Urteil des OVG Niedersachsen vom 22.02.2013

OVG Lüneburg: hund, verdacht, öffentliche sicherheit, gutachter, grundstück, angriff, niedersachsen, fahrrad, kontrolle, übereinstimmung

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Zur Ausnahme "eindeutig artgerechten Verhaltens" bei
der Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes
VG Osnabrück 6. Kammer, Urteil vom 22.02.2013, 6 A 136/11
§ 7 Abs 1 S 2 HundG ND
Tatbestand
Die Klägerin wehrt sich gegen einen die Gefährlichkeit ihres Hundes Otto, eines
Labrador-Mischlings, feststellenden Bescheid des Beklagten vom 16.5.2011.
Dieser Bescheid geht - ausweislich der Verwaltungsvorgänge gemäß
Polizeibericht vom 3.5.2011 aufgrund der Angaben am Vorfall beteiligter
Anzeigeerstatter - davon aus, dass die Klägerin am 30.4.2011 mit dem Fahrrad
ihren Hund „Otto“ an der Leine mit sich führend am Grundstück des die Anzeige
erstattenden Ehepaars vorbeifuhr. Die beiden Hunde „Leila“ und „Gismo“ der
Anzeigeerstatter, die frei auf deren nicht eingezäunten Grundstück herumliefen,
reagierten danach auf ein Bellen des Hundes der Klägerin und liefen auf diesen
zu. Die Anzeigeerstatter erklärten, sie hätten ihre Hunde zurückgerufen, die
jedoch ihren Weg fortsetzten. Die Klägerin habe angefangen, „hysterisch“ zu
schreien. Ein Hund - „Gismo“ - der Anzeigeerstatter, ein Chihuahua-Mischling
von 15 - 20 cm Größe, sei auf den Hund der Klägerin zugelaufen und von
diesem sofort mehrfach gebissen und schwer verletzt worden. Der
Anzeigeerstatter sei dazwischen gegangen und habe den Hund der Klägerin,
der ihn ebenfalls habe beißen wollen, mit einem Schlag abgewehrt und seinen
Hund aufgenommen. Der verletzte Hund „Gismo“ habe in der Tierklinik
eingeschläfert werden müssen. Die Anzeigeerstatter gaben zudem an, dass der
Hund „Otto“ der Klägerin nach Angaben eines von ihnen benannten Nachbarn
schon mal einen Hund tot gebissen haben solle.
Die Klägerin hat gegen diesen Bescheid am 17.6.2011 Klage erhoben und am
15.8.2011 die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beantragt- 6 B 66/11 -.
Letzteren Antrag hat die Kammer durch Beschluss vom 14.9.2011 abgelehnt;
hierauf wird Bezug genommen. Mit Verfügung vom 28.11.2012 wurden die
Beteiligten auf aus der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts
abzuleitende rechtliche Gesichtspunkte hingewiesen und erhielten Gelegenheit
zur Stellungnahme.
Die Klägerin macht geltend, ihr Hund sei - als sie das Grundstück der
Anzeigeerstatter bereits passiert gehabt habe - von den beiden
heranstürmenden Hunden der Anzeigeerstatter attackiert worden, wobei ihr
Hund eine Bissverletzung am rechten Hinterlauf erlitten habe, der tierärztlich
behandelt worden sei. Sie habe versucht, ihren Hund zu schützen, doch habe
sich das Fahrrad zwischen ihr und dem Hund befunden. Da die beiden Hunde
nicht von ihrem Hund abgelassen hätten, habe ihr Hund einen der
Angreiferhunde gebissen, um sich der Angreifer zu erwehren. Erst als der
Anzeigeerstatter erschienen sei, hätten die beiden Hunde von ihrem Hund
abgelassen. Eine Attacke ihres Hundes gegen den Anzeigeerstatter habe es zu
keinem Zeitpunkt gegeben. - Die Hunde der Anzeigeerstatter seien in der
Nachbarschaft für ihr aggressives Verhalten bekannt. So hätten die Hunde auch
den Hund einer von ihr benannten Hundehalterin angegriffen, als diese in der
Straße vorbeigekommen sei. Dieser Hundehalterin seien weitere Hundehalter
bekannt, die Vergleichbares erfahren hätten. - Ihr Hund sei angeleint gewesen
und habe keine über das natürliche Maß hinausgehende Angriffsbereitschaft
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gezeigt. Er habe sich erst gewehrt, als er von den beiden nicht angeleinten,
angreifenden Hunden gebissen worden sei. Sein Verhalten sei artgerecht und
der Situation entsprechend gewesen. Wäre er nicht angeleint gewesen, hätte ihr
Hund die Flucht ergriffen. Ihr Hund sei gut sozialisiert und zeige gegenüber
Menschen und Tieren kein aggressives Verhalten. Auf die von ihr mit Schriftsatz
vom 19.9.2011 beigebrachte tierärztliche Bescheinigung sowie das Gutachten
