15 Millionen Menschen, s. unten S.
31) und der Komplexität der Thematik nicht ungewöhnlich. Letztere wird dadurch
verstärkt, daß das kurdische Volk auf mehrere Staaten des mittleren Ostens verteilt lebt
und in entscheidenden Momenten seiner Geschichte in diesem Jahrhundert (1923
Türkei, 1947 Iran, 1975 Irak) von der Weltgemeinschaft alleingelassen wurde. Folglich
gehen die Meinungen darüber, ob die Kurden einen eigenen Staat oder eine Föderation
bzw. Autonomie innerhalb der Türkei anstreben oder sich mit - der Behauptung
kultureller Eigenheiten dienenden - Reformen begnügen sollen, weit auseinander.
Diese diametral entgegengesetzten politischen Überzeugungen innerhalb der Kurden
spiegeln die Reaktionen des türkischen Staates wider. Wer die Türkei als unteilbaren
Einheitsstaat akzeptiert, kann ungeachtet einer evidenten kurdischen
Volkszugehörigkeit bis in höchste Funktionen aufsteigen. Wer hingegen mit Blick auf
sein Kurdentum die organisatorischen Grundstrukturen der Türkei in Frage stellt, muß
mit Repressalien der beschriebenen Art rechnen. Es ist somit die politische
Überzeugung, an die die Verfolgungsmaßnahmen anknüpfen. Da jene Überzeugung,
der die Verfolgung gilt, von einem beachtlichen Teil der Kurden - auch in Ostanatolien -
nicht geteilt wird, dieser vielmehr den türkischen Staat bei der Verfolgung seiner Ziele
unterstützt, ja selbst einen Teil des türkischen Staates ausmacht, ist für die Annahme
einer Gruppenverfolgung von Kurden in Ostanatolien kein Raum. d) Keine ausreichende
Verfolgungsdichte Die Annahme, Kurden unterlägen in Ostanatolien einer regional oder
örtlich begrenzten Gruppenverfolgung, verbietet sich unabhängig von dem
vorstehenden Gesichtspunkt auch deshalb, weil es an der erforderlichen
Verfolgungsdichte fehlt. Auf dieses Merkmal kommt es hier an. Es wäre nur dann
entbehrlich, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches
Verfolgungsprogramm vorlägen, was etwa der Fall sein kann, wenn der Heimatstaat
ethnische Minderheiten physisch vernichten und ausrotten oder aus seinem
Staatsgebiet vertreiben will. Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -,
BVerwGE 96, 200 (204) = DVBl. 1994, 1409 = DÖV 1995, 26 = InfAuslR 1994, 424 =
NVwZ 1995, 175; Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (125) =
DVBl. 1996, 1257 = NVwZ 1996, 1110. Von einer derartigen Extremsituation für Kurden
in der Türkei kann angesichts der oben zu b) und c) getroffenen Feststellungen
offensichtlich nicht die Rede sein. Das Merkmal hinreichender Verfolgungsdichte ist
erfüllt, wenn die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in
asylrechtlich geschützte Rechtsgüter besteht, daß es sich dabei nicht mehr nur um
vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe
handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und
Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in
quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen,
daß daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne
weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Um zu beurteilen, ob die
Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität
und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung
gesetzt werden. Die bloße Feststellung "zahlreicher" oder "häufiger" Eingriffe reicht
nicht aus. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe
von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, kann gegenüber einer großen Gruppe
vergleichsweise geringfügig erscheinen, weil sie - gemessen an der Zahl der
Gruppenmitglieder - nicht ins Gewicht fällt und sich deshalb nicht als Bedrohung der
Gruppe darstellt. Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200
(204 ff.) = DVBl. 1994, 1409 = DÖV 1995, 26 = InfAuslR 1994, 424 = NVwZ 1995, 175;
Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (125) = DVBl. 1996, 1257 =
NVwZ 1996, 1110. Intensität und Anzahl der oben unter b) beschriebenen
Verfolgungshandlungen stellen sich hiernach, wenn man sie zur Größenordnung der in
Ostanatolien lebenden Kurden in Beziehung setzt, nicht als Bedrohung dieser
Volksgruppe dar. Denn die Zahl der dieser Gruppe angehörenden Personen ist ganz
beträchtlich. aa) Türkei Etwa ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung in der gesamten
Türkei ist kurdischen Ursprungs. Die absolute Zahl der kurdischstämmigen Bevölkerung
dürfte gegenwärtig bei etwa 15 Millionen Menschen liegen. Sie kann nur geschätzt
werden, weil zuletzt bei der Volkszählung 1965 nach der Muttersprache gefragt wurde
und im übrigen der hier in Frage stehende Personenkreis nicht ausschließlich aus
kurdischen Muttersprachlern besteht. Soweit Studien, die in der ersten Hälfte der
neunziger Jahre erstellt wurden, einen kurdischen Bevölkerungsanteil von 12 - 14
Millionen ergeben haben, errechnet sich daraus für 1998 ebenfalls die vorgenannte
Größenordnung, weil dessen durchschnittliche jährliche Wachstumsrate bei etwa 3,5 -
3,9 % liegt. Die regionale Verteilung der Kurden in der Türkei wird auf der Basis einer
Gesamtzahl von 13 - 14 Millionen wie folgt angegeben; die notwendige Korrektur dieser
Gesamtzahl nach oben hin dürfte angesichts des anhaltenden Migrationsdrucks
ausschließlich für die westtürkischen Regionen vorzunehmen sein:
3 Millionen Großraum Istanbul 2 - 3 Millionen Südküste 1 Million Ägäische Küste 1
Million Zentralanatolien 6 Millionen Ost- und Südosttürkei davon 4 Millionen im
Notstandsgebiet (in der Ausdehnung bis zum 28. November 1996)
2
Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. Juli 1997, S. 6; Lagebericht vom 20.
November 1997, S. 3; Lagebericht vom 31. März 1998, S. 3; Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 5; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 80;
Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG MV, S. 9; Aydin, Zeitschrift für
Türkeistudien (ZfTS) 1997, S. 65 (69, Fußnote 11). Ob und in welchem Umfang die
kurdischstämmige Bevölkerung in der Türkei von dortigen staatlichen Stellen als
"kurdisch" angesehen wird, läßt sich nur schwer abschätzen. Daß die insoweit in
Betracht zu ziehende Gesamtzahl deutlich unterhalb der genannten Größenordnung (15
Millionen) liegt, ist nicht anzunehmen. Diese Gesamtzahl der kurdischstämmigen
Bevölkerung setzt sich aus der Bevölkerung in den ganz überwiegend von Kurden
bewohnten Notstandsprovinzen, ferner aus der kurdischen Bevölkerung in den
3
Nachbarprovinzen mit erheblichem, teilweise 50 % übersteigendem kurdischen Anteil
und schließlich der Bevölkerung in den kurdischen Wohngebieten der übrigen Teile der
Türkei zusammen. bb) Ostanatolien Die vorgenannte geschätzte Anzahl von 6 Millionen
Kurden in Ostanatolien verteilt sich mit folgenden Bevölkerungsanteilen auf die
einzelnen Provinzen:
Provinz Kurdenanteil Adiyaman 80 % Agri 70 % Batman 100 % Bingöl 100 % Bitlis 100
% Diyarbakir 90 % Elazig 50 % Erzincan 40 - 50 % Erzurum 50 % Gaziantep 25 %
Hakkari 100 % Igdir 60 % Kahramanmaras 25 % Kars 50 - 55 % Malatya 60 % Mardin 70
% Mus 100 % Sanliurfa 90 % Siirt 70 % Sirnak 70 % Tunceli 80 % Van 80 %
4
Vgl. dazu Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -, S. 12 ff. mit entsprechenden
Nachweisen; ferner: Kaya, Gutachten vom 17. März 1997 an VG Stuttgart, S. 2;
Gutachten vom 11. Juli 1997 an VG Hamburg, S. 2. Daß Menschen in der vorstehend im
einzelnen umschriebenen Anzahl im Teil eines Landes aktuell von nach Art und
Intensität asylerheblichen Maßnahmen der Sicherheitskräfte bedroht sind, ist von
vornherein nur anhand außerordentlicher Feststellungen nachvollziehbar, die eine
Vorgehensweise auf Seiten der Sicherheitskräfte zum Gegenstand haben, welche weit
über "konventionelle" Verfolgungsmaßnahmen wie Verhaftungen und Verhöre im
Polizeigewahrsam hinausgehen. In Betracht kommen hierfür allein die oben
festgestellten Dorfräumungen. Deren Anzahl sowie die Zahl der von ihnen betroffenen
Personen ist aber, wenn man sie zur Gesamtzahl der in Ostanatolien lebenden
kurdischen Bevölkerung in Beziehung setzt, zu gering, um die Annahme einer der
gesamten Bevölkerungsgruppe der Kurden drohenden Verfolgung zu rechtfertigen. Im
Ergebnis ebenso Auswärtiges Amt, zuletzt Lagebericht vom 18. September 1998, S. 5.
Bei derartigen Größenordnungen besteht nicht für jeden Kurden ein signifikantes Risiko,
Opfer menschenrechtswidriger Behandlung im Zusammenhang mit Dorfrazzien sowie
damit einhergehender Verhaftung und Polizeigewahrsam zu werden. Wie oben
dargelegt, sind diese Dorfräumungen typischerweise anlaßbezogen. Die vorliegenden
Erkenntnisse geben nicht her, daß sich die oben näher bezeichneten Anlässe den
türkischen Sicherheitskräften in allen oder doch in so vielen kurdischen Dörfern
Ostanatoliens bieten, daß alle bislang noch nicht selbst betroffenen kurdischen
Dorfbewohner der Region jederzeit damit rechnen müssen, ebenfalls in
Verfolgungsmaßnahmen der beschriebenen Art einbezogen zu werden. Es ist eher
anzunehmen, daß kurdische Bewohner von Dörfern, die bislang nicht in Berührung mit
den militärischen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und
kurdischer Guerilla gekommen sind, mit Verfolgungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte
nicht rechnen müssen. e) Anderweitige obergerichtliche Rechtsprechung Die Annahme
des Senats, daß Kurden in Ostanatolien einer Gruppenverfolgung wegen ihrer
Volkszugehörigkeit nicht ausgesetzt sind, wird von einem zunehmenden Teil der
obergerichtlichen Rechtsprechung geteilt. VGH BW, Urteil vom 2. April 1998 - A 12 S
1092/96 -, S. 9; Urteil vom 8. Juli 1998 - A 12 S 3034/96 -, S. 8; Oberverwaltungsgericht
der Freien Hansestadt Bremen (OVG Bremen), Urteil vom 18. März 1998 - 2 BA 30/96 -,
S. 39 ff.; Sächsisches Oberverwaltungsgericht (SächsOVG), Urteile vom 27. Februar
1997 - A 4 S 293/96 -, S. 28, 58; - A 4 S 434/96 -, S. 19. Ein weiterer Teil der
obergerichtlichen Rechtsprechung läßt die Frage nach wie vor offen. Hamburgisches
Oberverwaltungsgericht (HmbOVG), Urteil vom 4. März 1998 - Bf V 48/94 -, S. 25; OVG
RP, Urteil vom 4. Dezember 1995 - 10 A 12970/95 -, S. 19 f.; Niedersächsisches
Oberverwaltungsgericht (NdsOVG), Urteil vom 22. Januar 1998 - 11 L 4300/96 -, S. 19.
Nur noch vereinzelt wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung eine
Gruppenverfolgung von Kurden in den Notstandsprovinzen angenommen. HessVGH,
5
Urteil vom 24. November 1997 - 12 UE 725/94 -, S. 33 ff. Dieser Rechtsprechung folgt
der Senat nicht, weil in ihr die aufgezeigten Aspekte, die der Annahme einer
Gruppenverfolgung entgegenstehen und auf die der Senat bereits in seiner bisherigen
Rechtsprechung hingewiesen hatte, vgl. Beschluß vom 30. Januar 1995 - 25 A
4705/94.A -, S. 42 ff.; Urteil vom 11. März 1996 - 25 A 5801/94.A -, S. 31 ff.; Urteil vom 3.
Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -, S. 35 ff. nicht behandelt werden. Die eine
Gruppenverfolgung von Kurden in den Notstandsprovinzen ebenfalls bejahende
Rechtsprechung des SchlHOVG, vgl. Urteil vom 26. April 1995 - 4 L 18/95 -, S. 11 ff.;
Urteil vom 22. Juni 1995 - 4 L 30/94 -, S. 12 ff., hat der revisionsgerichtlichen
Überprüfung nicht standgehalten. Vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -,
BVerwGE 101, 123 (125) = DVBl. 1996, 1257 = NVwZ 1996, 1110; Urteil vom 30. April
1996 - 9 C 171.95 -, BVerwGE 101, 134 (141 f.) = DVBl. 1996, 1260 = InfAuslR 1996,
324 = NVwZ 1996, 1113. f) Asylerheblichkeit der oben zu b) festgestellten
Verfolgungsmaßnahmen im übrigen Kann es nach den Ausführungen unter c) und d)
allein für die Frage der Individualverfolgung darauf ankommen, ob die oben zu b)
festgestellten Verfolgungsmaßnahmen in Ostanatolien auch alle übrigen Merkmale
politischer Verfolgung erfüllen, so fehlt es hieran weder unter dem Gesichtspunkt
fehlender Gebietshoheit des türkischen Staates noch unter demjenigen des
Amtswalterexzesses noch unter demjenigen der Terrorismusabwehr. aa) Gebietshoheit
Die Asylerheblichkeit jener Maßnahmen läßt sich nicht mit der Begründung verneinen,
der türkische Staat habe in Ostanatolien die Gebietshoheit eingebüßt. Staatliche
Maßnahmen können den Charakter asylerheblicher Verfolgung verlieren, wenn ein
Guerillabürgerkrieg zu einer nachhaltigen und nicht nur vorübergehenden
Infragestellung der staatlichen Gebietsgewalt führt. Vgl. BVerfG, Beschluß vom 10. Juli
1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (341). Davon kann jedoch im hier
fraglichen Zusammenhang keine Rede sein. Zwar ist die PKK- Guerilla, trotz sichtbarer
Erfolge der Sicherheitskräfte in den besser zu kontrollierenden Ebenen und vor allem in
den Städten, in bestimmten Bergregionen in Ostanatolien "nach wie vor präsent". So
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. November 1997, S. 6; Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 9. Diese "Präsenz" erstreckt sich jedoch offensichtlich lediglich auf -
im Verhältnis zur Gesamtfläche Ostanatoliens - kleine, zudem unwegsame und kaum
besiedelte Gebiete. Jedenfalls ist der türkische Staat, welcher derzeit mindestens drei
Fünftel seiner Land- und Luftstreitkräfte und mindestens die Hälfte seiner
Gendarmerieeinheiten in Ostanatolien stationiert hat, vgl. Kaya, Gutachten vom 6.
November 1996 an VG Gera, S. 2, ersichtlich jederzeit in der Lage, die Gewalt über
zeitweilig von der PKK gehaltene Teilgebiete wieder zurückzuerlangen. Zudem weisen
die dargestellten Maßnahmen gegen die kurdische Dorfbevölkerung kein militärisches
Gepräge auf, sie dienen nicht der Rückeroberung verlorener Gebiete, sondern sind
vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß die türkischen Sicherheitskräfte als überlegene
Ordnungsmacht auftreten, der die Betroffenen hilflos ausgesetzt sind. Vgl. in diesem
Zusammenhang BVerfG, Beschluß vom 9. Dezember 1993 - 2 BvR 1916/93 -, DVBl.
1994, 203 = NVwZ 1994, 478; BVerwG, Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -,
BVerwGE 101, 123 (128) = DVBl. 1996, 1257 = NVwZ 1996, 1110. bb) Keine
Amtswalterexzesse Die beschriebenen Festnahmen, verbunden mit Folter vor allem in
den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, können nicht als bloße - dem türkischen
Staat nicht zuzurechnende - Amtswalterexzesse angesehen werden. Denn die
Annahme, Polizei und Jandarma würden ohne Duldung von Regierung,
Staatsanwaltschaften oder sonstigen höheren staatlichen Instanzen Folterungen
durchführen, ist nicht realitätsgerecht. Gegen menschenrechtswidrige Verhörpraktiken
der Sicherheitskräfte schreitet die türkische Justiz noch immer äußerst selten ein. Ein
wesentliches Hindernis für eine effektive Strafverfolgung von Sicherheitsbeamten ist das
Gesetz über die Strafverfolgung von Beamten, das anstelle eines Strafverfahrens
zunächst die Durchführung eines Vorermittlungsverfahrens durch die vorgesetzte
Behörde vorsieht. Gerade in Folterfällen kommt es selten vor, daß der betreffende
Beamte nach einem solchen Verfahren für die ordentliche Strafverfolgung freigegeben
wird. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 17. Juni 1997 an VG Hamburg, S. 11; Kaya,
Gutachten vom 11. Juni 1997 an VGH BW, S. 5 f.; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar
1998 an VG Berlin, S. 29. Soweit überhaupt Strafverfahren gegen folternde
Polizeibeamte eingeleitet werden, führen diese häufig zu einem Freispruch mangels
Beweises oder aber zu einer geringfügigen Freiheitsstrafe, die in aller Regel in eine
geringe Geldstrafe umgewandelt oder zur Bewährung ausgesetzt wird. Vgl. Amnesty
International, Gutachten vom 15. April 1998 an VG Hamburg, S. 3, 12; Auswärtiges Amt,
Lagebericht vom 18. Juli 1997, S. 11; Lagebericht vom 20. November 1997, S. 13;
Lagebericht vom 31. März 1998, S. 14; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 16;
Kaya, Gutachten vom 11. Juni 1997 an VGH BW, S. 6; Rumpf, Gutachten vom 19.
Dezember 1996 an VG Hamburg, S. 18; Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG
Augsburg, S. 39 f.; Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S.32 f.; Europäisches
Komitee für die Verhütung von Folter und unmenschlicher oder demütigender
Behandlung oder Bestrafung (CPT), Presseerklärung vom 6. Dezember 1996, S. 3;
Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar 1997 an VG Hamburg, S. 73 ff.. Lediglich in
Einzelfällen, zumeist solchen, die eine besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit
erregt haben, kommt es zur Verhängung ernstzunehmender Freiheitsstrafen.
Wichtigstes aktuelles Beispiel hierfür ist der Göktepe-Prozeß in Afyon. Metin Göktepe,
ein Fotojournalist der linksgerichteten Tageszeitung Evrensel, war am 8. Januar 1996
von Polizisten festgenommen und kurz darauf in der Justizvollzugsanstalt Istanbul tot
aufgefunden worden. Elf Polizisten wurden angeklagt, fünf von ihnen verurteilte das
Schwurgericht Afyon am 19. März 1998 wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu
langjährigen Freiheitsstrafen, die sechs anderen wurden freigesprochen. Der Prozeß ist
inzwischen wieder beim Schwurgericht Afyon anhängig, nachdem das erstinstanzliche
Urteil am 17. Juli 1998 durch den Kassationsgerichtshof in Ankara aus formalen
Gründen aufgehoben wurde. Selbst in diesem vielbeachteten Prozeß dauerte es über
ein Jahr, bis gegen die Hauptangeklagten Haftbefehle erlassen wurden. Auswärtiges
Amt, Lagebericht vom 18. September 1998, S. 16; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar
1998 an VG Berlin, S. 33 f., 44; UNHCR, Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 22.
Anschaulich belegt wird die Folterverantwortung des türkischen Staates schließlich
auch durch den Umstand, daß er die Instrumente, mit welchen die Folterungen
begangen werden, aus seinem Haushalt finanziert. Bis heute unterhält er Einrichtungen,
die mit speziellen, der Mißhandlung von Menschen dienenden Geräten ausgestattet
sind. Der Menschenrechtsausschuß der türkischen Nationalversammlung hat bei einer
Inspektionsreise in Vernehmungsräumen von Gefängnissen und Polizeistationen
zahlreiche Folterinstrumente entdeckt. Vgl. Kaya, Gutachten vom 3. April 1996 an VG
Neustadt an der Weinstraße, S. 3; Rumpf, Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S.
23; CPT, Presseerklärung vom 6. Dezember 1996, S. 2. Im übrigen gibt selbst die
politische Führung zu, daß es ein Folterproblem gibt. Ebenso gibt es Äußerungen hoher
Polizeioffiziere in der Presse, die sich für eine Verbesserung der Vernehmungstaktiken
einsetzen und die Auffassung vertreten, Gewaltanwendung gehöre auch im westlichen
Ausland zur Routine der Polizei. Maßnahmen zur Schulung von Vernehmungsbeamten
sind in Angriff genommen. Außerdem hat der der Regierung Yilmaz erstmals
angehörende Staatsminister für Menschenrechte, Sami Türk (DSP), am 24. Juli 1998
einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem das Strafmaß für Folter in Polizeihaft erhöht
wird. Diese Maßnahmen lassen in Zukunft eine allmähliche Verbesserung der
Verhörpraktiken möglich erscheinen. Derzeit jedoch ist die Folter integraler Bestandteil
der Vernehmungspraktiken türkischer Polizisten. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 16; Rumpf, Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S.
31 f. cc) Terrorismus Die Asylerheblichkeit jener Verfolgungshandlungen kann ferner
nicht mit der Begründung verneint werden, das staatliche Vorgehen diene der Abwehr
des Terrorismus und des diesen unterstützenden Umfeldes. Auch eine staatliche
Verfolgung von Taten, die aus sich heraus eine Umsetzung politischer Überzeugung
darstellen - insbesondere separatistische und politisch- revolutionäre Aktivitäten -, kann
grundsätzlich politische Verfolgung sein, und zwar auch dann, wenn der Staat hierdurch
das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt. Es
bedarf einer besonderen Begründung, die sich an bestimmten Abgrenzungskriterien
orientiert, um sie gleichwohl aus dem Bereich politischer Verfolgung herausfallen zu
lassen. Vgl. BVerfG, Beschluß vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315
(337). Eine derartige Begründung kann in bezug auf die Folterungen im türkischen
Polizeigewahrsam nicht gegeben werden. Repressive oder präventive Maßnahmen, die
der Staat zur Abwehr des Terrorismus ergreift, sind keine politische Verfolgung, auch
wenn sie demjenigen gelten, der im Vorfeld Unterstützungshandlungen zugunsten
terroristischer Aktivitäten vornimmt, ohne sich an diesen Aktivitäten zu beteiligen.
Politische Verfolgung liegt indes vor bei Aktionen eines bloßen Gegenterrors, die zwar
der Bekämpfung des Terrorismus und seines ihn aktiv unterstützenden Umfeldes gelten
mögen, aber darauf ausgerichtet sind, die an dem bestehenden Konflikt nicht
unmittelbar beteiligte zivile Bevölkerung - im Gegenzug zu den Aktionen des
Terrorismus - unter den Druck brutaler Gewalt zu setzen. Vgl. BVerfG, Beschluß vom 10.
Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (339 f.). So aber ist die Folterung von
Personen, die selbst der kurdischen Guerilla nicht angehören, im türkischen
Polizeigewahrsam zu werten. Etwaige Verdachtsmomente wegen Unterstützung einer
bewaffneten Bande rechtfertigen es, den Betreffenden einer eindringlichen Befragung
zu unterziehen. Bei Mißhandlungen der beschriebenen Art handelt es sich jedoch um -
auch durch die türkische Rechtsordnung nicht gedeckte - Maßnahmen bloßen
Gegenterrors, die keinen Ausschluß von der Asylgewährung zur Folge haben. Im
übrigen sind Maßnahmen der staatlichen Terrorismusabwehr dann als politische
Verfolgung zu werten, wenn objektive Umstände - wie etwa die besondere Intensität der
Verfolgungsmaßnahmen - darauf schließen lassen, daß der Betroffene wegen eines
asylerheblichen Merkmals verfolgt wird. Vgl. BVerfG, BVerfG, Beschluß vom 10. Juli
1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (339). Dies ist z.B. dann anzunehmen,
wenn der Verfolgte in der Polizeihaft mit Mißhandlungen rechnen muß, die über das
Maß dessen hinausgehen, was Personen zu erwarten haben, die dort wegen krimineller
Delikte inhaftiert sind. Vgl. BVerfG, Beschluß vom 20. Dezember 1989 - 2 BvR 958/86 -,
BVerfGE 81, 142 (151); BVerwG, Urteil vom 10. Januar 1995 - 9 C 276.94 -, NWVBl.
1995, 209 = DVBl. 1995, 572 = InfAuslR 1995, 302 = NVwZ 1996, 86. Eine derartige
Lage ist hier gegeben. Generell gilt, daß Häftlinge, denen eine staatsfeindliche
Gesinnung zugeschrieben wird, im türkischen Polizeigewahrsam häufiger und härter
mißhandelt werden als sonstige Straftäter. Den dazu vorliegenden Erkenntnisquellen ist
zu entnehmen, daß Übergriffe im Polizeigewahrsam sich vor allem gegen das linke und
kurdenfreundliche Spektrum richten und daß der physische und psychische Druck
diejenigen am härtesten trifft, die der Zusammenarbeit mit der militanten kurdischen
Bewegung verdächtigt werden. Vgl. Kaya, Gutachten vom 7. Dezember 1996 an VG
Hamburg, S. 1; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. August 1996, S. 9; Lagebericht
vom 4. Dezember 1996, S. 10; Rumpf, Gutachten vom 26. August 1996 an VG
Darmstadt, S. 27; Gutachten vom 19. Dezember 1996 an VG Hamburg, S. 19; Gutachten
vom 22. Januar 1997 an VG Bremen, S. 20. 3. Inländische Fluchtalternative Selbst wenn
aber entgegen den vorstehenden Ausführungen eine Gruppenverfolgung der kurdischen
Bevölkerung in Ostanatolien unterstellt würde, käme nach derzeitigem Erkenntnisstand
die Zuerkennung politischen Asyls an türkische Staatsangehörige allein wegen ihrer
kurdischen Volkszugehörigkeit nicht in Betracht, weil Kurden außerhalb Ostanatoliens
vor politischer Verfolgung hinreichend sicher sind und ihnen dort auch keine anderen
existentiellen Nachteile drohen. a) Prognosemaßstab Wer von nur regionaler politischer
Verfolgung betroffen ist, ist erst dann politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 a Abs. 1
GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird. Das ist der
Fall, wenn er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht nicht
finden kann. Eine derartige inländische Fluchtalternative setzt voraus, daß der
Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung
hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und
Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen
Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese
existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde. Vgl. BVerfG, Beschluß vom
10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (342 ff.). Steht fest, daß der
Asylsuchende wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung
ausgereist ist und daß ihm ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates unzumutbar
war, so ist eine Anerkennung als Asylberechtigter gleichwohl nicht geboten, wenn der
Asylsuchende nunmehr vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sein kann. Gleiches
gilt, wenn sich - bei fortbestehender regional begrenzter politischer Verfolgung - nach
der Einreise in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eine zumutbare inländische
Fluchtalternative eröffnet. Dies setzt voraus, daß der vor Verfolgung Geflohene in diesen
Landesteilen nicht nur vor politischer Verfolgung, sondern auch vor denjenigen
Nachteilen und Gefahren hinreichend sicher ist, die ihm im Zeitpunkt seiner Flucht ein
Ausweichen unzumutbar machten, und daß ihm auch keine sonstigen Nachteile und
Gefahren drohen, durch die er in eine ausweglose Lage geriete. Vgl. BVerfG, Beschluß
vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (345). Daraus folgt, daß
hinsichtlich der wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative
der gewöhnliche Prognosemaßstab gilt, es sei denn, daß einem vor regionaler
Verfolgung geflohenem Ausländer im Zeitpunkt seiner Ausreise ein Ausweichen auf
andere Landesteile gerade aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar war; nur in diesem
Fall kommt auch insoweit der herabgestufte Prognosemaßstab - hier also hinreichende
Sicherheit vor Eintritt existentieller Nachteile und Gefahren - zur Anwendung. Daß die
oben wiedergegebenen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nur so
verstanden werden können, ergibt sich auch daraus, daß das Gericht im
Zusammenhang mit der Feststellung, hinsichtlich der Sicherheit vor politischer
Verfolgung in anderen Landesteilen sei schon für die Rückschau (also für die Frage, ob
der Ausländer im Zeitpunkt seiner Ausreise einer landesweiten Verfolgung ausgesetzt
war) der herabgestufte Prognosemaßstab anzulegen, zugleich betont, eine
vergleichbare Besserstellung auch hinsichtlich der verfolgungsunabhängigen Nachteile
und Gefahren, die mit einem Ausweichen innerhalb des Heimatstaates möglicherweise
verbunden gewesen wären, sei nicht geboten. BVerfG, Beschluß vom 10. Juli 1989 - 2
BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (344 f.). Jenen Ausführungen liegt ersichtlich die
Erwägung zugrunde, daß der herabgestufte Prognosemaßstab jeweils zur Anwendung
kommt, wenn und soweit der Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr eingreift. Vgl.
BVerfG, Beschluß vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341 (360 f.);
BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97 (99 f.); Büge,
NVwZ 1997, 664 f. Dies ist hinsichtlich der Sicherheit vor (erneuter) politischer
Verfolgung immer dann der Fall, wenn der Ausländer in seiner Heimatregion politisch
verfolgt wurde. Dagegen kommt der Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr
hinsichtlich der wirtschaftlichen Existenz dann nicht zum Tragen, wenn dem aus Furcht
vor regionaler politischer Verfolgung ausgereisten Ausländer eine inländische
Fluchtalternative wegen fehlender Sicherheit vor erneuter politischer Verfolgung, nicht
aber wegen verfolgungsunabhängiger Nachteile und Gefahren verschlossen war. Der
Grundsatz des gewöhnlichen Prognosemaßstabs hinsichtlich der wirtschaftlichen
Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative gilt auch und erst recht, wenn der
Asylsuchende seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen hat und Nachfluchttatbestände
sich nur auf einen Teil des Heimatstaates beziehen. Vgl. BVerfG, Beschluß vom 10. Juli
1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (345 f.). Dies bedeutet für die hier in Rede
stehende Verfolgung vom Kurden in der Türkei: Ist der Asylbewerber unverfolgt aus der
Türkei ausgereist, so ist er, wenn Kurden in Ostanatolien einer Gruppenverfolgung
unterliegen sollten, aber in der Westtürkei vor politischer Verfolgung hinreichend sicher
sind, nur dann als politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG anzusehen,
wenn ihm dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Nachteile und Gefahren
drohen. Gleiches gilt, wenn der Asylbewerber im Zeitpunkt seiner Ausreise als Kurde
einer Gruppenverfolgung in Ostanatolien ausgesetzt und ihm ein Ausweichen auf
andere Landesteile ausschließlich wegen fehlender Sicherheit vor politischer
Verfolgung unzumutbar gewesen sein sollte. Sollte der Asylbewerber dagegen im
Zeitpunkt seiner Ausreise als Kurde von einer Gruppenverfolgung in seiner
Heimatregion betroffen gewesen sein und ein Umzug wegen Fehlens einer asylrechtlich
zumutbaren wirtschaftlichen Perspektive in der Westtürkei außer Frage gestanden
haben, so bezieht sich der günstigere Prognosemaßstab auch auf diese Voraussetzung
einer inländischen Fluchtalternative. b) Politische Sicherheit In den Landesteilen
außerhalb ihrer traditionellen Siedlungsgebiete (im folgenden zur Vereinfachung:
Westtürkei) sind Kurden, wenn sie politisch nicht exponiert sind, vor politischer
Verfolgung hinreichend sicher. Der diesbezügliche Prognosemaßstab für eine
inländische Fluchtalternative bei in diesem Zusammenhang unterstellter regionaler
politischer Verfolgung ist - wie bereits oben dargelegt - derselbe wie im Falle der
Vorverfolgung, also derjenige der hinreichenden Verfolgungssicherheit. Nach diesem
Maßstab genügt für die Bejahung einer Verfolgungsgefahr nicht bereits jede noch so
geringe Möglichkeit abermaligen Verfolgungseintritts, jeder - auch entfernt liegende -
Zweifel an der künftigen Sicherheit des Verfolgten, sondern es müssen hieran
mindestens ernsthafte Zweifel bestehen; erst recht setzt die Verneinung einer
Verfolgungsgefahr nicht voraus, daß die Gefahr erneuter Übergriffe mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Über eine "theoretische"
Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, hinaus ist erforderlich, daß objektive
Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus "reale"
Möglichkeit erscheinen lassen. Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 1985 - 9 C 20.85 -,
Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG, Nr. 37; Urteil vom 9. April 1991 - 9 C 91.90 u.a. -, NVwZ
1992, 270, 271; Urteil vom 8. September 1992 - 9 C 62.91 -, NVwZ 1993, 191, 192;
Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97 (99). Diese
Voraussetzungen liegen bei in der Westtürkei lebenden oder dort hinzugewanderten
Kurden, die sich für ihr Volkstum nicht politisch eingesetzt haben, nicht vor. aa)
Extralegale Hinrichtungen Ein signifikantes Risiko, Opfer sogenannter extralegaler
Hinrichtungen zu werden, besteht für Kurden in der Westtürkei nicht. Die türkischen
Presseberichte über Aktionen der Polizei, die sich gegen als Terroristen verdächtigte
Personen richteten und mit deren Erschießung endeten, geben zum Teil noch nicht
einmal zu erkennen, daß es sich bei den Opfern um Kurden handelte. Soweit die
Namen von militanten türkischen (d.h. nichtkurdischen) Organisationen genannt werden
(Dev Sol, TIKKO), deren Mitglied zu sein die Getöteten verdächtigt wurden, erscheint
ausgeschlossen, daß Auslöser für die polizeilichen Operationen allein die kurdische
Volkszugehörigkeit der Betroffenen gewesen sein könnte. Vgl. Amnesty International,
Stellungnahme vom Oktober 1995, S. 5; Oberdiek, Gutachten vom 1. November 1994 an
VG Köln, S. 47; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 48 ff. Soweit
einzelne Kurden in westtürkischen Großstädten, insbesondere in Adana, von der Polizei
erschossen wurden, ist aus den einschlägigen Presseberichten schon nicht immer
ersichtlich, daß es sich überhaupt um Vorfälle mit politischem Hintergrund handelte.
Eine dahingehende Annahme versteht sich nicht von selbst. Angesichts des hohen
kurdischen Bevölkerungsanteils werden Kurden nämlich schon statistisch auch von
einer beträchtlichen Zahl der Polizeimaßnahmen betroffen sein. Namentlich ist in einem
Teil der Fälle zweifelhaft, ob die Polizisten im Zeitpunkt des Schußwaffeneinsatzes
überhaupt davon ausgingen, daß es sich bei den Betroffenen um Kurden handelte.
Teilweise haben die Beamten den Presseberichten zufolge für ihr Verhalten
Erklärungen gegeben, die für sich betrachtet plausibel wären, z.B. der Betroffene sei
trotz Aufforderung nicht stehengeblieben oder er sei im Besitz einer Waffe gewesen und
sei nicht stehengeblieben oder er habe den Schußwechsel eröffnet. Dem
widersprechen allerdings Angaben der Angehörigen der Getöteten, wonach es für das
polizeiliche Vorgehen keine Rechtfertigung gegeben habe und die offiziellen
Erklärungen vorgeschoben seien. Welcher der Darstellungen jeweils zu folgen ist, kann
anhand der in den vorliegenden Erkenntnissen wiedergegebenen Angaben nicht
verläßlich beurteilt werden. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 1. November 1994 an VG
Köln, S. 46 f, 51, 65; Kaya, Gutachten vom 20. Oktober 1994 an VG Köln, S. 7 f. Soweit
über Morde an kurdischen Geschäftsleuten in Istanbul berichtet wurde, ist letztlich unklar
geblieben, ob die Taten von türkischen Sicherheitskräften begangen wurden und ob es
überhaupt einen politischen Hintergrund gab. Vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker,
Gutachten vom 1. Februar 1995 an VG Köln, S. 5; Rumpf, Gutachten vom 21. März 1995
an VG Köln, S. 13 f. Von Morden durch unbekannte Täter betroffen waren vorwiegend
Mitglieder und Funktionäre der pro-kurdischen Parteien. In erster Linie zu nennen ist
dabei die HADEP (Demokratiepartei des Volkes), die am 11. Mai 1994 als
Nachfolgepartei der zuvor vom türkischen Verfassungsgericht als verfassungswidrig
verbotenen Parteien HEP (Partei des arbeitenden Volkes) und DEP (Demokratiepartei)
gegründet wurde. Die HADEP tritt für eine Anerkennung der kulturellen Identität der
Kurden ein, hat sich jedoch nicht eine Autonomie der kurdischen Siedlungsgebiete zum
Ziel gesetzt, sondern lediglich einen föderalen Staat. Ein Teil ihrer Mitglieder scheint
allerdings die Ziele und Methoden der PKK zu billigen. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft
vom 5. Januar 1998 an VG Bremen; Auskunft vom 3. Februar 1998 an VG Koblenz;
Kaya, Gutachten vom 5. Juni 1997 an VG Stuttgart; Oberdiek, Gutachten vom 1.
November 1994 an VG Köln, S. 32; Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 61
(Fußnote 12). Von Morden durch unbekannte Täter ferner betroffen waren Mitarbeiter
der pro-kurdischen Presse. Vgl. Taylan, Gutachten vom 5. Dezember 1997 an VG
Koblenz, S. 6. Die meisten der über hundert Morde an den Vertretern der oben
erwähnten Parteien in den letzten Jahren wie auch der sonstigen "Hinrichtungen ohne
Gerichtsbeschluß" haben sich allerdings im Notstandsgebiet ereignet. Vgl. Oberdiek,
Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 61 f.; Kaya, Gutachten vom 14.
Oktober 1997 an OVG MV, S. 70. Vereinzelt wird davon berichtet, daß die Polizei
Kurden erschossen hat, die sie als "Guerillakämpfer" bzw. "PKK-Militante" verdächtigte.
Ob dieser Verdacht jeweils zutraf und ob die Polizei das Feuer ohne Vorwarnungen
eröffnet hat, wie Augenzeugen versichern, kann anhand der Zeitungsmeldungen nicht
verläßlich beurteilt werden. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG
München, S. 27, 46; Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 41.
Jedenfalls ist die Zahl der Fälle, in denen es zu von der Rechtsordnung nicht gedeckten
polizeilichen Tötungen von Personen gekommen sein kann, im Verhältnis zur Größe der
hier in Rede stehenden Personengruppe so gering, daß für die Annahme einer
dahingehenden Gefahrenlage für einen nicht durch ganz spezielle Merkmale
bestimmten Personenkreis (Verdacht der aktiven Mitgliedschaft in einer militanten
Organisation) kein Raum ist. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG
München, S. 64. Dieselbe Bewertung ist geboten, soweit Menschen, insbesondere mit
der kurdischen Frage befaßte Politiker und Journalisten, Opfer von durch Unbekannte
begangenen Mordanschlägen geworden sind. Der türkische Menschenrechtsverein
berichtet für das Jahr 1997 von 109 Morden durch unbekannte Täter, von Januar bis Mai
1998 wurden 72 solcher Morde gezählt. Vgl. Amnesty International, Gutachten vom 19.
August 1998 an VG Frankfurt/Main, S. 7; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 8. bb) Verhaftung, Verhör und Folter Ebensowenig kann festgestellt
werden, daß Anknüpfungspunkt für Verhaftung, Verhör und Folter in der Westtürkei
allein die kurdische Volkszugehörigkeit des Betroffenen ist. Freilich wird in der
türkischen Presse über zahlreiche polizeiliche Aktionen gegen Kurden in der Westtürkei
berichtet, namentlich aus den Städten Adana, Mersin, Izmir und Istanbul, aber auch aus
sonstigen Städten des Mittelmeerraums (Provinzen Mugla, Antalya), der Ägäis
(Provinzen Aydin, Izmir, Manisa, Bursa, Balikesir), der Schwarzmeerregion (Provinzen
Rize, Samsun, Giresun, Edirne, Sakarya), Zentralanatoliens (Kayseri, Konya, Afyon,
Nigde, Ankara, Kirsehir) und der Cukurova-Region (Provinzen Adana und Mersin). Vgl.
die Dokumentationen von Oberdiek, Gutachten vom 1. November 1994 an VG Köln, S.
28 ff., 46 ff.; Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 24 ff.; Gutachten vom 20.
Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 5 ff., 15 ff., 38 ff., 50 ff.; Amnesty International,
Gutachten vom 17. Juli 1996 an VG München, S. 3; Kaya, Gutachten vom 14. Oktober
1997 an OVG MV, S. 57 ff.; Rumpf, Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG
Augsburg, S. 32 ff.; Gutachten vom 21. März 1995 an VG Köln, S. 13 ff.; Gesellschaft für
bedrohte Völker, Gutachten vom 28. Januar 1997 an SchlHOVG, S. 2 f.; Auswärtiges
Amt, Lagebericht vom 20. November 1997, S. 10; Lagebericht vom 18. September 1998,
S. 13; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG MV, S. 6 ,17. Die
dokumentierten Fälle vermitteln indes nicht den Eindruck, daß die Gefahr für einen
beliebigen in der Westtürkei lebenden Kurden, von der Polizei gerade mit Blick auf sein
Volkstum als Angehöriger oder Sympathisant einer "terroristischen" Vereinigung
verhaftet und unter Folter verhört zu werden, mehr als eine nur theoretische Möglichkeit
ist. Von den dokumentierten polizeilichen Verhaftungen in erheblichem Umfang
betroffen sind wiederum Funktionäre und Mitglieder der oben bereits erwähnten pro-
kurdischen Parteien. Am 8. Dezember 1994 wurden acht prominente Mitglieder,
darunter sieben ehemalige Parlamentsabgeordnete, der DEP vom
Staatssicherheitsgericht Ankara zu überwiegend langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt.
Die Verurteilung zu 15 Jahren Freiheitsstrafe wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten
Bande nach Art. 168 Abs. 2 TStGB wurde am 26. Oktober 1995 vom
Kassationsgerichtshof in vier Fällen bestätigt. Das Revisionsgericht hat dabei die
Auffassung vertreten, daß Personen, welche sich über einen längeren Zeitraum
öffentlich und prominent für die Ziele der PKK eingesetzt, diese aber nie nachweislich
kritisiert hätten, als einfache Mitglieder der PKK anzusehen seien, wenn sie dies nicht
widerlegen könnten. Tatsächlich waren jene vier Abgeordneten unter anderem mit einer
Fahne in den kurdischen Nationalfarben ins Parlament eingezogen, hatten dort den
Amtseid zunächst verweigert und ihn schließlich in kurdischer Sprache geleistet. In den
übrigen vier Fällen hat das Revisionsgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und
die Sache an das Staatssicherheitsgericht zurückverwiesen. Dieses hat am 11. April
1996 jene vier Angeklagten nach dem reformierten Art. 8 Abs. 1 ATG jeweils zu einer
Freiheitsstrafe von 14 Monaten und einer Geldstrafe von 116 Millionen TL (damals ca.
2.400,-- DM) verurteilt. Die Freiheitsstrafen waren durch die bereits in Haft verbrachten
Zeiten abgegolten, so daß die Angeklagten auf freiem Fuß sind. Dieses Urteil hat das
Revisionsgericht am 12. September 1996 bestätigt. Auf Beschwerde der vier verurteilten
ehemaligen Abgeordneten hat die Europäische Kommission für Menschenrechte die
Türkei am 25. November 1997 betreffend die Dauer des Polizeigewahrsams zu
Entschädigungszahlungen verurteilt. Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4.
Dezember 1996, S. 3, 20 ff.; Lagebericht vom 31. März 1998, S. 5; Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 7. Am 4. Juni 1997 verurteilte das Staatssicherheitsgericht Ankara
46 HADEP-Mitglieder, darunter den gesamten Vorstand, wegen "Unterstützung einer
illegalen Vereinigung" zu Haftstrafen von bis zu 22 Jahren. Anlaß war ein Vorfall auf
dem Parteitag der HADEP vom 23. Juni 1996 in Ankara, auf welchem die türkische
Flagge eingeholt und die Fahne der PKK gehißt worden war. Der türkische
Kassationsgerichtshof verwies das Verfahren am 19. Juni 1998 auf Beschwerde der
Verteidigung wegen "unvollständiger Untersuchung" an das Staatssicherheitsgericht
Ankara zurück. Gegen 7 Führungskräfte der HADEP hat das Staatssicherheitsgericht
Ankara am 16. Februar 1998 Haftbefehl erlassen. Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht
vom 31. März 1998, S. 6; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 7 f.; Taylan,
Gutachten vom 5. Dezember 1997 an VG Koblenz, S. 1 f. Die beschriebenen Vorgänge
zeigen auf, daß sich Mitglieder und Funktionäre von HEP, DEP bzw. HADEP in einer
Atmosphäre bewegen, die jedenfalls von staatlicher Seite durch Feindseligkeit geprägt
ist. Es kann daher nicht erstaunen, daß gerade die jeweils zuständigen örtlichen
Sicherheitskräfte die genannten Parteien vielfach pauschal als "zivilen verlängerten Arm
der PKK" betrachten und darin die ersichtliche Hemmungslosigkeit bei der Vornahme
von polizeilichen Eingriffen in die Rechte jenes Personenkreises ihre Motivlage findet.
Vgl. Kaya, Gutachten vom 5. Juni 1997 an VG Stuttgart, S. 4 f.; Oberdiek, Gutachten vom
1. November 1994 an VG Köln, S. 33; Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S.
61 f. Es steht fest, daß das Vorgehen der Sicherheitskräfte objektiv gegen die
Parteizugehörigkeit und die deswegen unterstellte "separatistische" politische
Überzeugung der Betroffenen gerichtet war. Hingegen gibt es keinerlei Anhaltspunkte
dafür, daß die Übergriffe daneben auch der Volkszugehörigkeit galten. Im Gegenteil
erscheint dies geradezu ausgeschlossen, weil in der HADEP auch andere
Bevölkerungsgruppen (z.B. Türken oder Araber) anzutreffen sind. Aus deren Reihen
kommen zumeist die Vorsitzenden der lokalen Vorstände, womit die HADEP dem
staatlichen Verdacht separatistischer Bestrebungen vorbeugen will. Vgl. Oberdiek,
Gutachten am 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 3 (Fn. 3). Es fehlen aber jegliche
Belege dafür, daß die Sicherheitskräfte bei ihrem Vorgehen gegen Angehörige der
HADEP nach Volkszugehörigkeit unterschieden hätten. Eine vergleichbare
Betrachtungsweise ist angebracht, soweit sich Festnahme- und Durchsuchungsaktionen
gegen kurdische Zeitungen und Verlage bzw. die dort tätigen Journalisten und
Mitarbeiter richten. Zwar ist der Gebrauch der kurdischen Sprache in Wort, Schrift und
Bild in der Türkei nicht mehr verboten. Die Gefahr, strafrechtlich belangt zu werden,
besteht indes bereits dann, wenn in Publikationen Sonderrechte für Kurden gefordert
werden. Vor allem die Tageszeitung Özgür Gündem (Freie Debatte) galt bei türkischen
Stellen als Sprachrohr der PKK, obwohl die Zeitung über die PKK nicht nur
wohlwollend, sondern auch kritisch berichtet hatte. Am 14. April 1994 stellte die Zeitung
mit Rücksicht darauf, daß sie bzw. ihre Mitarbeiter sich zahlreichen strafrechtlichen und
administrativen Maßnahmen ausgesetzt sahen, ihr Erscheinen ein. Ihre Arbeit wurde
seit dem 28. April 1994 von der Zeitung Özgür Ülke (Freies Land) fortgesetzt. Am 4.
Februar 1995 mußte auch diese Zeitung aufgrund mehrerer Verbotsanordnungen des
Staatssicherheitsgerichts Istanbul ihr Erscheinen einstellen. Nachfolgerin war zunächst
bis August 1995 die Tageszeitung Yeni Politika (Neue Politik), die erstmals am 12. April
1995 erschien und deren erste acht Ausgaben von der Staatsanwaltschaft
beschlagnahmt wurden. Jetzt erscheint die Tageszeitung Özgür Politika (Freie Politik),
die im Ausland gedruckt wird und aufgrund Ministerratsbeschlusses vom 7. November
1996 nicht mehr in die Türkei eingeführt werden darf. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft
vom 7. Juni 1994 an VG Gelsenkirchen; Auskunft vom 24. August 1994 an VG Hamburg;
Auskunft vom 24. Januar 1996 an Bundesministerium des Innern; Kaya, Gutachten vom
19. Juni 1997 an VG Karlsruhe, S. 3; Rumpf, Gutachten vom 10. Mai 1994 an VG
Aachen, S. 4; Gutachten vom 21. März 1995 an VG Köln, S. 3; Gutachten vom 1.
Oktober 1995 an VG Aachen, S. 3 (Fn. 1); Gutachten vom 22. Januar 1997 an VG
Bremen, S. 3; Gutachten vom 20. August 1997 an VG Hamburg, S. 2 (Fußnote 2);
Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 2, 9; Oberdiek, Gutachten vom
26. Mai 1995 an VG München, S. 8 (Fn. 4).; Taylan, Gutachten vom 29. Mai 1995 an VG
Gießen; Gutachten vom 1. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 3 f.; Gutachten vom 5.
Dezember 1997 an VG Koblenz, S. 6. Auf die Bekämpfung eines militanten
Separatismus gerichtet sind ferner Aktionen der Sicherheitskräfte gegen kulturelle
Einrichtungen der Kurden oder einzelne prominente kurdische Persönlichkeiten
(Intellektuelle, Gewerkschafter), denen von staatlicher Seite eine politische Nähe zur
PKK nachgesagt wird. Zahlreiche polizeiliche Durchsuchungen und Verhaftungen
stehen im Zusammenhang mit Hochzeits- und Beschneidungsfeiern, die am 27.
November (Jahrestag der PKK-Gründung) oder 15. August (Jahrestag der Aufnahme
des bewaffneten Kampfes durch die PKK) stattfinden. Solche Veranstaltungen sind
ausdrücklich oder sinngemäß Solidaritätskundgebungen für die militante kurdische
Bewegung in der Türkei, und dieser Einstellung gelten die polizeilichen Maßnahmen.
Entsprechend zu bewerten ist polizeiliches Einschreiten gegen Festlichkeiten an
anderen Tagen, insbesondere am 21. März, dem kurdischen Neujahrsfest (Newroz),
wenn dort politische Manifestationen der Identität des kurdischen Volkes erfolgen, so
wenn z.B. Fahnen oder Tücher mit den kurdischen Nationalfarben Gelb, Rot, Grün
geschwenkt, kurdische Lieder angestimmt werden oder kurdische Folkloregruppen
auftreten. Einen spezifisch politischen Inhalt haben ohnehin - häufig von der PKK
initiierte - Protestkundgebungen, die Militäraktionen in Ostanatolien oder die Ermordung
eines kurdischen Politikers oder Intellektuellen zum Gegenstand haben. Der politische
Charakter solcher Veranstaltungen ist prägend auch für die Reaktionen der
Sicherheitskräfte darauf. Zahlreiche Festnahmeaktionen der Polizei werden durch
bestimmte Vorfälle ausgelöst, hinter denen die militante kurdische Bewegung vermutet
wird, wie z.B. Bombenanschläge, Schießereien mit den Sicherheitskräften,
Plakatierungs- und Flugblattverteilungsaktionen. Es kann nicht festgestellt werden, daß
die türkische Polizei in einem erheblichen Teil der maßgeblichen Referenzfälle ohne
jedes konkrete Verdachtsmoment und nur mit Rücksicht auf die Volkszugehörigkeit
gegen Kurden in der Westtürkei vorgeht. Denn es gibt Anhaltspunkte dafür, daß sich in
den westtürkischen Städten ein Unterstützersystem von Personen ausgebildet hat, die
den PKK-Kämpfern Unterschlupf gewähren und ihnen materiell behilflich sind. Vgl.
Amnesty International, Gutachten vom 21. August 1997 an VG Berlin, S. 11; Kaya,
Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG MV, S. 56 ff., 66; Rumpf, Gutachten vom 7.
März 1995 an HmbOVG, S. 5; Gutachten vom 21. März 1995 an VG Köln, S. 5;
Gutachten vom 1. Oktober 1995 an VG Aachen, S. 5. Diesem Personenkreis gelten
jeweils die polizeilichen Maßnahmen, die ersichtlich von der Absicht getragen sind, der
für jene Anschläge bzw. politische Aktivitäten Verantwortlichen möglichst rasch habhaft
zu werden. Ein wahlloses Vorgehen gegen beliebige Bewohner der kurdischen
Stadtviertel, welches schon aus technischen Gründen stets nur einen verhältnismäßig
kleinen Kreis von Menschen erfassen könnte, gibt dabei keinen Sinn. Soweit aus
einzelnen Großstädten berichtet wird, dort sei versucht worden, kurdischstämmige
Bewohner von Stadtteilen zu registrieren und gegebenenfalls sogar ihre Häuser zu
markieren, Rumpf, Gutachten vom 28. Juli 1997 an VG Berlin, S. 27, ist nicht mitgeteilt,
in welchem Umfang diese Versuche tatsächlich realisiert wurden und inwiefern die
dabei gewonnenen Informationen bei polizeilichen Maßnahmen in diesen Stadtteilen
eine Rolle gespielt haben. Auch wenn im Zusammenhang mit spektakulären Aktionen
nicht selten bis zu mehrere hundert Personen verhaftet werden, so liegt die Annahme
nahe, daß es sich jeweils um solche Personen handelt, über die aus der Vergangenheit
bereits polizeiliche Erkenntnisse vorliegen oder auf die sich im Zusammenhang mit dem
die Verhaftung auslösenden Ereignis Hinweise aus der Bevölkerung beziehen. Daß
solche in der Westtürkei lebende Kurden, die bislang weder hier noch in der
ostanatolischen Heimat türkischen Stellen im Zusammenhang mit Separatismus
aufgefallen sind, einem signifikanten Risiko ausgesetzt sind, im Zusammenhang mit
einer routinemäßigen Personenkontrolle menschenrechtswidrig behandelt zu werden,
ist nicht anzunehmen. Es kann schon nicht davon ausgegangen werden, daß die
Beamten bei einer derartigen Kontrolle die kurdische Volkszugehörigkeit des
Betreffenden stets ohne weiteres feststellen können. Der Personalausweis (Nüfus), der
bei Behördengängen und Kontrollen vorgelegt werden muß und in dem unter anderem
Geburtsort sowie Provinz, Kreisstadt und Dorf, in dem die Geburt registriert wurde,
vermerkt sind, vgl. Kaya, Gutachten vom 20. Oktober 1994 an VG Köln, S. 12; Oberdiek,
Gutachten vom 1. November 1994 an VG Köln, S. 7; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28.
Oktober 1994 an VG Köln; Auskunft vom 7. April 1996 an VG Würzburg; Amnesty
International, Gutachten vom 3. März 1995 an VG Köln, gibt darüber in vielen Fällen
keinen Aufschluß. Das gilt insbesondere dann, wenn der Betreffende als Kind
kurdischer Eltern in der Westtürkei geboren wurde. Gleiches gilt, soweit der Betreffende
in einer solchen Provinz Ostanatoliens geboren wurde, in der es neben dem kurdischen
einen beachtlichen türkischen Bevölkerungsanteil gibt (wie z.B. in den Provinzen
Malatya, Kahramanmaras, Gaziantep, Erzincan, Erzurum und Kars). In solchen Fällen
ist nämlich nicht ersichtlich, wie mit dem für eine Routinekontrolle üblichen Aufwand
festgestellt werden soll, ob der Betreffende in einem ausschließlich von Kurden
bewohnten Dorf oder Stadtviertel geboren ist. Im übrigen werden die Provinzen
Gaziantep, Kahramanmaras, Erzincan, Erzurum und Kars wegen des hohen türkischen
Bevölkerungsanteils und der größeren "Staatsnähe" ihrer Bewohner insgesamt nicht
mehr als "kurdisch" betrachtet. Für die Provinz Kahramanmaras kommt hinzu, daß sie
weniger mit den militärischen Auseinandersetzungen zwischen türkischen
Sicherheitskräften und kurdischer Guerilla als mit den Konfessionskonflikten zwischen
Sunniten und Aleviten in Verbindung gebracht wird. Vgl. Kaya, Gutachten vom 4.
November 1994 an HmbOVG, S. 3; Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S. 32;
Verhandlungsniederschrift des SchlHOVG vom 22. Juni 1995, S. 8 f.; Rumpf,
Verhandlungsniederschrift des SchlHOVG vom 22. Juni 1995, S. 4; Gutachten vom 1.
Oktober 1995 an VG Aachen, S. 7, 17; Amnesty International, Gutachten vom 13. März
1995 an HmbOVG. Selbst wenn der Betreffende in einer ausschließlich oder
überwiegend von Kurden bewohnten Provinz geboren ist, ist dies anhand des
Personalausweises nicht stets ohne weiteres ersichtlich. Denn Provinz, Kreis und Dorf
der Geburtsregistrierung können nach einem Umzug auf den neuen Wohnort
umgeschrieben werden. Vgl. Kaya, Gutachten vom 20. Oktober 1994 an VG Köln, S. 13;
Oberdiek, Gutachten vom 1. November 1994 an VG Köln, S. 13; Amnesty International,
Gutachten vom 3. März 1995 an VG Köln, S. 4; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28.
Oktober 1994 an VG Köln. Dies hat zwar auf den Eintrag des Geburtsorts keinen
Einfluß. Ist der Betreffende aber in einem außerhalb der Provinzhauptstadt gelegenen
ostanatolischen Dorf geboren, so ist für einen Polizeibeamten in der Westtürkei im
allgemeinen nicht ohne weitere Aufklärung erkennbar, daß der Betreffende aus der
Kurdenregion stammt. Auch die Sprache wird anläßlich einer Routinekontrolle den
Betreffenden nicht immer als Kurden verraten. Freilich kann ein Akzent, mit dem jemand
die türkische Sprache spricht, unter Umständen Aufschluß über seine kurdische
Volkszugehörigkeit geben. Vgl. Kaya, Gutachten vom 20. Oktober 1994 an VG Köln, S.
13; Gutachten vom 4. November 1994 an HmbOVG, S. 8; Gutachten vom 18. Juni 1996
an VG Sigmaringen, S. 4; Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 7; Oberdiek,
Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 93 f.; Franz, Stellungnahme vom 25.
August 1994 an VG Köln. Dies setzt allerdings voraus, daß der Betreffende als Kind
zunächst lediglich Kurdisch als Muttersprache und erst später in der Schule Türkisch
gelernt hat. Das ist aber nicht bei allen kurdischen Bewohnern Ostanatoliens der Fall.
Vielmehr gilt für einen Teil dieser Menschen, insbesondere für die kurdischen Bewohner
der Provinzen Erzincan, Kahramanmaras und Gaziantep, daß sie nur die türkische
Sprache beherrschen. Vgl. Kaya, Gutachten vom 4. November 1994 an HmbOVG, S. 2;
Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S. 32. Stammt daher ein ausschließlich
die türkische Sprache beherrschender Kurde aus einer Provinz Ostanatoliens, in
welcher auch Türken leben, so hat seine türkische Aussprache dieselbe Klangfarbe wie
diejenige von türkischen Bewohnern derselben Region, so daß die Sprache über seine
ethnische Zugehörigkeit keine Aussage erlaubt. Ebenso verhält es sich, wenn jemand
zweisprachig aufwächst, also die türkische Sprache neben der kurdischen von Geburt
an erlernt. Für die kurdischen Bewohner der Provinzen Erzincan, Kahramanmaras und
Gaziantep gilt im übrigen allgemein, daß sie anhand ihres Sprachverhaltens von dort
lebenden türkischen Volkszugehörigen nicht zu unterscheiden sind. Vgl. Kaya,
Gutachten vom 4. November 1994 an HmbOVG, S. 8; Gutachten vom 11. April 1995 an
VG Aachen, S. 32. Daß bei einer Routinekontrolle eine ehrliche Antwort auf die Frage
"Bist Du Kurde?" Aufschluß über die ethnische Identität des Betreffenden liefern soll, so
Oberdiek, Gutachten vom 1. November 1994 an VG Köln, S. 7; ähnlich Kaya,
Verhandlungsniederschrift des SchlHOVG vom 22. Juni 1995, S. 8, ist nicht
nachvollziehbar. Daß in der Türkei, in welcher jede Unterscheidung der Staatsbürger
nach Volkszugehörigkeit der gültigen Staatsdoktrin zuwiderläuft, eine derartige
Fragestellung amtlicherseits überhaupt zulässig ist bzw. vor dem erwähnten Hintergrund
praktiziert wird, müßte eher überraschen. Jedenfalls würde ein Kurde, der auf eine
derartige Frage antworten würde, er sei Türke, sich der genannten Staatsdoktrin
gegenüber loyal verhalten und deshalb selbst im Falle nachträglichen Bekanntwerdens
des Volkstums keine hierauf fußenden Nachteile fürchten müssen. Daß sich angesichts
dessen die Menschen in der Praxis anders verhalten, ist nach der Lebenserfahrung
nicht zu erwarten. Damit wird nicht in Abrede gestellt, daß im Rahmen einer
Routinekontrolle in der Westtürkei Polizeibeamte in zahlreichen Fällen auf die kurdische
Volkszugehörigkeit des Betreffenden schließen können. Daraus folgt aber nicht, daß
ohne Vorliegen weiterer Verdachtsmomente in nennenswertem Umfang Kurden
anläßlich solcher Routinekontrollen verhaftet, zur Wache mitgenommen und dort unter
Folter verhört werden. Eine derartige Schlußfolgerung erscheint schon mit Blick auf die
Größe des potentiell betroffenen Personenkreises von bis zu 9 Millionen in der
Westtürkei lebenden Kurden nicht realitätsgerecht. Auf die vorgenannte Zahl kommt es
hier an. Denn auch für die Beantwortung der Frage, ob hinreichende
Verfolgungssicherheit am Ort einer inländischen Fluchtalternative angenommen werden
kann, ist nicht allein auf die Zahl der Beispielsfälle von Übergriffen abzustellen, sondern
die Größe der betroffenen Bevölkerungsgruppe zu berücksichtigen. Vgl. BVerwG, Urteil
vom 30. April 1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (131) = DVBl. 1996, 1257 = NVwZ
1996, 1110. Allerdings wird in der vorbezeichneten Entscheidung die Ansicht als
zutreffend bewertet, "daß bei der Prüfung der Verfolgungssicherheit auf die Gesamtzahl
der in andere Landesteile ausgewichenen Mitglieder der gefährdeten Gruppe
abzustellen ist, also eine neuerliche Verfolgungsgefahr nicht allein mit dem Hinweis
darauf ausgeschlossen werden kann, daß insgesamt ca. 6 bis 10 Millionen Kurden
außerhalb des Südostens der Türkei weitgehend friedlich und unbehelligt leben
können". Der letztgenannte Rechtssatz, dessen Richtigkeit vom erkennenden Senat
nicht bezweifelt wird, setzt jedoch zu seiner Anwendung in tatsächlicher Hinsicht
voraus, daß zwischen solchen Gruppenangehörigen, die seit langem in der
Zufluchtsregion leben und vor Übergriffen sicher sind, und solchen, die vor nicht allzu
langer Zeit zugewandert und zahlreichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind,
unterschieden werden kann. Diese Voraussetzung ist jedoch hinsichtlich der in der
Westtürkei lebenden Kurden nicht erfüllt. Den dokumentierten Presseberichten über
Durchsuchungs- und Festnahmeaktionen der Sicherheitskräfte läßt sich in aller Regel
nicht entnehmen, wann die betroffenen Bewohner kurdischer Stadtviertel und Dörfer in
der Westtürkei zugewandert bzw. ob sie etwa bereits dort geboren waren. Daß die
Sicherheitskräfte in dieser Hinsicht differenzieren, ist im übrigen nicht nachvollziehbar.
Sicherlich vermuten sie die Anhänger der PKK ausschließlich oder jedenfalls in erster
Linie in von Kurden bewohnten Stadtvierteln und Dörfern. Daß für sie dabei das
Zuzugsdatum von irgendeinem Interesse ist, ist nicht ersichtlich. Es gibt keinen
Erfahrungssatz des Inhalts, daß jenes Datum eine Aussagekraft in bezug auf mögliche
PKK-Affinität entfaltet. Für die türkischen Sicherheitskräfte kommt es in erster Linie
darauf an, die PKK erfolgreich zu bekämpfen. Dieser Aufgabe dient das unnachsichtige
Vorgehen gegen Personen, die der Unterstützung der militanten kurdischen Bewegung
verdächtigt werden. Um die diesem unterstützenden Umfeld zugehörigen Personen
ausfindig zu machen, sind Geburtsort und Datum der Aufenthaltsnahme in der
Westtürkei ebenso unzureichend wie ungeeignet. Unzureichend sind diese Kriterien
deswegen, weil die Zahl der Kurden, die seit 1980 aus ihrem angestammten
Siedlungsgebiet in die Westtürkei zugewandert sind, in die Millionen geht und der
Polizeiapparat weder personell noch technisch in der Lage wäre, einen derart großen
Personenkreis auch nur annähernd durch Ermittlungsmaßnahmen wie Verhaftung und
Vernehmung zu erfassen. Ungeeignet sind jene Kriterien deswegen, weil nicht wenige
Kurden, die bereits in der Westtürkei geboren oder aufgewachsen sind, die PKK
unterstützen. In den letzten Jahren entdecken immer mehr vor allem junge Menschen
eine "kurdische" Identität, obwohl sie kein Wort Kurdisch sprechen. Während die älteren
in der Türkei lebenden Kurden mit der Forderung nach einem unabhängigen kurdischen
Staat eher zurückhaltend sind, ist es vor allem ein beachtlicher Teil der kurdischen
Jugend, der sich für jene Idee begeistert. Folgerichtig erhält die von der PKK geführte
militante kurdische Bewegung Zulauf von zahlreichen jungen Menschen, zum Teil sogar
nichtkurdischer Herkunft, auch aus dem Ausland. Vgl. Rumpf, Gutachten vom 7. März
1995 an HmbOVG, S. 5 f.; Gutachten vom 21. März 1995 an VG Köln, S. 4 ff.; Gutachten
vom 1. Oktober 1995 an VG Aachen, S. 5 f.; Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar 1997
an VG Hamburg, S. 4. Nach Unterstützern der PKK nur im Kreis in Ostanatolien
geborener bzw. von dort vor geraumer Zeit zugezogener Kurden zu suchen, wäre daher
offensichtlich verfehlt. Wenn die türkischen Sicherheitskräfte, denen fehlende
Professionalität in der Auseinandersetzung mit der PKK soweit ersichtlich nicht
nachgesagt wird, sich bei ihren Ermittlungsmaßnahmen in der Westtürkei an den
offensichtlich untauglichen Kriterien Geburtsort und Aufenthaltsdauer orientieren
würden, wäre dies ein geradezu dilettantisches Vorgehen, für welches es keine
Erklärung gibt. In Wirklichkeit lassen die wiedergegebenen Fakten nur die
Schlußfolgerung zu, daß die türkischen Sicherheitskräfte in der Westtürkei sich bei ihren
Maßnahmen typischerweise von Verdachtsmomenten leiten lassen, die über die
Feststellung des Geburtsorts und der Aufenthaltsdauer hinausgehen. Ebensowenig
liefern die Presseberichte Anhaltspunkte dafür, daß die Sicherheitskräfte bei ihrem
Vorgehen in räumlicher Hinsicht differenzieren. Es gibt offensichtlich keine "alten"
loyalen kurdischen Stadtviertel, die sie in Ruhe lassen, und neue kurdische Stadtviertel,
in denen sie regelmäßig intervenieren. Die fehlende Unterscheidung trägt dem Umstand
Rechnung, daß Kurden aus Ostanatolien sich aus - noch weiter unten darzustellenden -
wirtschaftlichen Gründen in Gegenden niederlassen, wo schon Kurden siedeln. Auf
diese Weise sind ethnisch weitgehend homogene kurdische Stadtviertel und Dörfer mit
ganz unterschiedlicher Verweildauer der Bewohner entstanden. Zwar gibt es in der
Westtürkei auch Menschen, die ihre kurdische Herkunft verleugnen und in von
türkischen Volkszugehörigen dominierten Stadtvierteln leben. Daß solche Menschen,
die wegen Abwendung von ihrem früheren Volkstum schwerlich noch als "Kurden"
bezeichnet werden können und auch von den Sicherheitskräften nicht als solche
betrachtet werden, in der geschätzten Gesamtzahl von bis zu 9 Millionen Kurden in der
Westtürkei enthalten sind, kann nicht angenommen werden. Denn da Volkszählungen
mit Angabe zur Volkszugehörigkeit in der Türkei, da unvereinbar mit der geltenden
Staatsdoktrin, nicht stattfinden, kann jene Schätzung seriöserweise nur darauf beruhen,
daß die Bewohner der kurdisch dominierten Stadtviertel und Dörfer in der Westtürkei
zusammengezählt werden. Allein die Addition der unten auf S. 60 angegebenen Zahlen
der kurdischen Bewohner in den städtischen Ballungszentren von Istanbul, Izmir, Adana
und Mersin ergibt, bezogen auf die Mitte der neunziger Jahre, eine Zahl von fast 5
Millionen Menschen. Angesichts der anhaltend hohen Zuwanderungsrate in die
Westtürkei erscheint eine aktuelle Gesamtzahl von bis zu 9 Millionen Bewohnern der
kurdischen Stadtviertel und Dörfer in der Westtürkei ohne weiteres realistisch.
Jedenfalls kann die vom Bundesverwaltungsgericht wiedergegebene konservative
Schätzung von 6 Millionen Menschen nicht unterschritten werden. Mit Blick auf diese
Größenordnung erscheint eine nennenswerte Verfolgungsgefahr für beliebige
Bewohner kurdischer Stadtviertel und Dörfer in der Westtürkei auch aus folgenden
Gründen ausgeschlossen: Laut Veröffentlichung des Türkischen
Menschenrechtsvereins vom 14. Januar 1995 wurden für die Türkei im Jahre 1994
landesweit 1.209 Verhaftungen und 14.473 Festnahmen registriert. Vgl. Anlage zum
Gutachten der Gesellschaft für bedrohte Völker vom 3. März 1995 an VG Aachen. Dabei
sind unter "Verhaftungen" offenbar solche aufgrund richterlichen Haftbefehls und unter
"Festnahmen" offenbar solche in ausschließlich polizeilicher Kompetenz zu verstehen.
Es kann unterstellt werden, daß die genannten Zahlen nur Inhaftierungen mit
politischem Hintergrund erfassen, Festnahmen im Zusammenhang mit gewöhnlichen
Strafverfahren daher nicht einbezogen sind. Jedenfalls belegt diese Größenordnung mit
Rücksicht auf die Gesamtzahl der in der Türkei lebenden Kurden ebenso wie die oben
erfolgte Bewertung der Referenzfälle die Annahme, daß Kurden in der Westtürkei nur
bei Hinzutreten konkreter Verdachtsmomente einer nennenswerten Gefahr
asylerheblicher Verfolgung ausgesetzt sind. Letzteres ist der Fall, wenn sie sich durch
ihr Verhalten bei den türkischen Sicherheitskräften der Unterstützung der militanten
kurdischen Bewegung verdächtig gemacht haben oder insbesondere aufgrund von
Denunziationen in dieser Hinsicht verdächtigt werden. cc) Mittelbare Staatsverfolgung
Eine hinreichende Verfolgungssicherheit der Kurden läßt sich auch nicht unter dem
Gesichtspunkt der mittelbaren Staatsverfolgung verneinen. Die Gefahr für Kurden in der
Westtürkei, Opfer von - durch die türkische Staatsgewalt geduldeten - Übergriffen der
türkischen Bevölkerungsmehrheit zu werden, ist gering. Allerdings ist es seit Herbst
1992 in der Westtürkei verschiedentlich zu Ausschreitungen gegen die ortsansässige
kurdische Bevölkerung gekommen. Besondere Aufmerksamkeit erregten Vorfälle in
Fethiye (Provinz Mugla), Urla (Provinz Izmir), Alanya (Provinz Antalya), Ezine (Provinz
Canakkale) und Erdemli (Provinz Mersin). Auch in anderen Orten gab es ähnliche
Vorfälle. Vgl. Kaya, Gutachten vom 22. Juni 1998 an VG Freiburg, S. 5 f.; Oberdiek,
Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 14, 59 ff.; Rumpf, Gutachten vom
10. Mai 1994 an VG Aachen, S. 33 ff. Anlaß waren häufig die Trauerfeiern für bei den
Kämpfen in Ostanatolien gefallene Soldaten und Polizisten; es wurden antikurdische
Parolen gerufen und anschließend kurdische Bewohner sowie deren Geschäfte und
Wohnungen angegriffen. Dabei wurden Häuser und Läden beschädigt oder zerstört und
Personen verletzt, in einigen Fällen schwer. Es wird beklagt, daß die Polizei nicht oder
nicht angemessen eingeschritten sei. Andererseits ist für einen Teil der näher
beschriebenen Fälle belegt, daß sie nicht untätig geblieben ist, sondern unter den
Angreifern Verhaftungen vorgenommen, zu antikurdischen Demonstrationen angereiste
Personen an der Weiterfahrt gehindert bzw. durch ihren Einsatz weitere
Ausschreitungen verhindert hat. Im übrigen handelt es sich bei den dokumentierten
Fällen von Übergriffen türkischer Zivilisten gegen Kurden in der Westtürkei um Vorfälle,
in die keine größeren Menschengruppen verwickelt waren. In einigen Fällen waren
Opfer Funktionäre der DEP bzw. HEP bzw. ihnen nahestehende Personen; dieser
Personenkreis ist aus den bereits oben beschriebenen Gründen häufig Zielscheibe
antikurdischer Übergriffe durch Polizisten oder Zivilisten. Täter waren zum Teil
ausgewiesene Rechtsradikale, deren antikurdischer Fanatismus nicht repräsentativ für
die Einstellung der Mehrheit der türkischen Bevölkerung ist. Vgl. Oberdiek, Gutachten
vom 1. November 1994 an VG Köln, S. 80 ff.; Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG
München, S. 69; Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 26 f., 43 ff., 58 ff.,
86 ff.; Kaya, Gutachten vom 15. September 1997 an SchlHOVG, S. 37 ff. Auch unter
Berücksichtigung der beschriebenen Vorfälle ist weiterhin die Feststellung
gerechtfertigt, daß es bisher größere Unruhen zwischen Türken und Kurden nicht
gegeben hat. Nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen, zu denen es anläßlich
der Beerdigung junger im Südosten gefallener Türken gelegentlich gekommen ist, hat
sich die Lage jeweils wieder schnell beruhigt. In den Jahren seit 1994 hat es ethnisch
bedingte Unruhen zwischen Türken und Kurden nicht gegeben. Vgl. Auswärtiges Amt,
Lagebericht vom 30. Juni 1995, S. 4; Lagebericht vom 7. Dezember 1995, S. 4;
Lagebericht vom 10. April 1997, S. 6; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 5. Nach
alledem rechtfertigen die dokumentierten Übergriffe nach Zahl und Inhalt nicht die
Annahme, jene Vorfälle seien für das gegenwärtige und künftige Verhalten der
türkischen Bevölkerung gegenüber den Kurden in der Westtürkei typisch und die
Sicherheitskräfte würden stets oder in den meisten Fällen untätig bleiben, obschon sie
die Ausschreitungen unterbinden könnten. dd) "Verfolgungsdichte" in der Westtürkei Mit
Blick auf die zahlreichen Presseberichte über polizeiliche Maßnahmen gegen Kurden in
der Westtürkei sei an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, daß die Aufzählung einer
für sich gesehen beträchtlichen Anzahl von Übergriffen allein die Annahme einer
besonderen Gefährdung nicht nahezulegen vermag. Als ausreichender Beleg für eine
asylbegründende Bedrohung kann eine derartige "Liste" nämlich nicht losgelöst von der
Frage stehen, über welchen Zeitraum sich die berichteten Vorfälle erstrecken und wie
groß die betroffene Bevölkerungsgruppe ist. Die für die asylrechtliche
Gefährdungsprognose maßgeblichen Kriterien "Risiko" und "Zumutbarkeit" erfordern es
im vorliegenden Zusammenhang daher, sich bewußt zu machen, daß der fragliche
Personenkreis etwa 9 Millionen Menschen zählt und nach den obigen Darlegungen
keinesfalls weniger als 6 Millionen Menschen umfaßt. Die Zahl der für eine unmittelbare
Staatsverfolgung relevanten Referenzfälle ist in jedem Fall um diejenigen zu bereinigen,
in denen erwiesenermaßen Anlaß für das Vorgehen der Sicherheitskräfte spezielle
Verdachtsmomente der beschriebenen Art waren. Entsprechend ist hinsichtlich der
mittelbaren Staatsverfolgung mit den Fällen zu verfahren, in denen polizeiliches
Einschreiten zur Beendigung der Übergriffe geführt hat. Zahlreiche Zeitungsmeldungen
lassen zudem eine eindeutige Bewertung nicht zu, weil nähere Einzelheiten über die
Gründe der Verhaftungen oder - im Falle von Ausschreitungen - über die polizeilichen
Reaktionen nicht mitgeteilt werden. Der verbleibende Rest von Fällen, in denen
nachgewiesenermaßen allein kurdische Volkszugehörigkeit Anknüpfungspunkt für
polizeiliche Aktionen war bzw. die Polizei zum Schutz kurdischer Bewohner nichts
unternommen hat, erlaubt nicht den Schluß, daß bei der großen Masse der bis zu 9
Millionen in der Westtürkei lebenden, politisch nicht exponierten Kurden das Risiko,
Opfer asylerheblicher Verfolgungsmaßnahmen zu werden, die hier maßgebliche
Zumutbarkeitsschwelle überschreitet. Indiz dagegen ist auch, daß bislang eine
Massenflucht in der Westtürkei lebender Kurden nicht festzustellen ist. Allerdings darf
sich die asylrechtliche Prognose nicht darin erschöpfen, die für die Beurteilung einer
etwaigen kollektiven Verfolgungslage maßgeblichen Fakten bloß in einer Art
Momentaufnahme festzuhalten. Es sind vielmehr darüber hinaus asylrechtlich
bedeutsame politische Entwicklungen in den Blick zu nehmen, die sich im Zeitpunkt der
gerichtlichen Entscheidung bereits abzeichnen. So ist - auch wegen des Zuzuges
Zwangsumgesiedelter oder von sonstigen Militäraktionen betroffener Kurden -
anzunehmen, daß der Einfluß der PKK in den Hauptwohngebieten der Kurden in der
Westtürkei eher zunehmen wird, wenn die militärischen Auseinandersetzungen
zwischen Guerilla und Armee in Ostanatolien andauern werden. Die Vermutung liegt
nahe, daß die Aktionen der Polizei in der Westtürkei gegen tatsächliche oder
vermeintliche Anhänger der PKK unter den Kurden dann häufiger vorkommen als bisher
und daß das Verhältnis zwischen der (ethnisch) türkischen und der kurdischen
Bevölkerung im Westen erheblichen Belastungen ausgesetzt sein wird. Gleichwohl ist
ein Kurde, der in der Westtürkei seinen alltäglichen Geschäften nachgeht, ohne sich
zugleich aktiv für spezifische Belange seines Volkes einzusetzen, nach dem
gegenwärtigen Erkenntnisstand jetzt und auf absehbare Zeit keiner ernstzunehmenden
Gefahr ausgesetzt, Opfer von Übergriffen der türkischen Staatsgewalt oder - von dieser
geduldet - der türkischen Bevölkerungsmehrheit zu werden. Denn die Lage der Kurden
in der Westtürkei ist aus verschiedenen Gründen nicht mit derjenigen in Ostanatolien
vergleichbar. Wie dargelegt, konzentriert sich die kurdische Bevölkerung in der
Westtürkei weitgehend in speziellen Regionen. Ethnisch homogene Stadtviertel ab
einer bestimmten Größenordnung besitzen aber - wie auch die Beispiele von
westeuropäischen und nordamerikanischen Großstädten zeigen - eine strukturelle
Wehrhaftigkeit, die es ausschließt, daß ihre Bewohner hilflose Opfer von Angriffen der
Angehörigen anderer Ethnien werden. Dem entspricht es, daß Ausbrüche von
Kurdenfeindlichkeit unter der Zivilbevölkerung sich auf kleinere Ortschaften in der
Westtürkei beschränken. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1996 an
SchlHOVG, S. 86 ff. Hinzu kommt, daß sich die hier zu betrachtenden Siedlungsgebiete
- ganz anders als die ländlichen ostanatolischen Regionen - durch Urbanität und
Weltoffenheit auszeichnen, so daß Operationen der Sicherheitskräfte und
Ausschreitungen der Bevölkerungsmehrheit nicht im Verborgenen stattfinden können.
Ungeachtet der bereits erwähnten Restriktionen gegenüber kurdenfreundlichen
Zeitungen ist weiterhin von einer im wesentlichen funktionierenden Pressefreiheit in der
Westtürkei auszugehen. Zwar sieht die konservativ orientierte Presse seit dem Briefing
des Generalstabs der türkischen Streitkräfte im Frühsommer 1993 im Wege der
Selbstzensur davon ab, von Übergriffen der Sicherheitskräfte zu berichten. Dagegen
bemühen sich sozialdemokratisch und liberal orientierte Blätter zunehmend um eine
kritische Berichterstattung, die auch Menschenrechtsverletzungen wie Folter oder
Strafprozesse im Zusammenhang mit Gesinnungsdelikten thematisieren.
