Urteil des OVG Niedersachsen vom 02.03.2011

OVG Lüneburg: lebensgemeinschaft, aufenthaltserlaubnis, abschiebung, trennung, duldung, ausreise, niedersachsen, datenschutz, genehmigung, vervielfältigung

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Anspruch auf Erteilung einer Duldung für den
getrennt lebenden Vater bei familiärer
Lebensgemeinschaft seines 15 Monate alten Sohnes
mit der Mutter in Deutschland
OVG Lüneburg 11. Senat, Beschluss vom 02.03.2011, 11 ME 551/10
Art 6 Abs 1 GG, § 60a Abs 2 S 1 AufenthG
Tenor
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe
bewilligt und Rechtsanwalt ... zur Vertretung in diesem Verfahren
beigeordnet.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird Ziffer 1 des Beschlusses des
Verwaltungsgerichts Lüneburg - 2. Kammer vom 2. Dezember 2010
geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, die Abschiebung des Antragstellers bis zur rechtskräftigen
Entscheidung über seine Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
(2 A 212/10) auszusetzen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- EUR
festgesetzt.
Gründe
Dem Antragsteller ist nach §§ 166 VwGO, 114 Satz 1 ZPO für das
Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil er die
entsprechenden wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt und seine
Beschwerde aus den nachfolgenden Gründen hinreichende Aussicht auf
Erfolg hat.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung seines Antrags auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in Ziffer 1 des angefochtenen
Beschlusses des Verwaltungsgerichts ist zulässig und begründet.
Aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen, auf deren Prüfung der
Senat beschränkt ist, ergibt sich, dass der Antragsteller sowohl einen
Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch nach § 123 Abs. 1
VwGO glaubhaft gemacht hat.
Dem Antragsteller steht voraussichtlich ein Anspruch auf Erteilung einer
Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu. Danach ist die Abschiebung
eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen
oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt
wird.
Zwar hat das Verwaltungsgericht zu Recht entschieden, dass der Antragsteller
eine Reiseunfähigkeit nicht glaubhaft gemacht hat. Zur Vermeidung von
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Wiederholungen verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen im
angefochtenen Beschluss, denen der Antragsteller im Beschwerdeverfahren
nicht überzeugend entgegen getreten ist.
Eine Abschiebung des Antragstellers dürfte hier aber im Hinblick auf die unter
den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG fallenden familiären Beziehungen zu seinem
im Dezember 2009 geborenen, im Bundesgebiet lebenden Sohn rechtlich
unmöglich sein. Dieser ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 33
AufenthG und lebt bei seiner Mutter, der seit September 2010 getrennt
lebenden türkischen Ehefrau des Antragstellers, die als Flüchtling anerkannt
ist und über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG verfügt.
Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und
Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres
Zusammenleben (BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. -,
BVerfGE 76, 1, 42). Er knüpft dabei nicht an bloße formal-rechtliche familiäre
Bindungen an. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit
zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre
Lebensgemeinschaft. Bei der Frage, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft
tatsächlich gelebt wird, verbietet sich eine schematische Einordnung als
entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und
Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße
Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen.
Maßgeblich ist vielmehr einerseits, ob die Eltern im Rahmen des individuell
Möglichen die ihnen zugemessene Elternverantwortung wahrnehmen und eine
Eltern-Kind-Gemeinschaft tatsächlich gelebt wird und andererseits welche
Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-
Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (vgl. zum Vorstehenden: BVerfG,
Beschl. v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387; BVerfG, Beschl. v.
8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, DVBl. 2006, 247).
Der Antragsteller hat mit seiner Beschwerde glaubhaft gemacht, dass
zwischen ihm und seinem Sohn - jedenfalls inzwischen wieder - eine solche
tatsächliche Vater-Kind-Beziehung besteht. Dass der Antragsteller und seine
Ehefrau sich im September 2010 getrennt haben und er seitdem auch nicht
mehr mit dem gemeinsamen Sohn zusammenlebt, steht dem nicht entgegen.