zum Wesenstest des Instituts für Tierschutz und Verhalten der Tierärztlichen
Hochschule Hannover vom 6.6.2012 nebst ergänzender Stellungnahme vom
17.7.2012 nimmt sie insoweit Bezug. - In der Gemeinde bestehe ein
Leinenzwang. Ihr könne nicht vorgeworfen werden, ihren Hund angeleint geführt
zu haben. Vielmehr hätten die Anzeigeerstatter durch Beachtung des
Leinenzwangs den Vorfall verhindern können. - Sie sei zu keiner Zeit vom
Beklagten angehört worden und habe keine Gelegenheit zur Stellungnahme
erhalten. - Zum richterlichen Hinweis vom 28.11.2012 macht sie geltend, die
maßgebliche Entscheidung des Nds. Oberverwaltungsgerichts sei im Verfahren
des vorläufigen Rechtsschutzes ergangen, in dem der Sachverhalt nur
summarisch geprüft werde. Die endgültige Sachverhaltsaufklärung sei einem
anschließenden Hauptsacheverfahren vorbehalten. Auch stehe bei einem
bloßen Verdacht der Gefährlichkeit nicht unwiderlegbar fest, dass der Hund
auch tatsächlich gefährlich sei. Es bestehe lediglich der erste Anschein einer
Gefährlichkeit, der durch geeignete Nachweise widerlegt werden könne. Dies
habe sie vorliegend durch das Gutachten vom 6.6.2012 getan, in dem
unmissverständlich festgestellt werde, dass ihr Hund nicht gefährlich im Sinn
des § 7 NHundG sei. - Außerdem habe es sich um ein eindeutig artgerechtes
Abwehrverhalten im Sinn dieser Rechtsprechung gehandelt. Unstreitig sei der
Hund Gismo auf den angeleinten Hund der Klägerin losgelaufen und habe ihn in
das rechte Hinterbein gebissen. Das aggressive Verhalten sei vom Hund Gismo
ausgegangen. Im Gutachten werde unmissverständlich dargelegt, dass in einer
Situation, in der der eine Hund angeleint ist und der andere sich frei bewegt, das
aggressive Verhalten von dem freilaufenden Hund ausgeht, da er sich sonst
dem angeleinten Hund gar nicht so nah annähern würde. Auch führe der
Gutachter aus, dass der angeleinte Hund keinerlei Möglichkeit habe, dem Angriff
des freilaufenden Hundes auszuweichen, da ihm aufgrund der Leine eine
Fluchtmöglichkeit nicht gegeben sei. Die einzige mögliche Reaktion des
angeleinten Hundes sei somit der eigene Angriff. Durch diesen Angriff zeige der
angeleinte Hund jedoch nicht eine über das natürliche Maß hinausgehende
Kampfbereitschaft, Angriffslust und Schärfe. Es handele sich vielmehr um ein
eindeutig artgerechtes Abwehrverhalten. Damit sei eine Ausnahme von der
Annahme der Gefährlichkeit substantiiert begründet. Auch könne nicht
nachvollzogen werden, dass einem Hundebesitzer bei der Einstufung seines
Hundes als gefährlich keine Möglichkeit gegeben sein solle, die Annahme der
Behörde zu widerlegen. Dies gäbe der Behörde die Möglichkeit einer nicht
nachprüfbaren, willkürlichen Einstufung eines Hundes. Dass der Beklagte
vorliegend willkürlich gehandelt habe, verdeutliche die Tatsache, dass gegen
den attackierenden zweiten Hund, der unangeleint das Grundstück verlassen
habe, keine Ordnungsmaßnahmen ergriffen wurden.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 16.5.2011 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält an dem angefochtenen Bescheid fest. Von einer vorherigen Anhörung
der Klägerin habe er abgesehen, da aufgrund der Gefährlichkeit des Hundes
eine sofortige Entscheidung in der Sache geboten gewesen sei. - Nach
Aussage der Anzeigeerstatter bei der Polizei habe der Hund der Antragstellerin
die Hunde der Anzeigeerstatter durch sein Bellen angelockt. Nachdem die
Hunde aufeinander getroffen seien, habe der Hund „Otto“ unmittelbar den Hund
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„Gismo“ angegriffen und schwer verletzt. Darüber hinaus habe er den
Anzeigeerstatter angegriffen. Damit weise der Hund „Otto“ eine gesteigerte
Aggressivität auf. - Zwischenzeitlich habe das Nds. Oberverwaltungsgericht mit
Beschluss vom 15.1.2013 - 11 PA 294/12 - entschieden, dass die Feststellung
der Gefährlichkeit eines Hundes nicht nachträglich dadurch in Frage gestellt
werden könne, dass sich bei einem später durchgeführten Wesenstest keine
tatsächlichen Hinweise auf eine gesteigerte Aggressivität des Hundes ergäben.