Linksgerichtete, kurdenfreundliche Zeitungen sind zwar nach wie vor zahlreichen
administrativen und strafrechtlichen Behinderungen ausgesetzt, können sich aber bis
heute behaupten - häufig im Wege des Namenswechsels nach vorübergehender
Einstellung. Sie sind weiterhin Garant dafür, daß weiterhin über Ereignisse berichtet
wird, die das Verhalten staatlicher Stellen in einem kritischen Licht erscheinen lassen.
Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. Januar 1996 an Bundesministerium des Innern;
Rumpf, Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 1 ff.; Gutachten vom 1.
Februar 1998 an VG Berlin, S. 1 ff. Dies alles bedeutet für die Regierenden, die bis
heute ihre Orientierung auf die westliche Staatengemeinschaft, die sich etwa im Wunsch
auf Zugehörigkeit zur Europäischen Union manifestiert, nicht aufgegeben haben, einen
Druck dahin, für ein halbwegs gedeihliches Zusammenleben der beiden
Bevölkerungsgruppen zu sorgen und zugleich einen überdimensionierten, zu einer
Kriminalisierung der gesamten kurdischen Minderheit führenden Einsatz der
Sicherheitskräfte zu vermeiden. Jedenfalls gibt es gegenwärtig keinen überzeugenden
Grund für die Annahme, die derzeitige Sicherheitslage der Kurden in der Westtürkei
könnte sich in absehbarer Zeit signifikant verändern. Bedenken gegen die
Heranziehung des Gesichtspunktes der inländischen Fluchtalternative bestehen nicht
deswegen, weil die - nach den obigen Ausführungen nicht feststellbare, aber im
vorliegenden rechtlichen Zusammenhang unterstellte - Gruppenverfolgung der Kurden
in Ostanatolien unmittelbare staatliche Verfolgung wäre. Denn insofern wäre, wie die
vorstehenden Ausführungen erweisen, die Türkei als mehrgesichtiger Staat anzusehen,
der die Kurden jedenfalls im westlichen Landesteil unbehelligt läßt. Vgl. zum Begriff des
mehrgesichtigen Staates: BVerfG, Beschluß vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -,
BVerfGE 80, 315 (342); Beschluß vom 10. November 1989 - 2 BvR 403/94 u.a. -, DVBl.
1990, 201 = InfAuslR 1990, 34; BVerwG, Urteil vom 10. Mai 1994 - 9 C 434.93 -, NVwZ
1994, 1123 = DVBl. 1994, 1407 = InfAuslR 1994, 375. Mit der Einschätzung, daß
Kurden in der Westtürkei vor politischer Verfolgung hinreichend sicher sind, befindet
sich der Senat im Einklang mit der ihm bekanntgewordenen neueren obergerichtlichen
Rechtsprechung. Vgl. VGH BW, Urteil vom 4. November 1996 - A 12 S 3220/95 -, S. 16
ff.; OVG Bremen, Urteil vom 18. März 1998 - 2 BA 30/96 -, S. 55 ff.; HmbOVG, Urteil vom
4. März 1998 - Bf V 48/94 -, S. 25 ff.; NdsOVG, Urteil vom 22. Januar 1998 - 11 L
4300/96 -, S. 19 ff.; HessVGH, Urteil vom 24. November 1997 - 12 UE 725/94 -, S. 51 ff.;
SächsOVG, Urteile vom 27. Februar 1997 - A 4 S 293/96 -, S. 58 ff; - A 4 S 434/90 -, S.
19. Die entgegenstehende Rechtsprechung des SchlHOVG, vgl. Urteil vom 26. April
1995 - 4 L 18/95 -; Urteil vom 22. Juni 1995 - 4 L 30/94 -, hat der Überprüfung durch das
Bundesverwaltungsgericht nicht standgehalten. Vgl. Urteil vom 30. April 1996 - 9 C
170.95 -, BVerwGE 101, 123 = DVBl. 1996, 1257 = NVwZ 1996, 1110; Urteil vom 30.
April 1996 - 9 C 171.95 -, BVerwGE 101, 134. Unabhängig davon hat der erkennende
Senat begründet, weshalb er die Einschätzung des Verfolgungsrisikos für in der
Westtürkei zugewanderte Kurden durch das SchlHOVG nicht teilt. Vgl. Urteil vom 11.
März 1996 - 25 A 5801/94.A -, S. 67 ff. Hieran wird festgehalten. c) Wirtschaftliche
Voraussetzungen Hinsichtlich der wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen
Fluchtalternative gilt im vorliegenden Fall, da der Kläger die Türkei unverfolgt verlassen
hat, der gewöhnliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die hier
in Rede stehenden existentiellen Nachteile und Gefahren drohen daher, wenn bei der
vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten
Lebenssachverhalts die für deren Realisierung sprechenden Umstände ein größeres
Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen
überwiegen. Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, DVBl. 1991, 1089,
1093; Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90 -, Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG, Nr.
147. In bezug auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen
Fluchtalternative ist entscheidend, ob der von regionaler Verfolgung Bedrohte bei
generalisierender Betrachtung auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu
erwarten hat. Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Februar 1989 - 9 C 30.87 -, Buchholz 402.25, §
1 AsylVfG, Nr. 104; Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, DVBl. 1991, 1090, 1092;
Urteil vom 31. März 1992 - 9 C 40.91 -, NVwZ-RR 1992, 583, 584; Urteil vom 14.
Dezember 1993 - 9 C 45.92 -, DVBl. 1994, 524, 526. Das ist bei erwerbsfähigen
Personen grundsätzlich der Fall, wenn es ihnen trotz Bereitschaft zur Ausübung auch
wenig attraktiver Tätigkeiten selbst längerfristig nicht gelingen wird, ein Einkommen zu
erzielen, das, mag es auch im unteren Bereich des am Ort der Fluchtalternative
Üblichen liegen, das wirtschaftliche Überleben gewährleistet. Vgl. BVerwG, Urteil vom
30. April 1991 - 9 C 105.90 -, Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG, Nr. 145; Beschluß vom 24.
März 1995 - 9 B 747.94 -, NWVBl. 1995, 381 = NVwZ 1996, 85. Dies ist für aus
Ostanatolien in die Westtürkei zuwandernde Kurden zu verneinen. aa) Abwanderung in
den Westen Die Abwanderung von in Ostanatolien lebenden Kurden ist keine neuartige
Erscheinung. Sie hat sich freilich in den letzten Jahren deutlich verstärkt. Ursache ist die
ruinöse Wirtschaftslage in Ostanatolien, die durch die militärische Auseinandersetzung
zwischen Staat und Guerilla und der diesbezüglichen Einbeziehung der
Zivilbevölkerung verschärft wird. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Februar 1997
an SchlHOVG, S. 1; Auskunft vom 2. April 1997 an VG Berlin, S. 6; Auskunft vom 8. Juli
1998 an VG Mainz, S. 2; Kaya, Gutachten vom 15. September 1997 an SchlHOVG, S. 6;
Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 103 f. Die ökonomische und
soziale Situation in Ostanatolien ist gekennzeichnet durch geringes Pro-Kopf-
Einkommen und unzureichende gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung, durch
Stillegung alter und Nichtinbetriebnahme neuer Fabriken, durch einen Zusammenbruch
des gesamten Handels, durch Schließung von Schulen und Überschuldung der Städte.
Vgl. Kaya, Gutachten vom 6. Oktober 1993 an VG Aachen, S. 18 ff.; Rumpf, Gutachten
vom 19. Mai 1994 an VG Chemnitz, S. 3 ff.; Gutachten vom 22. Januar 1997 an VG
Bremen, S. 4. Die Lebensverhältnisse in der Türkei sind durch ein starkes West-Ost-
Gefälle geprägt. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in Ostanatolien (300 Dollar) beläuft
sich auf gerade ein Zehntel desjenigen in der Westtürkei (etwa 2.900 Dollar). Während
es z.B. in Izmit (Kocaeli) 4.500 Dollar beträgt, sinkt es in Diyarbakir auf 500 Dollar und in
Hakkari auf 170 Dollar. Aufgrund der militärischen Auseinandersetzung im Südosten
und der Abwanderung waren dort 4.000 Dorfschulen geschlossen; viele wurden
inzwischen wieder geöffnet, die materiellen Bedingungen sind allerdings schwierig. Vgl.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 4; Auskunft vom 17.
Juni 1997 an VG Hamburg, S. 10; Lagebericht vom 20. November 1997, S. 9 f.; Auskunft
vom 8. Juli 1998 an VG Mainz, S. 4; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 12 f.;
Gesellschaft für bedrohte Völker, Gutachten vom 28. Januar 1997 an SchlHOVG, S. 2.
Der anhaltende Migrationsdruck in Ost-West-Richtung hat dazu geführt, daß heute etwa
9 Millionen Kurden, d.h. über die Hälfte der kurdischstämmigen Bevölkerung der Türkei,
dauerhaft im Westen des Landes leben. Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4.
Dezember 1996, S. 6; Lagebericht vom 10. April 1997, S. 6; Lagebericht vom 31. März
1998, S. 3; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 5. Für einzelne Großstädte
außerhalb Ostanatoliens wird die Zahl der kurdischen Einwohner wie folgt angegeben,
wobei wiederum zu berücksichtigen ist, daß diese Zahlen für 1998 noch deutlich höher
liegen dürften (vgl. dazu oben S. 31):
Großraum Istanbul 3 - 3,5 Millionen Izmir 800.000 Adana 700.000 Mersin über 350.000
6
Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 1996, S. 6; Lagebericht vom 10.
April 1997, S. 6; Lagebericht vom 31. März 1998, S. 3; Lagebericht vom 18. September
1998, S. 5; Oberdiek, Gutachten vom 1. November 1994 an VG Köln, S. 1 (Fn. 1);
Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 2 (Fn. 1); Gesellschaft für bedrohte
Völker, Gutachten vom 3. März 1995 an VG Aachen, S. 5; Amnesty International,
Stellungnahme vom 20. Juli 1994, S. 14. Im übrigen leben Kurden heute in zahlreichen
anderen Landesteilen der Türkei außerhalb der ursprünglichen Siedlungsgebiete,
7
namentlich in den Städten und Kreisen des Mittelmeerraums (Provinzen Mugla,
Antalya), der Ägäis (Provinzen Aydin, Izmir, Manisa, Bursa, Balikesir), der
Schwarzmeerregion (Provinzen Rize, Samsun, Giresun, Edirne, Sakarya), der
Cukurova- Region (Provinzen Adana und Mersin) sowie Zentralanatoliens (Provinzen
Kayseri, Konya, Afyon, Nigde, Ankara, Kirsehir). Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom
17. Juni 1997 an VG Hamburg, S. 2; Kaya, Gutachten vom 15. September 1997 an
SchlHOVG; Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG MV, S. 2 - 28; Oberdiek,
Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 5 ff., 15 ff., 38 ff., 49 ff.; Rumpf,
Gutachten vom 1. Oktober 1995 an VG Aachen, S. 15; Gesellschaft für bedrohte Völker,
Gutachten vom 28. Januar 1997 an SchlHOVG. Fast ausnahmslos siedeln sich die aus
dem Osten zuwandernden Kurden dort an, wo bereits Verwandte, Bekannte, ehemalige
Nachbarn, Landsleute aus der Heimatregion ansässig sind. Demgegenüber ist der
Versuch, sich in einer Gegend der Türkei ohne kurdischen Bevölkerungsanteil
niederzulassen, regelmäßig ohne Erfolg und daher äußerst selten. Das Gefühl der
gemeinsamen "Heimat", die Landsmannschaft, spielt nach wie vor eine große Rolle für
das Überleben zuwandernder Arbeitnehmer vom Land. Dieser Aspekt kann für die
Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt günstig sein. Aufgrund der sozialen Bindungen mit
Menschen gleichen Herkunftsgebietes, billigen Wohnraums in den Gecekondu-Vierteln
und Möglichkeiten, sich zumindest das Allernotwendigste zum Lebensunterhalt zu
verdienen, siedeln sich viele Zuwanderer von sich aus in denjenigen Vierteln der
Großstädte an, in denen bereits Menschen aus dem Herkunftsgebiet oder gar
demselben Ort leben. Angesichts der noch starken Familienbande in den Großfamilien
kommen im Westen zuwandernde Kurden auch meist für eine gewisse Zeit bei
denjenigen Mitgliedern der Großfamilie unter, die dort bereits Fuß gefaßt haben;
jedenfalls sind diese bei der Beschaffung einer Unterkunft behilflich. Vgl. Auswärtiges
Amt, Lagebericht vom 20. November 1997, S. 10; Auskunft vom 2. April 1997 an VG
Berlin, S. 6; Auskunft vom 8. Juli 1998 an VG Mainz, S. 3; Kaya, Gutachten vom 14.
Oktober 1997 an OVG MV, S. 47; Gutachten vom 15. September 1997 an SchlHOVG, S.
45 ff.; Oberdiek, Gutachten vom 2. April 1997 an OVG MV, S. 2; Rumpf, Gutachten vom
1. Oktober 1995 an VG Aachen, S. 24; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an
OVG MV, S. 5. bb) Wohnen Vor allem in den westtürkischen Großstädten haben sich in
den vergangenen Jahren abgegrenzte Stadtviertel gebildet, in denen Zuwanderer oft
nahezu ausschließlich aus einer bestimmten kurdischen Provinz leben. Diese
Kurdenviertel sind vor allem auf den unbebauten Flächen an den Rändern der
Metropolen entstanden und bestehen zumeist aus sogenannten Gecekondus, d. h. aus
Häusern, die ohne behördliche Genehmigung und ohne Erlaubnis des
Grundeigentümers "über Nacht gebaut" wurden. Vgl. Kaya, Gutachten vom 15.
September 1997 an SchlHOVG, S. 45 ff.; Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1996
an SchlHOVG, S. 73, 96 f.; Rumpf, Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 102
ff.; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG MV, S. 10. Das Gecekondu ist
freilich heute nur noch zum Teil das "über Nacht errichtete" Haus mit ein bis zwei
Zimmern; vielerorts sind an seine Stelle - ebenfalls illegal errichtete - größere
Wohneinheiten, zum Teil mehrstöckige Appartementhäuser getreten. Vgl. Rumpf,
Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 106. Nach der oben auf S. 53 bereits
erwähnten Erhebung des Menschenrechtsvereins Istanbul hatten 55,6 % der Befragten
mit Hilfe von Verwandten eine Wohnung gefunden, in 3,5 % der Fälle war der Vermieter
ein Verwandter, und in 19,1 % der Fälle war der Vermieter Kurde. Vgl. Oberdiek,
Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 111. Doch verfügen nach einer Studie
von Keles (Politik der Stadtentwicklung, 2. Auflage Ankara 1993) 72 % der in 18 Städten
befindlichen Gecekondu-Wohnungen lediglich über ein bis zwei Zimmer und haben
eine Durchschnittsgröße von nur 25 qm, während die in diesen Wohnungen lebenden
Familien durchschnittlich drei Kinder haben. Vgl. Kaya, Gutachten vom 11. April 1995
an VG Aachen, S. 35; vgl. auch Rumpf, Gutachten vom 1. Oktober 1995 an VG Aachen,
S. 26 (Fußnote 50). Nach einer Erhebung unter 174 ausgesuchten Familien des
Stadtbezirks Narli von Izmir hatten 18,4 % der befragten Familien Stromanschluß, 2,9 %
Wasseranschluß in der Wohnung, aber 75,8 % waren weder an Wasser noch an Strom
angeschlossen, 92,5 % hatten eine Toilette außerhalb des Hauses, bei 96,5 % der
Familien flossen die Abwässer in eine Sickergrube, keine einzige Familie war an ein
Kanalisationsnetz angeschlossen. Das Resultat dieser Umfrage scheint in nur
begrenztem Umfang repräsentativ zu sein. Denn die bereits erwähnte breiter angelegte
Studie von Keles kommt zum Ergebnis, daß zwei Drittel der Gecekondu- Wohnungen
keinen Wasseranschluß und 40 % keinen Stromanschluß haben. Die Bewohner der
Gecekondus, die keinen eigenen Wasseranschluß haben, decken ihren Bedarf, indem
sie das Wasser mit Kanistern von durch die Stadt errichteten Brunnen ihrer eigenen
Stadtteile oder diesen naheliegender Stadtteile oder Dörfer holen oder aus von ihnen
selbst gebohrten Brunnen. Vgl. Kaya, Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S.
36. Soweit es in den Gecekondu-Stadtvierteln keine Kanalisation gibt, legen die
Bewohner zur Beseitigung der Abwässer aus den Toiletten entweder einzeln oder aber
für fünf bis zehn Familien gemeinsam Sickergruben an; wenn sich in der Nähe ein Bach
befindet, werden die Abwässer dorthin geleitet. Vgl. Kaya, Gutachten vom 11. April 1995
an VG Aachen, S. 35; Rumpf, Gutachten vom 1. Oktober 1995 an VG Aachen, S. 27.
Einen ganz anderen Eindruck vermittelt ein im Auftrag der türkischen Regierung
erstelltes Gutachten der Orta Dogu Teknik Üniversitesi (ODTÜ - Middle East Technical
University), welches Rumpf in unzensierter Fassung vorliegt. Vgl. Gutachten vom 1.
Oktober 1995 an VG Aachen, S. 4. Nach den Untersuchungen jenes Gutachtens in
insgesamt 44 Bezirken von Istanbul, Izmir und Adana verfügten von den Zuwanderern
aus dem Einzugsbereich der südostanatolischen Staudammprojekte ("GAP-Region")
über Leitungswasser 97 %, Strom 98,5 %, Bad 86,9 %, Wohnzimmer 77,5 %, Küche
95,9 % und Toilette 95,2 %. Über alle diese Funktionen verfügten 70,6 % der befragten
Haushalte. Die Diskrepanz zu den vorher zitierten Erhebungen hängt offenbar damit
zusammen, daß die im Rahmen des ODTÜ-Gutachtens Befragten zum Teil schon vor
längerer Zeit zugewandert waren. Dafür spricht, daß von den befragten Zuwanderern
35,4 % in Gecekondus, 38,6 % in sonstigen Häusern und 26 % in Appartementhäusern
lebten; dabei ist dem Gutachten zufolge als "sonstiges Haus" zumeist ein Haus zu
verstehen, das ursprünglich den Status eines Gecekondu hatte, inzwischen jedoch
städtebaulich und infrastrukturell vollständig integriert ist. Vgl. Rumpf, Gutachten vom 1.
Oktober 1995 an VG Aachen, S. 28 f. Allgemein ist zu beobachten, daß die Gecekondu-
Viertel erst nach und nach an die städtischen Versorgungseinrichtungen mit Strom,
Wasser und Kanalisation angeschlossen werden und befestigte Wege und Straßen
erhalten. Die städtische Infrastruktur in diesen Vierteln wird - schon wegen des
gewaltigen Wählerpotentials - von jeder Regierung gefördert. Freilich kann die
nachträgliche Erschließung mit dem raschen Anwachsen der Viertel nicht Schritt halten.
Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. April 1997 an VG Berlin, S. 6. Unrichtig ist daher
die Behauptung von Amnesty International, bei einem Ausweichen in Gebiete
außerhalb der Notstandsprovinzen fänden die Zuwanderer "zumeist nur notdürftige
Behausungen wie Zelte, Plastikplanen und Bauruinen". Vgl. Gutachten vom 17. Juli
1996 an VG München, S. 4; Gutachten vom 21. August 1997 an VG Berlin, S. 11. Sie
widerspricht sogar der erwähnten Erhebung des Menschenrechtsvereins Istanbul,
wonach lediglich 1,2 % der Befragten in Zelten und 13,4 % unter ähnlichen
Bedingungen (insbesondere Baustellen, Läden) lebten. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom
20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 73. Selbst die beiden letztgenannten Werte sind
zu hoch gegriffen, wenn man bedenkt, daß 55,1 % der Befragten erst vor weniger als
einem Jahr zugezogen waren, das Ergebnis der Studie somit hinsichtlich der mittel- und
langfristigen Perspektive der Zuwanderer nur bedingt aussagekräftig ist. Es wird immer
wieder von Bestrebungen der Stadtverwaltungen vornehmlich in Izmir, Adana und
Istanbul berichtet, die von Kurden bewohnten Gecekondus abzureißen, und zwar mit der
Begründung, daß deren Anschluß an die städtische Infrastruktur zu kostspielig sei, die
planlose und ungeordnete Ansiedlung verhindere und die Gesundheit der Bevölkerung
geschützt werden müsse. Vgl. Kaya, Gutachten vom 20. Oktober 1994 an VG Köln, S.
17; Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG MV, S. 52; Rumpf, Gutachten vom 1.
Oktober 1995 an VG Aachen, S. 27. Realisiert worden sind diese Absichten aber
bislang nur in einem Ausmaß, welches im Vergleich zur großen Masse der Gecekondu-
Häuser nicht ins Gewicht fällt. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 1. November 1994 an VG
Köln, S. 22 ff.; Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 65; Gutachten vom 20.
Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 15, 48. Für Abrißmaßnahmen größeren Stils fehlen
den Stadtverwaltungen meist die technischen und finanziellen Mittel. So erleben die
Gecekondu-Viertel nach wie vor ein fast ungebremstes Wachstum. Während an den
Peripherien neue Viertel nachwachsen, entwickeln sich viele solcher Viertel mit der Zeit
zu fast regulären Stadtteilen. In Izmir ist etwa ein Stadtteil von rund 60.000 Einwohnern,
der überwiegend aus mehrstöckigen Appartementhäusern besteht und danach von der
Stadt an die Verkehrs-, Versorgungs- und Entsorgungsnetze angeschlossen sowie mit
Schulen und Moscheen ausgestattet wurde, auf dem Boden eines privaten
Landbesitzers entstanden, der damit faktisch entschädigungslos enteignet worden ist;
der Stadtteil ist von "regulären" Stadtteilen kaum zu unterscheiden. Vgl. Rumpf,
Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 106. Neben den großen Vorstädten
haben auch Altstadtviertel, deren Erhaltung den Stadtverwaltungen aus finanziellen
Gründen nicht möglich ist, in manchen Städten in den letzten 20 Jahren einen
vollständigen Bevölkerungsaustausch erfahren. So leben etwa mitten in Izmir um die
Burg herum (Kadifekale) fast nur noch kurdische Zuwanderer in älterer, aber zum Teil
heruntergekommener städtebaulicher Substanz. Ähnliches findet sich in Bursa oder am
Burgberg mitten in Ankara. Auch in Istanbul kommen Zuwanderer zu Tausenden in
Altstadtvierteln in oft erneuerungsbedürftiger Bausubstanz unter. Vgl. Rumpf, Gutachten
vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 106 f. cc) Arbeit In den städtischen
Ballungsräumen der Westtürkei haben kurdischstämmige Flüchtlinge nur eine geringe
Chance, einen dauerhaften und sicheren Arbeitsplatz mit Kranken- und
Rentenversicherungsschutz zu finden. Das liegt vor allem an dem geringen Bildungs-
und Qualifikationsniveau der Zuwanderer, die vor ihrer Abwanderung überwiegend in
der Landwirtschaft oder der Viehwirtschaft beschäftigt waren, die oft die türkische
Sprache nicht beherrschen, in der Regel Analphabeten sind, nicht über einen
Schulabschluß und eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen und die daher in
der Industrie oder im öffentlichen Dienst wenig Chancen haben. Wer sich bei Behörden
oder in staatlichen Unternehmen um einen derartigen Arbeitsplatz bewirbt, muß sich
einer Einstellungsprüfung und zusätzlich auch einer Sicherheitsüberprüfung
unterziehen. Auch einige private Arbeitgeber führen solche Sicherheitsüberprüfungen
vor der Einstellung durch, weil sie sich vor Sabotageakten schützen wollen. Dabei wird
durch Kontaktaufnahme mit den Sicherheitsbehörden des Heimatortes ermittelt, ob der
Betreffende im Verdacht steht, an separatistischen Aktivitäten teilgenommen zu haben.
In den staatlichen Betrieben wird zudem ohnehin kaum noch neues Personal
eingestellt, weil diese zunehmend privatisiert werden. Für alle Binnenmigranten liegt -
unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit - die Chance auf einen dauerhaften
Arbeitsplatz bei nur 5 bis 10 %. Vgl. Kaya, Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG
MV, S. 36 ff., 48; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG MV, S. 11, 13.
Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich um eine Stelle als ungelernte Arbeitskraft zu
bemühen. Derartige Stellen sind für kurdische Flüchtlinge schon eher zu finden. Sie
haben die Möglichkeit, saisonale Tätigkeiten im Bau- und Gastronomiebereich sowie in
der Landwirtschaft auszuüben. Die in die Tourismusgebiete Zugewanderten können
dort eine Beschäftigung vor allem in der Baubranche und im Hotelgewerbe finden. In
Ankara, Istanbul, Izmir, Adana, Mersin und Antalya gibt es Baufirmen, Fabriken,
Handelsunternehmen, Hotels, Lokale und andere Gewerbestätten, die Geschäftsleuten
kurdischer Herkunft gehören und deren Beschäftigte auch mehrheitlich aus derselben
Provinz, demselben Kreis, derselben Gemeinde oder demselben Dorf stammen wie der
Eigentümer der Firma oder die dort in Leitungspositionen Arbeitenden. Diese
Geschäftsleute beschäftigen vorwiegend Menschen aus ihrer Heimatregion, weil sie von
ihnen bessere Unterstützung erhoffen und diese kostengünstige Arbeitskräfte sind. Vgl.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 3; Gesellschaft für
bedrohte Völker, Gutachten vom 28. Januar 1997 an SchlHOVG, S. 1 f.; Kaya,
Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG MV, S. 40 f.; Taylan, Gutachten vom 1.
Februar 1997 an SchlHOVG, S. 7; Gutachten vom 5. Dezember 1997 an VG Koblenz, S.
8; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG MV, S. 8, 12. Entgegen den
früher von den Gutachtern geäußerten Befürchtungen vgl. noch die Nachweise im
Senatsurteil vom 11. März 1996 - 25 A 5801/94.A -, S. 78 konnte der Tourismussektor in
der Türkei in den Jahren seit 1995 erhebliche Zuwachsraten vorweisen. Vgl.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 3; Auskunft vom 8.
Juli 1998 an VG Mainz, S. 4; Turkish Daily News Ankara vom 21. Januar 1997, Nahost-
Informationsdienst 3/97, S. 54; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Februar 1997, S.
12. Die Einschätzung von Oberdiek, Kurden hätten in den Touristenregionen keine
Aussicht auf Beschäftigung mehr, vgl. Gutachten vom 20. Dezember 1996 an
SchlHOVG, S. 80 ff., 100; ähnlich Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 107, ist
nicht nachvollziehbar. Der Umstand, daß die Sicherheitsvorkehrungen zwecks
Vorbeugung gegen Bombenanschläge in den Touristenorten wesentlich verschärft
worden sind und nunmehr insbesondere die Personalien der Mitarbeiter von
Beherbergungsbetrieben exakt erfaßt werden, bedeutet noch nicht, daß Kurden der
Zugang zu jenem Wirtschaftssektor in der Westtürkei generell verwehrt wäre.
Ebensowenig läßt sich dies daraus herleiten, daß in Einzelfällen im Tourismussektor
arbeitende Kurden entlassen wurden. Ein weiterer, zahlenmäßig nicht unerheblicher
Teil der kurdischen Zuwanderer verdient seinen Lebensunterhalt auf dem
Marginalsektor (Straßenverkauf ohne gewerbliche Lizenz, Dienstleistungen auf der
Straße wie Schuhputzer, Lastträger, Parkplatzwächter usw.). Kaya, Gutachten vom 14.
Oktober 1997 an OVG MV, S. 40 ff.; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG
MV, S. 12. Wer etwas Geld hat, um sich einen Karren und etwas Ware kaufen zu
können, arbeitet als fliegender Händler. Was auf diese Weise verdient werden kann,
reicht gerade zur Deckung des täglichen Bedarfs an Grundnahrungsmitteln für die
Familie. Es kommt vor, daß Mitarbeiter der Stadtverwaltung oder Polizisten die Ware
beschlagnahmen. Vgl. Kaya, Gutachten vom 20. Oktober 1994 an VG Köln, S. 15,
Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S. 33; Gutachten vom 20. September
1996 an VG Freiburg, S. 4; Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG MV, S. 43 f.;
Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 81. In der Presse ist
jedenfalls immer wieder von Behinderungen kurdischer Straßenhändler zu lesen. Mit
Zerstörung der Wagen, Stände und Waren oder gar mit körperlicher Mißhandlung
verbundene polizeiliche Übergriffe sind aber offenbar Einzelfälle. Der im Januar 1997
herausgegebene Erlaß des Innenministeriums, der auf eine Verhinderung der Arbeit von
Straßenverkäufern in den meisten westtürkischen Großstädten zielt, wird - soweit
ersichtlich - nur in wenigen Städten und dort auch nur zum Teil durchgesetzt. Vgl. Kaya,
Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG MV, S. 44 f., Abdruck: S. 79 ff.; Oberdiek,
Gutachten vom 1. November 1994 an VG Köln, S. 20 ff.; Gutachten vom 26. Mai 1995 an
VG München, S. 67, 70. Ebensowenig verallgemeinerungsfähig sind Schikanen der
Stadtverwaltung gegen kurdische Straßenhändler in Kleinstädten, in welchen die
rechtsradikale MHP den Bürgermeister stellt. Vgl. Kaya, Gutachten vom 14. Oktober
1997 an OVG MV, S. 45 f.; Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG,
S. 63. Der Rest der Zuwanderer ist auf Gelegenheitsjobs angewiesen, die durch hohe
körperliche Belastung und geringe Bezahlung gekennzeichnet sind. Sie arbeiten als
Tagelöhner auf Baustellen, beim Straßenbau, bei der Renovierung von Häusern, bei der
Gartenpflege oder als Packer. Sie gehen im Morgengrauen auf den "Arbeitermarkt", wo
sich jeden Tag Tausende von Menschen versammeln und wo diejenigen, die Arbeit zu
vergeben haben, sich ihre Arbeitskräfte aussuchen. Diese diktieren auch die Löhne.
Von denjenigen, die sich jeden Tag auf dem "Arbeitermarkt" versammeln, haben jeweils
nur 10 bis 15 % eine Chance auf einen Job für den Tag. Als glücklich gilt, wer 15 Tage
im Monat arbeitet. Vgl. Kaya, Gutachten vom 20. Oktober 1994 an VG Köln, S. 15 f.;
Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S. 33; Gutachten vom 20. September
1996 an VG Freiburg, S. 4; Taylan, Gutachten vom 1. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 7;
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 3; Oberdiek,
Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 79. Es gibt auch Kurden, die in
die ländlichen Gebiete der Westtürkei abgewandert sind und dort Land gekauft oder
gepachtet haben. Diese Menschen können die Grundbedürfnisse zur Bestreitung ihres
Lebensunterhaltes befriedigen. Vgl. Kaya, Gutachten vom 20. Oktober 1994 an VG Köln,
S. 16. Es muß sich dabei offenbar um solche kurdischen Familien aus Ostanatolien
handeln, denen angemessene Zeit zur Vorbereitung ihres Umzuges in die Westtürkei
zur Verfügung stand und die diese Zeit zum Verkauf ihres landwirtschaftlichen
Anwesens nutzen konnten. Vgl. zu einer derartigen Möglichkeit: Kaya, Gutachten vom
20. Oktober 1994 an VG Köln, S. 14 f.; Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S.
32; Oberdiek, Gutachten vom 1. November 1994 an VG Köln, S. 18. Die Möglichkeiten,
in den ländlichen Gebieten der Westtürkei eine Beschäftigung zu finden, sind in den
Sommermonaten größer. In den Obst- und Haselnußplantagen, auf den Baumwoll-,
Zuckerrüben- und Kartoffelfeldern werden Saisonarbeiter gebraucht, und zwar
insbesondere in den Provinzen Sakarya, Aydin, Izmir, Antalya, Adana und Mersin. Wer
den Vermittlern solcher Jobs mehr bezahlt, hat bessere Chancen, in diesem Bereich zu
arbeiten. Die Höhe der Löhne wird von den Arbeitgebern und den Vermittlern festgesetzt
und hängt von der Zahl der Arbeitssuchenden und den saisonalen Umständen ab. Bei
solchen Jobs gibt es keinerlei gesundheitliche und soziale Absicherung, die Löhne
können jeden Tag geändert werden. Vgl. Kaya, Gutachten vom 20. Oktober 1994 an VG
Köln, S. 16; Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S. 33; Oberdiek, Gutachten
vom 1. November 1994 an VG Köln, S. 25; Gutachten vom 20. Dezember 1996 an
SchlHOVG, S. 30 f., 48; Taylan, Gutachten vom 1. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 7;
Amnesty International, Gutachten vom 17. Juli 1996 an VG München, S. 4. Ungeachtet
der beschriebenen Umstände bestehen Anhaltspunkte für die Annahme, daß die aus
Ostanatolien Zugewanderten durchweg in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt in der
Westtürkei durch Arbeitseinkommen zu bestreiten. Nach der Anfang 1995 erfolgten
Umfrage des Menschenrechtsvereins Istanbul unter 3.258 Personen aus 341 Familien,
die aus Ostanatolien in die Metropolen Istanbul, Mersin und Bursa zugewandert waren,
verdienen 62,5 % der Zugewanderten den Lebensunterhalt dadurch, daß ein
Familienmitglied arbeitet. Vgl. Kaya, Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S.
31; Oberdiek, Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 67. Auch wenn zu
berücksichtigen ist, daß den letztgenannten Familien teilweise weitere arbeitsfähige
Personen angehörten, die jedoch ohne Beschäftigung waren, so läßt der genannte Wert
doch die Aussage zu, daß unter den Zugewanderten in den Metropolen der Westtürkei
auf Sicht die Arbeitslosigkeit nicht wesentlich größer sein wird als im
Landesdurchschnitt. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt landesweit etwa 10 %.
Diese Zahl erfaßt jedoch nur diejenigen Personen, die beim Arbeitsamt als
arbeitssuchend gemeldet sind. Da es in der Türkei keine Arbeitslosenversicherung gibt,
fehlt dort - anders als etwa in der Bundesrepublik Deutschland - der Druck, sich zwecks
Leistungserhalts beim Arbeitsamt registrieren zu lassen. Deswegen wird allgemein
angenommen, daß die tatsächliche Arbeitslosigkeit weit über dem angegebenen
offiziellen Wert liegt, wobei die Schätzungen zwischen 18 und etwa 25 % schwanken.
Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 3; Auskunft
vom 8. Juli 1998 an VG Mainz, S. 3; Kaya, Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen,
S. 33; Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG MV, S. 12, Fußnote 1. Die
aus der zitierten Erhebung des Menschenrechtsvereins Istanbul ersichtliche
Arbeitslosigkeit unter den Zuwanderern liegt zwar immer noch deutlich über dem
letztgenannten Wert. Doch muß berücksichtigt werden, daß von den Befragten 55,1 %
im Zeitpunkt der Befragung erst vor weniger als einem Jahr umgesiedelt waren. Vgl.
Oberdiek, Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 16; Kaya, Gutachten vom
11. April 1995 an VG Aachen, S. 32. Dieser Personenkreis hat folglich zu mehr als der
Hälfte das Ergebnis der Umfrage beeinflußt. Ein nur kurzer Aufenthalt am
Zuwanderungsort gibt aber noch keinen verläßlichen Aufschluß darüber, ob es auf Sicht
nicht doch gelingen wird, eine den Lebensunterhalt sichernde Beschäftigung zu finden.
Ersichtlich damit zu erklären ist, daß eine andere Studie ein günstigeres Bild der
Beschäftigung für aus Ostanatolien zugewanderte Kurden zeichnet. Es handelt sich
dabei um den im Juli 1995 vorgelegten Untersuchungsbericht des Verbandes der
Kammern und Börsen der Türkei (Türkiye Odalar ve Borsalar Birligi/TOBB) mit dem Titel
"Die Frage des Ostens". Bestandteil der Untersuchung war eine Umfrage unter 623
Personen, die aus den Provinzen Mardin, Batman, Diyarbakir und Siirt nach Adana,
Mersin und Antalya zugewandert waren. Fast drei Viertel der Befragten waren nach
Beginn des Guerilla-Kampfes der PKK (15. August 1984) umgesiedelt. Von denjenigen,
die am ersten Umzugsort verblieben waren, arbeiteten 29,1 % als Tagelöhner, 19,1 %
als Straßenhändler, 11 % als Selbständige, 6,3 % als Lastenträger und 22 % in
sonstigen Berufen, lediglich 12,5 % waren arbeitslos. Von denjenigen Befragten, die ein
weiteres Mal umzogen, war die Wahl des neuen Ortes zu 50 % wegen dort vorhandener
Arbeitsmöglichkeiten und zu 22 % aus familiären Gründen erfolgt. Vgl. Oberdiek,
Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 73 f. Allerdings ist die
Einkommenssituation für die Zugewanderten in der Westtürkei unbefriedigend. Nach
Berechnungen des Gewerkschaftsdachverbandes Türk Is beläuft sich das
Existenzminimum für eine dreiköpfige Familie (Ehepaar mit Kind) auf 7 Millionen TL
monatlich. Nur wenige der vom Menschenrechtsverein Istanbul befragten - zumeist
kinderreichen - Familien verfügten über ein Einkommen, welches sich unter
Zugrundelegung jenes Betrages als Existenzminimum für sie jeweils ermitteln ließ. Vgl.
Kaya, Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S. 34; Oberdiek, Gutachten vom 26.
Mai 1995 an VG München, S. 67 f. Kein wesentlich anderes Bild vermittelt die Umfrage,
die dem erwähnten ODTÜ-Gutachten zugrunde liegt: Die Ausgaben der allermeisten
Zuwandererhaushalte lagen unter 4,2 Millionen TL. Als Durchschnittsbedarf wurde ein
Betrag von 7 Millionen TL ermittelt, wobei alle Zahlen inflationsbedingt inzwischen auf
mehr als das Dreifache nach oben zu korrigieren sind (1 DM war Anfang 1994 etwa
20.000 TL wert, heute sind es etwa 75.000 TL). Vgl. Rumpf, Gutachten vom 1. Februar
1998 an VG Berlin, S. 114. Ein positiveres Bild liefert das ODTÜ-Gutachten freilich über
die Ausstattung der Zuwandererhaushalte mit langlebigen Konsumgütern: 71,4 % haben
einen Gasherd, 43,3 % einen Gasbackofen, 91,6 % einen Kühlschrank, 47,4 % eine
nicht vollautomatische Waschmaschine, 39,6 % ein Telefon, 65,7 % einen
Farbfernseher, 31,2 % einen Schwarzweißfernseher, 10 % ein Auto, 8,2 % ein
Videogerät, 51,4 % können Gästen eigenes Mobiliar zur Verfügung stellen. Vgl. Rumpf,
Gutachten vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 114. Ob die Zuwandererfamilien
Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen nutzen können, hängt im allgemeinen von der
Entfernung ihrer Wohnungen von den Zentren, von der Ausstattung der Zentren mit
solchen Einrichtungen, von deren Kapazität sowie von der Anbindung durch öffentliche
Verkehrsmittel ab. Nach 1985 entstandene Gecekondu-Stadtteile verfügen nur
ausnahmsweise über eigene Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Nur in älteren
Gecekondu-Stadtteilen gibt es Grundschulen, Mittelschulen, Gesundheitsstationen und
Polikliniken, ohne daß diese Einrichtungen dem Bedarf gerecht werden. Vgl. Kaya,
Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S. 34. Für schulische Einrichtungen gilt
ebenso wie für die Infrastruktur, daß die neuentstandenen Gecekondu-Viertel erst nach
und nach ausreichend versorgt werden. Gesetzlicher Krankenversicherungsschutz
besteht nur, solange der Betreffende über einen regulären Arbeitsplatz verfügt.
Bedürftige erhalten mit einer von der zuständigen Gesundheitsbehörde ausgestellten
grünen Karte kostenlos Krankenhausbehandlung und Versorgung mit Medikamenten.
Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Februar 1997 an SchlHOVG, S. 5 f; Lagebericht
vom 18. September 1998, S. 22. dd) Folgerungen Die oben wiedergegebenen
Tatsachen erlauben nicht die Feststellung, in Ostanatolien beheimateten Kurden sei die
Übersiedlung in die Westtürkei aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar. Die
Zuwanderer sind in der Lage, nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, welche
zumeist durch Hilfe von Verwandten oder den Einsatz von Ersparnissen überbrückt
werden, ihren Lebensunterhalt durch selbständige oder unselbständige Erwerbsarbeit
zu sichern. Es gibt keine Berichte über Hungersnöte in den Zuwanderungsgebieten.
Freilich ist nicht zu verkennen, daß die meisten Zuwanderer vor allem in der ersten Zeit
in ärmlichen Verhältnissen leben. Diese Aussage gilt nicht nur, wenn man
westeuropäischen Lebensstandard zum Maßstab nimmt. Sie ist auch angebracht, wenn
die Verhältnisse in der Türkei zum Ausgangspunkt für soziale Wertvorstellungen
genommen werden. Solche normativen Ansätze sind es letztlich, die der erwähnten
Quantifizierung des Existenzminimums zugrunde liegen. Eine derartige Sichtweise ist
für ein Land wie die Türkei durchaus naheliegend, in welchem die Mehrzahl der Bürger
im Vergleich zu den Verhältnissen in den wohlhabenden Staaten als arm gelten muß.