Bei Umgangskontakten unterscheidet sich die Eltern-Kind-Beziehung
typischerweise deutlich von dem Verhältnis des Kindes zur täglichen
Betreuungsperson. Anders als noch im Zeitpunkt der erstinstanzlichen
Entscheidung kann derzeit nicht (mehr) davon ausgegangen werden, dass die
Trennung zu einem dauerhaften Abbruch des Umgangs mit seinem Sohn
geführt hat. Zwar war dem Antragsteller auf Antrag seiner Ehefrau mit
Beschluss des Amtsgerichts Dannenberg vom 8. Oktober 2010 das
Aufenthaltsbestimmungsrecht für den Sohn entzogen und auf die Mutter
übertragen worden. Dieser Beschluss ist allerdings auf seinen Antrag hin mit
Beschluss vom 10. Dezember 2010 wieder aufgehoben worden. Der
Antragsteller hat glaubhaft vorgetragen, dass er seitdem wieder regelmäßig mit
seinem Sohn Kontakt hat. Dass seine Ehefrau mit dem Sohn im Dezember
2010 nach A. umgezogen ist, steht dem nicht entgegen. Denn der Umgang
soll bisher überwiegend bei den wie der Antragsteller in B. lebenden
Schwiegereltern des Antragstellers stattgefunden haben, bei denen sich die
Ehefrau und der Sohn nach wie vor häufig aufhalten sollen. Dies hat die
Schwiegermutter schriftlich bestätigt und angegeben, dass der Antragsteller
seinen Sohn mindestens zweimal in der Woche bei ihnen besuche und auch
mit ihm spazieren gehe. Der Antragsteller hat zudem einen weiteren
Rechtsanwalt eingeschaltet, der mit dem Jugendamt des Antragsgegners
Kontakt aufgenommen hat, um unter dessen Mitwirkung eine einvernehmliche
feste Umgangsregelung mit Umgangsterminen in B. oder A. zu erreichen.
Nach Mitteilung seines Prozessbevollmächtigten hat die Ehefrau diesem
gegenüber am 14. Februar 2011 telefonisch erklärt, dass sie die Übertragung
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des gemeinsamen Sorgerechts auf sie anstrebe, ihr aber ebenfalls an einem
Kontakt des Antragstellers mit ihrem gemeinsamen Sohn gelegen sei und sie
daher bereit sei, an einer entsprechenden Umgangsregelung mitzuwirken.
Dass der Antragsteller kein echtes persönliches Interesse am Umgang mit
seinem Sohn hat und die Nähe zu ihm lediglich wegen der drohenden
Aufenthaltsbeendigung sucht, kann vor diesem Hintergrund nicht ohne
Weiteres angenommen werden. Dagegen sprechen auch die vorgelegten
Fotos des Antragstellers, die dieser nach Angaben seines
Prozessbevollmächtigten ausweislich der Dateien zwischen Januar 2010 und
Februar 2011 mit seinem Handy aufgenommen hat und die seinen Sohn bzw.
ihn mit seinem Sohn zeigen.
Dem Antragsteller und seinem im Bundesgebiet lebenden Sohn ist es auch
nicht zuzumuten, ihre tatsächlichen familiären Bindungen durch die Ausreise
oder die Abschiebung des Antragstellers kurzfristig zu unterbrechen. Denn der
derzeit noch nicht einmal fünfzehn Monate alte Sohn des Antragstellers wird
einen nur vorübergehenden Charakter der räumlichen Trennung nicht
begreifen, sondern diese rasch als endgültigen Verlust erfahren. Hiermit
verbundene nachteilige Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
lassen eine auch nur kurzfristige Trennung von seinem Vater unzumutbar
erscheinen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 -, a.a.O.).
Der damit eröffnete Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG begründet aber grundsätzlich
keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, sondern verpflichtet die
Ausländerbehörde nur, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die
bestehenden familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im
Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht
dieser Bindungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.5.2007 - 2
BvR 2483/06 -, InfAuslR 2007, 336; BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR
1226/83 u.a., - BVerfGE 76, 1). Für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in
den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist die Frage, ob es dem anderen
Familienangehörigen, hier dem Sohn des Antragstellers, zumutbar ist, diesen
in sein Herkunftsland zu begleiten, von erheblicher Bedeutung. Denn wenn die
familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt
werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der
Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie
zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl.
BVerfG, Beschl. v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 -, BVerfGE 80, 81). Eine
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen fern, wenn die
Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt
werden kann. Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die
familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in
einem anderen Land zumutbar möglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.4.2009 -
BVerwG 1 C 3.08 -, NVwZ 2009, 1239).
In Anwendung dieser Grundsätze ist es dem Sohn des Antragstellers nicht
zuzumuten, seinen Vater in sein Heimatland zu begleiten. Denn er lebt in
Deutschland in familiärer Lebensgemeinschaft mit seiner Mutter und kann die
gleichermaßen von Art. 6 GG geschützte Lebensgemeinschaft mit seiner
Mutter auch nur in Deutschland fortführen, da diese als Flüchtling anerkannt
und ihr deshalb eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt
worden ist.
Nach alledem spricht derzeit Überwiegendes für das Bestehen eines
Anordnungsanspruchs. Sollte der Antragsgegner in der Zukunft über
Erkenntnisse verfügen, die eine andere Einschätzung rechtfertigen, steht es
ihm frei, entweder im Hauptsacheverfahren, in dem der Antragsteller die
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrt, entsprechend vorzutragen
und/oder in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO ein
Abänderungsverfahren anzustrengen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 3, 52 Abs. 2 GKG
(halber Auffangwert).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66
Abs. 3 Satz 3 GKG).