- Das beigebrachte Gutachten spreche für einen gewissen Sozialisierungsgrad
des Hundes, sage aber nichts über sein Verhalten gegenüber Artgenossen aus.
Auffällig sei, dass hinsichtlich „der Beurteilung der Situationen 27 - 31
erstaunlicherweise keine Skalierungstabelle nach Netto, W.J. u. Planta, D.J.U.
(1997) erfolgt ist, sondern der Hund nur allgemein beurteilt wurde“. Bei
Anwendung der Skalierungstabelle wäre das Gefährdungspotential sicherlich
deutlicher geworden, spreche doch die Gutachterin in ihrer Beurteilung von
Drohfixieren und starken Ziehens in Richtung Testhund.
Die Beteiligten wurden zur Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter
angehört. Die Kammer hat den Rechtsstreit auf den Berichterstatter als
Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen
des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist
rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Maßgebliche Rechtsgrundlage für die mit dem angefochtenen Bescheid
getroffene Regelung ist § 7 Abs. 1 NHundG.
Erhält die Behörde einen Hinweis auf eine gesteigerte Aggressivität oder eine
über das natürliche Maß hinausgehende Angriffslust eines Hundes, hat sie dem
von Amts wegen nachzugehen. Solche Hinweise hat der Beklagte vorliegend
ausweislich seiner Verwaltungsvorgänge aufgrund der polizeilichen
Ermittlungsvorgänge hinsichtlich des Vorfalls vom 30.4.2011 erhalten. Ergeben
sich daraus Tatsachen, die den Verdacht rechtfertigen, dass von dem Hund
eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, stellt die Behörde die
Gefährlichkeit des Hundes fest. Weitere Ermittlungen, die über die
Entgegennahme der zu polizeilichem Protokoll erklärten Anzeige hinausgingen,
hat der Beklagte indes nicht angestellt, sondern seine Entscheidung unmittelbar
auf die Angaben des anzeigeerstattenden Geschädigten gestützt. Dies findet -
insoweit folgt das Gericht dem Beklagten - insoweit eine Stütze, weil die
Voraussetzungen der Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes nach § 7
Abs. 1 Satz 1 und 2 NHundG (vormals § 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 NHundG) durch
die Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts
(Nds. OVG, B. v. 31.8.2012 - 11 ME 221/12 - ; B. v. 18.1.2012 - 11 ME
423/11 - , http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de, m. w. Nachw. aus
der Senatsrechtsprechung)
geklärt sind, dass schon bei einem bloßen Verdacht der Gefährlichkeit der
betreffende Hund wie ein tatsächlich gefährlicher Hund zu behandeln ist (Nds.
OVG, B. v. 12.5.2005 - 11 ME 92/05 -). Wie für die Einleitung der
Gefährlichkeitsprüfung reicht es nämlich auch für die Feststellung der
Gefährlichkeit eines Hundes aus, dass der betroffene Hund ein anderes (Haus-
)Tier, insbesondere einen anderen Hund, nicht nur ganz geringfügig verletzt hat.