Denn es ist ein legitimes Bestreben aller armen Länder, künftig für ihre Bürger bessere
wirtschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Es ist daher verständlich, daß sozialem
Denken verpflichtete Institutionen den Begriff des Existenzminimums nicht auf das zur
Aufrechterhaltung der physischen Existenz absolut Notwendige beschränken, sondern
damit - über den engeren Wortlaut hinaus - Vorstellungen von einem
menschenwürdigen Leben verbinden. Solche Überlegungen führen indes im
vorliegenden asylrechtlichen Kontext nicht weiter. Es kann nämlich nicht Sache
deutscher Verwaltungsgerichte sein, soziale Standards zur Quantifizierung des
Existenzminimums für die verschiedenen Asylherkunftsländer zu entwickeln. Zur
Bejahung des Existenzminimums am Ort der inländischen Fluchtalternative genügt
vielmehr bereits die Feststellung, daß den Asylsuchenden dort kein Leben erwartet, das
zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt. Vgl. BVerwG, Urteil vom 30.
April 1991 - 9 C 105.90 -, Buchholz § 1 AsylVfG Nr. 145, S. 298, 300. Daß letzteres
zugewanderten Kurden in der Westtürkei nicht droht, kann nach den oben getroffenen
Feststellungen nicht zweifelhaft sein. ee) Vergleich Ost-West Unabhängig davon folgt
aus einer weiteren Überlegung, daß die Feststellung einer inländischen
Fluchtalternative nicht an wirtschaftlichen Voraussetzungen scheitert. Wenn nämlich in
der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung an die Zumutbarkeit einer inländischen
Fluchtalternative auch in wirtschaftlicher Hinsicht Mindestanforderungen gestellt
werden, so liegt dem die Erwägung zugrunde, daß niemand auf einen Zufluchtsort
verwiesen werden kann, an welchem er seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann.
Andernfalls würde der Schutz vor politischer Verfolgung durch einen existentiellen
Mangel erkauft, der der politischen Verfolgung am Heimatort an Gewicht gleichkommt. In
einem solchen Fall wirkte die politische Verfolgung in der Weise noch am Zufluchtsort
fort, daß hier der Lebensstandard im Vergleich zur Lage am Heimatort in unerträglicher
Weise absänke. Davon kann indes keine Rede sein, wenn die wirtschaftliche Lage am
Zufluchtsort nicht schlechter oder gar besser ist als in der Heimat. In einem solchen Fall
ist die politische Verfolgung für die Qualität der wirtschaftlichen Lage schon deswegen
nicht kausal, weil diese sich nicht zum Schlechten hin verändert hat. Es kommt dann
auch nicht darauf an, wie man Existenzminimum definiert. Denn liegt das Einkommen
am Zufluchtsort unter einem - wie auch immer normativ bestimmten - Existenzminimum,
ist es aber höher als dasjenige am Heimatort oder zumindest nicht niedriger, so steht
fest, daß die Tatsache der politischen Verfolgung für die wirtschaftliche Lage des
Betroffenen unerheblich ist mit der Folge, daß ihm die inländische Fluchtalternative
zumutbar ist. So liegt es hier. Es ist jedenfalls bei der hier gebotenen generalisierenden
Betrachtungsweise ausgeschlossen, daß aus Ostanatolien zugewanderte Kurden sich
in der Westtürkei wirtschaftlich verschlechtern werden. Alle insoweit maßgeblichen
Indikatoren sprechen im Gegenteil für eine Verbesserung durch Übersiedlung in den
Westen: Das zehnfach höhere Pro-Kopf-Einkommen, der höhere Beschäftigungsstand,
die wesentlich geringere Analphabetenrate und der höhere Grad der medizinischen
Versorgung. Allein der Umstand, daß aufgrund eines jahrzehntelangen
Migrationsprozesses inzwischen schätzungsweise 9 Millionen Menschen kurdischer
Herkunft und damit mehr als die Hälfte der in der Türkei überhaupt lebenden Kurden in
der Westtürkei ansässig sind, ohne daß insofern von einem kurdenspezifischen Elend
gesprochen werden kann oder gar Fälle von Hunger und Ähnlichem bekanntgeworden
sind, spricht dafür, daß es auch den jetzigen Zuwanderern auf Sicht gelingen wird, die
nicht unerheblichen Übergangsschwierigkeiten zu überwinden und ein bescheidenes
Auskommen zu finden, welches in aller Regel über demjenigen in der Heimatregion
liegt. Es soll nicht bezweifelt werden, daß Krieg einschließlich der damit verbundenen
Repressalien heute für viele Kurden ein wichtiges Abwanderungsmotiv ist, wie die
Ergebnisse der erwähnten Umfrage durch den Menschenrechtsverein Istanbul belegen.
Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 16; Kaya, Gutachten
vom 11. April 1995 an VG Aachen, S. 31. Dies bedeutet jedoch nur, daß die
militärischen Auseinandersetzungen in Ostanatolien das seit längerem bestehende und
weiterhin fortwirkende primäre Motiv der Abwanderung überlagern. Dieses aber liegt
darin begründet, daß der ländliche Raum, vornehmlich des unterentwickelten Ostens,
immer weniger in der Lage ist, der schnell wachsenden Bevölkerung eine wirtschaftliche
Perspektive zu verschaffen. Hierin findet die für die Türkei in gleicher Weise wie für viele
andere Staaten mit vergleichbarem Entwicklungsstand zu beobachtende Flucht vom
Land in sich zu riesigen Metropolen entwickelnde städtische Räume ihre eigentliche
Erklärung. Dies spiegeln auch die Erhebungen des ODTÜ-Gutachtens wider, wonach
für die GAP-Region 86,8 % der Abwanderungswilligen Arbeitslosigkeit und fehlendes
Grundeigentum sowie sonstige wirtschaftliche Gründe angaben. Vgl. Rumpf, Gutachten
vom 1. Februar 1998 an VG Berlin, S. 96. Auch nach dem TOBB-Bericht gaben
immerhin 47,3 % der Befragten Arbeitslosigkeit und Armut als Gründe für das Verlassen
des Heimatortes an. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG,
S. 74. Angesichts der regelmäßig anzunehmenden familiären Bindungen der bereits im
Westen ansässigen Kurden zu den Nachziehenden wäre aber jedenfalls der
ausschließlich ökonomisch motivierte Teil der Binnenwanderung zwangsläufig
abgeebbt, wenn eine beachtliche Zahl von Kurden im Westen keine Verbesserung ihrer
wirtschaftlichen Lage erzielt hätte. Vielmehr belegt der anhaltende Migrationsprozeß,
daß eine beachtliche Zahl von Kurden im Westen noch eher eine wirtschaftliche
Perspektive sieht als im Osten. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Februar 1997
an SchlHOVG, S. 4; Auskunft vom 8. Juli 1998 an VG Mainz, S. 4. Es verbietet sich
daher die Annahme, daß Kurden aus Ostanatolien nach einer Übersiedlung in die
Westtürkei wirtschaftlichen Nachteilen ausgesetzt sind, die in ihrer Heimatregion so
nicht bestehen. ff) Frauen und Kinder Soweit das Asylbegehren von Frauen und
minderjährigen Kindern oder sonstigen auf eine Versorgungsgemeinschaft
angewiesenen Familienangehörigen in Rede steht, können die wirtschaftlichen
Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative nicht unter Hinweis darauf
verneint werden, daß der Ehemann bzw. Vater oder das sonst für die Versorgung
verantwortliche Familienmitglied über ein Bleiberecht in der Bundesrepublik
Deutschland verfügt. In den Fällen, in denen die in Deutschland mit dem Asylbewerber
zusammenlebenden Familienangehörigen eine Familie bilden, deren Trennung Art. 6
GG untersagt, ist nämlich zu unterstellen, daß - ebenso wie der Aufenthalt in
Deutschland - der hypothetische Aufenthalt im Ausland ein solcher in Gemeinschaft mit
den Familienangehörigen ist. Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 1992 - 9 C 8.91 -,
BVerwGE 90, 364 = NVwZ 1993, 190 = InfAuslR 1993, 28. Unverheiratete und
alleinerziehende Frauen erwartet insbesondere in den Großstädten der Westtürkei kein
Leben unterhalb des Existenzminimums, wenn sie, was aufgrund der stärkeren
familiären Beziehungen, die mit der islamischen Tradition verbunden sind, häufiger
geschieht, in den Haushalt anderer Familienmitglieder aufgenommen werden.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24. Februar 1998 an VG Bremen, S. 6; Auskunft vom 8.
Juli 1998 an VG Mainz, S. 2. Nur dann, wenn sie im Einzelfall Tatsachen glaubhaft
machen, die ausnahmsweise die Annahme rechtfertigen, daß bei ihrer Rückkehr in die
Türkei eine aufnahmefähige Bezugsperson im Gegensatz zur Situation bei der Ausreise
nicht mehr zur Verfügung steht, ist einzelfallbezogen zu prüfen, inwieweit sie aufgrund
ihrer persönlichen Lebensumstände (insbesondere Alter und Bildungsstand) in der Lage
sind, ihr Existenzminimum aus eigener Erwerbstätigkeit sicherzustellen. Das ist
insbesondere bei minderjährigen Kindern fortgeschrittenen Alters nach den oben zu den
Arbeitsmarktchancen in der Westtürkei ausgewerteten Erkenntnissen nicht von
vornherein ausgeschlossen. Selbst bei Fehlen eigener Erwerbschancen ist die
Annahme, die oder der Betreffende könne ihren oder seinen Lebensunterhalts in der
Westtürkei auch langfristig nicht sicherstellen, nur im Ausnahmefall dann gerechtfertigt,
wenn ausgeschlossen erscheint, daß sich staatliche türkische Stellen oder wohltätige
Stiftungen jenes Personenkreises annehmen. Minderjährige Kinder, die ohne
Begleitung Erwachsener in die Türkei zurückkehren und für die auch eine erwachsene
Betreuungsperson aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis der Eltern nicht gefunden
werden kann, können Unterkunft und Betreuung in einem der staatlich betriebenen
Waisenhäuser finden, die Minderjährige auf gerichtliche Anordnung oder Verfügung der
Polizei bis zum 18. Lebensjahr aufnehmen. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 9. Juli 1998
an VG Saarlouis. 4. Keine inländische Fluchtalternative für vorbelastete Kurden Vor
politischer Verfolgung in der Westtürkei nicht hinreichend sicher sind lediglich
vorbelastete Kurden. Als vorbelastet bezeichnet der Senat in ständiger Rechtsprechung
eine solche Person aus Ostanatolien, die im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus der Türkei in
diesem Landesteil einer regionalen politischen Individualverfolgung ausgesetzt war,
weil sie bei den Sicherheitskräften am Heimatort im Verdacht stand, mit der militanten
kurdischen Bewegung zu sympathisieren. Urteil vom 11. März 1996 - 25 A 5801/94.A -,
S. 87; Urteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -, S. 111, vgl. auch S. 141. Mit diesem
Begriff sollte nicht etwa über den Personenkreis der Vorverfolgten hinaus noch eine
weitere Gruppe von Personen gekennzeichnet werden, denen für die
Rückkehrprognose der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden
Verfolgungssicherheit zugute kommt. Vielmehr handelt es sich um die Bezeichnung
derjenigen Personen, denen für die Frage, ob sie vor ihrer Ausreise in der Westtürkei
eine zumutbare Zuflucht vor einer ihnen in Ostanatolien drohenden regionalen
Verfolgung finden konnten, der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugute
kommt. Vorbelastete Kurden sind (ebenso wie vorbelastete türkische Volkszugehörige
aus Ostanatolien) zugleich Vorverfolgte; denn es ist davon auszugehen, daß sie im
Zeitpunkt ihrer Ausreise auch in der Westtürkei vor politischer Verfolgung nicht
hinreichend sicher waren. Auch bei ihrer Rückkehr werden sie in der Westtürkei eine
inländische Fluchtalternative nicht finden können, sofern der Verfolgungsgrund nicht
ausnahmsweise nachträglich entfallen ist. Die hiernach die Vorbelastung
kennzeichnende Annahme, der Betreffende stehe bei den Sicherheitskräften am
Heimatort im Verdacht, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren (im
folgenden verkürzt: PKK-Verdacht), ist gerechtfertigt, wenn er dort Eingriffe von
asylerheblicher Intensität erleiden mußte oder von solchen unmittelbar bedroht war
(insbesondere etwa aufgrund einer Denunziation), die seiner tatsächlichen oder
vermeintlichen Unterstützung dieser Bewegung gegolten haben und die Umstände
darauf hinweisen, daß er den Sicherheitskräften als eine des Separatismus verdächtige
Person individuell bekannt geworden ist. Bei Vorbelasteten besteht die
ernstzunehmende Möglichkeit, bei einer routinemäßigen Personenkontrolle, die im
Zuge der verschärften Sicherheitslage auch in der Westtürkei vermehrt stattfindet,
festgenommen und menschenrechtswidrig behandelt zu werden, nachdem Rückfragen
bei einem von der zuständigen Polizeizentrale geführten Register oder bei den für den
Heimatort zuständigen Stellen ergeben haben, daß es sich bei ihm um eine der
Zusammenarbeit mit militanten staatsfeindlichen Gruppen verdächtige Person handelt.
Vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Gutachten vom 28. Januar 1997 an SchlHOVG, S.
3; Rumpf, Gutachten vom 7. März 1995 an HmbOVG, S. 13; Kaya, Gutachten vom 22.
Juni 1994 an VG Regensburg, S. 5; Gutachten vom 24. Juni 1995 an VG München, S.
11; Oberdiek, Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 62; Gutachten vom 20.
Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 49; Amnesty International, Gutachten vom 15. April
1998 an VG Hamburg, S. 8; UNHCR, Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 9. Die
Einschätzung des Senats, daß Kurden, die bereits aufgrund politischer
Individualverfolgung in ihrer Heimatregion vorbelastet sind, auch am Zuwanderungsort
in der Westtürkei einem signifikanten Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind, wird durch die
erwähnte Umfrage des Menschenrechtsvereins Istanbul bestätigt. Danach hatten über
90 % der befragten Zuwanderer bereits in ihrer Heimatregion Repressalien erlitten
(Niederbrennen und Bombardieren der Dörfer, Vernichtung von Ernte und Vieh,
Festnahme und Folter, Druck zur Übernahme des Dorfschützeramtes). Fast 90 % der
Befragten waren auch am Zuwanderungsort (Istanbul, Mersin oder Bursa) Repressalien
ausgesetzt. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 16, 68;
Kaya, Gutachten vom 11. April 1995 an VG Aachen, S. 31. Dem Ergebnis der Erhebung
ist zwar nicht exakt zu entnehmen, in welchem Umfang insgesamt die Repressalien am
Heimatort der jeweiligen Person galten in dem Sinne, daß gegen den Betreffenden ein
individueller Verdacht vorlag. In einem nennenswerten Teil der Fälle (erlittene Folter in
Polizeihaft, Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes) ist dies jedoch ohne
weiteres anzunehmen. aa) Von Dorfrazzien Betroffene Bei den Bewohnern derjenigen
Dörfer Ostanatoliens, in denen aufgrund eines pauschalen, gegen das Dorf als solches
gerichteten Verdachts Razzien stattfinden, wie sie oben auf S. 13 im einzelnen
beschrieben worden sind, ist die Annahme eines hinreichend individualisierten, zu
landesweiter Verfolgung führenden PKK-Verdachts nicht schon immer dann
gerechtfertigt, wenn die in Rede stehende Person von Eingriffen asylerheblicher
Intensität lediglich als anonym gebliebenes Mitglied der Dorfbevölkerung betroffen war,
die pauschal der Unterstützung der militanten kurdischen Bewegung verdächtigt wird.
Nicht jeder, der gemeinsam mit allen anderen Bewohnern eines pauschal der PKK-
Unterstützung verdächtigten Dorfes auf dem Dorfplatz versammelt und dabei Schikanen
und Mißhandlungen asylerheblicher Intensität ausgesetzt wurde, muß mit fortdauernder
landesweiter Verfolgung rechnen. Hinzukommen müssen vielmehr Umstände, aus
denen geschlossen werden kann, daß sich der pauschal gegen das Dorf gerichtete
Unterstützungsverdacht zu einem individuell gegen den Betroffenen gerichteten PKK-
Verdacht verdichtet hat. Das setzt voraus, daß sich die Sicherheitskräfte über die
Identität des einzelnen genau Kenntnis verschafft und die Informationen über den Anlaß
der gegen ihn gerichteten Maßnahmen zum Zwecke einer etwaigen späteren weiteren
Verwendung festgehalten haben. Zu einer derartigen Konstellation vgl. Senatsurteil vom
6. November 1995 - 25 A 4530/95.A -, S. 14 f. Unter welchen Umständen eine derartige
Annahme gerechtfertigt ist, hängt vom Einzelfall ab: Eine Hausdurchsuchung beim
Betroffenen oder bei seiner Familie kann Ausdruck hinreichender Individualisierung
sein, wenn von gleichartigen Maßnahmen nicht zugleich auch die gesamte übrige
Dorfbevölkerung oder doch zumindest erhebliche Teile davon betroffen waren. Erst
recht werden eine nicht nur kurzfristige Festnahme des Betroffenen und eine ihm im
Polizeigewahrsam widerfahrene menschenrechtswidrige Behandlung in der Regel den
Schluß auf eine Registrierung seiner Person und der gegen ihn vorliegenden
Verdachtsmomente rechtfertigen. Anders kann es bei der Festnahme mehrerer hundert
Personen liegen, von denen die meisten schon am Tag der Festnahme wieder
freigelassen und nur einige wenige für mehrere Tage in Haft behalten werden, wenn der
Betroffene zu den Freigelassenen zählt. Fehlt es an einer derartigen Individualisierung,
so steht den Betroffenen eine inländische Fluchtalternative im Westen der Türkei offen,
wo sie einer Wiederholungsgefahr in Bezug auf menschenrechtswidrige Eingriffe nicht
ausgesetzt sind. bb) Verweigerer des Dorfschützeramtes In ähnlicher Weise ist die Lage
derjenigen zu bewerten, die wegen ihrer Weigerung, das Dorfschützeramt zu
übernehmen oder fortzuführen, bei den Sicherheitskräften ihres Heimatortes in einen
PKK-Verdacht geraten sind und deswegen Repressalien ausgesetzt waren. Wer sich
lediglich im Kollektiv mit der auf dem Dorfplatz versammelten Dorfbevölkerung
geweigert hat, das Dorfschützeramt zu übernehmen, ist deswegen noch nicht einem
individuell gegen seine Person gerichteten PKK-Verdacht ausgesetzt. Wer jedoch im
Gefolge derartigen Kollektivverhaltens festgenommen worden ist und sich dann im
Polizeigewahrsam erneut (oder auch erstmalig) geweigert hat, das Dorfschützeramt zu
übernehmen, gerät im Regelfall in einen PKK-Verdacht. Auch soweit eine derartige
Weigerung tatsächlich nicht auf einer Sympathie mit der PKK, sondern auf der Angst vor
deren Rache beruht, muß nach den ausgewerteten Erkenntnisquellen regelmäßig
bezweifelt werden, daß die Sicherheitskräfte eine derartige "Entschuldigung"
akzeptieren. Amnesty International, Gutachten vom 21. August 1997 an VG Berlin, S. 7
f.; Oberdiek, Gutachten vom 25. Juli 1997 an VG Berlin, S. 15. Ausgeschlossen ist dies
aber andererseits im Einzelfall nicht. Ein solcher Ausnahmefall ist anzunehmen, wenn
die Sicherheitskräfte jene Weigerung haben auf sich beruhen lassen oder darauf über
einen längeren Zeitraum vor der Ausreise des Betroffenen nicht mehr zurückgekommen
sind. Wie es sich im Fall des jeweils klagenden Asylbewerbers verhält, ist anhand aller
maßgeblichen Umstände in seinem Vortrag zu beurteilen, soweit ihm gefolgt werden
kann. An dieser Einschätzung hält der Senat auch unter Berücksichtigung der in der
obergerichtlichen Rechtsprechung vertretenen gegenteiligen Auffassung fest. VGH BW,
Urteil vom 2. Dezember 1996 - A 12 S 3481/95 -, S. 40 ff., 54 f.; Urteil vom 8. Juli 1998 -
A 12 S 3034/96 -, S. 31, 40; HessVGH, Urteil vom 5. Mai 1997 - 12 UE 500/96 -, S. 33 f.
Für den Senat ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, ob der Kreis der
vorbezeichneten oder sonst der PKK-Sympathie verdächtigen Personen in einer Datei
der türkischen Polizei erfaßt ist. Auf diese von den Gutachtern nicht einheitlich
beantwortete und nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht aufklärbare Frage kommt es
nämlich für die hier vorzunehmende Verfolgungsprognose nicht an. Insofern genügt
vielmehr die sich nach der Lebenserfahrung aufdrängende Annahme, daß jedenfalls die
Sicherheitskräfte am Heimatort des Betreffenden über dessen Identität unterrichtet sind.
Abweichendes ist im Hinblick auf eine Person, die wegen des Verdachts, mit der PKK
zu sympathisieren, festgenommen und unter Einsatz erheblicher körperlicher
Mißhandlungen verhört worden ist, schwerlich vorstellbar. Wer einmal unter einen
entsprechenden Verdacht geraten ist und diesen nicht hat zerstreuen können, bleibt
dem Mißtrauen der Sicherheitskräfte ausgesetzt, auch wenn die Verdachtsmomente für
eine Anklageerhebung oder den Erlaß eines richterlichen Haftbefehls nicht ausreichen.
Nur eine die Identität des Betroffenen - auf welche technische Weise auch immer -
sichernde Verfahrensweise der Sicherheitskräfte wird dem Gebot eines energischen
Kampfes gegen einen Feind gerecht, der es darauf anlegt, einen Teil des
Staatsgebietes der Türkei abzutrennen. Für diejenigen, die durch die Weigerung, das
Dorfschützeramt zu übernehmen, den Verdacht der PKK-Sympathie auf sich gezogen
haben, stellt sich nach einer Umsiedlung in die Westtürkei das Verfolgungsrisiko wie
folgt dar: An den Zugangsstraßen von Kurden bewohnter Stadtviertel kommt es häufig
zu Polizeikontrollen. Es entspricht den Grundsätzen effizienter Polizeiarbeit, daß
zumindest stichprobenartig bei den Sicherheitskräften des aus dem Personalausweis
ersichtlichen Heimatortes nachgefragt wird, ob gegen den Betreffenden
Verdachtsmomente bestehen. Das Ergebnis dieser Nachfrage ist ausschlaggebend
dafür, ob der Betreffende mit asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen rechnen muß
oder nicht. Liegt gegen ihn in seiner Heimatprovinz nichts vor, so werden ihn auch die
Sicherheitskräfte im Westen nicht weiter behelligen. Werden diese jedoch über einen
einschlägigen Verdacht aus der Heimatregion unterrichtet, so ist ein zumindest
mehrtägiger, mit Verhören verbundener Aufenthalt im Polizeigewahrsam gewiß. Das
vorstehend beschriebene Risiko ist nicht nur theoretischer Natur, sondern vielmehr im
Bereich realer Möglichkeiten. Diese Überzeugung ergibt sich für den Senat aus den
beschriebenen Vorgängen, wie sie für das Verhältnis zwischen staatlichen
Sicherheitskräften und kurdischer Bevölkerung in der Türkei landesweit typisch sind.
Die zahlreichen Übergriffe erlauben zwar, wie dargelegt, nicht den Schluß, daß jeder
Kurde im Osten des Landes von Verfolgung bedroht und im Westen davor nicht
hinreichend sicher ist. Sie zeichnen aber dessen ungeachtet ein Bild großer
Feindseligkeit und Unduldsamkeit auf Seiten des türkischen Staates gegenüber solchen
Personen, die - aus welchen Gründen auch immer - in einen PKK-Verdacht geraten
sind. Dies rechtfertigt die Annahme, daß gegen jenen Personenkreis unnachsichtig und
unter Einsatz aller denkbaren - legalen und illegalen - polizeilichen Mittel vorgegangen
wird. Diese Einschätzung des Verfolgungsrisikos ist nicht gleichbedeutend mit der
Annahme einer landesweiten Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei. Es kann
keine Rede davon sein und ergibt sich auch nicht aus den dem Senat vorliegenden
Erkenntnissen, daß "Millionen von Kurden" wegen der Weigerung, das Dorfschützeramt
zu übernehmen, zur Abwanderung in die Westtürkei gedrängt worden sind. Zwar heißt
es bei Oberdiek an einer Stelle: "Mehr als 50 % waren vor der Flucht gedrängt worden,
Dorfschützer zu werden". Vgl. Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 63;
Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin, S. 104. Hierbei handelt es sich jedoch
offensichtlich um ein Versehen, obwohl die Art der Repressalien im Gutachten vom 14.
März 1997 nicht mehr näher aufgeschlüsselt wird. Denn nach der Umfrage des
Menschenrechtsvereins, auf die sich Oberdiek jeweils bezieht und die er an anderer
Stelle im Gutachten vom 26. Mai 1995 zitiert, betrug jener Prozentsatz tatsächlich 20,5.
Vgl. Gutachten vom 26. Mai 1995 an VG München, S. 16; vgl. Kaya, Gutachten vom 11.
April 1995 an VG Aachen, S. 31: 24,5 % (wohl ebenfalls ein Versehen, weil bei
Zugrundelegung von 20,5 % die Summe der Antwortanteile zu Frage 18 exakt 100 %
ergibt). Selbst der vorgenannte Prozentsatz ist nur beschränkt aussagekräftig, da
Anhaltspunkte dafür bestehen, daß das Umfrageergebnis des Menschenrechtsvereins
Istanbul in bezug auf die generelle Lage kurdischer Zuwanderer aus der Osttürkei nicht
repräsentativ ist. Wie Oberdiek an anderer Stelle bemerkt, wurden die Kontakte zu den
Befragten des Menschenrechtsvereins Istanbul unter anderem durch die HADEP
vermittelt, die einen recht engen Bezug zu den "Kriegsflüchtlingen" hat. Vgl. Gutachten
vom 20. Dezember 1996 an SchlHOVG, S. 74 (Fn. 23). Daraus ist zu schließen, daß
unter den von jener Erhebung erfaßten Personen diejenigen deutlich überrepräsentiert
waren, die wegen Repressalien der Sicherheitskräfte ihre Heimat verlassen hatten. Dem
entspricht es, daß in den beiden anderen erwähnten Gutachten (TOBB, ODTÜ) die
allein aus wirtschaftlichen Gründen Zugewanderten deutlich stärker vertreten waren. Die
Einschätzung, wonach Kurden, die in ihrer ostanatolischen Heimat wegen der
Verweigerung des Dorfschützeramtes politischen Repressalien ausgesetzt waren, in der
Westtürkei vor erneuter politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher sind, wird von
einem Teil der Gutachter ausdrücklich geteilt. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 26. Mai
1995 an VG München, S. 62; Amnesty International, Gutachten vom 17. Juli 1996 an VG
München, S. 3. Daß die vorgenannten Gutachter sowie Kaya den in der Westtürkei vor
Verfolgung nicht sicheren Personenkreis noch viel weiter ziehen als der Senat, läßt die
Richtigkeit der hier in Rede stehenden Verfolgungsprognose unberührt. Darüber hinaus
geben die zuvor auf S. 77 zitierten Entscheidungen Anlaß zu folgenden Bemerkungen:
Die realitätsgerechte Abgrenzung des von Verfolgung betroffenen Personenkreises muß
darauf Bedacht nehmen, daß die Durchsuchungs- und Festnahmeaktionen der
Sicherheitskräfte auch in der Westtürkei weit über den Kreis derjenigen hinausreichen,
bei denen die Verdachtsmomente für den Erlaß eines richterlichen Haftbefehls
genügen. Aus den verwerteten Erkenntnissen geht hervor, daß die allermeisten von der
Polizei verhafteten Personen noch vor Erlaß einer richterlichen Maßnahme freigelassen
werden, daß selbst die kraft richterlicher Entscheidung in Haft bleibenden Personen in
erheblichem Umfang später - vor oder nach Anklageerhebung - aus der Haft entlassen
und daß schließlich zahlreiche Angeklagte durch die Gerichte freigesprochen werden,
so daß der Anteil derjenigen, die letztlich rechtskräftig verurteilt werden, im Vergleich zur
Gesamtzahl der polizeilichen Festnahmen außerordentlich gering ist. Des
asylrechtlichen Schutzes bedarf aber der gesamte vorgenannte Personenkreis. Denn
auch die große Masse derjenigen, die nur kurzfristig im Polizeigewahrsam verbleiben,
ist - soweit es um den hier in Rede stehenden PKK-Verdacht geht -
menschenrechtswidriger Behandlung ausgesetzt. Daß die Sicherheitskräfte in der
Westtürkei bereits bei der Entscheidung darüber, ob der Betreffende festzunehmen und
zu verhören ist, danach differenzieren, aus welchen Gründen ein Anfangsverdacht
besteht, ist nicht erkennbar. Bezüglich des hier in Rede stehenden Personenkreises -
Zuwanderer aus Ostanatolien - kommt hinzu, daß hinsichtlich der Frage, ob ein
Anfangsverdacht besteht, die Einschätzung der Sicherheitskräfte des Heimatortes, bei
denen Rückfrage genommen wird, maßgeblich ist. Haben diese in einem Verweigerer
des Dorfschützeramtes einen PKK-Sympathisanten gesehen, so ist anzunehmen, daß
die Sicherheitskräfte im Westen sich diese Einschätzung zunächst zu eigen machen -
mit den beschriebenen Konsequenzen für den Betroffenen. Daß sie ihn anders
behandeln werden als Personen, die aus sonstigen Gründen - sei es im Westen oder im
Osten des Landes - den Verdacht auf sich gelenkt haben, mit der PKK zu
sympathisieren, ist nicht naheliegend. cc) HADEP Für Mitglieder der HADEP besteht
das Verfolgungsrisiko in oben beschriebenem Umfang. Hingegen kann nicht
angenommen werden, jedes HADEP-Mitglied müsse mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen. Dagegen
spricht derzeit entscheidend, daß es sich bei der HADEP um eine legale Partei handelt,
die - in Ostanatolien sogar mit beachtlichem Erfolg - an der Parlamentswahl vom 24.
Dezember 1995 teilgenommen hat, daß Mitglieder und Funktionäre der Partei
ungeachtet aller Schikanen ihre politische Arbeit fortsetzen und bislang nicht erkennbar
ist, daß sie in nennenswertem Umfang die Türkei verlassen. Vgl. Auswärtiges Amt,
Auskunft vom 1. Juli 1996 an VG Neustadt an der Weinstraße; Auskunft vom 2. Juli 1996
an VG Neustadt an der Weinstraße; Auskunft vom 22. November 1996 an VG Neustadt
an der Weinstraße; Auskunft vom 13. März 1997 an VG Bremen; Kaya, Gutachten vom
7. Dezember 1997 an VG Stuttgart, S. 3 f.; Taylan, Gutachten vom 5. Dezember 1997 an
VG Koblenz, S. 1. Eine andere asylrechtliche Betrachtungsweise ist geboten, soweit
HADEP-Mitglieder wegen ihrer Parteizugehörigkeit geltender asylerheblicher
Verfolgungsmaßnahmen geflüchtet sind. Solche vorverfolgten Personen sind
angesichts der zahlreichen in der Presse dokumentierten Übergriffe der
Sicherheitskräfte gegen Parteimitglieder in keinem Landesteil der Türkei vor erneuter
Verfolgung hinreichend sicher. 5. Aleviten Eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur
Religionsgemeinschaft der Aleviten findet in der Türkei nicht statt. Der Begriff "Alevi"
bzw. "Alevit" bedeutet "Anhänger Alis". Ali ist der Kampfgenosse, engste Freund, Neffe
und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Die Aleviten erkennen - den Schiiten
ähnlich - Ali als Nachfolger Mohammeds an. Die Aleviten müssen - anders als die
Mehrheit unter den Moslems, die Sunniten - nicht fünfmal täglich das Pflichtgebet in
streng vorgeschriebener Form vollziehen, im Ramadan nicht fasten und nicht nach
Mekka pilgern. Sie müssen kein Alkoholverbot einhalten. Sie kennen keine
Geschlechtertrennung und keine Rollendifferenzierung von Mann und Frau. Daraus
resultiert die Vorstellung orthodoxer Sunniten, bei den Aleviten herrsche Anarchie,
Zügel- und Morallosigkeit. Die Aleviten unterstützen das vom Republikgründer Atatürk
eingeführte Prinzip des Laizismus, weil sie darin eine tolerantere, liberalere Atmosphäre
zu finden hoffen als unter der Herrschaft der sunnitischen Orthodoxie. Politisch
bevorzugen die Aleviten linke Parteien und Strömungen; islamistische Parteien lehnen
sie ab. Etwa 20 % der türkischen Bevölkerung sind Aleviten. Sie finden sich sowohl
unter den türkischen als auch unter den kurdischen Volkszugehörigen. Aleviten siedeln
in der Türkei vor allem im Küstengebiet von Antakya und Iskenderun, Adana, Tarsus
und Mersin. Türkische Aleviten leben in Corum, Amasya, Tokat, Yozgat, kurdische
Aleviten in Sivas, Erzincan, Tunceli, Elazig, Malatya und Kahramanmaras. Vgl. zum
vorstehenden im einzelnen: Lorenzi, Gutachten über die Aleviten in der Türkei, Oktober
1996. Aleviten waren in der Türkei in den vergangenen Jahrzehnten von Zeit zu Zeit
Opfer von Ausschreitungen. Am 17. September 1967 führte ein Fußballspiel zwischen
einer Mannschaft aus dem alevitischen Sivas und einer aus dem sunnitischen Kayseri
zu schweren Ausschreitungen, Brandstiftungen und Überfällen auf alevitische
Wohnviertel in Sivas mit 40 Toten. Am 3. und 4. September 1978 starben bei von
Rechtsradikalen organisierten Überfällen auf alevitische Viertel in Corum und
Kahramanmaras 110 Menschen, Hunderte wurden verletzt und Tausende verhaftet. In
der Zeit vom 24. bis 26. Dezember 1978 kam es in Kahramanmaras zu einem Massaker,
bei dem etwa 2.000 Aleviten von sunnitischen Fanatikern umgebracht, die Geschäfte
von Aleviten geplündert und ihre Häuser angezündet wurden. Am 2. Juli 1993 starben in
Sivas 37 Menschen, nachdem sunnitische Fundamentalisten ein Hotel angezündet
hatten, in welchem sich viele alevitische und laizistisch denkende türkische Schriftsteller
und Intellektuelle aufhielten; 124 Menschen wurden vor Gericht gebracht. Vgl. Lorenzi,
Gutachten über die Aleviten in der Türkei, Oktober 1996, S. 31 ff.; Auswärtiges Amt,
Auskunft vom 4. Juli 1996 an VG Wiesbaden. Jüngstes Ereignis dieser Art waren die
Vorgänge in Istanbul-Gaziosmanpasa. Dort beschossen am 12. März 1995 Unbekannte
aus einem Taxi heraus vier Teestuben von alevitischen Kurden, töteten dabei eine
Person und erstachen anschließend den Taxifahrer. Da die Polizei offenbar keinen
Versuch unternahm, die Täter zu fassen, demonstrierten am 13. März 1995 etwa 20.000
Menschen vor der Polizeiwache; die Polizei setzte Schußwaffen ein. Am 15. März 1995
kam es auch in Istanbul-Ümraniye zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und
Sicherheitskräften. Die Gesamtzahl der bei jenen Vorgängen Getöteten beläuft sich auf
24. Am 20. Mai 1995 ereignete sich eine weitere Auseinandersetzung zwischen
Demonstranten und Sicherheitskräften im Istanbuler Stadtteil Kagithane, bei der etwa 50
Personen verletzt und ebenso viele festgenommen wurden, nachdem drei angebliche
MHP-Angehörige die Gäste eines Restaurants, das einem Aleviten gehörte, verprügelt
hatten. Vgl. Lorenzi, Gutachten über die Aleviten in der Türkei, Oktober 1996, S. 34;
Kaya, Gutachten vom 9. Juli 1997 an VG Würzburg; Oberdiek, Gutachten vom 26. Mai
1995 an VG München, S. 53 f.; UNHCR, Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 28.
Die vorstehenden Ereignisse erweisen, daß die Aleviten in der Türkei bei sunnitischen
Extremisten und Rechtsradikalen auf Feindschaft stoßen und daß die Sicherheitskräfte
nicht immer mit der nötigen Entschlossenheit gegen die Aggressoren aus jenen Kreisen
vorgehen. Ausmaß und Häufigkeit jener Vorfälle verbieten indes auch unter
Berücksichtigung anderer weniger gravierender Ausschreitungen die Schlußfolgerung,
Aleviten müßten in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylerheblichen
Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Organe oder ihnen zuzurechnender Übergriffe
anderer Bevölkerungsgruppen rechnen. Solche gewalttätigen Ausschreitungen
gegenüber Aleviten wie sie Anfang 1995 stattgefunden haben, haben sich seitdem nicht
wiederholt. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 19. September 1997 an VG Bayreuth,
S. 1; Kaya, Gutachten vom 20. März 1998 an OVG Bremen, S. 4. 6. Exilpolitik Dem
Kläger droht in der Türkei keine politische Verfolgung wegen seiner exilpolitischen
Aktivitäten im Bundesgebiet. Exilpolitische Aktivitäten in der Bundesrepublik
Deutschland begründen ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko für türkische
Staatsangehörige im allgemeinen nur, wenn sich der Betreffende politisch exponiert hat,
wenn sich also seine Betätigung deutlich von derjenigen der breiten Masse abhebt. Nur
wer politische Ideen und Strategien entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten
oder Taten von Deutschland aus maßgeblichen Einfluß auf die türkische Innenpolitik
und insbesondere auf seine in Deutschland lebenden Landsleute zu nehmen versucht,
ist aus der maßgeblichen Sicht des türkischen Staates ein ernstzunehmender politischer
Gegner, den es zu bekämpfen gilt. Das ist zum Beispiel anzunehmen bei Leitern von
größeren und öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen und Protestaktionen sowie
Rednern auf solchen Veranstaltungen, ferner bei Mitgliedern und Delegierten des
kurdischen Exilparlaments, unter Umständen auch bei Vorstandsmitgliedern bestimmter
oppositioneller Exilvereine. Nicht beachtlich wahrscheinlich zu politischer Verfolgung
führen demgegenüber exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils. Dazu gehören alle
Tätigkeiten von untergeordneter Bedeutung. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß der
Beitrag des einzelnen entweder - wie bei Großveranstaltungen - kaum sichtbar oder
zwar noch individualisierbar ist, aber hinter den zahllosen deckungsgleichen Beiträgen
anderer Personen zurücktritt. Derartige Aktivitäten sind ein Massenphänomen, bei
denen die Beteiligten ganz überwiegend nur die Kulisse abgeben für die eigentlich
agierenden Wortführer. Das ist zum Beispiel anzunehmen bei schlichter
Vereinsmitgliedschaft, der damit verbundenen regelmäßigen Zahlung von
Mitgliedsbeiträgen sowie von Spenden, schlichter Teilnahme an Demonstrationen,
Hungerstreiks, Autobahnblockaden, Informationsveranstaltungen oder
Schulungsseminaren, Verteilung von Flugblättern und Verkauf von Zeitschriften,
Plazierung von namentlich gezeichneten Artikeln und Leserbriefen in
türkischsprachigen Zeitschriften. Für die Annahme des Senats, daß ein
Verfolgungsinteresse seitens der Türkei nur bei exponierter exilpolitischer Tätigkeit
besteht, sind mehrere Gründe maßgebend: a) Überwachung exilpolitischer Aktivitäten In
erster Linie rechtfertigt sich diese Annahme daraus, daß sich die Überwachung
exilpolitischer Aktivitäten türkischer Staatsangehöriger auf deutschem Boden durch die
türkischen Sicherheitskräfte im wesentlichen auf diesen Personenkreis konzentriert.
