Urteil des OVG Niedersachsen vom 10.02.2014
OVG Lüneburg: rücknahme, ddr, vorschlag, zusammenarbeit, ausreise, sabotage, mitarbeit, freiwilligkeit, gefahr, haftentlassung
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Rücknahme einer Häftlingsbescheinigung nach § 10
Abs. 4 HHG; Vorliegen des Ausschließungsgrunds
gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 HHG
OVG Lüneburg 4. Senat, Beschluss vom 10.02.2014, 4 LA 217/12
§ 10 Abs 4 HHG, § 2 Abs 1 Nr 2 HHG
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Göttingen - 2. Kammer - vom 5. Juli 2012 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten des
Berufungszulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts, mit dem dieses die Klage der Klägerin gegen die
Rücknahme der ihr erteilten Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 HHG durch den
Bescheid der Beklagten vom 6. Januar 2012 abgewiesen hat, hat keinen
Erfolg.
Die von der Klägerin geltend gemachten Berufungszulassungsgründe des §
124 Abs. 2 Nr. 1, 3 und 4 VwGO liegen nicht vor bzw. sind nicht hinreichend
dargelegt worden.
Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils
des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr.
1 VwGO sind dargelegt, wenn aufgrund der Begründung des
Zulassungsantrags gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung des
Verwaltungsgerichts sprechende Gründe zutage treten. Das ist der Fall, wenn
ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit
schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt worden ist. Die
Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der
Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen
Entscheidung führen wird (vgl. nur Senatsbeschl. v. 4.9.2009 - 4 LA 110/09 -
m. w. N.). Diese Voraussetzungen erfüllt der Zulassungsantrag der Klägerin
nicht.
Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass bei der Klägerin der
Ausschlussgrund des § 2 Abs. 1 Nr. 2 HHG vorgelegen habe und daher die ihr
am 2. April 1976 durch den Bescheid des Regierungspräsidenten in B. erteilte
Bescheinigung gemäß § 10 Abs. 4 HHG rechtwidrig gewesen sei, ist durch
das Vorbringen der Klägerin nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage
gestellt worden. Insbesondere ist von der Klägerin nicht mit Erfolg dargelegt
worden, dass das Verwaltungsgericht den Umfang und die Hintergründe ihrer
Tätigkeit für das MfS nicht vollständig ermittelt hat und daher zu Unrecht zu
dem Ergebnis gekommen ist, dass sie freiwillig für das MfS gearbeitet und
daher gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder Menschlichkeit im
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Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 HHG verstoßen hat.
Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 19.1.2006 - 3 C 11.05 -) seiner
Entscheidung zutreffend zugrunde gelegt, dass der Verstoß gegen den
Grundsatz der Menschlichkeit im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 HHG in subjektiver
Hinsicht ein zurechenbares, vorwerfbares Verhalten voraussetzt. Die
Freiwilligkeit ist zu verneinen, wenn die Spitzeltätigkeit unter Zwang
aufgenommen und fortgeführt worden ist, wobei die Zwangsanwendung auch
in der Ausnutzung einer psychischen und sozialen Notlage liegen kann. Dies
muss aber das bei der nachrichtendienstlichen Quellenwerbung übliche Maß
deutlich überschreiten (BVerwG, Urt. v. 8.3.2002 - 3 C 23.01 -). Von einem die
Freiwilligkeit ausschließenden Druck kann nach der vorgenannten
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur dann ausgegangen
werden, wenn er für den Betroffenen unerträglich war, d.h. wenn von ihm auch
unter Berücksichtigung des durch die Spitzeltätigkeit mutmaßlich angerichteten
Schadens nicht erwartet oder verlangt werden konnte, sich der angetragenen
Mitarbeit zu widersetzen oder zu entziehen.