Hierfür genügt grundsätzlich jede Beeinträchtigung der körperlichen
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Unversehrtheit des anderen Tieres, insbesondere anderen Hundes, unabhängig
von der Schwere; außer Betracht bleiben nur ganz geringfügige Verletzungen
wie etwa einzelne ausgerissene Haare oder sehr kleine oberflächliche Kratzer
(Nds. OVG, B. v. 3.9.2008 - 11 LA 3/08 -; B. v. 13.12.2006 - 11 ME 350/06 -; m.
w. Nachw.).
Aus Entstehungsgeschichte, Systematik und Sinn und Zweck des NHundG folgt
danach, dass unter diesen Voraussetzungen nicht die Annahme der
Gefährlichkeit, sondern Ausnahmen von diesem Grundsatz besonderer
Begründung bedürfen. Solche Ausnahmen kommen bei einem erlaubten Beißen
im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs etwa eines Dienst-, Wach-
oder Jagdhundes oder bei der Verletzung eines anderen (Haus-) Tieres durch
ein eindeutig artgerechtes Abwehrverhalten oder ggf. auch beim Beißen oder
Töten von Mäusen oder Insekten in Betracht (Nds. OVG, B. v. 18.1.2012 - 11
ME 423/11 - , a.a.O., m. w. Nachw.). Danach spricht z.B. gegen die Annahme
eines als „eindeutig artgerecht“ wertbaren Hundeverhaltens bereits der
Umstand, dass ein Hund ein Privatgrundstück verlassen hat und auf einen
anderen, im angrenzenden öffentlichen Verkehrsraum befindlichen Hund
zugelaufen ist, bevor es zur Auseinandersetzung zwischen den Hunden kam
(Nds. OVG, B. v. 18.1.2012 - 11 ME 423/11 - , a.a.O., m. w. Nachw.).
Bedenken gegen eine ggf. „überschießende“ Kontrolle eines als gefährlich
eingestuften Hundes ist nicht bereits im Rahmen der vorstehenden, auf der
Tatbestandsseite angesiedelten Anforderungen an die Voraussetzungen für die
Feststellung der Gefährlichkeit Rechnung zu tragen, sondern auf der
Rechtsfolgenseite, d.h. bei den in § 14 NHundG geregelten Einschränkungen für
das Führen eines gefährlichen Hundes (Nds. OVG, B. v. 18.1.2012 - 11 ME
423/11 - , a.a.O., m. w. Nachw.). So hat der Gesetzgeber die Möglichkeit
geschaffen, vom Leinenzwang ganz oder teilweise abzusehen, insbesondere
wenn der Wesenstest keinerlei Hinweise auf eine tatsächliche Gefährlichkeit
eines Hundes ergibt. Anlass für eine weitergehende Regelung, etwa zur
Einführung eines gesonderten Verfahrens zur Aufhebung der Gefährlichkeit
oder zu einzelfallbezogenen zusätzlichen Einschränkungen hat der
Gesetzgeber hingegen nicht gesehen (Nds. OVG, B. v. 18.1.2012 - 11 ME
423/11 -, a.a.O.; B. v. 25.1.2013 - 11 PA 294/12 -,
http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de). Ein bestehender Verdacht der
Gefährlichkeit eines Hundes kann danach weder durch eine nachträgliche
positive Entwicklung des Hundes infolge eines Trainings noch durch einen
nachträglich eingeholten Wesenstest in Zweifel gezogen werden (Nds. OVG, B.
v. 25.1.2013 - 11 PA 294/12 -, a.a.O.)
Insoweit ist zugleich die Amtsermittlungspflicht der Behörde von Rechts wegen
begrenzt (Nds. OVG, B. v. 18.1.2012 - 11 ME 423/11 - , a.a.O. unter Hinweis auf
den Schriftlichen Bericht zum NHundG a.F., LT-Drucks. 14/4006, S. 4 a.E.).