Diese beobachten die Exilszene in Deutschland mit hoher Aufmerksamkeit. Grund
hierfür ist, daß alle maßgeblichen oppositionellen Bewegungen sowohl der extremen
Rechten als auch der radikalen Linken und der kurdischen Separatisten von deutschem
Boden aus mit den unterschiedlichsten Mitteln auf die türkische Innenpolitik Einfluß zu
nehmen versuchen. Alle namhaften türkischen politischen Gruppierungen,
insbesondere die extremistischen, sind auch im Bundesgebiet aktiv und finden hier ein
beachtliches Potential für die Rekrutierung neuer Mitglieder, weil in Deutschland als
wichtigstem Auswanderungsland mehr als 2,5 Mio. türkische Staatsbürger oder türkisch-
stämmige Bürger leben. Vgl. Rumpf, Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S. 17.
aa) Organisierte Überwachung Um dem zu begegnen, hat der türkische Staat
umfangreiche organisatorische Maßnahmen zur Überwachung der kurdischen
nationalen Opposition im Ausland getroffen. Wichtigste Überwachungsorganisation in
diesem Zusammenhang ist der unter militärischer Leitung stehende Nationale
Nachrichtendienst der Türkei (Milli Istihbarat Teskilati/MIT) mit Sitz in Ankara. Dieser
unterhält im gesamten Bundesgebiet eigene Dienststellen, die ihren Sitz an
Generalkonsulaten haben und deren hauptamtliche Mitarbeiter dort als Attachés
akkreditiert sind. Er verfügt darüber hinaus über Gewährsleute, die in die türkischen und
kurdischen Auslandsorganisationen in Deutschland eingeschleust sind oder die
beruflichen Kontakt zu Landsleuten haben. Schließlich erfolgt die
Nachrichtenbeschaffung durch Auswertung von Bildmaterial und Publikationen.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß der MIT an allen staatsfeindlichen Aktivitäten
türkischer Staatsangehöriger in Deutschland interessiert ist, aber schon aus
Kapazitätsgründen eine Identifizierung und gezielte Sammlung und Zuordnung von
Beweismaterial nur für den Kreis exponierter Exilpolitiker vornehmen kann. Die Aufgabe
eingeschleuster Gewährsleute besteht darin, Vereinsaktivitäten zu beobachten, die
daran teilnehmenden Personen zu identifizieren und die gesammelten Informationen an
die Geheimdienstmitarbeiter in den Konsulaten weiterzuleiten. Dabei werden die
Personalien von Kadern der PKK und ähnlich militant staatsfeindlicher
Exilorganisationen erfaßt und bei der zuständigen Behörde (MIT oder politische
Abteilung der Polizei) registriert. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 2. März 1998 an
VG Frankfurt (Oder), S. 2 f.; Kaya, Gutachten vom 30. Oktober 1996 an VG Bremen, S. 1;
Gutachten vom 16. März 1997 an VG Gießen, S. 2; Gutachten vom 18. März 1998 an VG
Frankfurt (Oder), S. 2; Landesamt für Verfassungsschutz Baden- Württemberg, Auskunft
vom 9. Oktober 1996 an VG Stuttgart; Taylan, Gutachten vom 25. Februar 1996 an VG
Neustadt an der Weinstraße; Tellenbach, Gutachten vom 29. November 1996 an VG
Neustadt an der Weinstraße; Rumpf, Gutachten vom 12. Februar 1996 an VG Kassel, S.
3; Gutachten vom 22. Januar 1997 an VG Bremen, S. 5. Darüber hinaus sind bei der
Generaldirektion der Polizei in Ankara sowie bei den Polizeipräsidien mehrerer anderer
türkischer Großstädte Sonderbüros mit allen technischen Möglichkeiten eingerichtet, um
den seit März 1995 von London ausstrahlenden kurdischen Satellitensender MED-TV
zu überwachen, der als von der PKK gesteuert gilt und der seine kurdischsprachigen
Sendungen überwiegend in Studios in Brüssel und Köln produziert, der in der ganzen
Türkei empfangen werden kann und der sich bei der kurdischen Bevölkerung sowohl in
den Städten und zunehmend auch in den ländlichen Gebieten Ostanatoliens bereits
einer beachtlichen Beliebtheit erfreut. Bei der Gestaltung der Sendungen überwiegen
kulturelle Beiträge gegenüber politischen. Kaya, Gutachten vom 20. Februar 1998 an
VG Gelsenkirchen, S. 2; Gutachten vom 16. Juni 1998 an VG Stuttgart, S. 1, 14 f.;
Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 1997, S. 230 f. Nicht
realitätsgerecht wäre indessen die Annahme, durch die vorbezeichneten
Überwachungsmaßnahmen erfolge eine lückenlose Erfassung aller exilpolitischen
Aktivitäten in Deutschland. Schon aus praktischen Gründen ist es ausgeschlossen, etwa
bei Großveranstaltungen, in welchen der einzelne in der anonymen Masse untertaucht,
auch nur den überwiegenden Teil der Veranstaltungsbesucher in einer Weise zu
observieren und zu identifizieren, die einen strafrechtlichen oder auch nur einen
polizeilichen Zugriff im Rückkehrfall ermöglicht. Der dafür erforderliche
Ermittlungsaufwand stünde außer Verhältnis zu dem zu erwartenden Ermittlungserfolg.
Selbst wenn von solchen Veranstaltungen in der Presse Fotos erscheinen, auf welchen
einzelne Teilnehmer erkennbar sind, ist ein Rückschluß auf die Identität der
Betreffenden nicht oder nur unter Einsatz zusätzlichen, in der Regel
unverhältnismäßigen Ermittlungsaufwandes möglich. Gleiches gilt, soweit etwa
Protestaktionen vor türkischen Auslandsvertretungen gefilmt werden. Eine persönliche
Zuordnung ist selbst dann häufig nicht möglich, wenn die Presseberichterstattung Vor-
und Zunamen des Betreffenden erwähnt und es sich dabei um in der Türkei
gebräuchliche, vielfach verwandte Namen handelt. Rumpf, Gutachten vom 29.
Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 16. Einer gezielten Sammlung von Informationen
nicht ausgesetzt sind die einfachen Mitglieder der in Deutschland aktiven
Organisationen, ebensowenig diejenigen, die solche Organisationen aufsuchen oder
sich an ihren Demonstrationen, Kundgebungen und anderen Massenaktionen
beteiligen. Kaya, Gutachten vom 18. März 1998 an VG Frankfurt (Oder), S. 2, 6. Freilich
kann nicht ausgeschlossen werden, daß im Einzelfall exilpolitische Aktivitäten niedrigen
Profils türkischen Stellen bekannt werden, etwa wenn Geheimdienstmitarbeiter selbst
an Veranstaltungen oder Vereinsaktivitäten teilnehmen und dabei von der Identität
anderer Teilnehmer erfahren. Auch dieser - im vorliegenden Zusammenhang
mitzubedenkende - Umstand gebietet es nicht, das durch untergeordnete Aktivitäten der
beschriebenen Art ausgelöste Verfolgungsrisiko als beachtlich wahrscheinlich
einzustufen. bb) Strafnachrichtenaustausch nach Art. 22 EuRHÜbk Auch außerhalb
dieser organisierten Überwachung erfolgende Kenntniserlangung türkischer Behörden
von exilpolitischen Aktivitäten niedrigen Profils löst kein Verfolgungsinteresse aus.
Namentlich ist nicht davon auszugehen, daß türkische Staatsangehörige allein deshalb
einem höheren Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind, weil sie wegen einer auf deutschem
Boden begangenen Straftat mit exilpolitischem Hintergrund durch ein deutsches
Strafgericht verurteilt worden sind. Vgl. dazu Senatsbeschluß vom 31. März 1998 - 25 A
5198/96.A -, NVwZ- Beilage 9/1998, 93 = AuAS 1998, 204. In diesen Fällen gibt das
Bundesministerium der Justiz dem türkischen Justizministerium im Rahmen des
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei auf der Grundlage des Art. 22
des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRHÜbk)
vom 20. April 1959 (BGBl. 1964 II S. 1369, 1386; 1976 II S. 1799) praktizierten
gegenseitigen Strafnachrichtenaustauschs quartalsweise die entscheidenden im
Bundeszentralregister eingetragenen Daten (persönliche Daten des Betroffenen, Urteils-
und Tatzeit, Gerichtsbezeichnung, Aktenzeichen, Tatbezeichnung, Rechtsgrundlage, Art
und Höhe der Strafe) bekannt. Dieser Strafnachrichtenaustausch erfolgt automatisch
und kann im Einzelfall nicht abgelehnt werden. Lediglich dann, wenn die türkische Seite
nach Art. 4 des Zusatzprotokolls zum EuRHÜbk vom 17. März 1978 (BGBl. 1990 II S.
124, 125; 1991 II S. 909) um die Übermittlung zusätzlicher Informationen
(Urteilsabschriften usw.) ersucht, wird dieses Ersuchen nach der Praxis der
Bundesregierung in den hier in Rede stehenden Fällen nach Art. 2 Buchst. a) EuRHÜbk
abgelehnt, weil es sich auf eine strafbare Handlung bezieht, die vom ersuchenden Staat
als politische Straftat angesehen wird. Die aus Deutschland übermittelten
Strafnachrichten werden von der Generalsicherheitsdirektion in Ankara erfaßt. Hiervon
werden die örtlich zuständige Polizeibehörde und im Fall der Ausschreibung des
Betreffenden zur Fahndung auch das örtlich zuständige Personenstandsamt
benachrichtigt. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15. Mai 1998 an VG Freiburg, S. 1;
Bundesministerium der Justiz, Auskünfte vom 8. August 1997 und vom 11. Dezember
1997 an VG Gießen; Auskunft vom 26. Februar 1998 an VG Köln; Auskunft vom 12.
März 1998 an VG Berlin; Auskunft vom 22. Mai 1998 an VG Freiburg;
Generalbundesanwalt, Auskunft vom 27. Juni 1997 an VG Gießen; Auskunft vom 16.
April 1998 an VG Freiburg, S. 2 f. Ähnlich wird verfahren, soweit die türkische Seite auf
kriminalpolizeilicher Ebene um Auskunft ersucht. Wird ein politischer Hintergrund der
dem Ersuchen zugrundeliegenden Straftat erkennbar, erteilt das Bundeskriminalamt
Auskunft nicht oder nur nach Rücksprache mit dem Bundesministerium der Justiz.
Bundeskriminalamt, Auskunft vom 17. März 1998 an VG Berlin. Hat sich ein türkischer
Asylbewerber für sich genommen lediglich niedrig profiliert exilpolitisch betätigt, so
erlangt diese Betätigung nicht allein deshalb ein die Schwelle der Exponiertheit
überschreitendes Gewicht, weil sie der Türkei im Wege des Strafnachrichtenaustauschs
bekannt werden kann. Denn das Verhalten der türkischen Seite auch beim Austausch
von Strafnachrichten deutet darauf hin, daß sie kein Interesse an der Verfolgung niedrig
profilierter exilpolitischer Aktivitäten hat. Die türkischen Stellen bringen dem
Strafnachrichtenaustausch bei politischen Delikten ohnehin nur vergleichsweise
geringes Interesse entgegen. Es ist davon auszugehen, daß die oben beschriebenen
anderweitigen Erkenntnismöglichkeiten (Spitzel vor Ort, Auswertung von Presse und
Fernsehen) einen erheblich unbürokratischeren Zugang zu den unter
Staatsschutzgesichtspunkten interessanten Informationen erlauben. Denn der
Strafnachrichtenaustausch ist als Informationsquelle selbst dann nicht sonderlich
ergiebig, wenn der exilpolitische Hintergrund aus der übermittelten Strafnachricht
ersichtlich oder zumindest der Schluß auf einen derartigen Hintergrund naheliegend ist
(z. B. Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, Landfriedensbruch). Auch in diesen
Fällen ist der Informationsgehalt der einzelnen Strafnachricht zur konkreten
zugrundeliegenden Tat erheblich geringer als etwa ein Pressebericht oder eine
öffentliche Strafgerichtsverhandlung, weil neben dem Tatdatum lediglich die abstrakte
Deliktsbezeichnung angegeben ist, die einen Aufschluß über die staatsschutzbezogene
Gefährlichkeit der Tathandlung nicht erlaubt. Einen derartigen Aufschluß könnten
allenfalls Bestandteile der Strafakten (Anklageschrift, Urteil) liefern, die jedoch von der
türkischen Seite in Fällen mit exilpolitischem Hintergrund offenbar gar nicht erst
angefordert werden, weil die Erfolglosigkeit eines derartigen Ersuchens wegen des
Ablehnungsrechts nach Art. 2 Buchst. a) EuRHÜbk auf der Hand liegt. Jedenfalls von
einer gängigen Praxis türkischer Behörden in bezug auf Einzelanforderung von
Aktenbestandteilen kann nicht die Rede sein. Generalbundesanwalt, Auskunft vom 16.
April 1998 an VG Freiburg, S. 2 f. b) Fehlen von Referenzfällen Bestätigt wird die
Annahme fehlenden Verfolgungsinteresses bei niedrigprofilierten exilpolitischen
Aktivitäten dadurch, daß es praktisch keine stichhaltigen Belege für eine allein durch
solche Betätigung ausgelöste menschenrechtswidrige Behandlung in der Türkei in einer
ausreichenden Anzahl von einschlägigen Referenzfällen gibt. Vgl. Auswärtiges Amt,
Auskunft vom 13. März 1997 an VG Hamburg, S. 2; Auskunft vom 13. März 1997 - 514-
516.80/27941 - an VG Aachen, S. 2; Kaya, Gutachten vom 18. März 1998 an VG
Frankfurt (Oder), S. 2, 5 f.; Rumpf, Gutachten vom 12. Februar 1996 an VG Kassel, S. 3
f.; Gutachten vom 22. Januar 1997 an VG Bremen, S. 6; Tellenbach, Gutachten vom 29.
November 1996 an VG Neustadt an der Weinstraße; Taylan, Gutachten vom 25. Februar
1996 an VG Neustadt an der Weinstraße. Im Gegenteil ist festzustellen, daß "hunderte,
ja Tausende" Personen (kurdischer oder türkischer Herkunft), die sich an
Demonstrationen, Veranstaltungen und Hungerstreiks beteiligt haben, dabei gefilmt und
fotografiert wurden und mit Bild in der Presse erschienen, ihre Angelegenheiten ohne
Schwierigkeiten in den Konsulaten haben regeln können. Darunter befinden sich auch
Personen, die in die Türkei gefahren und wieder zurückgekommen sind. Selbst für
führende Mitglieder des in der Bundesrepublik Deutschland tätigen kurdischen
Dachverbandes KOMKAR trifft dies zu. Vgl. Kaya, Gutachten vom 3. April 1996 an VG
Neustadt an der Weinstraße, S. 5; Gutachten vom 30. Juli 1996 an das VG Darmstadt, S.
6; Gutachten vom 30. Oktober 1996 an VG Bremen, S. 5 (Fn. 3); Gutachten vom 18.
März 1998 an VG Frankfurt (Oder), S. 2. Jener Umstand ist insofern bemerkenswert, als
es sich bei den von Kaya angesprochenen Personen zumeist um solche handeln wird,
die ein Bleiberecht für die Bundesrepublik Deutschland haben, ihre politische Tätigkeit
hier somit aus freien Stücken ausüben, d.h. ohne den Druck eines laufenden
Asylverfahrens und das dadurch ausgelöste Bestreben zur Verbesserung der
Rechtsposition. Erst recht macht der erwähnte Umstand plausibel, weshalb der
türkische Staat niedrigprofilierten exilpolitischen Aktivitäten von Asylbewerbern nur ein
eingeschränktes Aufklärungs- und jedenfalls kein Verfolgungsinteresse entgegenbringt:
Gerade von dem hier zu betrachtenden Personenkreis exilpolitisch aktiver Asylbewerber
geht nämlich oftmals keine ernsthafte Gefahr für die Einheit des türkischen Staates aus.
Nehmen Asylbewerber aus der Türkei, die dort keine oder jedenfalls keine als
staatsfeindlich geltenden politischen Aktivitäten entfaltet haben, solche Aktivitäten nach
Einleitung ihres Asylverfahrens im Bundesgebiet auf, so ist die Annahme naheliegend,
daß jenen Aktivitäten kein ernsthaftes politisches Engagement zugrundeliegt, sondern
sie lediglich durch das Bestreben veranlaßt sind, dem Asylbewerber einen Rechtsvorteil
im laufenden Asylverfahren zu verschaffen. Insofern gilt für exilpolitische Aktivitäten
niedrigen Profils nichts anderes als für den Asylantrag, der von türkischen Stellen nicht
als staatsfeindliches Verhalten gewertet wird (vgl. dazu näher unten S. 130). Einerseits
können türkische Stellen nicht damit rechnen, daß die Betreffenden nach ihrer Rückkehr
in die Türkei ihre im Bundesgebiet unternommenen Aktivitäten offenbaren. Andererseits
werden sie sich selbst in den wenigen Fällen, in denen sie über Erkenntnismaterial
verfügen, mit welchem sie den Betreffenden überführen können, mit dessen Einlassung
konfrontiert sehen, jene Aktivitäten hätten nur den Zwecken des Asylverfahrens gedient.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 29. Oktober 1997 an VG Weimar, S. 2. Abgelehnte
türkische Asylbewerber werden zudem in namhafter Anzahl aus Deutschland und aus
anderen europäischen Staaten in die Türkei abgeschoben. Allein der Anteil
abgeschobener kurdischer Volkszugehöriger unter den abgelehnten Asylbewerbern in
Deutschland belief sich, wie der Senat in seinem Grundsatzurteil vom 3. Juni 1997 - 25
A 3631/95.A -, S. 129 f., im einzelnen aufgelistet hat, in den Jahren 1994 bis 1996 auf
über 3.000 Personen. Für einen nennenswerten Rückgang dieser Abschiebezahl seit
1996 bestehen keine Anhaltspunkte, denn auch im Jahr 1997 sind insgesamt 6.877
Personen in die Türkei rückgeführt worden. An dem Schicksal eines Großteils dieser
Personen müßte sich ein durch exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils ausgelöstes
Risiko menschenrechtswidriger Behandlung ebenfalls erweisen. Denn nach den
Erfahrungen des Senats wird nicht nur fast jedes Asylbegehren zumindest auch auf
derartige Aktivitäten gestützt, sondern auch türkische Staatsangehörige, die kein
Asylverfahren in Deutschland betreiben, beteiligen sich, wie gesagt, zahlreich an
derartigen Aktionen. In einem Fall eines abgelehnten Asylbewerbers, über dessen
Teilnahme an Demonstrationen und Hungerstreiks im türkischen Fernsehen berichtet
wurde, ist sogar positiv bestätigt, daß er bei und nach seiner Abschiebung in die Türkei
unbehelligt blieb. VG Neustadt an der Weinstraße, Vermerk vom 25. März 1998 mit
Vernehmungsprotokoll der Grenzschutzpolizei am Flughafen Istanbul vom 25.
September 1997. Die demgegenüber immer wieder anzutreffende Behauptung,
menschenrechtswidrige Behandlung drohe allein aufgrund von Tätigkeiten, die nach
den dargelegten Maßstäben als niedrigprofiliert einzustufen sind, vgl. Kaya, Gutachten
vom 20. Februar 1998 an VG Gelsenkirchen, S. 6 ff.; Gutachten vom 25. Juli 1998 an VG
Berlin, S. 3 f., ist mangels Darlegung einer ausreichenden Anzahl von Referenzfällen
nicht plausibel. Aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang nur konkrete Einzelfälle,
die ausreichend recherchiert sind und bei denen die Recherche ergeben hat, daß der
Betreffende allein wegen seiner niedrig profilierten exilpolitischen Betätigung im
Bundesgebiet festgenommen und mißhandelt worden ist. aa) Vorverfolgte Dazu
gehören namentlich diejenigen Fälle nicht, in denen die Betroffenen bereits in der
Türkei selbst politisch tätig gewesen sind und wegen des Verdachts, mit der militanten
kurdischen Bewegung zu sympathisieren, in der Türkei politischen Repressalien
ausgesetzt oder davon unmittelbar bedroht waren, deswegen in die Bundesrepublik
Deutschland geflüchtet sind und hier exilpolitische Aktivitäten aufgenommen haben. Die
Lage solcher Asylbewerber ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich, weil sie
sich in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht anders darstellt als diejenige der im
Bundesgebiet erstmalig politisch aktiv Gewordenen. Jenem Personenkreis kommt
nämlich, da er als vorverfolgt anzusehen ist, der herabgestufte Prognosemaßstab
zugute. Hier sind exilpolitische Aktivitäten bereits dann als asylbegründend in Betracht
zu ziehen, wenn der Betreffende ihretwegen in der Heimat nicht vor erneuter politischer
Verfolgung sicher ist. Außerdem ist dieser Personenkreis tatsächlich gefährdeter als
solche Kurden, die vor der Ausreise nicht die Aufmerksamkeit türkischer
Sicherheitskräfte auf sich gezogen hatten. Stand nämlich der Asylbewerber im Zeitpunkt
seiner Ausreise im Verdacht der Unterstützung der militanten kurdischen Bewegung, so
werden sich die zuständigen türkischen Stellen darin bestätigt sehen, wenn sie von
seinen exilpolitischen Aktivitäten erfahren. Es besteht daher die ernstzunehmende
Möglichkeit, daß er bei seiner Einreise verhaftet wird, weil sich türkische
Sicherheitskräfte von einem unter Einsatz von psychischem und physischem Druck
durchgeführten Verhör Informationen über die als staatsfeindlich geltenden kurdischen
Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland versprechen können. Vgl.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21. Juli 1997 an VG Bremen, S. 2; Kaya, Gutachten vom
3. April 1996 an VG Neustadt an der Weinstraße, S. 2 f.; Gutachten vom 15. September
1996 an VG Freiburg, S. 3; Gutachten vom 30. Oktober 1996 an VG Bremen, S. 5;
Gutachten vom 20. September 1997 an VG Kassel; Oberdiek, Gutachten vom 25. Juli
1997 an VG Berlin, S. 9 f. Das trifft etwa bei denjenigen Beispielsfällen zu, die Kaya
selbst zum Beleg seiner neuerdings aufgestellten gegenteiligen Behauptung
zusammenfassend schildert, jede politische Aktivität und Aktion der kurdischen
nationalen Opposition in Europa werde als staatsfeindlich bewertet und habe in
Beispielsfällen zu Festnahmen, Verhören und erzwungenen Aussagen geführt.
Gutachten vom 25. Juli 1998 an VG Berlin, S. 3 f. Diese Fälle betreffen nämlich
Personen, die bei Rückkehr unter dem Vorwurf verhört wurden, der PKK Unterstützung
und Unterschlupf gewährt zu haben; ihre Teilnahme an Kundgebungen,
Demonstrationen und Protestaktionen im Ausland sei als Beweis für diesen Vorwurf
gewertet worden. Kern des Vorwurfs war in diesen Fällen mithin die in der Türkei selbst
vor der Ausreise nach Deutschland geleistete Unterstützung der PKK, nicht die nach der
Ausreise entfalteten exilpolitischen Aktivitäten. Anhaltspunkte dafür, daß der Vorwurf
bestimmter Vorfluchtaktivitäten in jenen Beispielsfällen lediglich vorgeschoben war,
fehlen. Zu dem Personenkreis der Vorverfolgten gehört etwa auch Hasan Kutgan. Vgl.
dazu Senatsbeschluß vom 9. Juni 1997 - 25 A 2551/97.A -, AuAS 1997, 210. Die seit
Ergehen des vorbezeichneten Senatsbeschlusses bekannt gewordenen Erkenntnisse
bestätigen die Annahme des Senats, Hasan Kutgan sei nach der Abschiebung am 20.
Dezember 1996 vor dem Staatssicherheitsgericht Istanbul einem Strafverfahren nicht in
erster Linie wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland ausgesetzt worden,
sondern vielmehr wegen des Verdachts, vor der Ausreise im Jahr 1992 die PKK
unterstützt zu haben. Entsprechendes hat er nicht nur in seinem Geständnis, welches er
während des Verhörs auf der Polizeiwache am Atatürk-Flughafen in Istanbul
unterzeichnen mußte, sondern auch bei seiner Zeugenvernehmung am 4. Dezember
1997 im Asylverfahren seines Bruders vor dem VG Freiburg erklärt. Abgesehen davon
fehlt es nach wie vor an einer Verifizierung der von Hasan Kutgan und seiner
Rechtsanwältin erhobenen Foltervorwürfe. Amnesty International, Auskunft vom 18. Juni
1997 an VG Wiesbaden, S. 3; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 29. Oktober 1997 an VG
Weimar; Bundesregierung, Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Amke
Dietert-Scheuer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundestagsdrucksache
13/8952 vom 11. November 1997, S. 8; Kaya, Gutachten vom 11. Juni 1997 an VGH
BW, S. 12; VG Freiburg, Sitzungsniederschrift vom 4. Dezember 1997, S. 12. Kein
Referenzfall für eine allein durch exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils ausgelöste
menschenrechtswidrige Behandlung nach der Abschiebung ist ferner der am 15. Januar
1998 nach Istanbul abgeschobene Kurde Mehmet Ali Akbas, der nach Feststellung des
Vertrauensarztes des deutschen Generalkonsulats nach der Abschiebung gefoltert und
dem im Mai 1998 unter Beteiligung des Auswärtigen Amts die erneute Einreise nach
Deutschland ermöglicht wurde. Vgl. dazu Senatsbeschlüsse vom 4. Juni 1998 - 25 A
2407/98.A -, vom 19. Juni 1998 - 25 A 2708/98.A - und vom 30. September 1998 - 25 A
2480/98.A -; ferner: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. September 1998, S. 19;
Frankfurter Rundschau Nr. 191 vom 19. August 1998, S. 4; Frankfurter Allgemeine
Zeitung Nr. 190 vom 18. August 1998, S. 4; Der Spiegel Nr. 21/98 vom 18. Mai 1998, S.
60, Nr. 26/98 vom 22. Juni 1998, S. 50, Nr. 34/98 vom 17. August 1998, S. 73;
Süddeutsche Zeitung Nr. 109 vom 13. Mai 1998, S. 7; Nr. 113 vom 18. Mai 1998, S. 8;
Özgür Politika vom 23. Mai 1998. Nach den inzwischen zu diesem Folterfall
vorliegenden Informationen deutet alles darauf hin, daß Mehmet Ali Akbas nicht etwa,
wie zunächst geltend gemacht wurde, ausschließlich wegen seiner Teilnahme an einer
Besetzung des türkischen Konsulats in Hannover 1993, sondern vielmehr wegen seines
ebenfalls in Deutschland lebenden Bruders Seyhmus mißhandelt wurde, der
Mitbegründer der verbotenen HADEP-Vorgängerpartei HEP gewesen sein soll. Mehmet
Ali Akbas ist wegen dieses Bruders in Sippenhaft genommen worden und gehört damit
einem Personenkreis an, für den auch der Senat ein erhöhtes Rückkehrrisiko annimmt
(vgl. dazu unten S. 116), wenn es zutrifft, daß Seyhmus Akbas die 13-jährige
Freiheitsstrafe, zu der er wegen seiner HEP-Aktivitäten in der Türkei verurteilt worden
sein soll, entgegen ursprünglicher Pressemeldungen Süddeutsche Zeitung Nr. 113 vom
18. Mai 1998, S. 8 noch nicht verbüßt hat. In diesem Fall wäre er als Aktivist der HEP
anzusehen, der in der Türkei durch Haftbefehl gesucht wird und in dessen politische
Verfolgung Mehmet Ali Akbas einbezogen worden ist. Ausnahmsweise
Sippenhaftvermittler kann auch Ibrahim Akbas, der Cousin und Schwager von Mehmet
Ali Akbas sein, der seit mehreren Jahren Guerillakommandant sein soll. Das ergibt sich
aus den Angaben, die Mehmet Ali Akbas in einem Interview für Özgür Politika und bei
seiner Anhörung im Folgeantragsverfahren am 7. Juli 1998 beim Bundesamt gemacht
hat. Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Anhörungsprotokoll
vom 7. Juli 1998 - 2349 747-163 -, S. 3; Özgür Politika vom 23. Mai 1998. bb) Exponierte
Zum anderen als Referenzfälle nicht einschlägig sind diejenigen, bei denen die
exilpolitische Betätigung des Betroffenen auch nach den oben dargelegten Maßstäben
als exponiert einzustufen wäre. Das trifft etwa auf die Fälle prominenter kurdischer
Parteifunktionäre, Parlamentsabgeordneter, Rechtsanwälte, Schriftsteller oder sonstiger
Intellektueller zu, wenn diese beispielsweise im europäischen Ausland an
Gesprächsrunden des kurdischen Fernsehsenders MED-TV teilgenommen haben (vgl.
dazu näher unten S. 105). cc) Berührung türkischen Territoriums Ebensowenig können
diejenigen Fälle zur Referenz herangezogen werden, in denen der Betreffende die
politische Aktivität auf türkischem Territorium fortsetzt, auch wenn dies bei oder
unmittelbar nach der Rückkehr in die Türkei geschieht, insbesondere durch Mitführen
separatistischen Propagandamaterials im Gepäck. Einem derartigen Verhalten messen
die türkischen Behörden unter Staatsschutzgesichtspunkten - ebenso wie etwaigen
Vorfluchtaktivitäten - von vornherein höheres Gewicht zu, weil sich die Annahme, es
diene ausschließlich oder vorwiegend der Verbesserung der Aufenthaltsposition im
Rahmen des Asylverfahrens in Deutschland, hier verbietet. Außerdem kann derartiges
Verhalten einer Bestrafung zugeführt werden, ohne daß sich dabei die unten noch näher
zu erörternden Anwendungsprobleme für die hier in Betracht kommenden
Straftatbestände des türkischen Strafrechts auf Auslandsstraftaten ergeben. Nach
diesen Grundsätzen ohne Aussagekraft für die hier zu beurteilende Frage sind die
Abschiebefälle Riza Askin, vgl. dazu Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -,
S. 127 f., und Ahmet Karakus. Vgl. dazu Senatsbeschluß vom 27. Januar 1998 - 25 A
4831/97.A -; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 5. Mai 1998 an VG Freiburg; Auskunft vom
10. Juni 1998 an VG Stuttgart, S. 2; Bundesregierung, Antwort auf die Kleine Anfrage
der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Bundestagsdrucksache 13/8952 vom 11. November 1997, S. 11. dd) Ungeklärte Fälle
Außer Betracht gelassen werden müssen ferner diejenigen Fälle, die in tatsächlicher
Hinsicht nicht ausreichend geklärt erscheinen. Insbesondere Berichte in der Presse
lassen vielfach nicht erkennen, daß der Grund für eine dem Betreffenden angeblich
widerfahrene menschenrechtswidrige Behandlung im türkischen Polizeigewahrsam
ausschließlich dessen exilpolitische Betätigung im Bundesgebiet gewesen ist und daß
diese ausschließlich niedriges Profil hatte. Ferner ist ihnen meistens nicht zu
entnehmen, auf welche Strafvorschriften sich der gegen sie erhobene Vorwurf gründet.
Als ungeklärt muß danach insbesondere der Fall des am 23. Februar 1998 von
Hamburg nach Istanbul abgeschobenen Kurden Ahmet G. gelten, für den im Jahr 1995
das Konsultationsverfahren auf der Grundlage des Briefwechsels der Innenminister vom
10. März 1995 durchgeführt worden war (vgl. dazu unten S. 106), und der
Presseberichten zufolge nach der Ankunft am Flughafen Istanbul inhaftiert, vier Stunden
lang mißhandelt und erst nach drei Tagen freigelassen worden ist. Knapp vier Wochen
später soll er erneut festgenommen, mißhandelt und nach sechs Tagen mit
Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert worden sein, eine weitere Festnahme mit
Folter soll er Ende Mai 1998 am Flughafen Izmir erlitten haben. Im Juni 1998 gelang ihm
die Flucht nach Rumänien, wo er Asyl beantragt hat, nachdem er sich zuvor erfolglos
um eine Wiedereinreise nach Deutschland bemüht hatte. Vgl. Auswärtiges Amt,
Lagebericht vom 18. September 1998, S. 20; Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 190
vom 18. August 1998, S. 4; Der Spiegel Nr. 34/98 vom 17. August 1998, S. 73. Auch aus
diesem Abschiebefall lassen sich bislang keine sicheren Rückschlüsse auf die
Gefährdung exilpolitisch tätiger Kurden ziehen, weil die Hintergünde und die näheren
Umstände, unter denen die jeweiligen Festnahmen Ahmet G.'s erfolgten und die
Vorwürfe, die ihm bei den Verhören jeweils gemacht wurden, in den vorgenannten
Erkenntnissen nicht mitgeteilt werden. In den vorliegenden Presseberichten ist insoweit
lediglich von einer Tätigkeit "für die PKK" die Rede. Welche Tätigkeit das war und ob
diese in der Türkei oder nach der (voraufgegangenen) Ausreise Ahmets G.'s nach
Deutschland erfolgte, ist unbekannt. Im Ergebnis dasselbe gilt für den am 16. März 1998
von Düsseldorf abgeschobenen Kurden Süleyman Yadirgi, der nach seiner Ankunft am
Flughafen Istanbul nach eigenen Angaben sieben Tage, nach Angaben der
Flughafenpolizei 8 Stunden festgehalten worden sein soll. Yadirgi, der am 15. Mai 1998
illegal erneut ins Bundesgebiet eingereist ist und einen Asylfolgeantrag gestellt hat, hat
in einer eidesstattlichen Erklärung vom 24. Mai 1998 und in einer zweieinhalbstündigen
Vernehmung vor dem VG Köln detailliert dargestellt, wie er nach der Abschiebung
mehrfach verhört, geschlagen und getreten sowie durch Mithören der Schreie von
Gefolterten unter Druck gesetzt worden sei. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 24.
April 1998 an VG Köln, S. 1; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 20; Der Spiegel
Nr. 21/98 vom 18. Mai 1998, S. 64, Nr. 26/98 vom 22. Juni 1998, S. 52; VG Köln,
Anhörungsprotokoll vom 12. Juni 1998 - 15 L 1695/98.A -. Auch aus dem zu diesem
Abschiebefall vorliegenden Erkenntnismaterial ergeben sich nur sehr vage Hinweise
darauf, welche Vorwürfe Yadirgi bei den Verhören jeweils gemacht worden sind. Seine
Angaben in der eidesstattlichen Erklärung vom 24. Mai 1998 deuten darauf hin, daß er
unter dem Verdacht stand, schon vor der Ausreise als Anhänger der TDKP politisch
aktiv gewesen zu sein. Abgesehen davon wäre die Anzahl der bekanntgeworden
Referenzfälle auch zu gering, um die Annahme einer generellen Verfolgungsgefahr für
abgeschobene türkische Asylbewerber zu rechtfertigen, die sich lediglich auf niedrigem
Niveau exilpolitisch betätigt haben. Angesichts der hohen Zahl von Abschiebungen ist
nicht anzunehmen, daß jedem rückkehrenden türkischen Asylbewerber, insbesondere
auch solchen kurdischer Volkszugehörigkeit, schon allein aus diesem Grund mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit menschenrechtswidrige Behandlung droht. c)
Bestrafung exilpolitischer Aktivitäten Erst recht gibt es keine stichhaltigen Belege für
eine allein durch niedrigprofilierte exilpolitische Aktivitäten ausgelöste Strafverfolgung.
Eine konsequente Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung aller exilpolitischen
Aktivitäten in Deutschland würde die Ermittlungsbehörden angesichts der in die
Hunderttausende gehenden Zahl von solchermaßen tätigen Personen ebenso
überfordern wie eine lückenlose Überwachung dieser Tätigkeiten. Rumpf, Gutachten
vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 65. Abgesehen davon ist die einfache
Teilnahme an Demonstrationen und sonstigen Aktivitäten kurdischer Vereine in
Deutschland nach türkischem Strafrecht nicht strafbar. Auswärtiges Amt, Auskunft vom
4. Juni 1997 an VG Gießen, S. 2. aa) Türkisches internationales Strafrecht Schon die
einschlägigen Vorschriften des türkischen internationalen Strafrechts in Art. 4 und 5
TStGB schränken die Anwendung des politischen Strafrechts auf exilpolitische
Aktivitäten niedrigen Profils in einem entscheidenden Punkt ein: Sie schließen nämlich
im Ergebnis die Anwendung des Art. 8 des Antiterrorgesetzes (ATG) vom 12. April 1991
in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 27. Oktober 1995 als des wichtigsten und
deshalb auch umstrittensten Straftatbestandes des türkischen politischen Strafrechts auf
Auslandsstraftaten aus. Art. 8 ATG, der für separatistische Propaganda Gefängnis von
ein bis drei Jahren und schwere Geldstrafe androht, zählt weder zu den von Art. 4
TStGB erfaßten Straftaten gegen die Persönlichkeit des Staates, noch wird er von Art. 5
TStGB erfaßt, der voraussetzt, daß für das im Ausland begangene Delikt eine
Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren vorgesehen ist. Vgl. zu Art. 8 ATG Auswärtiges
Amt, Auskunft vom 13. März 1997 an VG Hamburg, S. 2; Rumpf, Gutachten vom 29.
Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 50; Tellenbach, in: Scholler/Tellenbach,
Westliches Recht in der Türkei 70 Jahre nach der Gründung, 1996, S. 157 f.; UNHCR,
Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 14 f. Nach Art. 4 Abs. 1 TStGB findet nationales
türkisches Strafrecht unter anderem dann Anwendung, wenn ein Türke oder ein
Ausländer im Ausland eine "Straftat gegen die Persönlichkeit des Staates" begeht. Daß
die Straftatbestände des ATG nicht zu den "Straftaten gegen die Persönlichkeit des
Staates" zählen, ergibt sich aus zwei Gesichtspunkten: Zum einen sollte mit dieser
Formulierung, durch die im Juni 1991 die vormalige Fassung der Vorschrift ("Straftat
gegen die Sicherheit des Staates") ersetzt wurde, klargestellt werden, daß unter die
Bestimmung nur die Staatsschutzdelikte des Ersten Teils des Zweiten Buches des
TStGB fallen (Art. 125 bis 172 TStGB). Kaya, Gutachten vom 30. Juli 1996 an VG
Darmstadt, S. 4; Kleinjans, Straffälligkeit türkischer Staatsangehöriger in Deutschland,
1997, S. 90 f. Zum anderen wurde im Jahre 1995 der Versuch unternommen, Art. 4
TStGB durch einen Zusatz zu erweitern, um die Straftaten nach Art. 7 Absätze 2 und 3
und Art. 8 ATG einzubeziehen. Der zu diesem Zweck vorbereitete Gesetzesentwurf
wurde nicht verabschiedet. Vgl. Kaya, Gutachten vom 15. September 1996 an VG
Freiburg; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 1996, S. 20; Landesamt für
Verfassungsschutz Baden-Württemberg, Auskunft vom 9. Oktober 1996 an VG Stuttgart
unter Bezugnahme auf Bundestags-Drucksache 13/5289. Die gegenteilige Annahme
von Rumpf, Art. 4 TStGB sei nach den Regeln der grammatischen, systematischen und
teleologischen Auslegung auch auf die Bestimmungen des ATG anzuwenden, zuletzt
Gutachten vom 28. Juli 1997 an VG Berlin, S. 20; Gutachten vom 29. Dezember 1997 an
VG Augsburg, S. 55, überzeugt nicht, weil sie die vorstehenden Argumente aus der
Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 1 TStGB nicht berücksichtigt. Eine seine
Annahme bestätigende Rechtsprechung der türkischen Strafgerichte, insbesondere des
Kassationsgerichtshofs, liegt Rumpf auch bis heute nicht vor. Die von ihm angeführten
Belegfälle aus der Rechtsprechung ergeben nicht, daß seit 1991 schon einmal ein
türkischer Staatsangehöriger wegen eines im Ausland verwirklichten Straftatbestandes
nach dem ATG verurteilt worden wäre. Auch im übrigen liegen dem Senat hierfür keine
Referenzfälle vor. Kein derartiger Referenzfall ist insbesondere die Verurteilung des
türkischen Schriftstellers Yasar Kemal durch das Staatssicherheitsgericht Istanbul zu
einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten auf Bewährung am 7. März 1996. Denn entgegen
anderslautender Meldungen Frankfurter Rundschau Nr. 242 vom 18. Oktober 1997
erfolgte diese Verurteilung nicht nach Art. 8 ATG, sondern gemäß Art. 312 TStGB
(Volksverhetzung). Ihr Gegenstand war auch nicht die Veröffentlichung eines Artikels im
Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", sondern die Veröffentlichung eines Buchbeitrags in
einer türkischen Publikation. Das wegen des Spiegel-Artikels gegen Yasar Kemal
eingeleitete Strafverfahren vor dem Staatssicherheitsgericht Istanbul endete am 1.
Dezember 1995 mit einem Freispruch. FAZ-Magazin Nr. 920 vom 17. Oktober 1997, S.
78 f.; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 4. Dezember 1996, S. 20. Auch der Umstand,
daß immerhin die Staatsanwaltschaft von der Anwendbarkeit des Art. 8 ATG auf die
Auslandsstraftat ausgegangen ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung für exilpolitische
Aktivitäten niedrigen Profils. Denn es fällt auf, daß es sich bei allen Fällen, in denen
eine Anwendung des Art. 8 ATG auf eine Auslandsstraftat versucht wurde, um
prominente Persönlichkeiten handelte, deren Auftreten landesweite Beachtung findet.