Der Einwand der Klägerin, sie habe entgegen der Auffassung des
Verwaltungsgerichts nicht freiwillig als Spitzel für das MfS gearbeitet, weil die
Haftbedingungen in Hoheneck und ebenso die Drohung, sie erneut mit Haft zu
bestrafen, einen Druck im Sinne der genannten Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts dargestellt habe, lässt unberücksichtigt, dass das
Verwaltungsgericht entscheidungserheblich darauf abgestellt hat, dass die
Mitarbeit der Klägerin nicht erst mit der Verpflichtung im Dezember 1968,
sondern bereits im Mai 1967 begonnen habe und die Klägerin zunächst
freiwillig inoffizielle Mitarbeiterin des MfS geworden sei (Urteilsabdruck S. 10 f.).
Das Verwaltungsgericht hat ferner berücksichtigt, dass die von der Klägerin
behauptete Drohung, sie könne wegen Sabotage bestraft werden, bis
einschließlich November 1968 jeder Grundlage entbehrt habe und erst
nachdem sie - angestiftet von Mitarbeitern des MfS - bewusst Nachthemden
zerschnitten und dadurch Sabotage begangen habe, diese Gefahr virulent
geworden sei, in die sie sich jedoch freiwillig und in Kenntnis der möglichen
strafrechtlichen Folgen begeben habe (Urteilsabdruck S. 12).
Dass diese Annahmen des Verwaltungsgerichts unzutreffend sein könnten, ist
von der Klägerin nicht mit Erfolg dargelegt worden. Die Klägerin hat in ihrem
Zulassungsantrag eingeräumt, dass sie im Mai 1967 Kontakt mit einem
Mitarbeiter des MfS aufgenommen habe, um erneut ihre Ausreise zu
beantragen. Diese Darstellung wird bestätigt durch die bei dem
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) befindlichen Akten
über die Zusammenarbeit der Klägerin mit dem MfS. In dem „Vorschlag zur
Werbung einer IMS“ vom 4. Dezember 1968 (BStU 000160 ff.) ist vermerkt,
dass zu der Klägerin seit Mai 1967 Kontakt bestehe und dieser dadurch
hervorgerufen worden sei, dass sich „die Kandidatin seinerzeit an das MfS
wandte mit der Bitte um Entlassung nach WD zu ihrer Großmutter“ (Seite 3 des
Vorschlags, BStU 000162). Aus den im Vorschlag vom 4. Dezember 1968
ausführlich vermerkten Details zur erfolgten Kontaktaufnahme geht indes nicht
hervor, dass bereits im Mai 1967 oder in der Folgezeit gegenüber der Klägerin
der Vorwurf der Sabotage erhoben worden und dies als Druckmittel vom MfS
verwandt worden ist, um die Klägerin zu einer Mitarbeit zu zwingen. In dem
Vorschlag heißt es vielmehr, dass die Klägerin von Anfang an in der
Schneiderei I als Näherin am Band gearbeitet habe, zur Zeit an einer
Spezialmaschine mit schwierigen Arbeitsgängen betraut sei, eine „gute
Arbeitsleistung“ und „gute Normerfüllung“ habe und zudem als „verläßlich und
sauber sowie ordentlich in ihrer Arbeit“ gelte (Seite 3, BStU 000162). Dass dies
bewusst unzutreffend vermerkt worden ist, ist nicht ersichtlich. Auch aus dem
Bericht vom 24. Mai 1967 (BStU 000018) über die mit der Klägerin am 24. Mai
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1967 geführte Aussprache, in dem vermerkt worden ist, dass die Klägerin zu
diesem Zeitpunkt am „Tausche-Band“ in der Schneiderei I eingesetzt gewesen
sei und sie dort aber nur 50-60% ihrer Norm erfülle, lässt sich nicht entnehmen,
dass die Klägerin vor dem vom MfS zum Nachweis ihrer Zuverlässigkeit
„empfohlenen“ Zerschneiden von Nachtwäsche im November 1968 (vgl.