Danach bestimmt sich auch die Reichweite der verwaltungsgerichtlichen
Kontrolle der behördlichen Feststellung der Gefährlichkeit des Hundes, weshalb
eine Beweisaufnahme auch bei widerstreitenden Zeugenaussagen nicht
geboten erscheint, wenn die Tatsache der Verletzung eines anderen Tieres als
solche feststeht (Nds. OVG, B. v. 31.8.2012 - 11 ME 221/12 -; B. v. 27.7.2010 -
11 PA 265/10 -; B. v. 12.5.2005 - 11 ME 92/05 -). Keine Bedeutung kommt dabei
im Rahmen der Prüfung der Gefährlichkeit des betroffenen Hundes
grundsätzlich dem Verhalten des anderen Tieres / Hundes und etwaigen
Verletzungen des betroffenen Hundes selbst zu; gleiches gilt für die Frage nach
einer „Gefährlichkeit“ des anderen Tieres / Hundes (Nds. OVG, B. v. 27.7.2010 -
11 PA 265/10 -).
In Anwendung dieser Rechtsgrundsätze hat der Beklagte den Hund „Otto“ der
Klägerin zu Unrecht als gefährlichen Hund im Sinn des NHundG eingestuft.
Zwar hat Otto den zu ihm hingelaufenen Hund „Gismo“ gebissen, so dass der
regelmäßig den Verdacht einer Gefährlichkeit des Hundes begründende
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Verletzungserfolg eingetreten ist. Doch handelt es sich vorliegend um den in der
vorstehend wiedergegebenen Rechtsprechung des Nds.
Oberverwaltungsgericht erarbeiteten „Ausnahmefall“ eines eindeutig
artgerechten Verteidigungsverhaltens, weshalb der durch den Verletzungserfolg
begründete Verdacht einer Gefährlichkeit Ottos aufgrund der besonderen
Umstände des Einzelfalls nach menschlichem Ermessen eindeutig widerlegt ist.
Aufgrund der insoweit mit der Schilderung der Klägerin übereinstimmenden
polizeilich aufgenommenen Angaben der Anzeigeerstatter haben deren Hunde
die Rufe der Anzeigeerstatter ignoriert und sind ihrerseits auf den Hund Otto
zugelaufen. Otto hingegen war aufgrund der zweifachen Anleinung in seiner
Bewegungsfreiheit maßgeblich eingeschränkt und vermochte den
heranstürmenden Hunden nicht auszuweichen. Seine von der Klägerin in der
mündlichen Verhandlung plastisch geschilderte kurze Anbindung an die am
Fahrrad befindliche Führungsstange hinderte Otto entsprechend ihrer
Zweckbestimmung auch daran, auf die andere Seite des Fahrrades zur Klägerin
zu wechseln, um bei dieser Schutz zu suchen bzw. den beiden Hunden
auszuweichen. Auch vermochte die Klägerin ihren Hund Otto aufgrund dieser
zweckbestimmten Wirkung der kurzen Anbindung an die Führungsstange nicht
mit der zweiten, ihrer Handleine auf ihre, die von den heranstürmenden Hunden
abgewandte Seite des Fahrrades zu ziehen, wie der Beklagte in der mündlichen
Verhandlung fragend in den Raum gestellt hat. Demgemäß befand sich Otto
insoweit in einer räumlich beengten Zwangslage, die aufgrund der
Anbindevorrichtung auch eine starke Beeinträchtigung seiner Kopffreiheit
bedeutete. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage des Gutachters des
Wesenstests in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 17.7.2012 zu
verstehen, dass „in dieser Situation mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit davon auszugehen“ ist, „das das aggressive Verhalten von
dem freilaufenden Hund ausging“. Der Gutachter bewertet das Verhalten des
Hundes Gismo als nicht artgerecht, indem er insoweit ausführt, dass dieser sich
„sonst dem Hund Otto gar nicht so genähert hätte, dass dieser ihn hätte beißen
können“. Mit Blick auf die räumlich beengte Zwangslage des Otto hebt der
Gutachter ausdrücklich darauf ab, dass der Hund Otto, dadurch „dass er an der
Leine geführt wurde“, „keinerlei Möglichkeit“ hatte, „diesem Angriff des
freilaufenden Hundes ausweichen zu können, da ihm durch die Leine eine
Fluchtmöglichkeit nicht gegeben war“. Das von Otto in dieser
Verteidigungssituation gezeigte (Gegen-) Angriffsverhalten würdigt der
Gutachter als „die einzig mögliche Reaktion“ und demgemäß als eindeutig