Tellenbach, Auskunft vom 18. Juli 1997 an VG Aachen, S. 5. Die Art. 4, 5 TStGB
schließen nicht nur die Anwendung des Art. 8 ATG auf Auslandsstraftaten aus.
Dasselbe gilt darüber hinaus auch noch für eine Reihe weiterer Straftatbestände, die für
die Strafbarkeit politischer Handlungen relevant sind. Dazu gehört die Unterstützung
einer terroristischen Organisation nach Art. 7 Absätze 2 und 3 ATG ebenso wie die
Volksverhetzung nach Art. 312 Abs. 2 TStGB. Eine weitere wesentliche Einschränkung
der Strafverfolgung von Auslandsstraftaten ergibt sich aus Art. 4 Abs. 2 TStGB, der die
Einleitung eines Strafverfahrens nach türkischem Recht von einem dahingehenden
Verlangen des Justizministers abhängig macht, wenn der Betreffende wegen einer dort
begangenen Straftat bereits im Ausland verurteilt wurde. Aus dem ihm vorliegenden
Erkenntnismaterial ist dem Senat kein Fall bekannt, in dem ein derartiges Verlangen
durch den Justizminister ausgesprochen worden ist. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15.
Mai 1998 an VG Freiburg, S. 2. Auch Art. 5 TStGB greift jedenfalls dann nicht ein, wenn
in gleicher Sache schon ein rechtskräftiges Urteil eines ausländischen Gerichts vorliegt.
Tellenbach, Gutachten vom 15. Oktober 1993 an VG Hamburg; Yenisey, InfAuslR 1994,
9, 11; Rumpf, InfAuslR 1994, 398, 400 f. bb) Die einzelnen Straftatbestände des
nationalen türkischen Strafrechts Diejenigen Straftatbestände des nationalen türkischen
politischen Strafrechts, für die hiernach eine Anwendung auf Auslandsstraftaten
überhaupt aus Rechtsgründen möglich ist (Art. 125 bis 172 TStGB sowie Art. 7 Abs. 1
ATG, der wegen der angedrohten Mindeststrafe von fünf Jahren Zuchthaus über Art. 5
TStGB anwendbar ist), erfassen exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils nach ihrer
tatsächlichen Handhabung durch die türkischen Strafgerichte nicht. Eine Bestrafung
nach Art. 7 Abs. 1 ATG wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ist zu
verneinen, weil trotz der Weite des Terrorbegriffs nach dem ATG bisher keine
Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, daß exilpolitische Aktivitäten der hier in Rede
stehenden Art in der Rechtsprechung der türkischen Strafgerichte als tatbestandsmäßig
angesehen werden. Eine Bestrafung wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande
nach Art. 168 Abs. 2 TStGB scheidet aus, weil diese Vorschrift allenfalls Personen
erfaßt, die sich über einen längeren Zeitraum häufig, öffentlich und prominent für die
Ziele einer militanten Organisation wie z.B. der PKK eingesetzt haben. Eine Bestrafung
wegen Unterstützung einer bewaffneten Bande nach Art. 169 TStGB kommt schließlich
nur in Betracht, wenn das fragliche Verhalten als Anstiftung zu (konkreten, effizienten)
separatistischen Aktionen in der Türkei gewertet werden kann; dies ist bei
exilpolitischen Aktivitäten der hier in Rede stehenden Art praktisch ausgeschlossen.
Ebensowenig ist bislang eine Anwendung des Art. 159 TStGB (Beleidigung des
Staates) auf ausschließlich im Ausland begangene Taten bekanntgeworden. Vgl.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. August 1996, S. 18 ff.; Lagebericht vom 4.
Dezember 1996, S. 19 ff.; Kaya, Gutachten vom 20. September 1997 an VG Kassel, S.
5; Rumpf, Gutachten vom 12. Februar 1996 an VG Kassel, S. 10 ff., 19 ff.; Gutachten
vom 19. Dezember 1996 an VG Hamburg, S. 6 ff.; Gutachten vom 22. Januar 1997 an
VG Bremen, S. 13 ff.; Gutachten vom 28. Juli 1997 an VG Berlin, S. 11 ff., 18 ff.; Dinc,
Gutachten vom 22. April 1998 an VG Darmstadt, S. 3 f. Selbst dann, wenn man
abweichend von dem oben Ausgeführten Art. 8 ATG auf Auslandsstraftaten für
anwendbar halten wollte, würde auch dieser Straftatbestand nach der bisherigen
Handhabung durch die türkischen Staatssicherheitsgerichte durch exilpolitische
Aktivitäten niedrigen Profils nicht erfüllt. Die Vorschrift verlangt Propaganda, also den
Versuch des Gewinnens von Anhängern anderer Meinungen. Diese
Überzeugungsarbeit setzt nach der Praxis der türkischen Strafgerichte die gesprochene
oder geschriebene Sprache voraus, und zwar eine sprachliche Äußerung, die einer
bestimmten Person zugerechnet wird. Die Fotografie eines Demonstranten mag ein
Beweis für die Teilnahme an einer Demonstration sein, als Beweis für eine sprachliche
Äußerung ist sie in der Regel ungeeignet. Bislang ist kein Urteil eines türkischen
Strafgerichts bekanntgeworden, bei dem ein derartiges Foto eine Rolle gespielt hätte.
Überhaupt ist es nach bisherigem Erkenntnisstand in der Türkei nicht zu Verurteilungen
wegen exilpolitischer Aktivitäten gekommen, insbesondere auch nicht wegen
Vereinsmitgliedschaft. Vgl. Tellenbach, Gutachten vom 29. November 1996 an VG
Neustadt an der Weinstraße, S. 2; Kaya, Gutachten vom 15. September 1996 an VG
Freiburg; Gutachten vom 30. Oktober 1996 an VG Bremen, S. 4; Rumpf, Gutachten vom
12. Februar 1996 an VG Kassel, S. 13 ff.; Gutachten vom 22. Januar 1997 an VG
Bremen, S. 9 ff. Im übrigen kommt nach der Neufassung der Vorschrift, durch welche der
bisher ausdrücklich weitgefaßte Tatbestand im Sinne einer Einengung geändert worden
ist, eine Verurteilung nur in Betracht, wenn die Äußerung objektiv geeignet ist, zu einer
mindestens ernsthaften Beeinträchtigung der Souveränität der türkischen Regierung
über einen Teil des Staatsgebietes zu führen und der Täter insoweit vorsätzlich
(einschließlich indirektem Vorsatz, nicht aber grober Fahrlässigkeit) handelte. In der
Praxis hatte die Reform zunächst zur Freilassung der meisten nach Art. 8 ATG
Verurteilten geführt. Des weiteren wurden auch zahlreiche nach dieser Norm angeklagte
Personen aus der Untersuchungshaft entlassen. In den Wiederaufnahmeverfahren
wurden die Strafen unter Zugrundelegung der neuen Fassung des Art. 8 ATG in der
Regel drastisch reduziert und zur Bewährung ausgesetzt. In jüngerer Zeit ist
festzustellen, daß die türkische Justiz zunehmend von Art. 8 ATG auf andere
Straftatbestände ausweicht. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. September 1998, S.
6. d) Andere obergerichtliche Rechtsprechung Mit der Annahme, daß nur exponierte
exilpolitische Aktivitäten ein Verfolgungsrisiko auslösen, befindet sich der Senat in
Übereinstimmung mit der übrigen ihm bekannt gewordenen obergerichtlichen
Rechtsprechung. VGH BW, Urteil vom 8. Juli 1998 - A 12 S 3034/96 -, S. 34 f.;
HessVGH, Urteil vom 24. November 1997 - 12 UE 725/94 -, S. 82 ff.; OVG Bremen,
Urteil vom 18. März 1998 - 2 BA 30/96 -, S. 89; HmbOVG, Urteil vom 4. März 1998 - Bf V
48/94 -, S. 46. e) Einzelne Tätigkeitsbereiche Für die einzelnen Bereiche exilpolitischer
Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich danach folgendes: aa)
Veranstaltungsteilnahme Ein staatliches Verfolgungsinteresse besteht zum Beispiel bei
den Leitern von größeren und öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen und
Protestaktionen sowie den Rednern auf solchen Veranstaltungen. Leitungsfunktion in
diesem Sinn übt allerdings nicht schon derjenige aus, der bei der Anmeldung
gegenüber der deutschen Polizei rein formell als Versammlungsleiter aufgeführt ist.
Erforderlich ist vielmehr, daß er den bestimmenden Einfluß auf Zeitpunkt, Ort, Ablauf
und vor allem auf den politischen Inhalt der Veranstaltung hat. Auch die
herausgehobene Tätigkeit in einer kurdischen Folkloregruppe kann je nach Größe
dieser Gruppe, der Stellung des Betreffenden in ihr, dem politischen Inhalt ihrer Lieder
und ihrem Bekanntheitsgrad als exponierte exilpolitische Tätigkeit einzustufen sein. Vgl.
dazu Kaya, Gutachten vom 16. Juni 1998 an VG Stuttgart, S. 16 f. Nicht
verfolgungsgefährdet sind demgegenüber die einfachen Teilnehmer an exilpolitischen
Veranstaltungen sowie diejenigen, die dabei Hilfsaufgaben wahrnehmen (Ordner,
Zeitschriftenverkäufer, Betreuer von Büchertischen, Flugblattverteiler usw.). bb)
Betätigung in Exilvereinen Ein staatliches Verfolgungsinteresse besteht ohne weiteres
etwa für diejenigen Angehörigen von Exilvereinen, die im Frühjahr 1995 zu Mitgliedern
oder auch nur zu Delegierten für das kurdische Exilparlament mit Sitz in Brüssel gewählt
worden sind. Die Tätigkeit dieses Personenkreises wird vom türkischen Staat als
Separatismus aufgefaßt. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28. Dezember 1995 an VG
Gelsenkirchen; zum kurdischen Exilparlament vgl. Verfassungsschutzbericht des
Landes Nordrhein-Westfalen 1997, S. 228 f. Ferner besteht ein Verfolgungsinteresse
unter Umständen bei den Mitgliedern von Vorständen eingetragener Vereine, über
deren Identität das jedermann zur Einsichtnahme offenstehende Vereinsregister
Aufschluß gibt. Jenes Risiko ist ohne weiteres anzunehmen in bezug auf Vereine, die
als von der PKK dominiert oder beeinflußt gelten. Entsprechendes gilt für Vereine, die
von türkischer Seite als vergleichbar militant staatsfeindlich eingestuft werden und in
den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder als dem
linksextremistischen Spektrum zugehörig ausgewiesen sind. Dazu ist insbesondere die
in der Türkei illegale und als terroristisch eingestufte TKP/ML sowie deren
Unterorganisationen wie etwa die ATIF (Föderation türkischer Arbeitervereine in
Deutschland) zu zählen. Kaya, Gutachten vom 18. März 1998 an VG Frankfurt (Oder), S.
4 f.; Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 1997, S. 222 f. Ob
Vorstandsmitglieder sonstiger Vereine einem vergleichbaren Verfolgungsrisiko in der
Türkei ausgesetzt sind, hängt von Größe, politischer Ausrichtung, Dauer, Umfang und
Gewicht der Aktivitäten sowie von anderen insoweit bedeutsamen Umständen des
Einzelfalls ab. Handelt es sich um einen Verein, dessen Einzugsbereich örtlich oder
regional begrenzt ist, so kann für die Einschätzung des Verfolgungsrisikos eine Rolle
spielen, ob jener als Mitgliedsverein einer Dachorganisation angehört, die bei
türkischen Stellen als staatsfeindlich gilt. Nicht zu den der PKK vergleichbaren Vereinen
sind in der Regel die der KOMKAR angeschlossenen kurdischen Vereine zu rechnen.
Vgl. Senatsbeschlüsse vom 8. Januar 1998 - 25 A 3346/97.A -, S. 12; vom 10. März
1998 - 25 A 989/98.A - und vom 25. März 1998 - 25 A 2609/97.A -. KOMKAR ist die eher
als gemäßigt geltende Dachorganisation der kurdischen Arbeitervereine in
Deutschland, die den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf soziale und kulturelle Aktivitäten
sowie auf Sprachunterricht für die in Deutschland ansässigen türkischen
Staatsangehörigen legen. KOMKAR und die ihr angeschlossenen Vereine verstehen
sich daneben aber auch als Interessenvertretung der Sozialistischen Partei Kurdistans
(PSK) in Deutschland, die sich im Gegensatz zur PKK in ihren Publikationen immer
wieder zum Verzicht auf Waffengewalt bekennt. Aufgrund dieser Zielsetzung werden
KOMKAR und die ihr angeschlossenen Vereine von den Auslandsvertretungen und
vom Nachrichtendienst der Türkei nicht mit derselben Intensität beobachtet wie andere
Organisationen und Einrichtungen der kurdischen nationalen Opposition. Kaya,
Gutachten vom 30. Oktober 1996 an VG Bremen, S. 1 f.; vgl. auch Vermerk des
Polizeipräsidiums Köln vom 18. Dezember 1997. cc) Namentlich gezeichnete Briefe Die
Plazierung von namentlich gezeichneten Artikeln und Leserbriefen in
türkischsprachigen Zeitschriften sowie das Zusenden individueller Schreiben in
Deutschland lebender Asylbewerber an türkische Behörden, insbesondere an die
Konsulate in Deutschland, gehört nach den oben dargelegten Maßstäben in der Regel
zu den exilpolitischen Aktivitäten niedrigen Profils, weil es sich hierbei inzwischen
ebenfalls um eine Massenerscheinung handelt. Zuletzt Senatsbeschluß vom 7. August
1998 - 25 A 3577/98.A -. Inhaltlich sind derartige Äußerungen auf die verschiedensten
Ziele gerichtet: Oft wird in ihnen unter Berufung auf das Kurdentum des Verfassers oder
unter Hinweis auf das brutale Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in Ostanatolien
der Wehrdienst verweigert oder die Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit
verlangt. Ebenso wird in ihnen gegen die Verhaftung kurdischer Politiker oder das
Verbot bestimmter Publikationen protestiert oder auch offene Sympathie mit der PKK
und ihrem Führer Abdullah Öcalan oder für das kurdische Exilparlament bekundet.
Soweit es sich um kollektive, also von einer Vielzahl von Personen gezeichnete Briefe
oder Artikel handelt, ist regelmäßig offensichtlich, daß ihnen weniger ein ernsthaftes
politisches Anliegen als vielmehr der Wunsch nach einer Verbesserung der
aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet zugrundeliegt. Wenn zum Beispiel ein
in der oppositionellen (linken, pro- kurdischen) Presse erscheinender Artikel von
zwanzig oder mehr Personen gezeichnet ist, bei denen es sich ausnahmslos oder
überwiegend um Asylbewerber handelt, so sind diese ohnehin schon nicht
identifizierbar, soweit eine hinreichend genaue Angabe des Aufenthaltsortes in dem
Artikel nicht enthalten ist. Selbst dann, wenn dies der Fall ist, läßt sich der tatsächliche
geistige Urheber des Artikels nicht festmachen, wenn es sich um einen größeren Kreis
von Unterzeichnern handelt. Dann drängt sich auf, daß die meisten oder alle
Unterzeichner aus dem genannten Motiv heraus lediglich einen vorformulierten Text
mitbezahlt haben, unter Umständen aber gar nicht in der Lage wären, einen derartigen
Artikel selbst zu verfassen. Auch wer als Einzelperson eine Vielzahl gleichlautender
Schreiben von Deutschland aus an verschiedene türkische Sicherheitsbehörden richtet
und sich darin etwa gegen die Ableistung des Militärdienstes ausspricht oder die
Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit begehrt, löst damit in aller Regel
kein Verfolgungsinteresse aus. Derartige Schreiben bleiben grundsätzlich ohne Folgen,
weil sich auch bei ihnen die Annahme aufdrängt, daß sie mehr aufenthaltsrechtlichen
Zwecken als dem konkret formulierten Begehren dienen sollen: Daß das in ihnen
enthaltene konkrete Begehren (Wehrdienstverweigerung, Entlassung aus der
Staatsangehörigkeit oder ähnliches) offensichtlich nicht ernst gemeint, weil erkennbar
aussichtslos ist, liegt auf der Hand. Denn das türkische Wehrrecht sieht, wie bei in
Deutschland lebenden Asylbewerbern im wehrfähigen Alter als allgemein bekannt
vorausgesetzt werden kann und unten auf S. 107 belegt ist, eine
Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen nicht vor. Für Entlassungsbegehren
aus der türkischen Staatsangehörigkeit gilt nichts anderes, weil es in diesen Fällen
regelmäßig und offensichtlich an der Entlassungsvoraussetzung in Art. 20 Buchst. c des
türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes Nr. 403 fehlt, wonach der Antragsteller die
Staatsangehörigkeit eines ausländischen Staates erhalten haben muß oder erhalten
wird. Zudem sind für derartige Anträge, soweit sie von im Ausland lebenden
Staatsangehörigen gestellt werden, ausschließlich die Auslandsvertretungen zuständig.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15. Mai 1998 an VG Darmstadt; Dinc, Gutachten vom
22. April 1998 an VG Darmstadt. Des weiteren enthalten solche Schreiben, soweit sie
nicht in der Presse oder im Fernsehen veröffentlicht und auch sonst einem größeren
Personenkreis nicht zugänglich gemacht werden, lediglich eine individuelle Kundgabe
einer politischen Meinung gegenüber türkischen Behörden. Auf die geistige
Beeinflussung anderer Bevölkerungsteile, die nach dem oben Ausgeführten
Beweggrund für und Abgrenzungskriterium bei der Überwachung und Verfolgung
exilpolitischer Aktivitäten in der Bundesrepublik ist, sind sie in diesem Fall nicht
gerichtet. Soweit es daran fehlt, erscheint eine strafrechtliche Verfolgung nur in
Ausnahmekonstellationen möglich. Denn die für derartige Fallgestaltungen in Frage
kommenden Straftatbestände enthalten durchweg den Begriff "Propaganda" oder
ähnlich formulierte Tatbestandsmerkmale. Soweit etwa Art. 159 und Art. 312 Abs. 1
TStGB die Strafbarkeit an eine "öffentliche" Tatbegehung knüpfen, wird dieses Merkmal
vom türkischen Kassationsgerichtshof nur dann bejaht, wenn die Erklärung gegenüber
mindestens zwei Amtswaltern abgegeben und von diesen im Rahmen ihrer Aufgaben
und Zuständigkeiten zur Kenntnis genommen wurde. Erklärungen gegenüber
inländischen türkischen Behörden scheiden daher schon aus Rechtsgründen wegen
fehlender Zuständigkeit aus. Abgesehen davon gibt es bisher keine verifizierbaren
Referenzfälle, die - unabhängig von der abstrakten Strafbarkeit - eine tatsächlich
praktizierte Strafverfolgung derartiger Handlungen belegen. Vgl. dazu Kaya, Gutachten
vom 9. Februar 1998 an VG Kassel, S. 2 f.; Dinc, Gutachten vom 22. April 1998 an VG
Darmstadt, S. 4 f.. Auch öffentliche Äußerungen in Zeitungsannoncen und -artikeln sind
- wie oben dargelegt - nach türkischen Recht nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung
zu konkreten separatistischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler
Organisationen gewertet werden können. Das ist bei Anzeigentexten allgemeiner Art
nicht möglich, auch dann nicht, wenn darin in scharfer Form Kritik am Vorgehen der
Regierung in Ostanatolien (z. B. "schmutziger Krieg") geübt wird. Auch in diesem
Zusammenhang zielt das Interesse des türkischen Staates nicht auf die Masse der
Teilnehmer und Mitläufer ab, sondern lediglich auf denjenigen Personenkreis, der als
Auslöser solcher Aktivitäten oder als Organisator von Veranstaltungen oder als Anstifter
oder Aufwiegler angesehen wird. Dem entspricht es, daß Strafverfahren wegen in der
Presse erschienener Leserbriefe nur in Einzelfällen bekannt geworden sind. Daß
darunter Leserbriefe waren, die von im Ausland lebenden Personen verfaßt wurden, ist
dem Erkenntnismaterial nicht zu entnehmen. Auch Repressalien der Polizei wegen
solcher Leserbriefe sind nicht zu befürchten, wenn der Verdacht einer Straftat von
vornherein nicht besteht. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13. März 1997 - 514-
516.80/27959 an VG Aachen; Auskunft vom 15. Juli 1997 an VG Karlsruhe, S. 3;
Auskunft vom 12. September 1997 an VG Ansbach; Kaya, Gutachten vom 25. Februar
1997 an VG Aachen; Gutachten vom 19. Juni 1997 an VG Karlsruhe, S. 2; Gutachten
vom 8. August 1997 an VG München, S. 4 f.; Rumpf, Gutachten vom 28. Juli 1997 an VG
Berlin, S. 13; Taylan, Auskunft vom 30. April 1997 an VG Karlsruhe; Tellenbach,
Auskunft vom 19. September 1997 an VG Aachen; Auskunft vom 20. Oktober 1997 an
VG Karlsruhe, S. 2. Hinzu kommt, daß die Verfolgungsbehörden bei Leserbriefen und
Artikeln, die in in der Türkei erscheinenden Zeitschriften veröffentlicht werden und in
denen als Autor eine im Ausland befindliche und damit für die türkische Justiz nicht
erreichbare Person namentlich bezeichnet ist, stets damit rechnen, daß es sich nur um
eine vorgeschobene Autorenbezeichnung handelt. Es entspricht nämlich einem häufig
vorkommenden Strohmannmuster, den in der Türkei lebenden wirklichen Autor durch
namentliche Bezeichnung einer im Ausland ansässigen Person zu decken, um damit
den verantwortlichen Redakteur der Zeitschrift in presse- und strafrechtlicher Hinsicht zu
entlasten. Tellenbach, Auskunft vom 18. Juli 1997 an VG Aachen, S. 3 f.; vgl. auch
Kaya, Gutachten vom 22. Mai 1997 an VG Stuttgart, S. 6. Selbst wenn abweichend
hiervon die Möglichkeit strafrechtlicher Verfolgung bestünde, ist in vielen Fällen nicht
anzunehmen, daß diese an asylerhebliche Merkmale anknüpft. Wer etwa nach der
Ausreise wehrpflichtig geworden ist und dann von Deutschland aus durch veröffentlichte
Erklärung den Wehrdienst verweigert, wird ohnehin der Bestrafung wegen
Wehrdienstentziehung zugeführt werden, die nach dem unten auf S. 111 Ausgeführten
nicht asylerheblich ist. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß neben dieser
Bestrafung eine wegen einer aus dem Exil heraus zusätzlich abgegebenen
Verweigerungserklärung zusätzlich zu erwartende Bestrafung noch ins Gewicht fiele.
Gegenteiliges ist nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auch aus dem Abschiebefall
Abdul Menaf Düzenli nicht zu folgern. Presseberichten zufolge wurde Düzenli nach
Ablehnung seines Asylantrags mit seiner Familie am 14. Juli 1998 nach Istanbul
abgeschoben und dort im Polizeigewahrsam mißhandelt. Gegen ihn soll nicht nur ein
Strafverfahren wegen Desertion, sondern zusätzlich ein Strafverfahren vor einem der
Staatssicherheitsgerichte in Diyarbakir wegen 1997 aus Deutschland an türkische
Behörden verschickter Erklärungen anhängig sein, in denen er den Wehrdienst
verweigert und die Türkei als "faschistischen Staat" bezeichnet habe. Frankfurter
Rundschau Nr. 191 vom 19. August 1998, S. 4. Tragfähige Schlußfolgerungen für die
hier zu beurteilende Frage sind aus diesem Abschiebefall derzeit noch nicht zu ziehen,
weil die Mißhandlungsbehauptung Düzenlis auf unbestätigten Berichten Verwandter
beruht. Bei der Plazierung von namentlich gezeichneten Artikeln und Leserbriefen in
türkischsprachigen Zeitschriften sind strafrechtliche Konsequenzen für die Urheber
selbst dann nicht bekannt geworden, wenn diese in der Türkei ansässig und als
Funktionäre pro-kurdischer Parteien auf örtlicher Ebene bekannt waren. Oberdiek,
Gutachten vom 17. März 1997 an VG Ansbach, S. 2. dd) Beteiligung an
Fernsehsendungen (MED-TV, Show-TV usw.) Personen, die sich an
Fernsehsendungen des kurdischen Satellitensenders MED-TV oder anderer in der
Türkei ausgestrahlter Sender beteiligen, sind grundsätzlich nur dann
verfolgungsgefährdet, wenn sie mit einem eigenen Redebeitrag zu Wort gekommen sind
und der Inhalt dieses Beitrags nach einem der oben im einzelnen beschriebenen
Tatbestände strafbar sein kann. Das gilt insbesondere für prominente kurdische
Parteifunktionäre, Parlamentsabgeordnete, Schriftsteller oder sonstige vergleichbare
Intellektuelle, die an Gesprächsrunden in MED-TV teilgenommen haben. Derartige
Auftritte können je nach dem politischen Inhalt des Gesagten als Beweis für
Beziehungen zur PKK gewertet werden und bei Rückkehr zu Festnahme und Verhör
führen. Vgl. dazu Kaya, Gutachten vom 20. Februar 1998 an VG Gelsenkirchen, S. 3 f.;
Gutachten vom 16. Juni 1998 an VG Stuttgart, S. 15 ff. Beispiel hierfür ist etwa der
stellvertretende HADEP-Vorsitzende Mehmet Satan, der am 4. April 1997 an einer
Podiumsdiskussion in MED-TV teilgenommen und sich dabei zur kurdischen Frage
geäußert hatte. Er wurde am 28. Oktober 1997 vom Staatssicherheitsgericht Ankara
wegen Unterstützung der PKK zu einer schweren Freiheitsstrafe von vier Jahren und
sechs Monaten verurteilt. Kaya, Gutachten vom 20. Februar 1998 an VG Gelsenkirchen,
S. 4; Gutachten vom 16. Juni 1998 an VG Stuttgart, S. 15, 18 f. Nicht
verfolgungsgefährdet sind demgegenüber auch bei Fernsehsendungen diejenigen
Personen, die nur die Kulisse abgeben für die eigentlich Agierenden, also insbesondere
diejenigen, die sich lediglich als Zuschauer in einem Wortbeitrag in MED-TV pro-
kurdisch äußern oder sogar bei einer Fernsehdiskussion nur als im Studio anwesende
Zuschauer ins Bild kommen. Gegenteiliges ist insbesondere nicht aus dem von Kaya,
Gutachten vom 20. Februar 1998 an VG Gelsenkirchen, S. 3 f., geschilderten Fall eines
namentlich nicht genau bezeichneten Zuhörers an einer Diskussionssendung in MED-
TV zu folgern, der bei der Rückkehr eine Woche festgehalten und unter Folter verhört
worden sein soll. Die näheren Hintergründe dieses Falles sind nicht mitgeteilt, und die
Annahme einer generellen Verfolgungsgefahr für im Studio anwesende Zuschauer
stünde im Widerspruch zu der eigenen Feststellung Kayas in dem dort in Bezug
genommenen Gutachten vom 30. Juli 1996 an das VG Darmstadt, S. 6, wonach der MIT
bei der Auswertung von Film- und Videoaufnahmen von Demonstrationen und
Kundgebungen keine Nachforschungen über darauf zu erkennende einfache
Teilnehmer anstellt, um deren Identität zu ermitteln und an weitere Informationen über
diese zu gelangen. Daß für Personen, die im Fernsehen lediglich die Kulisse für andere
abgeben, generell etwas anderes gelten soll, ist nicht nachvollziehbar. Bei Personen,
die nicht selbst mit einem eigenen Redebeitrag in MED-TV zu Wort kommen, sondern
die nur Gegenstand der Berichterstattung durch andere sind, hängt die
Verfolgungsgefährdung vom Inhalt des Berichteten ab. Sie ist nur zu bejahen, wenn
über eine exponierte exilpolitische Aktivität berichtet wird. Vgl. dazu Auswärtiges Amt,
Auskunft vom 16. Juni 1997 an VG Karlsruhe; Kaya, Gutachten vom 2. Juli 1997 an VG
Karlsruhe. f) Briefwechsel Ein durch exilpolitische Aktivitäten ausgelöstes oder sonst im
Zusammenhang mit der Abschiebung eines türkischen Asylbewerbers zu beachtendes
Verfolgungsrisiko wird durch den Briefwechsel zwischen dem türkischen und dem
deutschen Innenminister vom 10. März 1995 nicht beeinflußt. Hierzu verweist der Senat
auf sein Grundsatzurteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -, S. 143 f. Die dort
getroffene Einschätzung wird durch später bekannt gewordene Erkenntnisse nicht in
Frage gestellt. Nach wie vor wird von dieser Vereinbarung bisher nur sehr selten
Gebrauch gemacht (333 Anfragen, 226 Antworten, aus denen sich in nur 30 Fällen eine
drohende Strafverfolgung ergab). Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10. April 1997, S.
15 ff.; -; Auskunft vom 15. Mai 1998 an VG Freiburg, S. 2; Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 19; vgl. auch Gesellschaft für bedrohte Völker, Auskunft vom 5. Juni
1997 an VGH BW, S. 2; Kaya, Gutachten vom 11. Juni 1997 an VGH BW, S. 1; Rumpf,
Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 60 ff. g) Subsumtion Unter
Zugrundelegung der vorstehenden Maßstäbe ist das exilpolitische Engagement des
Klägers als lediglich niedrigprofiliert einzustufen. Es beschränkt sich im wesentlichen
auf die schlichte Teilnahme an verschiedenen Protestdemonstrationen und
Fackelmärschen, die zum Teil schon thematisch nicht einschlägig sind, soweit sie sich
gegen die Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland richteten
(Demonstrationen am 29. Mai 1993, 5. Juni 1993 und am 28. Mai 1994). Soweit der
Kläger bei thematisch einschlägigen Protestdemonstrationen Plakate getragen,
Flugblätter verteilt oder als Ordner fungiert hat, handelt es sich um untergeordnete
Tätigkeiten. 7. Wehrpflicht Daß der Kläger im Zusammenhang mit der Erfüllung seiner
Wehrpflicht politisch verfolgt würde, ist nicht anzunehmen. a) Asylerheblichkeit der
Wehrpflicht als solcher Es beinhaltet zunächst keinen asylerheblichen Eingriff, daß auch
türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit überhaupt zum Wehrdienst
herangezogen werden. Der Wehrpflicht in der Türkei unterliegen Männer vom Beginn
des Jahres an, in welchem sie das 20. Lebensjahr vollenden, bis zum Ende des Jahres,
in welchem sie das 40. Lebensjahr vollenden. Der 18 monatige Wehrdienst wird in den
Streitkräften einschließlich der Gendarmerie abgeleistet. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft
vom 2. Juni 1998 an VG Bremen - 514- 516/31851 -, S. 1; Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 12; Kaya, Gutachten vom 5. März 1997 an VG Hamburg, S. 4.
Wehrpflichtige, die aus verschiedenen Gründen freigestellt werden (z.B.
Erwerbstätigkeit oder Studium während eines rechtmäßigen Auslandsaufenthaltes),
müssen ihren Wehrdienst bis zum Ende des Jahres, in dem sie das 38. Lebensjahr
vollenden, antreten oder das für besondere Fälle vorgesehene Verfahren der
Reduzierung des Wehrdienstes auf eine einmonatige Grundausbildung gegen die
Zahlung eines Devisenbetrages von bis zu 10.000,-- DM durchlaufen. Die Möglichkeit
der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen sieht das türkische Recht nicht
vor. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 9. Januar 1998 an VG Ansbach; Lagebericht
vom 18. September 1998, S. 12; Rumpf, Gutachten vom 20. März 1997 an OVG MV, S. 6
f. Bei der Wehrpflicht als solcher, die alle männlichen türkischen Staatsangehörigen
unter den im Gesetz festgelegten Voraussetzungen ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit
erfüllen müssen, handelt es sich um eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht. Sie hat
folglich gerade nicht den ausgrenzenden Charakter, wie er asylrechtsrelevanten
Maßnahmen eigen ist. Ein solcher Charakter kann ihr im hier in Rede stehenden
Zusammenhang auch nicht mit dem Argument beigelegt werden, die der Bekämpfung
der kurdischen Guerilla geltenden militärischen Operationen der türkischen Armee seien
völkerrechtswidrig, so daß auch unter dem Gesichtspunkt des Asylrechts keinem
Kurden zugemutet werden könne, daran durch Erfüllung seiner Wehrpflicht
teilzunehmen. Es kann dahingestellt bleiben, ob und inwieweit das militärische
Vorgehen des türkischen Staates völkerrechtswidrig ist und eine etwaige objektive
Völkerrechtswidrigkeit die Erzwingung des Wehrdienstes als politische Verfolgung
erscheinen lassen könnte. Denn es kann schon nicht festgestellt werden, daß kurdische
Volkszugehörige gegen ihren Willen im Rahmen ihres Grundwehrdienstes bei der
Bekämpfung der kurdischen Guerilla in Ostanatolien überhaupt eingesetzt werden. Es
gilt nämlich der Grundsatz, daß Wehrpflichtige kurdischer Abstammung bevorzugt im
Westen oder Norden der Türkei zur Ableistung ihres Wehrdienstes eingesetzt werden.
Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 7. April 1997 an OVG MV, S. 7; Lagebericht vom
18. September 1998, S. 12; Rumpf, Gutachten vom 20. März 1997 an OVG MV, S. 14;
Sen/Akkaya, Gutachten vom 17. März 1997 an OVG MV, S. 18. Der gegenteiligen
Behauptung des Vereins der Kriegsgegner von Izmir (Savas Karsitlari Dernegi
Izmir/ISKD), wonach "Kurden massiv als Rekruten unterster Stufe in Gefechten
eingesetzt" würden, vgl. Connection e.V., Schreiben vom 27. Oktober 1995 an VG
Wiesbaden; Amnesty International, Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Wiesbaden, S.
2, kann nicht gefolgt werden. Sie steht in offensichtlichem Widerspruch zu den
Erklärungen desselben Vereins, daß "Kurden innerhalb der Armee generell nicht als
vertrauenswürdig angesehen werden" und "daß der Einsatz von Kurden als Soldaten im
Kriegsgebiet weder besonders vermieden noch besonders forciert wird, sondern ein
Ergebnis der gewöhnlichen Prozedur ist". Vgl. Amnesty International, Gutachten vom
24. Juli 1998 an VG Wiesbaden, S. 3. Tatsächlich ist der Einsatz kurdischer Soldaten
gegen Angehörige des eigenen Volkes geeignet, jene in Loyalitätskonflikte zu stürzen,
die die Effektivität der Guerillabekämpfung in Frage stellen könnten. Mit Blick auf diese
eindeutige Interessenlage verbietet es sich für die türkische Armeeführung, Soldaten
kurdischer Herkunft undifferenziert im Aufstandsgebiet einzusetzen. Die gegenteilige
Behauptung des ISKD findet auch in den Erkenntnissen von Kaya nur zu geringem Teil
Bestätigung. Vgl. Gutachten vom 6. November 1996 an VG Gera, S. 1 ff.; Gutachten vom
14. Oktober 1997 an OVG MV, S. 74 ff. Danach gilt seit 1927 die Regel, den Anteil der
Wehrpflichtigen kurdischer Herkunft in der Armee nicht über 10 % steigen zu lassen.
Diese Regel wird bei jedem Einberufungstermin, bei der Verteilung der Soldaten auf die
Einheiten, auf die Bataillone und Kompanien befolgt. Ihre Grundausbildung leisten die
Wehrpflichtigen kurdischer Herkunft in der Westtürkei ab. Danach werden sie unter
Berücksichtigung der Zehn-Prozent-Regel auf die einzelnen Einheiten verteilt. In
Ostanatolien geborene Wehrpflichtige werden auch zu den dort stationierten Einheiten
geschickt. Allerdings legen die Kommandanturen der Waffengattungen großen Wert
darauf, daß die in der Osttürkei Geborenen überwiegend in Einheiten im Westen des
Landes eingesetzt werden. Die Zahl der aus Ostanatolien stammenden
Wehrdienstleistenden, die in Gefechte mit der PKK verwickelt sind, ist gering. Außerdem
werden kurdische Wehrpflichtige, insbesondere mit Blick auf ihre kurdischen
Sprachkenntnisse, bei Operationen in den Dörfern und Kleinstädten eingesetzt.
Aufgrund des Umstandes, daß heute mindestens drei Fünftel der Heeres- und
Luftstreitkräfte und mindestens die Hälfte der Gendarmeriekräfte in Ostanatolien
stationiert sind, nimmt Kaya an, daß die absolute Mehrheit der kurdischen
Wehrpflichtigen ihren Dienst in Einheiten leistet, die in Ostanatolien stationiert sind. Der
letztgenannten Annahme vermag der Senat nicht ohne Einschränkung zu folgen. Die
türkische Militärführung muß - wie bereits dargelegt - darauf Bedacht nehmen, Soldaten
kurdischer Herkunft nicht in Loyalitätskonflikte zu bringen. Die verlustreiche
Auseinandersetzung mit einem entschlossenen, gut organisierten und disziplinierten
Gegner, als der sich die militärischen Verbände der PKK nach aller Erkenntnis
darstellen, kann das türkische Militär nur bestehen, wenn das in den eigenen Einheiten
dienende Personal ausnahmslos hochmotiviert, d.h. von dem energischen Bestreben
getragen ist, das umkämpfte Territorium vor einer Abtrennung an einen kurdischen Staat
zu bewahren und damit der Türkei zu erhalten. Daß eine derartige Motivlage bei
kurdischen Volkszugehörigen nicht ohne weiteres unterstellt werden kann, liegt auf der
Hand. Es ist daher nicht naheliegend, daß kurdische Wehrpflichtige in Ostanatolien in
gleichem Maße zum Einsatz kommen wie in der Westtürkei. Insbesondere ist nicht
ersichtlich, was die Militärführung daran hindert, kurdische Wehrpflichtige in größerem
Umfang Verbänden in der Westtürkei zuzuteilen als Einheiten im Osten des Landes.
Freilich soll hier nicht bestritten werden, daß überhaupt Soldaten kurdischer Herkunft in
Ostanatolien Dienst leisten. Da auch Großverbände aus dem Westteil der Türkei im
Südosten eingesetzt sind und sich die Stärke der dort stationierten Sicherheitskräfte auf
etwa 300.000 Mann beläuft, ist nicht ausgeschlossen, daß sich auch kurdische
Volkszugehörige unter den Angehörigen von Armee und Jandarma befinden.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13. Oktober 1997 an VG Wiesbaden, S. 3; Auskunft vom
9. März 1998 an VG Bremen, S. 2; Amnesty International, Gutachten vom 24. Juli 1998
an VG Wiesbaden, S. 4. Die genannten Gründe sprechen dafür, daß es sich dabei um
Personen handeln muß, deren Loyalität dem türkischen Staat gegenüber nach dem
Urteil ihrer Vorgesetzten über jeden Zweifel erhaben ist. Dazu zählen in erster Linie
Berufssoldaten und Freiwillige, die mit der Wahl ihrer Laufbahn zugleich ein Bekenntnis
zum türkischen Staat abgelegt haben. Daß Kurden auf allen militärischen Ebenen der
Türkei bis hin zum Generalstab vertreten sind, ergibt sich bereits aus den obigen
Ausführungen zur Präsenz von Kurden in Staat und Gesellschaft der Türkei. Ob auch
kurdische Wehrpflichtige für einen Einsatz im Osten hinreichend loyal sind, darüber
kann sich die militärische Führung auf einfache Weise Gewißheit verschaffen. Wie
bereits oben festgestellt, leistet jener Personenkreis seine Grundausbildung in der
Westtürkei ab. Dort läßt sich feststellen, ob der Betreffende für den Einsatz in
Ostanatolien geeignet ist. Daß auch solche kurdischen Rekruten als für den Einsatz in
den Aufstandsgebieten fähig eingestuft werden, deren Haltung zur Auseinandersetzung
mit den "PKK-Terroristen" allenfalls zurückhaltend oder neutral erschienen ist, kann
nicht angenommen werden. Noch weniger naheliegend ist die Annahme, daß
ausgerechnet solche Personen, die in der Bundesrepublik Deutschland unter
Bezugnahme auf ihre kurdische Volkszugehörigkeit um politisches Asyl nachgesucht
haben, nach ihrer Rückkehr ihren Wehrdienst im Osten des Landes leisten müssen.
Zwar wird die Asylantragstellung einschließlich der dazugehörigen
Standardbegründung - wie unten noch darzulegen sein wird - in der Türkei nicht als
staatsfeindliche Aktion betrachtet. Als Akt besonderer Loyalität kann sie aber keinesfalls
gelten. Abgesehen davon bietet sich selbst bei den im Osten eingesetzten Kurden die
Gelegenheit, sie von der Teilnahme an solchen Operationen auszunehmen, die unter
Loyalitätsgesichtspunkten als sensibel einzustufen sind. Solches geschieht offenbar
hinsichtlich der Gefechte mit der PKK, wie die Darstellung Kayas ergibt.