Vorschlag vom 4. Dezember 1968, S. 5, BStU 000164; ferner Bericht vom 19.
November 1968, BStU 000049 f.) dem Vorwurf einer Sabotagehandlung
ausgesetzt gewesen ist oder ernsthaft hätte ausgesetzt werden können. Im
Übrigen hat der Leiter der Strafvollzugsanstalt Hoheneck noch im August 1968
einen Antrag auf Aussetzung der Strafe der Kläger auf Bewährung gestellt, da
zu diesem Zeitpunkt das Gesamtverhalten der Klägerin die Antragstellung
gerechtfertigt hatte (vgl. Schreiben vom 26. November 1968, BStU 000060).
Eine derartige Antragstellung wäre ersichtlich nicht erfolgt, wenn das
Arbeitsverhalten der Klägerin zu diesem Zeitpunkt - also im August 1968 - den
Vorwurf der Sabotage hätte begründen können. Schließlich wäre es auch nicht
nachvollziehbar, dass die Klägerin auf den Vorschlag des MfS zum Nachweis
ihrer Zuverlässigkeit im November 1968 Nachthemden zerschneiden und sich
dann einer Mitinsassin gegenüber „anvertrauen“ sollte, wenn die Klägerin
bereits aufgrund ihres bisherigen Arbeitsverhaltens zuvor der ernsthaften
Gefahr ausgesetzt gewesen wäre, der Sabotage beschuldigt zu werden.
Selbst wenn - wie die Klägerin in ihrem Zulassungsantrag vorgebracht hat, was
aus den Akten allerdings nicht hervorgeht - ein Mitarbeiter des MfS ihr bereits
Anfang 1968 vorgeworfen haben sollte, an ihrem Arbeitsplatz bewusst
Ausschuss zu produzieren, folgt daraus indes nicht, dass die Klägerin bereits
zu diesem Zeitpunkt ernsthaft zu befürchten hatte, wegen Sabotage belangt zu
werden.
Weder aus den Akten des BStU und noch aus dem Vorbringen der Klägerin in
ihrem Zulassungsantrag geht auch hervor, dass sie sich einer
Zusammenarbeit mit dem MfS ab Mai 1967 und der späteren schriftlichen
Verpflichtung im Dezember 1968 aufgrund des „Drucks der Haft“ nicht
alternativlos hat entziehen können. Die Kontaktaufnahme mit dem MfS erfolgte
- wie bereits ausgeführt - aus eigenem Entschluss, um ihre Ausreise zu
beantragen, und hat somit nicht mit den Haftbedingungen in Hoheneck im
Zusammenhang gestanden. Soweit die Klägerin nach der ersten
Kontaktaufnahme mit dem MfS mehrere Berichte über Mitgefangene
abgegeben hat, ist auch insoweit nicht ersichtlich, dass dies allein wegen einer
durch die Haft ausgeübten außergewöhnlichen Drucksituation erfolgt ist. Die
Klägerin hat insoweit zwar vorgebracht, dass sie in eine Zelle mit zwei
Mörderinnen verlegt worden sei und sie das als Drohung des MfS gegen Leib
und Leiben verstanden habe. Dieses Vorbringen ist aber nicht geeignet, eine
„Freiwilligkeit“ zu Beginn ihrer Mitarbeit mit dem MfS ernsthaft in Frage zu
stellen. Zum einen ist die Verlegung in eine andere Zelle nach dem Vorbringen
der Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren im August 1968 (vgl. Schriftsatz
vom 18. Januar 2012) erfolgt. Folglich konnte die Klägerin im November 1968,
als ihr das MfS die Durchführung eines Sabotageaktes zum Nachweis ihrer
Zuverlässigkeit vorgeschlagen hatte, nicht davon ausgehen, dass dieser