artgerechtes Verhalten des Otto. Diese Würdigung überzeugt das Gericht und
es macht sich die Auffassung des Gutachters zu eigen, dass der Hund Otto
keine über das natürliche Maß hinausgehende Kampfbereitschaft, Angriffslust
oder Schärfe gezeigt hat. Demzufolge befand sich der Hund Otto aufgrund des
nicht artgerechten und aggressiven Verhaltens des heranlaufenden Hundes in
einer tatsächlichen - und nicht nur in einer von ihm in nicht artgerechter
Verkennung der Umstände irrig (putativ) angenommenen -
Verteidigungssituation. So ist in Übereinstimmung mit der Wertung des
Gutachters ergänzend festzustellen, dass bereits der Umstand, dass die beiden
auf Otto zustürmenden Hunde der Anzeigeerstatter als sie Otto bemerkten,
deren Grundstück verließen und auf den im angrenzenden öffentlichen
Verkehrsraum befindlichen Hund Otto zugelaufen sind, bevor es zur
Auseinandersetzung zwischen den Hunden kam, ein nicht artgerechtes
Verhalten beider Hunde belegt (Nds. OVG, B. v. 18.1.2012 - 11 ME 423/11 - ,
a.a.O., m. w. Nachw.). Auch hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung
glaubhaft und nachvollziehbar geschildert, dass der Hund Gismo von hinten an
Otto herangelaufen sei und diesen in den Hinterlauf gebissen habe. Dann sei er
„unter“ Otto durchgelaufen und habe Otto in die Lefzen gebissen, was
unmittelbar zu Ottos Gegenwehr geführt habe. Dies verdeutlicht weitergehend,
dass sich Otto insofern in einer über die Annahmen des Gutachters
hinausgehenden zugespitzten Verteidigungssituation befunden hat, als er von
dem angreifenden Gismo selbst verletzt und attackiert wurde, weshalb es - in
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Übereinstimmung mit dem Gutachter - erst recht eindeutig artgerecht erscheint,
dass sich Otto durch einen Biss gewehrt hat. Jedenfalls vermöchte das
erkennende Gericht dem Hund Otto keine alternative, gleichermaßen geeignete
Reaktionsmöglichkeit als den Gebrauch seiner Zähne zu benennen, so dass die
Gegenreaktion Ottos in einem rechtlichen Sinn erforderlich erscheint. Dass die
von Otto verursachte Körperverletzung letztlich für Gismo mit Todesfolge
endete, mag tragisch sein, trägt jedoch auch bei Berücksichtigung der
unterschiedlichen Größenverhältnisse beider Tiere nicht die Annahme einer
übersteigerten und nicht artgerechten Gegenreaktion Ottos im Sinne eines
exzessiven Abwehrverhaltens, wofür - wie das Gericht - auch der Gutachter
keinen Anhalt gesehen hat, wie seine Stellungnahme unzweideutig zu
verstehen ist.
Der Wesenstest selbst ist - insoweit verweist der Beklagte zutreffend auf den
Beschluss des Nds. OVG, B. v. 25.1.2013 - 11 PA 294/12 -, a.a.O. - zwar nicht
geeignet, einen bestehenden Verdacht der Gefährlichkeit eines Hundes
durchgreifend in Zweifel zu ziehen, doch kommt es darauf im vorliegenden Fall
auch nicht an. Vielmehr sind die konkreten Umstände des ermittelten
Lebenssachverhalts an dem in der Rechtsprechung des Nds.
Oberverwaltungsgerichts entwickelten Maßstab zu messen und zu würdigen.
Insoweit hat sich der Beklagte in der mündlichen Verhandlung darauf
zurückgezogen, dass der Verdacht für die Feststellung der Gefährlichkeit
genüge, ohne dies indes in Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen
des ermittelten Lebenssachverhalts näher zu begründen. Vielmehr hat das
Gericht in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass dem
Beklagten an einem Festhalten an einer einmal getroffenen Entscheidung
gelegen ist, wenngleich diese Entscheidung allein auf der polizeilich
aufgenommenen und insoweit mittelbaren Schilderung eines persönlich
involvierten und betroffenen Hundehalters beruht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO
i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe für eine Zulassung der Berufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 4 i.V.m. § 124a
Abs. 1 Satz 1 VwGO) liegen nicht vor.