Entsprechendes ist auch hinsichtlich der Durchsuchungsaktionen in den Dörfern
anzunehmen, die - weil sie der Aufspürung der Guerilla dienen - militärisch hohen
Stellenwert haben, aber zugleich wegen der häufig menschenrechtswidrigen Art der
Durchführung geeignet sind, kurdische Soldaten in Loyalitätskonflikte zu bringen. Auch
deswegen ist die Wahrscheinlichkeit, daß kurdische Asylbewerber nach ihrer Rückkehr
als Wehrpflichtige an menschenrechtswidrigen Aktionen gegen ihre Landsleute im
Osten teilnehmen müssen, als gering anzusehen. b) Keine asylerhebliche Behandlung
während des Wehrdienstes Es fehlen ferner greifbare Anhaltspunkte für die Annahme,
Kurden widerführe während der Ableistung des Wehrdienstes eine ihrem Volkstum
geltende, nach Art und Intensität asylerhebliche Behandlung. Freilich sind Dienst und
Drill in der türkischen Armee hart, körperliche Züchtigungen sind weit verbreitet. Vgl.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 25. Juli 1994 an VG Kassel. Auch gibt es vereinzelte
Berichte über unangemessene Behandlung von Kurden in der Armee. Vgl. Rumpf,
Gutachten vom 20. März 1997 an OVG MV, S. 14 f.; Kaya, Gutachten vom 6. November
1996 an VG Gera, S. 4 ff. Ob die referierten Mißhandlungen von Soldaten durch
Vorgesetzte durchgängig als kurdenfeindliche Akte interpretiert werden können, ist
angesichts der vorerwähnten alle Soldaten treffenden Härte des türkischen
Militärdienstes zweifelhaft. Jedenfalls gibt die geringe Zahl bekannt gewordener
Belegfälle keinen Anlaß zu der Annahme, Kurden würden während der Ableistung ihres
Wehrdienstes in der türkischen Armee generell schlechter behandelt als nichtkurdische
Soldaten und müßten in nennenswertem Umfang Maßnahmen hinnehmen, die über das
beim türkischen Militär Übliche hinausgehen. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 7.
März 1996 an VG Regensburg; Auskunft vom 7. April 1997 an OVG MV, S. 7; Rumpf,
Gutachten vom 20. März 1997 an OVG MV, S. 15. c) Bestrafung wegen
Wehrdienstentziehung und Fahnenflucht Ebensowenig läßt sich feststellen, daß Kurden
bei der Ahndung von Verstößen gegen wehrrechtliche Bestimmungen diskriminiert
werden. Strafbar macht sich zunächst, wer bei Eintritt in das 20. Lebensjahr noch nicht
beim Personenstandesamt registriert ist. Die diesbezüglich vorgesehenen Geldstrafen
fallen jedoch kaum ins Gewicht. Vgl. Rumpf, Gutachten vom 23. August 1994 an VG
Gelsenkirchen, S. 3; Gutachten vom 20. März 1997 an OVG MV, S. 6. Dagegen wird mit
Freiheitsstrafe bestraft, wer unentschuldigt der Musterung fernbleibt oder zum
Einberufungstermin den Militärdienst nicht antritt. Das Strafmaß hängt davon ab, ob der
Betreffende sich freiwillig stellt oder ergriffen wird und wieviel Zeit nach dem
festgelegten Termin jeweils verstrichen ist. Der höchste Strafrahmen (sechs Monate bis
zu drei Jahre Zuchthaus) gilt, wenn der Betreffende nach mehr als drei Monaten ergriffen
wird. Vgl. Auswärtiges Amt, ; Auskunft vom 9. Januar 1998 an VG Ansbach; Auskunft
vom 9. März 1998 an VG Bremen, S. 1; Kaya, Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG
MV, S. 77; Rumpf, Gutachten vom 20. März 1997 an OVG MV, S. 7; Amnesty
International, Gutachten vom 25. Juni 1996 an VG Regensburg, S. 3; UNHCR,
Hintergrundbericht von Oktober 1997, S. 15 f. In der strafrechtlichen Praxis, die sich
durch öffentliche Zustellung entsprechender Urteile über das türkische Amtsblatt
verfolgen läßt, wird durchweg eine Geldstrafe verhängt, die umgerechnet zwischen 80,--
DM und weniger als 10,-- DM liegt. Vgl. Rumpf, Gutachten vom 20. März 1997 an OVG
MV, S. 13 f. Ein höheres Strafmaß ist vorgesehen für diejenigen, die Fahnenflucht
begehen, also sich von ihrer Einheit nach Dienstantritt entfernen. Hier beträgt der
Strafrahmen ein bis drei Jahre Freiheitsstrafe, beim Vorliegen von
Erschwerungstatbeständen Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. In der Praxis bleiben
die Strafen in der Regel - in Anwendung von Strafmilderungsbestimmungen - unter
einem Jahr. Vgl. Rumpf, Gutachten vom 23. August 1994 an VG Gelsenkirchen, S. 5;
Gutachten vom 10. Februar 1995 an VG Wiesbaden, S. 14 f.; Gutachten vom 20. März
1997 an OVG MV, S. 14. Die aus der kurdenfeindlichen Einstellung bei den
Sicherheitskräften hergeleitete Befürchtung von Kaya, vgl.; Gutachten vom 6. November
1996 an VG Gera, S. 6, Gutachten vom 9. Februar 1998 an VG Kassel, S. 5; Gutachten
vom 14. Oktober 1997 an OVG MV, S. 78, Kurden würden mit Rücksicht auf ihr Volkstum
strenger bestraft als Türken, wird nicht durch Belege in der Praxis der türkischen
Militärstrafgerichte gestützt. Angesichts dessen, daß die Zahl der Wehrflüchtigen in der
Türkei wegen der militärischen Auseinandersetzung im Südosten sehr hoch ist, vgl.
Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13. Juli 1994 an VG Frankfurt am Main; Amnesty
International, Gutachten vom 25. Juni 1996 an VG Regensburg, S. 2, Kaya, Gutachten
vom 9. Februar 1998 an VG Kassel, S. 3. handelt es sich bei Wehrdienstentziehung und
Fahnenflucht um Massendelikte, hinsichtlich derer sich die türkischen
Militärstrafgerichte derzeit offenbar am unteren Bereich des Strafrahmens orientieren.
Die ethnische Zugehörigkeit des Betreffenden spielt dabei keine Rolle. Ebensowenig
wird eine Wehrdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland ohne weitere
Verdachtsmomente als Sympathie für die PKK ausgelegt. Vgl. Auswärtiges Amt,
Auskunft vom 16. August 1994 an VG Freiburg; Auskunft vom 30. April 1996 an VG
Neustadt an der Weinstraße; Auskunft vom 7. April 1997 an OVG MV, S. 8; Auskunft
vom 9. März 1998 an VG Bremen, S. 2; Max-Planck-Institut, Gutachten vom 7. August
1995 an VG Wiesbaden. Diese Einschätzung steht nicht im Widerspruch zu der oben
getroffenen Feststellung, daß die Verweigerer des Dorfschützeramtes bei den
Sicherheitskräften häufig den Verdacht auslösen, sie sympathisierten mit der PKK.
Denn die Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes ist typischerweise
anlaßbezogen. Sie ist, wenn die Bewohner eines Dorfes oder einzelne von ihnen einen
Anfangsverdacht auf sich gezogen haben, die "Probe aufs Exempel": Der Betreffende
kann den Verdacht zerstreuen, indem er sich entschließt, an der Seite des Staates das
Dorf gegen die PKK-Guerilla zu verteidigen. Eine vergleichbar zugespitzte Situation
besteht nicht, wenn es um die Einberufung kurdischer Wehrpflichtiger geht. Sie
unterliegen nicht von vornherein pauschal dem Verdacht, mit der PKK zu
sympathisieren. Hauptursache für die große Zahl von Wehrdienstflüchtigen in der Türkei
ist offensichtlich die Angst der Betreffenden, bei Auseinandersetzungen mit der
kurdischen Guerilla getötet zu werden. Die oben mitgeteilte Praxis der türkischen
Militärstrafgerichte deutet darauf hin, daß die Richter vor allem jene Motivlage der Täter
berücksichtigen und deswegen folgerichtig alle Wehrpflichtigen ungeachtet ihrer
Volkszugehörigkeit gleichbehandeln. Freiheitsstrafen wegen Wehrdienstentziehung
werden nach dem Militärstrafgesetz in nicht- militärischen Gefängnissen vollstreckt. Der
Wehrdienst wird nach Verbüßen der Strafe abgeleistet. Erkenntnisse über die Folterung
von Wehrpflichtigen, die ihre Strafe wegen Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht
verbüßen, liegen nicht vor. Vgl. Amnesty International, Gutachten vom 24. Juni 1994 an
VG Gelsenkirchen; Auswärtiges Amt, ; Auskunft vom 9. Januar 1998 an VG Ansbach;
Auskunft vom 9. März 1998 an VG Bremen, S. 2; Rumpf, Gutachten vom 23. August
1994 an VG Gelsenkirchen, S. 7. Ebensowenig haben Kurden in der der Verurteilung
wegen Wehrdienstentziehung oder Fahnenflucht vorausgehenden Polizei- oder
Militärhaft generell Folter zu erleiden. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein
Wehrdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann,
wenn er bei der Einreise aus Deutschland von den Sicherheitsbeamten an der Grenze
als solcher erkannt und festgenommen wird. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26.
Juli 1994 an VG Würzburg; Kaya, Gutachten vom 17. März 1997 an VG Stuttgart, S. 6.
Entgegenstehende Vermutungen, vgl. Amnesty International, Gutachten vom 24. Juni
1994 an VG Gelsenkirchen; Kaya, Gutachten vom 16. März 1994 an VG Braunschweig;
Taylan, Gutachten vom 5. Dezember 1997 an VG Koblenz, S. 10, sind nicht plausibel.
Den Straftatbeständen der Wehrdienstentziehung und Fahnenflucht liegen regelmäßig
Lebenssachverhalte zugrunde, die sich ohne nennenswerten Ermittlungsaufwand
feststellen lassen. Das gerade bei der Verfolgung politischer Straftaten wesentliche
Motiv für den Einsatz von Folter, nämlich den Betreffenden zu einem Geständnis zu
zwingen und Aufschluß über Führer, Aktivisten und sonstige Anhänger staatsfeindlicher
politischer Gruppen zu erhalten, entfällt hier. Anders kann es liegen, wenn türkische
Stellen den Betreffenden zugleich verdächtigen, mit der militanten kurdischen
Bewegung oder sonstigen staatsfeindlichen Gruppen zu sympathisieren. In einem
solchen Fall ist die Wehrdienstentziehung bzw. Fahnenflucht aber nur ein zusätzliches
Indiz für einen Verdacht, der nach den obigen Ausführungen ohnehin zu als politische
Verfolgung zu qualifizierenden Maßnahmen führt. 8. Sippenhaft Der Kläger hat
politische Verfolgung nicht im Wege der Sippenhaft zu befürchten. Sippenhaft droht in
der Türkei im allgemeinen nur nahen Angehörigen (Ehegatten, Eltern, Kindern ab 13
Jahren und Geschwistern) von durch Haftbefehl landesweit gesuchten Aktivisten einer
militanten staatsfeindlichen Organisation. Von Sippenhaft spricht man, wenn ein
Angehöriger eines politisch Verfolgten in dessen Verfolgung einbezogen wird. Ob diese
Gefahr droht, ist bei der Verfolgungsprognose im konkreten Fall stets zu prüfen, wenn
Fälle festgestellt worden sind, in denen der Verfolgerstaat Repressalien gegenüber
Familienangehörigen eines politisch Verfolgten ergriffen hat. Für Ehegatten und
minderjährige Kinder eines politisch Verfolgten besteht hierfür eine widerlegbare
Vermutung. Bei anderen Verwandten sind festgestellte Fälle einer politischen
Verfolgung bei der Verfolgungsprognose zu würdigen, ohne daß dabei auf eine
Regelvermutung zurückgegriffen werden kann. BVerwG, Urteil vom 26. April 1988 - 9 C
28.86 -, BVerwGE 79, 244; Urteil vom 13. Januar 1987 - 9 C 53.86 -, BVerwGE 75, 304;
Urteil vom 2. Juli 1985 - 9 C 35.84 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr.34. In der Türkei
ist es selbstverständlicher Bestandteil polizeilicher Ermittlungstaktik, daß nahe
Angehörige bestimmter politisch Verfolgter von den Sicherheitskräften in der Wohnung
überfallen, nach Durchsuchung - häufig auch des Arbeitsplatzes - zur Wache
genommen und unter Folter verhört werden. Häuser von Familien werden wegen
gesuchter Angehöriger niedergebrannt, der Hausrat zerstört und die Getreidefelder
angezündet. Mit diesem Vorgehen verfolgen die staatlichen Sicherheitskräfte mehrere
Ziele: Zum einen soll erreicht werden, daß die Familie dem Druck nicht länger standhält
und dafür sorgt, daß die gesuchte Person sich stellt, oder diese sich selbst stellt, weil sie
die Mißhandlung ihrer Angehörigen nicht länger erträgt. Zum zweiten wird das Ziel
verfolgt, Informationen sowohl über die Straftat und die gesuchte Person (Aufenthaltsort,
Tätigkeiten, Kontakte) als auch über die Unterstützung des Gesuchten durch die
Familienangehörigen zu erhalten. Drittens schließlich sollen die Familienangehörigen
so eingeschüchtert werden, daß sie sich von der kurdischen nationalen Opposition
fernhalten; zu diesem Zweck erfolgt menschenrechtswidrige Behandlung der
Familienangehörigen oft vor den Augen der übrigen Dorfbewohner. Vgl. Amnesty
International, Gutachten vom 15. April 1998 an VG Hamburg, S. 8 f.; Kaya, Gutachten
vom 16. März 1997 an VG Gießen, S. 3; Gutachten vom 17. März 1997 an VG Stuttgart,
S. 3; Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin, S. 24 ff.; Gutachten vom 11. März 1998
an VG Berlin, S. 3 f.; Rumpf, Gutachten vom 29. Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 12;
Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S. 19 f.; Oberdiek, Gutachten vom 15.
November 1996 an VG Hamburg, S. 9 ff.; Gutachten vom 17. Februar 1997 an VG
Hamburg, S. 58 ff. Die Auskunftspraxis des Auswärtigen Amtes, die eine
Sippenhaftpraxis in der Türkei verbal unter Hinweis darauf verneint, eine Strafverfolgung
von Personen, deren Angehörige sich nach türkischem Recht strafbar gemacht haben,
allein wegen der verwandtschaftlichen Beziehung finde in der Türkei nicht statt, besagt
im Kern nichts Abweichendes. Sie konstatiert - in diplomatisch zurückhaltendem Ton -,
daß türkische Sicherheitsbehörden im Rahmen von Fahndungsmaßnahmen
üblicherweise Kontakt mit Verwandten eines Verdächtigen aufnehmen und daß
Familienangehörige zu Vernehmungen über den Aufenthalt des Verdächtigen geladen
werden können. Vgl. Lagebericht vom 18. Juli 1997, S. 9; Lagebericht vom 20.
November 1997, S. 9; Lagebericht vom 31. März 1998, S. 10; Auskunft vom 15. Mai
1998 an VG Freiburg, S. 2; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 12. Daß es dabei
häufig zu Übergriffen in Form von erheblichen körperlichen Mißhandlungen kommt, ist
schon angesichts des beschriebenen rigorosen Vorgehens der Sicherheitskräfte in
Ostanatolien und der landesweit verbreiteten Anwendung von Folter im
Polizeigewahrsam ohne weiteres plausibel. In der zuvor getroffenen Feststellung,
Sippenhaft drohe nahen Angehörigen von Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen
Organisation, liegt eine doppelte Einschränkung: Abgeleitet werden kann Sippenhaft
nur von solchen Personen, die als Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen
Organisation, insbesondere der PKK, durch Haftbefehl gesucht werden (a). In deren
politische Verfolgung einbezogen zu werden droht zudem auch nicht generell
Verwandten beliebigen Grades, sondern nur nahen Angehörigen (b). Die gegen diese
gerichteten Maßnahmen sind politische Verfolgung, denn sie knüpfen an asylerhebliche
Merkmale des nahen Angehörigen an (c). a) Sippenhaftvermittler aa) Durch Haftbefehl
gesuchter Aktivist Die Gefahr, in die politische Verfolgung eines anderen einbezogen zu
werden, besteht in der Türkei im allgemeinen nur, wenn es sich bei diesem um eine
Person handelt, die als Aktivist einer militanten staatsfeindlichen Organisation,
insbesondere der PKK, durch Haftbefehl gesucht wird. Vgl. Rumpf, Gutachten vom 1.
Februar 1998 an VG Berlin, S. 45 f.; Kaya, Gutachten vom 14. Oktober 1997 an OVG
MV, S. 73; Gutachten vom 11. März 1998 an VG Berlin, S. 3; Amnesty International,
Gutachten vom 19. Februar 1998 an VG Hamburg, S. 3; Taylan, Gutachten vom 25.
Februar 1996 an VG Neustadt an der Weinstraße; Tellenbach, Gutachten vom 29.
November 1996 an VG Neustadt an der Weinstraße. In erster Linie handelt es sich um
solche Personen, gegen die der türkische Staat im Zeitpunkt der Entscheidung über das
Asylbegehren des klagenden Asylbewerbers eine Strafverfolgung wegen Zugehörigkeit
zu einer terroristischen Organisation oder diesbezüglicher Aktivitäten nach Art. 7 ATG
bzw. Art. 168, 169 TStGB oder gar wegen Hochverrats nach Art. 125 TStGB betreibt.
Das alles überragende Interesse, jene Organisation zu zerschlagen, umfaßt das
Bestreben, jenes Personenkreises habhaft zu werden, und zwar auch, soweit er sich ins
Ausland abgesetzt hat. Dieses Bestreben wird dokumentiert durch den Erlaß eines
richterlichen Haftbefehls. Es ist durchaus denkbar, daß ein solcher Haftbefehl im
Verfahren des klagenden Asylbewerbers präsentiert werden kann. Dem steht nicht
entgegen, daß die Urschrift eines Haftbefehls Privatpersonen nicht ausgehändigt wird
und dementsprechend insbesondere auch Angehörige eines Beschuldigten, gegen den
ein Haftbefehl erlassen wurde und dessen Haus zum Zweck seiner Ergreifung
durchsucht wird, keine Ausfertigung des Haftbefehls erhalten. Erst bei der Verhaftung
erhält der Betroffene einen Durchdruck, dessen Empfang er auf dem Original - in der
Regel auf der Rückseite - bestätigen muß. Das Original wird in den Akten der
Untersuchungshaftanstalt aufbewahrt. Ein Haftbefehl, der in Abwesenheit des
Beschuldigten erlassen wurde, wird mit der zusätzlichen Angabe "Giyabi" ("In
Abwesenheit") als solcher bezeichnet und kommt in die Akten der ermittelnden
Staatsanwaltschaft. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 9. Juli 1998 an VG Mainz, S. 1;
Kaya, Gutachten vom 10. Februar 1997 an VG Hamburg, S. 6. Gleichwohl kann ein
Asylbewerber in den Besitz einer Kopie eines gegen ihn erlassenen Haftbefehls
gelangen, indem er einen in der Türkei ansässigen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung
seiner Interessen beauftragt, dieser Einsicht in die Ermittlungsakte nimmt, sich eine
Kopie des Haftbefehls anfertigen läßt und sie dem Asylbewerber übersendet. Das gilt
nicht nur für Haftbefehle, sondern auch für andere Dokumente wie zum Beispiel
Beschlagnahmeprotokolle, Strafurteile usw., mit denen der Nachweis eines
Strafverfahrens geführt werden kann. Kaya, Gutachten vom 25. Mai 1998 an VG
Stuttgart, S. 4 f. Dieser Weg wird freilich nicht immer gangbar sein. Für die
Beweisführungszwecke im vorliegenden Zusammenhang genügt es, wenn sich aus
sonstigen Umständen hinreichend verläßlich ergibt, daß nach dem Betreffenden auf der
Grundlage der erwähnten Strafvorschriften landesweit gefahndet wird, so daß von der
Existenz eines Haftbefehls auszugehen ist. Dies ist ohne weiteres anzunehmen bei
Angehörigen der Militärorganisation der PKK und ihrer politischen Kader, also Personen
mit Führungsaufgaben bzw. Weisungsbefugnis gegenüber einfachen Mitgliedern und
Sympathisanten. Ob anzunehmen ist, daß auch gegen einen sonstigen Aktivisten der
PKK - oder einer als vergleichbar militant geltenden Organisation - aktuell
Strafverfolgung in der Türkei betrieben wird, beurteilt sich anhand aller maßgeblichen
Umstände des Einzelfalles. Ebenfalls nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt
sich, ob Angehörige nicht militanter Organisationen und Parteien, insbesondere
führende Mitglieder der HADEP und der sonstigen pro-kurdischen Parteien
Sippenhaftvermittler sind, weil der türkische Staat sie (wenn auch möglicherweise zu
Unrecht) als Angehörige einer militanten staatsfeindlichen Organisation ansieht. bb)
Sympathisant Den zitierten Erkenntnissen ist jedoch nicht zu entnehmen, daß sich die in
der Türkei festzustellende Praxis von Sippenhaft auch auf bloße Sympathisanten von
militanten staatsfeindlichen Organisationen erstreckt. Von Verfolgung nicht betroffen
sind daher die Angehörigen von Personen, die lediglich der Sympathie für die militante
kurdische Bewegung verdächtigt werden, aber selbst keiner Strafverfolgung wegen
Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande ausgesetzt sind. Solcher - insbesondere im
Ausland lebender - lediglich dem unterstützenden Umfeld zuzurechnender Personen
habhaft zu werden, hat der türkische Staat offensichtlich kein Interesse, so daß er auch
auf dessen Verwandte keinen Zugriff nimmt. Zur Bejahung der Verfolgungsgefahr für
einen Verwandten reicht es daher nicht aus, daß der Angehörige, von dem er sie
herleitet, als Asylberechtigter anerkannt worden ist oder Abschiebungsschutz nach § 51
Abs. 1 AuslG - insbesondere wegen exilpolitischer Aktivitäten - genießt. Eine auch
diesen Personenkreis erfassende Annahme von Sippenhaft trüge den Realitäten in der
Türkei, wie sie sich nach dem zitierten Erkenntnismaterial darstellen, nicht Rechnung.
Nach der Senatsrechtsprechung setzt der Asylschutz für türkische Staatsangehörige
nicht erst dann ein, wenn feststeht, daß der Betreffende noch aktuell der Strafverfolgung
in der Türkei ausgesetzt ist. Es genügt vielmehr, wenn festgestellt wird, daß der
Betreffende bei den Sicherheitskräften seines Heimatlandes im Verdacht steht, mit der
militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren. Vgl. die Zusammenfassung in dem
ins vorliegende Verfahren eingeführten Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3631/95.A -
, S. 110 sowie im vorliegenden Urteil oben S. 74. Die politischen Repressalien, denen
jener Personenkreis im zeitlichen Zusammenhang mit der Ausreise ausgesetzt war,
bestanden zumeist in kurzzeitigen Inhaftierungen, die mit erheblichen körperlichen
Mißhandlungen verbunden waren. Schutzwürdig ist dieser Personenkreis, weil nicht mit
hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß ihm Vergleichbares nach
der Rückkehr erneut widerfährt. Damit ist jedoch nicht zugleich gesagt, daß die
türkischen Sicherheitskräfte an der Rückkehr solcher Personen wirklich interessiert sind.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Sicherheitskräfte haben den Betreffenden freigelassen,
weil die Verdachtsmomente weder für den Erlaß eines richterlichen Haftbefehls noch für
eine Anklageerhebung ausreichten. Sie haben seine Ausreise - zumeist mit Hilfe einer
Schleuserorganisation - geduldet. Es liegt durchaus in ihrem Interesse, daß sich das
unterstützende Umfeld der PKK außer Landes begibt. Zwar kann nicht ausgeschlossen
werden, daß auch auf den dazugehörenden Personenkreis Zugriff genommen wird,
wenn man seiner - wie im Fall der Rückkehr - habhaft werden kann. Da sich die
türkischen Stellen von jenem Personenkreis Aufschluß über organisatorische Strukturen
und Aktionen der PKK nicht versprechen können, ist der Informationswert, den er ihnen
bieten kann, gering. Das Interesse, seiner habhaft zu werden, tritt daher hinter das
Interesse an seinem weiteren Verbleib im Ausland zurück. cc) Exilpolitiker Wer sich
lediglich in der Bundesrepublik Deutschland exilpolitisch betätigt hat, ist nicht schon
dann als Aktivist einer militanten staatsfeindlichen Organisation einzustufen, wenn diese
Betätigung als exponiert einzustufen ist und dementsprechend die Gefahr eigener
politischer Verfolgung nach sich gezogen hat. Die Annahme, der Betreffende werde als
Aktivist einer militanten staatsfeindlichen Gruppierung durch Haftbefehl gesucht, ist
nämlich auch in einer derartigen Konstellation nur im Ausnahmefall gerechtfertigt.
Voraussetzung dafür, daß gegen den Betreffenden im Heimatland aktuell
Strafverfolgung betrieben wird, ist, daß die verfolgungsauslösende exilpolitische
Betätigung im Bundesgebiet von vergleichbarem politischen Gewicht ist wie eine
militante Betätigung in der Türkei selbst. Davon ist nur dann auszugehen, wenn der
Betreffende eine politische Leitungsfunktion an zentraler Stelle des kurdischen
Widerstandes in Deutschland ausübt. Vgl. Senatsbeschlüsse vom 8. Januar 1998 - 25 A
3346/97.A -; vom 2. Dezember 1997 - 25 A 4173/97.A und 25 A 4909/97.A -. Fälle, in
denen nahe Angehörige von exilpolitisch in herausgehobener Weise tätigen Personen
bei der Rückkehr einer menschenrechtswidrigen Behandlung wegen des
Verwandtschaftsverhältnisses ausgesetzt gewesen wären, sind in dem dem Senat
vorliegenden Erkenntnismaterial nicht dokumentiert. Daß gegen nahe Angehörige
solcher Personen allein wegen der Verwandtschaft ein Haftbefehl ergeht, ist nicht
anzunehmen. Vgl. Taylan, Aussage vor dem VG Gießen am 15. Mai 1997, S. 4 f. dd)
Verhaftete und Getötete Sobald der durch Haftbefehl gesuchte Aktivist festgenommen
oder getötet ist, entfällt naturgemäß das Interesse des Staates, jener Person habhaft zu
werden und zu diesem Zweck Druck auf ihre nahen Angehörigen auszuüben. Im
unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einer Festnahme kann es jedoch
gleichwohl zu Festnahmen von Angehörigen und Übergriffen auf diese kommen, um
Rache zu üben und diese einzuschüchtern. Amnesty International, Gutachten vom 19.
Februar 1998 an VG Hamburg, S. 4; Kaya, Gutachten vom 30. April 1997 an VG Berlin,
S. 24 f.; Gutachten vom 30. Juni 1997 an VG Hamburg, S. 22; Rumpf, Gutachten vom 20.
August 1997 an VG Hamburg, S. 48. Ebenso wird über Festnahmen naher Angehöriger
im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit Ermordungen von PKK-Aktivisten durch
die Sicherheitskräfte berichtet, die ebenfalls mit dem Ziel der Einschüchterung erfolgen,
damit die Angehörigen keine Angaben über das Geschehen machen, insbesondere
nicht gegenüber der Presse. Amnesty International, Gutachten vom 15. April 1998 an
VG Hamburg, S. 8 f. Diese Berichte rechtfertigen nicht die generelle Annahme,
Sippenhaft finde auch geraume Zeit nach der Inhaftierung oder Tötung des
Hauptverdächtigen aus einer Familie noch statt. Im Gegenteil schildert etwa Özgür
Politika vom 30. November 1997 den Fall einer am 25. September 1997 festgenommen
und am 21. November 1997 durch das Staatssicherheitsgericht Diyarbakir in
Untersuchungshaft genommenen Guerillakämpferin, deren Vater sie Ende November im
Gefängnis besuchen konnte. Vgl. Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar 1997 an VG
Hamburg, S. 66; Gutachten vom 20. Dezember 1997 VG Stuttgart, S. 18. ee)
"Gesamtschau" Die Gefahr von Sippenhaft ist auch dann nicht generell zu bejahen,
wenn mehrere Familienangehörige politisch aktiv geworden sind und ihnen deshalb
Asyl oder Abschiebungsschutz gewährt worden ist. Nach den dem Senat vorliegenden
Erkenntnisquellen besteht kein Anlaß für die Annahme, die türkischen Sicherheitskräfte
praktizierten Sippenhaft allein deshalb, weil jemand einer politisch engagierten Familie
oder Großfamilie angehört, in der die einzelnen Angehörigen für sich genommen
Sippenhaft nicht zu vermitteln imstande sind. b) Nahe Angehörige Der Kreis der von
Sippenhaft betroffenen Personen ist auf nahe Angehörige beschränkt. Dazu gehören
Ehegatten, Eltern, Kinder ab 13 Jahren und Geschwister des politisch Verfolgten. Diese
Begrenzung der Sippenhaft auf die sog. Kleinfamilie erklärt sich zum Teil schon daraus,
daß sich eine etwaige Verwandtschaft ersten Grades zu einer durch Haftbefehl
gesuchten Person anhand der Eintragungen im Personalausweis sofort erkennen läßt,
da daraus die Namen von Vater und Mutter hervorgehen. Für Ehegatten gilt im Ergebnis
Entsprechendes, weil die Personenstandsregistrierung einer Frau mit der
Eheschließung an den Ort verlegt wird, an dem ihr Ehemann gemeldet ist. Vgl. Amnesty
International, Gutachten vom 13. März 1995 an VG München; Gutachten vom 22. Juli
1996 an VG Stuttgart; Dinc, Gutachten vom 11. Februar 1998 an VG Berlin, S. 7; Kaya,
Gutachten vom 7. Dezember 1996 an VG Hamburg, S. 2; Gutachten vom 16. März 1997
an VG Gießen, S. 2; Gutachten vom 30. Juni 1997 an VG Hamburg, S. 22; Oberdiek,
Gutachten vom 15. November 1996 an VG Hamburg, S. 9 f.; Gutachten vom 17. Februar
1997 an VG Hamburg, S. 59 ff. aa) Ehegatten Da Grundlage für einen Zugriff auf den
Ehegatten die zwischen Eheleuten typischerweise bestehende besondere persönliche
Beziehung ist, die sich der Verfolger zur Ergreifung des gesuchten Ehepartners zunutze
macht, sind in den gefährdeten Personenkreis grundsätzlich auch Partner einer
Lebensgemeinschaft einzubeziehen, die lediglich auf eine religiöse Zeremonie
gegründet ist ("Imam-Ehe"). Eine entsprechende Verfolgungsgefahr ist in einem solchen
Fall aber nur anzunehmen, wenn die fragliche Lebensgemeinschaft, die vor einer
staatlichen Registrierung in der Türkei nicht anerkannt wird, türkischen Stellen bekannt
ist. Vgl. dazu Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, Auskunft vom 2. August 1994
an VG Würzburg. bb) Kinder ab 13 Jahren Kinder sind der Gefahr, als nahe Angehörige
in die Verfolgung eines durch Haftbefehl gesuchten Aktivisten einbezogen zu werden,
generell erst ab einem Alter von etwa 13 Jahren ausgesetzt. Soweit über Verhaftungen
noch jüngerer Kinder berichtet wird, vgl. etwa Amnesty International, Gutachten vom 15.
April 1998 an VG Hamburg, S. 4 ff.; Rumpf, Gutachten vom 28. Juli 1997 an VG Berlin,
S. 32 ff., handelt es sich durchweg nicht um solche, die mit der Suche nach einem
Verwandten aus politischen Gründen zusammenhingen. Entweder lag ein gegen den
betreffenden Jugendlichen selbst gerichteter Verdacht zugrunde oder es handelte sich
um Opfer von Kollektivmaßnahmen der Sicherheitskräfte im Rahmen einer Dorfrazzia
oder um Festnahmen jüngerer Kinder gemeinsam mit ihren Eltern. Die hiervon
abweichende Auffassung des VG Köln, Urteil vom 15. September 1997 - 18 K
4018/93.A- , S. 6, aufgrund neuerer Erkenntnisse seien Übergriffe wegen Sippenhaft
schon für Kinder ab 7 Jahren anzunehmen, überzeugt den Senat nicht. Die vom VG
Köln zur Begründung herangezogenen Erkenntnisse, Gesellschaft für bedrohte Völker,
Auskunft vom 14. März 1997 an VG Hamburg; Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar
1997 an VG Hamburg, S. 59 ff.; Amnesty International, Gutachten vom 13. März 1995 an
VG München, und die darin angeführten drei Beispielsfälle rechtfertigen nicht die
Bejahung eines generellen Verfolgungsrisikos für Kinder unter 13 Jahren. Das hat der
Senat in bezug auf die im Gutachten von Oberdiek enthaltenen Fallbeispiele bereits in
seinem Urteil vom 3. Juni 1997 - 25 A 3632/95.A -, S. 144 f. im einzelnen dargelegt. Die
in einer der Anlagen zum Gutachten von Amnesty International enthaltene Schilderung
von Maßnahmen gegenüber einem 10-jährigen Jungen aus Izmir, den man zum
Arbeitsplatz seines Vaters gebracht habe, ist ebenfalls zu vage, um den Schluß auf eine
nach Art und Intensität asylerhebliche Maßnahme zuzulassen. Der in der Auskunft der
Gesellschaft für bedrohte Völker auf 5 erwähnte Fall eines 9-jährigen Jungen, der an
den Haaren gezogen worden sei und dem man Ohrfeigen und Fausthiebe in den Magen
zugefügt habe, hing nicht mit der Suche nach einem Verwandten aus politischen
Gründen zusammen, sondern mit einem gegen ihn selbst gerichteten
Diebstahlsverdacht. Ähnlich gelagert (fehlender politischer Hintergrund oder zumindest
auch gegen den Minderjährigen selbst gerichteter Verdacht) erscheinen auch die von
Kaya erwähnten Fälle R. Ünal (11 Jahre) und Zelal Arasan (12 Jahre). Gutachten vom
30. Juni 1997 an VG Hamburg, S. 16 f. Soweit über menschenrechtswidrige
Behandlung jüngerer Kinder berichtet wird, ist zudem zu berücksichtigen, daß das Alter
eines in ländlichem Gebiet geborenen Minderjährigen häufig nicht allein anhand der
Eintragungen im Personenstandsregister bestimmt werden kann. Denn viele Eltern,
insbesondere solche, die eine Geburt erst nach Ablauf der vom Personenstandsgesetz
hierfür vorgesehenen Frist haben registrieren lassen, geben das Alter ihrer Kinder
jünger an, um der für die Fristüberschreitung vorgesehenen Geldstrafe zu entgehen und
um dem Kind in Schule und Militärdienst Vorteile zu verschaffen. Vgl. Kaya, Gutachten
vom 10. Februar 1997 an VG Hamburg, S. 3. Lediglich im Einzelfall kann die
Behauptung von Kindern unter 13 Jahren, in der Türkei in die politische Verfolgung
eines Elternteils oder älteren Geschwisters einbezogen worden zu sein, zutreffen,
obschon derzeit - wie dargelegt - entsprechende Referenzfälle dem Senat nicht
bekanntgeworden sind. Ein dahingehender Vortrag kann schon mit Blick auf Art. 54 Abs.
1 Satz 1 TStGB nicht von vornherein verworfen werden, wonach Minderjährige im Alter
zwischen 11 und 15 Jahren ausnahmsweise als strafmündig betrachtet werden. Diese
Vorschrift ist ein Indiz dafür, daß unter Umständen auch Minderjährige im vorgenannten
Alter Ermittlungsmaßnahmen mit der Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung
ausgesetzt sein können. Vgl. Rumpf, Gutachten vom 26. August 1996 an VG Darmstadt,
S. 3. Dies ist deshalb nachvollziehbar, weil das Verhalten der türkischen
Sicherheitskräfte gegen die örtliche Zivilbevölkerung in Ostanatolien nicht von der
Einhaltung rechtsförmiger, geschweige denn rechtsstaatlicher Regeln geprägt ist,
sondern sich allein am Zweck einer erfolgreichen Bekämpfung der PKK-Guerilla
einschließlich des sie unterstützenden Umfeldes orientiert. Es kann daher nicht
vorausgesetzt werden, daß bei Repressionen der hier in Rede stehenden Art ein bei
den Sicherheitskräften üblicherweise festzustellendes Verhaltensmuster ohne
Ausnahme eingehalten wird. Deshalb sind Repressalien auch gegen jüngere Kinder im
Einzelfall für möglich zu halten. Ein substantiierter widerspruchsfreier Vortrag, mit
welchem der Asylbewerber Verfolgungsmaßnahmen gegen ein noch nicht 13 Jahre
altes Kind schildert, ist daher nicht schon deswegen unglaubhaft, weil derartiges sich
nach Auswertung der einschlägigen Erkenntnisquellen nur als Ausnahme darstellt.
Schließlich können im Einzelfall auch Berichte über sonstige atypische Konstellationen
von Sippenhaft glaubhaft sein, so z.B. über die Folterung einer Person, deren naher
Angehöriger auf diese Weise zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften bewegt
werden soll. Vgl. Amnesty International, Gutachten vom 22. Juli 1996 an VG Stuttgart, S.
2 f. cc) Eltern und Geschwister Generell in die Verfolgung eines durch Haftbefehl
gesuchten Aktivisten einbezogen werden darüber hinaus auch dessen Eltern und
dessen Geschwister. Soweit in den Sachverständigengutachten hierzu einschlägige
Referenzfälle beschrieben werden, betreffen diese Eltern und Geschwister des
eigentlich Gesuchten nicht signifikant weniger häufig als etwa Ehegatten und Kinder.
Das ist angesichts der Erkennbarkeit dieser Verwandtschaftsbeziehungen aus dem
Personalausweis, auf die oben schon hingewiesen wurde, auch ohne weiteres
plausibel. Erwähnt werden insbesondere auch Referenzfälle für verheiratete
Geschwister mit anderslautendem Ehenamen (Gülbahar Nifak) und vom Heimatdorf
entfernt liegendem Wohnort (Serdar Ugras). Amnesty International, Gutachten vom 19.
Februar 1998 an VG Hamburg, S. 3 f.; Gutachten vom 15. April 1998 an VG Hamburg, S.
8 f.; Kaya, Gutachten vom 10. Februar 1997 an VG Hamburg, S. 6; Gutachten vom 16.
März 1997 an VG Gießen, S. 5; Oberdiek, Gutachten vom 14. März 1997 an VG Berlin,
S. 101. dd) Verwandte dritten und vierten Grades (Onkel, Tanten, Cousins und
Cousinen) Der gelegentlich anzutreffenden Einschätzung, auch Cousinen und Cousins
seien generell sippenhaftgefährdet, vgl. Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar 1997 an
VG Hamburg, S. 65; Amnesty International, Gutachten vom 15. April 1998 an VG
Hamburg, S. 8 f., vermag der Senat nicht zu folgen. Denn bei sonstigen Verwandten
dritten und vierten Grades (Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen) sowie bei
angeheirateten "Verwandten" kann die Verwandtschaftsbeziehung nicht ohne weiteres
über Personaldokumente oder das Personenstandsregister festgestellt werden wie bei
den zuvor genannten Verwandten ersten und zweiten Grades. Außerdem fehlen
einschlägige Referenzfälle in ausreichender Anzahl. Die wenigen bekanntgewordenen
Einzelfälle, in denen offenbar auch entferntere Verwandte in die Verfolgung gesuchter
Personen einbezogen wurden, rechtfertigen nicht die Annahme einer auch insoweit
generell bestehenden beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr. Lediglich im
Einzelfall können auch entferntere Verwandte von Repressalien betroffen sein. Vgl.