Vorschlag in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der erfolgten
Zellverlegung zu sehen ist und ihr (weitere) negative Konsequenzen drohen,
wenn sie diesen Vorschlag ablehnt. Zum anderen ist von ihr auch nicht
dargelegt worden, dass sie nach der erfolgten Verlegung in eine andere Zelle
von den Mithäftlingen tatsächlich konkret bedroht worden ist, diese Drohungen
mittelbar dem MfS zuzurechnen gewesen sind und sie daher gezwungen
gewesen ist, zur Verbesserung ihrer Situation in der Haft mit dem MfS
zusammenzuarbeiten. Im Übrigen ist auch zu berücksichtigen, dass die
Klägerin bis zur Begehung des Sabotageaktes im November 1968 ihre Strafe
zum großen Teil bereits verbüßt und ihre Entlassung aus der Strafhaft im
Januar 1969 unmittelbar bevorgestanden hatte, die Klägerin sich demzufolge
durch die Haft auch nicht mehr in einer besonderen Drucksituation befunden
hat, weil diese Haft nur noch von begrenzter Dauer gewesen ist. Dies spricht
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ganz entscheidend dafür, dass sich die Klägerin unmittelbar vor dem Ende
ihrer Strafhaft bewusst für eine Intensivierung ihrer Zusammenarbeit mit dem
MfS entschieden hat, um nach Haftentlassung hieraus Vorteile für sich zu
erlangen, und nicht, weil durch das MfS ein unerträglicher Druck auf sie
ausgeübt worden ist.
Die erstinstanzliche Annahme der Freiwilligkeit der Tätigkeit der Klägerin für
das MfS ist auch unter Berücksichtigung der von der Klägerin geltend
gemachten Lebensumstände und ihrer Persönlichkeitsstruktur im Ergebnis
nicht zu beanstanden. Bei der Prüfung der Freiwilligkeit der Spitzeltätigkeit, das
heißt der Frage, ob sich der von einer Anwerbung durch das MfS Betroffene im
Einzelfall in einer Zwangslage befunden hat, so dass es für ihn unerträglich
gewesen ist, sich zu widersetzen, sind dessen Persönlichkeitsstruktur und
Lebensumstände zu bedenken. Von einer stabilen, in gesicherten
Verhältnissen lebenden Persönlichkeit kann mehr Widerstand gegenüber MfS-
Pressionen erwartet werden als von einem am Rande der Gesellschaft
angesiedelten psychisch kranken Menschen (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.3.2002 - 3
C 23.01 -). Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung berücksichtigt,
dass die Klägerin ein schlimme Kindheit und Jugend hat durchleben müssen
und dass sie als 19-jährige aus Verzweiflung Straftaten begangen hat, um -
nach Verbüßung der Strafe - zu ihrer von ihr geliebten Großmutter in die
Bundesrepublik ausreisen zu können. Nach Auffassung des
Verwaltungsgerichts sei aber nicht zu erkennen, dass Not und Verzweiflung
die Klägerin dazu getrieben hätten, mehrere Jahre später Spitzeldienste für
das MfS zu leisten, weil sie nach der Haftentlassung nicht auf ihre baldige
Ausreise gedrängt, sondern weiterhin mehrere Jahre bereitwillig Berichte für
das MfS verfasst habe (Urteilsabdruck, S. 12).