Kaya, Gutachten vom 20. Mai 1995 an VG Mainz; Gutachten vom 16. März 1997 an VG
Gießen, S. 5; Amnesty International, Gutachten vom 22. Juli 1996 an VG Stuttgart, S. 3;
Oberdiek, Gutachten vom 17. Februar 1997 an VG Hamburg, S. 59. ee) Vereinbarkeit
mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung Die vorstehende Rechtsprechung des
Senats, wonach sich Sippenhaft in der Türkei insbesondere auch auf Eltern und
Geschwister des politisch Verfolgten erstreckt, steht mit der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts im Einklang, wonach eine Verfolgungsvermutung
ausschließlich für Ehegatten und minderjährige Kinder Platz greift. Urteil vom 26. April
1988 - 9 C 28.86 -, BVerwGE 79, 244. In dieser und in mehreren anderen
Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht aus Art. 16 a Abs. 1 GG den
Rechtssatz abgeleitet, daß dann, wenn in einem Verfolgerstaat Fälle asylrechtlich
relevanter Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Ehegatten und/oder minderjährigen
Kindern eines politisch Verfolgten festgestellt worden sind, eine widerlegliche
Vermutung dafür besteht, daß Angehörige der jeweiligen Verwandtschaftskategorie mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit in dessen Verfolgung einbezogen werden. Diese
unmittelbar aus Art. 16 a Abs. 1 GG abzuleitende Vermutung gilt allerdings nicht für
sonstige Familienangehörige, insbesondere nicht für Geschwister, weil sich nur
diejenigen Personen, die dem Verfolgten besonders nahestehen, in einer besonderen
potentiellen Gefährdungslage befinden, der gerecht zu werden Art. 16 a Abs. 1 GG
gebietet. BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1985 - 9 C 35.84 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr.
34 = InfAuslR 1985, 274; Urteil vom 13. Januar 1987 - 9 C 53.86 -, BVerwGE 75, 304 =
InfAuslR 1987, 168; Urteil vom 27. Februar 1987 - 9 C 264.86 -, Buchholz 402.25 § 1
AsylVfG Nr. 63, S. 13 (15 f.); Beschluß vom 15. Januar 1992 - 9 B 239.91 -.
Voraussetzung dafür, daß jene Vermutung zugunsten eines bestimmten Asylbewerbers
wirksam wird, ist, daß für das betreffende Verfolgerland Fälle asylrechtlich relevanter
Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Ehegatten und/oder minderjährigen Kindern eines
politisch Verfolgten festgestellt worden sind, die in tatsächlicher Hinsicht der Situation
des im konkreten Rechtsstreit klagenden Asylbewerbers entsprechen. Das erfordert die
Feststellung tatsächlicher Umstände bei dem klagenden Asylbewerber, welche auch für
die angeführten Vergleichsfälle kennzeichnend sind und nach den dort getroffenen
Feststellungen Voraussetzungen für den Verfolgungszugriff auf den
Familienangehörigen waren. Fehlt es daran, greift jene Vermutungsregel nicht ein.
BVerwG, Beschluß vom 8. Januar 1990 - 9 B 451.89 -; Beschluß vom 8. Januar 1990 - 9
B 476.89 -. Für das Herkunftsland Türkei bedeutet dies, daß die fragliche
Vermutungsregel unter diesem Gesichtspunkt nur für diejenigen Ehegatten und
minderjährigen Kinder eines politisch Verfolgten streitet, der als Aktivist einer militanten
staatsfeindlichen Organisation von den türkischen Sicherheitskräften per Haftbefehl
gesucht wird. Ähnlich verhält es sich in bezug auf das Lebensalter minderjähriger
Kinder. Aber nicht nur diese sachlichen und persönlichen Einschränkungen, die der
Senat für die Ableitung von Sippenhaft in der Türkei entwickelt hat, stehen mit der
vorstehenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Einklang. Dasselbe
gilt vielmehr auch für die erweiternde Annahme, daß neben den Angehörigen der sog.
Kleinfamilie (einschließlich der volljährigen Kinder) im allgemeinen auch Eltern und
Geschwister des politisch Verfolgten von Sippenhaft bedroht sind. Ein Widerspruch zu
dem soeben wiedergegebenen Vermutungsrechtssatz, den das
Bundesverwaltungsgericht unmittelbar aus Art. 16 a Abs. 1 GG abgeleitet hat, ist schon
deswegen ausgeschlossen, weil es sich bei jener Annahme des Senats nicht um einen
allgemeinen, aus Art. 16 a Abs. 1 GG abgeleiteten und daher herkunftslandübergreifend
geltenden Rechtssatz, sondern um eine generalisierende Tatsachenfeststellung für das
Verfolgerland Türkei handelt, die zu treffen im Asylprozeß ausschließlich den
Tatsacheninstanzen und angesichts des Rechtsmittelsystems des § 78 AsylVfG vor
allem den Oberverwaltungsgerichten und den Verwaltungsgerichtshöfen obliegt. Ein
Rechtssatz des Inhalts, daß sich Sippenhaft unter keinen denkbaren tatsächlichen
Umständen auf andere Familienangehörige als Ehegatten und minderjährige Kinder
erstrecken kann, ist der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung ebensowenig zu
entnehmen wie ein Rechtssatz des Inhalts, daß außerhalb der aus Art. 16 a Abs. 1 GG
abgeleiteten rechtlichen Sippenhaftvermutung auch eine tatsächliche Vermutung für die
Einbeziehung in die einem anderen drohende Verfolgung ausscheidet. Im Gegenteil ist
das Bundesverwaltungsgericht in seinen zur Sippenhaftvermutung ergangenen
Entscheidungen stets davon ausgegangen, daß die Tatsacheninstanzen unabhängig
vom Eingreifen jener Vermutung berechtigt sind, die individuelle Situation des jeweils
klagenden Asylbewerbers zu prüfen und zu würdigen. Diese Prüfung kann ergeben,
daß insbesondere auch Geschwister eines politisch Verfolgten von Sippenhaft bedroht
sind, sofern die über das jeweilige Herkunftsland herangezogenen Erkenntnisquellen
die Annahme rechtfertigen, daß auch jener Personenkreis mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit damit rechnen muß, selbst nach Art einer Geisel staatlichen
Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein. BVerwG, Urteil vom 9. April 1991 - 9 C
100.90 -, BVerwGE 88, 92 (94); Beschluß vom 15. Januar 1992 - 9 B 239.91 -. Bei
dieser Prüfung können die Tatsachengerichte nicht nur alle Umstände des konkret zu
entscheidenden Einzelfalles in ihre individuelle Verfolgungsprognose einbeziehen,
sondern auch generalisierende Tatsachenfeststellungen, die das hierzu berufene
Oberverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtshof) in bezug auf die Praktizierung von
Sippenhaft in dem betreffenden Verfolgerland auf der Grundlage der ihm hierzu
vorliegenden Erkenntnisquellen getroffen hat. Derartige generalisierende
Tatsachenfeststellungen bleiben durch die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung
entwickelte Sippenhaftvermutung unberührt. Denn die Rechtsfolge dieser Vermutung
besteht gerade darin, daß jede weitere Prüfung entfällt, ob die als Vermutungsgrundlage
festgestellten Verfolgungsfälle von nahen Familienangehörigen Ausdruck einer
allgemeinen Praxis des Verfolgerstaates sind und ob die ihnen zugrundeliegenden
Umstände besondere Rückschlüsse gerade auch auf das eigene Verfolgungsschicksal
desjenigen gestatten, der sich auf die Vergleichsfälle beruft. Vgl. BVerwG, Urteil vom 13.
Januar 1987 - 9 C 53.86 -, BVerwGE 75, 304 (313) = InfAuslR 1987, 168; Urteil vom 27.
Februar 1987 - 9 C 264.86 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 63, S. 13 (16); Urteil vom
26. April 1988 - 9 C 28.86 -, BVerwGE 79, 244 (247); Beschluß vom 8. Januar 1990 - 9 B
451.89 -; Beschluß vom 8. Januar 1990 - 9 B 476.89 -; Beschluß vom 15. Januar 1992 -
9 B 239.91 -. Darin erweist sich, daß die aus Art. 16 a Abs. 1 GG abzuleitende rechtliche
Vermutung drohender Sippenhaft für Ehegatten und minderjährige Kinder mit einer
generellen Tatsachenfeststellung zur Sippenhaft ihrem Charakter nach nicht identisch
ist. Letztere setzt nämlich gerade die umfassende Referenzfallbewertung voraus, die
erstere entbehrlich macht. Diese Referenzfallbewertung kann sich daher auch inhaltlich
in einzelnen Beziehungen von der sich als Rechtssatz aus Art. 16 a Abs. 1 GG
ergebenden Sippenhaftvermutung unterscheiden. Bezogen auf die Verhältnisse in der
Türkei bedeutet dies, daß die fragliche Vermutungsregel nur für diejenigen Ehegatten
und minderjährigen Kinder eines politisch Verfolgten streitet, der als Aktivist einer
militanten staatsfeindlichen Organisation von den türkischen Sicherheitskräften per
Haftbefehl gesucht wird. Ähnlich verhält es sich in bezug auf das Lebensalter
minderjähriger Kinder. Genausowenig wie aus einer Gefährdung von Kindern politisch
Verfolgter automatisch auf ein Risiko auch für die Ehefrau geschlossen werden kann,
vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 1988 - 9 C 92.87 -, InfAuslR 1988, 335, 336, können
Referenzfälle, die als Beleg für eine Verfolgung von Kindern und Jugendlichen ab 13
Jahren anzusehen sind, eine Vermutung für eine Verfolgung noch jüngerer Kinder
begründen, wenn - wie im Fall der Türkei nach derzeitigem Erkenntnisstand - solche
Fälle tatsächlich nicht bekanntgeworden sind. c) Politischer Charakter der Sippenhaft
Die gegen nahe Angehörige gerichteten Sippenhaftmaßnahmen sind entgegen
teilweise anzutreffender anderslautender Rechtsprechung, VGH BW, Urteil vom 9. März
1995 - A 12 S 2954/94 -, S. 55, politische Verfolgung. Soweit es um Ehegatten und
minderjährige Kinder geht, ergibt sich das bereits aus der oben auf S. 124 erwähnten
Rechtsvermutung, die sich ausdrücklich auch auf den politischen Charakter der
Verfolgung bezieht. Unabhängig davon gilt für das Herkunftsland Türkei auch in
tatsächlicher Hinsicht, daß Sippenhaftmaßnahmen an asylerhebliche Merkmale des
jeweils betroffenen Familienmitgliedes anknüpfen. Regelmäßig ist es nämlich
zumindest auch die politische Überzeugung dieses Familienmitglieds, gegen die sich
die genannten Maßnahmen richten. Nach dem oben auf S. 114 Ausgeführten dienen
Sippenhaftmaßnahmen nicht nur der Ausübung von Druck auf den eigentlich
Gesuchten, sondern auch der Erlangung von Informationen über die von diesem
verübten Straftaten sowie über dessen Aufenthaltsort und dessen Kontakte. Damit sind
nicht nur Kontakte zu anderen Guerillaangehörigen gemeint, sondern vor allem auch die
Kontakte zur eigenen Familie. Naheliegenderweise verdächtigen die Sicherheitskräfte
in erster Linie die nahen Angehörigen eines Guerillakämpfers, diesem und seinen
Mitstreitern Unterschlupf zu gewähren und sie mit Nahrungsmitteln und weiteren
Hilfsgütern zu unterstützen. Dem liegt zumeist die Vorstellung von einer Unterstützungs-
und Gesinnungsgemeinschaft zugrunde, die es zu zerschlagen gilt. Diese Vorstellung
ist auch nicht abwegig, denn es ist bekannt, daß die PKK in ihren Aktionsgebieten einen
starken Rückhalt in den Familien ihrer Mitglieder hat. Auch im übrigen gibt es gerade im
Bereich der politischen Delinquenz einen engen familiären Zusammenhalt, der sich
etwa an den zahlreichen Vereinen der Solidarität mit Strafgefangenen ablesen läßt, die
überwiegend aus Familienangehörigen politischer Gefangener bestehen. Rumpf,
Gutachten vom 15. Mai 1997 an VG Hamburg, S. 21; Gutachten vom 20. August 1997 an
VG Hamburg, S. 16 f.; Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG Berlin, S. 20 f.; Kaya,
Gutachten vom 30. Juni 1997 an VG Hamburg, S. 21 f.; Gutachten vom 11. März 1998
an VG Berlin, S. 4. Daß Sippenhaft von verhafteten und getöteten Personen nicht
abgeleitet werden kann, steht hierzu nicht im Widerspruch. Denn in diesen
Konstellationen kann die der Sippenhaft zugrundeliegende familiäre Unterstützungs-
und Gesinnungsgemeinschaft keine verhinderungswürdigen Wirkungen mehr entfalten.
Dementsprechend bemüht auch der VGH BW das Argument fehlenden politischen
Charakters der Sippenhaft in neueren Entscheidungen nicht mehr, sondern prüft die
Frage unter dem Gesichtspunkt eines Nachfluchtgrundes. VGH BW, Urteil vom 2. Juli
1998 - A 12 S 1006/97 -, S. 16, 19, 23. d) Anderweitige obergerichtliche Rechtsprechung
Die generelle Tatsachenfeststellung des Senats, daß nahe Angehörige von Aktivisten
einer militanten staatsfeindlichen Organisation von Sippenhaft bedroht sind, wird in der
obergerichtlichen Rechtsprechung überwiegend geteilt. Das gilt insbesondere auch für
die Erstreckung des betroffenen Personenkreises auf Eltern und Geschwister des
Gesuchten. VGH BW, Urteil vom 2. Juli 1998 - A 12 S 1006/97 -, S. 17 ff.; SächsOVG,
Urteil vom 27. Februar 1997 - A 4 S 293/96 -, S. 17; NdsOVG, Urteil vom 16. September
1997 - 11 L 237/93 -, S. 23 f. Der hiervon in Teilbereichen abweichenden Auffassung,
sippenhaftähnliche Maßnahmen gegenüber Familienangehörigen von Straftätern und
anderen gesuchten Personen in der Türkei seien im allgemeinen nicht festzustellen,
sondern lediglich nach Maßgabe der Einzelfallumstände ausnahmsweise möglich,
HessVGH, Urteil vom 5. Mai 1997 - 12 UE 500/96 -, S. 34 ff.; Urteil vom 7. Juli 1997 - 12
UE 2019/96.A -; S. 82 f., folgt der Senat nicht, weil er sie durch die oben im einzelnen
ausgewerteten Erkenntnisquellen als hinreichend widerlegt ansieht. e) Subsumtion
Dem Kläger droht schon deshalb keine Einbeziehung in eine seinen Eltern oder
Geschwistern drohende politische Verfolgung, weil weder sein im Januar 1988
eingereister Vater noch seine Mutter und die vier Geschwister, die das Heimatdorf im
September 1991 verlassen haben, politisch verfolgt werden. Den Vorfluchtvortrag des
Vaters des Klägers, von dem die Mutter und die vier Geschwister ihre
Verfolgungsbehauptungen lediglich ableiten, hat das Verwaltungsgericht in seinem
rechtskräftigen Urteil vom 22. Oktober 1992 - 15 K 12179/89 -, als unglaubhaft bewertet.
Aus dem ausschließlich mit einer angeblichen Gruppenverfolgung der Kurden,
exilpolitischen Aktivitäten des Vaters und Sippenhaft begründeten Folgeantrag vom 7.
April 1995 ergibt sich nichts, was die Richtigkeit dieser Würdigung erschüttern könnte.
Unabhängig davon droht dem Kläger deshalb keine Sippenhaft, weil der als
Sippenhaftvermittler allein in Betracht kommende Vater Mehmet Karisik auch
unabhängig von der Glaubhaftigkeit seines Vorfluchtvortrags jedenfalls kein durch
Haftbefehl gesuchter Aktivist einer militanten staatsfeindlichen Organisation ist. Er hat in
der mündlichen Verhandlung vom 22. Oktober 1992 lediglich geltend gemacht,
unterstützende Tätigkeiten für die kurdische Bewegung geleistet zu haben. Abgesehen
davon wäre eine vom Vater des Klägers ausgehende Sippenhaftvermutung im
vorliegenden Fall widerlegt, weil ein Bruder des Klägers nach der Ausreise der übrigen
Familienmitglieder im Heimatdorf verblieben ist, ohne daß dieser, wie andernfalls
erwartet werden müßte, ebenfalls in Sippenhaft genommen worden ist. Auch der
Großvater des Klägers väterlicherseits ist im Dorf verblieben und ist nach Angaben des
Vaters des Klägers bei einer Militäroperation lediglich nach dem Vater des Klägers
gefragt worden. 9. Einreise in die Türkei Der Kläger muß auch nicht aus anderen
Gründen damit rechnen, bei seiner Einreise in die Türkei asylerhebliche Maßnahmen zu
erdulden. Insbesondere ist die Asylantragstellung als solche kein Grund, der seinerseits
politische Verfolgung nach sich zieht. a) Allgemeine Verfahrensweise Ein derartiges
Risiko ist im Falle der Rückkehr abgelehnter türkischer Asylbewerber, denen politische
Verfolgung nicht schon aus einem der oben im einzelnen abgehandelten Gründe droht,
für den Regelfall ausgeschlossen. Das gilt sowohl für türkische als auch für kurdische
Volkszugehörige. Rückkehrer müssen sich - wie jeder andere in die Türkei Einreisende
auch - an der Grenze einer Personenkontrolle unterziehen. Im Normalfall kann ein
türkischer Staatsangehöriger, der ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes
Reisedokument besitzt, die Grenzkontrolle, insbesondere am Flughafen, ungehindert
passieren. Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. September 1998, S. 18;
Oberdiek, Gutachten vom 25. Juli 1997 an VG Berlin, S. 1. Diese Verfahrensweise gilt
nicht nur bei solchen Personen, die im Zeitpunkt ihrer Einreise in die Türkei über einen
gültigen türkischen Reisepaß verfügen, sondern auch bei solchen, denen vom
zuständigen türkischen Konsulat zum Zwecke der Rückkehr ein Paßersatzpapier
ausgestellt worden ist. Eine gegenteilige Annahme ist beim gegenwärtigen
Erkenntnisstand nicht plausibel. Nach den einschlägigen paßrechtlichen Bestimmungen
der Türkei werden Pässe derjenigen Personen, deren weiterer Aufenthalt im Ausland im
Hinblick auf die allgemeine Sicherheit bedenklich erscheint, weder erneuert noch
verlängert. Sie erhalten statt dessen eine Reisebescheinigung für die Rückkehr in die
Türkei. Vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 26. Februar 1997 an VG Regensburg, S. 2.
Zwecks Feststellung, ob eine derartige Einschränkung im jeweiligen Fall eingreift,
werden die Konsulate bei den zuständigen Heimatbehörden Rückfrage nehmen
müssen. Eine derartige Rückfrage ist aber auch in den Fällen zu erwarten, in denen der
Betreffende über keinen gültigen türkischen Reisepaß verfügt und deswegen - wie
typischerweise bei abgelehnten Asylbewerbern - die Erteilung einer
Reisebescheinigung zum Zweck der Rückkehr in Rede steht. Es ist daher davon
auszugehen, daß die mit der Rückkehr türkischer Staatsbürger in die Türkei
verbundenen sicherheitsrelevanten Aspekte von den zuständigen Auslandsvertretungen
bereits im Vorfeld der Einreise abgeklärt worden sind, so daß eine diesbezügliche
erneute Rückfrage an der Grenze entbehrlich ist. Wenn hingegen der türkischen
Grenzpolizei bekannt wird, daß es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird
diese Person einer eingehenderen Befragung unterzogen. Vgl. Auswärtiges Amt,
Auskunft vom 5. Februar 1997 an Bundesministerium des Innern; Auskunft vom 6.
Februar 1997 an VG Mainz; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 18. Hintergrund
dafür ist offensichtlich, daß Grundlage für eine Abschiebung nach allgemeinem
Ausländerrecht häufig wegen erheblicher Straffälligkeit im Ausland ergangene
Ausweisungsverfügungen sind. Von einem vergleichbaren Sachverhalt kann indes bei
Abschiebungen, die ihre Grundlage im Abschluß des Asylverfahrens finden, nicht
ausgegangen werden. Die Tatsache der Asylantragstellung wird bei der Einreise
regelmäßig nicht verborgen bleiben, weil der Betreffende nicht über einen gültigen
türkischen Reisepaß verfügt. Andererseits ist die Asylantragstellung in Deutschland im
allgemeinen kein Umstand, der geeignet wäre, den Argwohn türkischer Stellen zu
erwecken. Denn diesen ist gut bekannt, daß viele ihrer Landsleute den Weg der
Asylantragstellung gehen, um ein sonst nicht gegebenes vorübergehendes
Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zu erzwingen. Wegen der hohen
Arbeitslosigkeit in der Türkei und der begrenzten Devisenreserven wird der
Auslandsaufenthalt türkischer Staatsbürger auch durchaus begrüßt. Vgl. Auswärtiges
Amt, Auskunft vom 6. Februar 1997 an VG Mainz; Auskunft vom 13. März 1997 an VG
Hamburg, S. 3; Auskunft vom 13. März 1997 - 514.516.80/27941 - an VG Aachen, S. 3;
Auskunft vom 2. März 1998 an VG Frankfurt (Oder), S. 3; Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 18; Kaya, Gutachten vom 17. März 1997 an VG Stuttgart, S. 6. Daß
im Asylantrag regelmäßig Negatives über den Heimatstaat vorgebracht wird, ist aus der
Sicht türkischer Behörden schon deswegen unschädlich, weil aus dem negativen
Ausgang des Asylverfahrens gefolgert werden kann, daß sich der Asylvortrag nach
Prüfung der zuständigen deutschen Stellen als nicht zutreffend erwiesen hat. Nur wenn
der Abgeschobene nicht über gültige türkische Reisedokumente, also auch nicht über
vom zuständigen Konsulat ausgestellte Paßersatzpapiere, verfügt, oder eine mit deren
Ausstellung üblicherweise verbundene Rückfrage in der Türkei im Einzelfall
unterblieben ist, wird der Betreffende in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache
zum Zwecke der Befragung festgehalten. Die Fragen der Vernehmungsbeamten
beziehen sich regelmäßig auf Personalienfeststellung (unter Umständen Abgleich mit
der Personenstandsbehörde und dem Fahndungsregister), Grund und Zeitpunkt der
Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventuelle Vorstrafen in Deutschland,
Asylantragstellung, Kontakte zu illegalen türkischen Organisationen. War die Ausreise
der betreffenden Person durch Gerichtsbeschluß verboten worden oder wird sie durch
Haftbefehl oder Festnahmebefehl gesucht, so kann die Grenzbehörde dies ohne weitere
Nachforschungen feststellen, weil die Namen jener Personen den an den
Landesgrenzen tätigen Sicherheitskräften mitgeteilt und in die dort vorhandenen
Computer eingespeichert werden. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13. März 1997 an VG
Hamburg, S. 3; Auskunft vom 13. März 1997 - 514-516.80/27941 - an VG Aachen, S. 3;
Kaya, Gutachten vom 5. März 1997 an VG Hamburg, S. 2; Gutachten vom 11. Februar
1998 an VG Augsburg. Bei nicht im Computer als gesucht gespeicherten Personen
werden Nachforschungen bei der Zentralen Datenerfassungsstelle, der
Staatsanwaltschaft oder den Sicherheitsbehörden des Registrierungs- und Heimatortes
sowie bei der Behörde zur Bekämpfung des Terrors und beim Präsidium der
Sicherheitsbehörde angestellt. Bei diesen Nachforschungen wird festgestellt, ob gegen
die rückkehrende Person Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet worden sind,
insbesondere auch, ob der Betreffende wehrdienstflüchtig ist. Ferner ist davon
auszugehen, daß die Grenzbehörde durch Kontaktaufnahme mit der Polizeidienststelle
des Heimatortes auch erfährt, ob der Betreffende früher schon einmal politisch auffällig
geworden ist. Denn Polizei, Jandarma und Geheimdienst führen Datenblätter (Fisleme)
über derartige Personen, die zum Beispiel auch Angaben über Verfahren, die mit
Freispruch endeten, oder über Vorstrafen, die im Strafregister längst gelöscht wurden,
enthalten können. Eine gesetzliche Grundlage für diese "Aufschreibungen" gibt es nicht,
auch werden Erkenntnisse aus solchen "Aufschreibungen" von Gerichten nicht als
Beweismittel zugelassen. Nur dann, wenn sich aus diesen Datenblättern Anhaltspunkte
für einen aus der Zeit vor der Ausreise fortbestehenden Separatismusverdacht ergeben,
muß der Betroffene mit einer intensiveren Befragung, unter Umständen auch mit
menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13. März
1997 an VG Gießen; Auskunft vom 10. Juni 1998 an VG Stuttgart, S. 2; Lagebericht vom
18. September 1998, S. 19; vgl. auch Rumpf, Gutachten vom 28. Juli 1997 an VG Berlin,
S. 23; Gutachten vom 20. August 1997 an VG Hamburg, S. 44 ff.; Gutachten vom 29.
Dezember 1997 an VG Augsburg, S. 20 f., 30; Gutachten vom 24. Juli 1998 an VG
Berlin, S. 16. Die Einholung von Auskünften kann je nach Einreisezeitpunkt (nachts, am
Wochenende) und Geburtsort zwischen einigen Stunden und mehreren Tagen dauern.
Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. September 1998, S. 18; Kaya, Gutachten
vom 5. März 1997 an VG Hamburg, S. 2 f.; Rumpf, Gutachten vom 20. August 1997 an
VG Hamburg, S. 45 ff.; Taylan, Gutachten vom 25. Februar 1996 an VG Neustadt an der
Weinstraße. Greifbare Anhaltspunkte dafür, daß abgeschobene Personen in der
regelmäßig kurzen Zeit bis zum Eingang der über sie eingeholten Auskünfte nach Art
und Intensität asylerheblichen Übergriffen ausgesetzt sind, bestehen nicht. Wie sich aus
den zitierten Erkenntnissen ergibt, ist zu unterscheiden zwischen der Befragung, die
unmittelbar nach der Einreise stattfindet und dem Verhör, welches nur dann erfolgt,
wenn Nachforschungen ergeben haben, daß gegen den Betreffenden ermittelt oder er
gesucht wird. Anlaß der Befragung ist lediglich der Umstand, daß der Betreffende
längere Zeit im Ausland als Asylbewerber zugebracht hat. Dies ist aber, wie bereits
oben dargelegt, für sich betrachtet aus der Sicht türkischer Stellen ein neutraler
Vorgang, aus dem ein Rückschluß auf staatsfeindliche Gesinnung oder gar Tätigkeit
nicht hergeleitet wird. Die Situation zurückkehrender Asylbewerber ist daher nicht zu
vergleichen mit derjenigen einer Person, die unter dem Verdacht staatsfeindlicher
Aktivitäten verhaftet und im Polizeigewahrsam verhört wird. Auswärtiges Amt, Auskunft
vom 13. März 1997 an VG Hamburg, S. 3; Dinc, Gutachten vom 11. Februar 1998 an VG
Berlin, S. 5. Eindeutige und in ihrem Aussageinhalt repräsentative Belegfälle für eine
Mißhandlung von Asylbewerbern, die nicht aus einem der oben abgehandelten Gründe
als verfolgungsgefährdet anzusehen sind, an den türkischen Grenzstellen gibt es nicht.
Hierzu wird im einzelnen auf die obigen Ausführungen zu den in der aktuellen
Diskussion häufig behandelten Referenzfällen verwiesen (vgl. Seiten 88 bis 95). b)
Europäische Menschenrechtskommission Die Europäische
Menschenrechtskommission verzeichnete 1995/96 eine wachsende Zahl eingehender
Beschwerden türkischer Staatsangehöriger wegen Abschiebung in die Türkei. Die
Beschwerden richteten sich unter anderem gegen die abschiebenden Länder Schweiz,
Schweden, Niederlande, Großbritannien und Frankreich. Gegen Deutschland liegen
mehrere Beschwerden vor, von denen jedoch die allermeisten als unzulässig
zurückgewiesen wurden. Die Menschenrechtskommission hat im Oktober 1997 eine
gegen die Niederlande gerichtete Beschwerde für zulässig erklärt, die die Ablehnung
eines Asylantrages eines pro-kurdischen Aktivisten betraf. Nach Auskunft der
Europäischen Menschenrechtskommission werden Abschiebungen nicht beanstandet,
wenn die Kommission nach vorläufiger Prüfung des Vortrags des Beschwerdeführers zu
dem Ergebnis gelangt, daß eine Gefahr für Leib und Leben nicht besteht. Dabei wird
besonders berücksichtigt, ob die Abschiebung Personen aus dem Westen oder dem
Südosten des Landes betrifft. Gelegentlich wird empfohlen, eine Abschiebung "in den
Südosten des Landes" zurückzustellen. Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18. Juli
1997, S. 14 f.; Lagebericht vom 20. November 1997, S. 16; Lagebericht vom 31. März
1998, S. 17; Lagebericht vom 18. September 1998, S. 20. c) Zumutbarkeit der
freiwilligen Ausreise Im übrigen rechtfertigen etwaige Schwierigkeiten türkischer
Asylbewerber im Zusammenhang mit ihrer Abschiebung die Gewährung politischen
Asyls nicht. Des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland bedarf nicht, wer durch
eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann. Vgl.
BVerwG, Urteil vom 3. November 1992 - 9 C 21.92 -, DVBl. 1993, 324 = NVwZ 1993,
486 = InfAuslR 1993, 150. Einem türkischen Asylbewerber, dessen Asylantrag
unanfechtbar abgelehnt wird, weil er nicht zum Kreis der in der Türkei von
menschenrechtswidriger Behandlung betroffenen Personen gehört, ist es aber
zumutbar, sich einen türkischen Nationalpaß ausstellen oder verlängern zu lassen und
damit freiwillig auszureisen. Jedenfalls in einem derartigen Fall besteht kein
Verfolgungsrisiko bei der Einreise in die Türkei. B. § 51 Abs. 1 AuslG Das Begehren auf
Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, worüber - wie hier im übrigen
auch ausdrücklich beantragt - im Wege der Verpflichtungsklage zu entscheiden ist, vgl.
Senatsbeschluß vom 8. Januar 1996 - 25 A 7435/95.A - m.w.N., ist ebenfalls
unbegründet. Denn der Tatbestand jener Vorschrift ist nicht erfüllt, wie sich aus den
vorstehenden Ausführungen zum Asylanerkennungsanspruch ergibt. C. § 53 AuslG
Ohne Erfolg bleibt ferner das Abschiebungsschutzbegehren nach § 53 AuslG, über
welches gleichfalls im Verpflichtungsrechtsstreit zu entscheiden ist. Vgl. BVerwG, Urteil
vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, DVBl. 1996, 1257. Dieses Begehren ist unbegründet,
weil der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach jener
Vorschrift hat. Dabei kann offenbleiben, ob § 53 AuslG ausschließlich von politischer
Verfolgung unabhängige Abschiebungshindernisse betrifft oder ob die Vorschrift
insbesondere unter Berücksichtigung des durch Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG
gebotenen Schutzes in Fällen der Nichteinhaltung von § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG i.V.m. §
71 Abs. 1 AsylVfG auch verfolgungsabhängige Abschiebungshindernisse umfaßt. Vgl.
dazu Senatsurteil vom 24. Februar 1997 - 25 A 3389/95.A -, NVwZ- Beilage 10/1997, 77
(79) m. w. Nachw. I. Folter (Abs. 1) und Todesstrafe (Abs. 2) Den Ausführungen zu A. ist
zu entnehmen, daß für den Kläger in der Türkei nicht die konkrete Gefahr besteht, der
Folter unterworfen zu werden (§ 53 Abs. 1 AuslG). Ebensowenig besteht für ihn dort die
Gefahr der Todesstrafe (§ 53 Abs. 2 Satz 1 AuslG), die in einzelnen Tatbeständen des
TStGB zwar noch vorgesehen ist (zum Beispiel Art. 125, Separatismus), aber seit 1984
in der Türkei nicht mehr vollstreckt wird. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 18.
September 1998, S. 16. II. Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung (Abs. 4
i.V.m. Art. 3 EMRK) Der Kläger kann sich weiter nicht auf § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3
EMRK berufen. Diese Bestimmungen verbieten die Abschiebung nur dann, wenn im
Zielland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch den Staat oder eine
staatsähnliche Organisation landesweit droht. Unmenschliche Behandlung im Sinn des
Art. 3 EMRK ist nur ein vorsätzliches, auf eine bestimmte Person zielendes Handeln,
dessen Urheber außerdem ein Staat oder zumindest eine staatsähnliche Organisation
sein muß. Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 15.95 -, BVerwGE 99, 331
(333 ff.) = DVBl. 1996, 612 = NVwZ 1996, 476; Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 -,
BVerwGE 104, 265 (269); Urteil vom 27. April 1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973. Daß
die vorgenannten Voraussetzungen in der Person des Klägers nicht vorliegen, ist den
Ausführungen zum Asylanerkennungsbegehren ebenfalls zu entnehmen. III. Erhebliche
konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit (Abs. 6) Schließlich ist der Tatbestand des
§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht gegeben. Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib,
Leben oder Freiheit des Klägers besteht in der Türkei nicht. Im Unterschied zum
Asylrecht fragt zwar § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht danach, von wem die Gefahr
ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird. Doch ist der Begriff der Gefahr im Sinne
dieser Vorschrift kein anderer als der im allgemeinen asylrechtlichen Prognosemaßstab
der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" angelegte, wobei allerdings das Element der
"Konkretheit" der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer
einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation
statuiert. Zudem erfährt dieser Maßstab im Unterschied zum Asylrecht keine
Modifizierung, wenn der Ausländer bereits vor der Einreise ins Bundesgebiet Eingriffe in
Leib, Leben und Freiheit erlitten hat. Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C
15.95 -, BVerwGE 99, 331 (333 ff.) = DVBl. 1996, 612 = NVwZ 1996, 476; Urteil vom 17.
Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199 = DVBl. 1996, 203 = DÖV 1996, 250 =
InfAuslR 1996, 149; BVerwG, Urteil vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, DVBl. 1996,
1257; Urteil vom 18. April 1996, - 9 C 77.95 -, NVwZ-Beilage 8/1996, 58 (59). 1.
Wirtschaftliche Probleme Soweit im Fall des Klägers in Betracht zu ziehende Gefahren
im Rahmen des Asylanerkennungsbegehrens behandelt wurden, ist darauf zu
verweisen. Daß der Kläger im Fall seiner Rückkehr sonstigen Gefahren - insbesondere
in wirtschaftlicher Hinsicht - ausgesetzt ist, hat er nicht geltend gemacht und ist im
übrigen unter Berücksichtigung des Erkenntnismaterials, welches oben im
Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Voraussetzungen einer inländischen
Fluchtalternative ausgewertet wurde, nicht ersichtlich. Abgesehen davon rechtfertigen
wirtschaftliche Probleme im Zusammenhang mit der Rückkehr türkischer Asylbewerber
in ihr Heimatland in aller Regel nicht die Gewährung von Abschiebungsschutz nach §
53 Abs. 6 Satz 1 AuslG. Es ist davon auszugehen, daß der Betreffende an den
Heimatort oder einen anderen Ort in der Türkei zurückkehrt und dort den notwendigen
Lebensunterhalt, insbesondere Unterkunft, Ernährung und medizinische
Grundversorgung, finden wird. Nach aller Erfahrung wird er insbesondere in der
schwierigen Übergangszeit auf die Hilfe der Großfamilie, aber auch von Freunden,
Bekannten und Menschen aus seiner Heimatregion zählen können. Es ist diese
Solidarität innerhalb der Großfamilie, aber auch von Seiten sonstiger Bezugspersonen
im Sinne des in der Türkei geltenden weiten Verwandtenbegriffs, die es in den
allermeisten Fällen verhindern, daß die unzähligen - aus wirtschaftlichen oder
politischen Gründen - zur Migration innerhalb der Türkei gezwungenen Menschen
Schaden an Leib und Leben nehmen. Anhaltspunkte dafür, daß sich die Lage
zurückkehrender Asylbewerber anders darstellt als diejenige der sonstigen Migranten,
die jene an Zahl weit übertreffen, ergeben sich aus den oben auf den S. 58 ff. zitierten
Erkenntnissen nicht. Auch bei alleinstehenden Frauen und minderjährigen Kindern
kommt die Zuerkennung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1
AuslG allein aufgrund Fehlens einer Versorgungsperson in aller Regel nicht in Betracht.
Bei diesem Personenkreis ist davon auszugehen, daß sie in die Gemeinschaft
derjenigen zurückkehren, die bereits vor der Ausreise ihre Versorgung sichergestellt
haben. Nur unter den oben auf S. 73 im einzelnen dargelegten Umständen kann für
diesen Personenkreis, soweit es an einer politischen Vorbelastung fehlt,
ausnahmsweise die Annahme einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder
Freiheit im Sinn des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in Betracht kommen. Soweit aus
Ostanatolien stammende türkische Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit nach
ihrer Rückkehr mit wirtschaftlichen Problemen konfrontiert sind, wie sie für die
Bewohner der Region aufgrund der dort bestehenden Zustände typisch sind, handelt es
sich um sogenannte allgemeine Gefahren in Abschiebungszielstaaten, die von § 53
Abs. 6 Satz 2 AuslG erfaßt werden. Dieser Tatbestand ist aber nach § 41 Abs. 1 AsylVfG
dem Bundesamt nicht zur Prüfung anheimgegeben. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erfaßt
allgemeine Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG auch dann nicht, wenn sie
den einzelnen Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise treffen. Nur dann,
wenn dem einzelnen Ausländer kein Abschiebungsschutz nach § 53 Absätze 1, 2, 3, 4
und 6 Satz 1 AuslG zusteht, er aber gleichwohl nicht abgeschoben werden darf, weil die
Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen einer extremen
Gefahrenlage die Gewährung von Abschiebungsschutz unabhängig von einer
Ermessensentscheidung nach §§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG gebieten, ist § 53 Abs. 6
Satz 2 AuslG verfassungskonform einschränkend dahin auszulegen, daß eine
Entscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht ausgeschlossen ist. Vgl. BVerwG,
Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 15.95 -, BVerwGE 99, 331 (333 ff.) = DVBl. 1996, 612
= NVwZ 1996, 476; Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, 199 = DVBl.
1996, 203 = DÖV 1996, 250 = InfAuslR 1996, 149; BVerwG, Urteil vom 29. März 1996 -
9 C 116.95 -, DVBl. 1996, 1257; Urteil vom 18. April 1996, - 9 C 77.95 -, NVwZ-Beilage
8/1996, 58 (59); Urteil vom 4. Juni 1996, - 9 C 134.95 -, InfAuslR 1996, 289; Urteil vom
19. November 1996, - 1 C 6.95 -, AuAS 1997, 50. Eine derartige extreme Gefahrenlage,
die etwa für die Betreffenden mit dem sicheren Tod oder schwersten gesundheitlichen
Schäden verbunden wäre, stellt die wirtschaftliche Lage in der Türkei für in Ostanatolien
beheimatete Kurden nicht dar, wie sich den obigen Ausführungen auf den S. 58 ff. zu
den wirtschaftlichen Verhältnissen in der Türkei und dem dabei verwerteten
Erkenntnismaterial unschwer entnehmen läßt. 2. Medizinische Versorgung
Ebensowenig kann im allgemeinen eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinn des § 53
Abs. 6 Satz 1 AuslG unter Bezugnahme auf eine bei Rückkehr notwendig werdende
medizinische Behandlung des Betreffenden angenommen werden. Wegen des
Vorrangs einer politischen Leitentscheidung des Bundesinnenministeriums nach § 54
AuslG kann ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG von vornherein
nur dann gegeben sein, wenn die konkrete Gefahr der Verschlimmerung einer Krankheit
wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung in der Türkei nicht zugleich
auch einer großen Gruppe anderer dort lebender Personen droht. Vgl. BVerwG, Urteil
vom 27. April 1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973. Kommt danach ein
Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG von vornherein nur bei
singulären Gesundheitsgefahren in Betracht, so erfordert dies eine auf den Einzelfall
bezogene Sachverhaltsaufklärung, die über die zur medizinischen Versorgung in der
Türkei allgemein vorliegenden Erkenntnisse hinausgeht. Vgl. dazu Auswärtiges Amt,
Auskunft vom 2. April 1997 an VG Berlin, S. 8 f.; Lagebericht vom 18. September 1998,
S. 21 f.; Göktürk, Gutachten von Oktober 1997; Kaya, Gutachten vom 14. Februar 1998
an VG Hamburg, S. 3 ff. Das gilt im Hinblick auf die Türkei insbesondere auch für
Immunschwäche AIDS, die das BVerwG in seinem vorzitierten Urteil für die
afrikanischen Länder als weit verbeitete Krankheit bezeichnet hat, die aber in der Türkei
offiziellen Angaben zufolge nur in wenigen Fällen registriert worden ist. Göktürk,
Gutachten von Oktober 1997, S. 15. D. Abschiebungsandrohung Die
Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung in Nr. 4 des Bescheides vom 3.
November 1993 finden ihre Rechtsgrundlagen in den §§ 34, 36 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. §
50 AuslG. Die darin auf eine Woche nach Bekanntgabe festgesetzte Ausreisefrist endet
gemäß § 37 Abs. 2 AsylVfG einen Monat nach Unanfechtbarkeit, weil das
Verwaltungsgericht durch Beschluß vom 22. Februar 1994 - 14 L 306/94.A - die
aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat. Die Kostenentscheidung folgt aus §
154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Der Ausspruch über ihre vorläufige
Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Revision ist
nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht gegeben
sind.