Soweit die Klägerin mit ihrem Zulassungsantrag dagegen eingewandt hat,
dass sie sowohl beruflich als auch privat keinerlei Anschluss und Perspektiven
in der DDR-Gesellschaft gehabt habe, es keine Rede davon sein könne, dass
sich die Lebensumstände und ihre psychische Situation zum Zeitpunkt ihrer
Spitzeltätigkeit verbessert hätten und sie ihre Ausreise aus der DDR auch nicht
so ohne weiteres hätte beantragen können, stellt dies die Annahme des
Verwaltungsgerichts im Ergebnis nicht in Frage. Die Klägerin hat bereits Ende
1967 ihren Antrag auf Ausreise zurückgezogen, ohne dass - soweit ersichtlich
- dies auf Druck des MfS erfolgt ist (vgl. Bericht über die operative Entwicklung,
ohne Datum, BStU 000295). In dem Werbungsvorschlag vom 4. Dezember
1968 (hier Seite 3, BStU 000162) ist vermerkt, dass die Klägerin Ende 1967
darum gebeten habe, „nicht mehr nach WD entlassen zu werden, weil sie
mittlerweile eine andere Haltung gewonnen und sich ihre Einstellung
gegenüber der DDR wesentlich zum positiven geändert hat“. Der Senat
verkennt insoweit nicht, dass die Klägerin dies gegenüber dem MfS
möglicherweise nur vorgegeben hat, auch wenn es in dem
Werbungsvorschlag vom 4. Dezember 1968 heißt, „dass eingeschätzt wird,
dass sich dieser Prozeß langsam und unter Schwierigkeiten vollzogen hat und
die Kandidatin eine ehrliche Meinung äußert“ (BStU 000162). Allerdings
belegen die dokumentierten Hintergründe ihrer Anwerbung, dass sich die
Klägerin zu diesem Zeitpunkt nicht in einer psychisch labilen Situation
befunden hat, sondern vielmehr, dass sie sich bewusst für eine
Zusammenarbeit mit dem MfS entschieden hat, um nach der Haftentlassung
eigene Vorteile - sei es in beruflicher Sicht oder in der Erwartung, durch eine
Zusammenarbeit mit dem MfS später leichter in die Bundesrepublik
Deutschland übersiedeln zu können - zu gelangen. Dies wird bestätigt durch
einen weiteren internen Vermerk des MfS (ohne Datum, Seite 2, BStU
000293), wonach die Kindheit der Klägerin „unter dem Eindruck der schlechten
Familienverhältnisse und der dadurch entstandenen … Konflikte“ verlaufen sei,
sie „jetzt selbständiger, selbstbewußter und zielstrebig geworden und auch
davon überzeugt“ sei, „daß sie ihren Weg allein gehen kann und auch in der
DDR eine gesicherte Zukunft hat“. Selbst wenn die Klägerin mit ihrer
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Entscheidung, mit dem MfS zusammenzuarbeiten, letztlich nur aus dem - für
den Senat durchaus nachvollziehbaren - Grund gehandelt haben sollte, die
Chancen einer (späteren) Ausreise zu verbessern, folgt daraus nicht, dass es
aufgrund ihrer Lebensumstände und ihrer konkreten Persönlichkeitsstruktur für
sie unerträglich gewesen wäre, nicht mit dem MfS zusammenzuarbeiten. Denn
es ist von der Klägerin nicht dargelegt worden und auch sonst nicht ersichtlich,
welche persönlichen negativen Konsequenzen für sie gedroht hätten, wenn
sie sich im November 1968 einer weiteren bzw. intensiveren Zusammenarbeit
mit dem MfS widersetzt hätte. Insoweit unterscheidet sich ihr Fall auch von
dem vom Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 8. März 2002 - 3 C 23.01 -
entschiedenen Fall, in dem nach den tatrichterlichen Feststellungen bei einer
Verweigerung der Mitarbeit der von einer Anwerbung Betroffenen zum einen
der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung und eine erneute
Inhaftierung sowie zum anderen die Wegnahme des Sohnes der Betroffenen
und dessen Freigabe zur Adoption gedroht hätten.
Die Klägerin kann auch nicht mit Erfolg einwenden, dass es an einem Verstoß
gegen die Grundsätze der Menschlichkeit im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 HHG
fehle, weil die von ihr gefertigten Berichte nicht geeignet gewesen seien,
andere Personen zu gefährden.
Die Annahme einer Verletzung der Grundsätze der Menschlichkeit im Sinne
des § 2 Abs. 1 Nr. 2 HHG setzt nicht den Nachweis voraus, dass die
Spitzeltätigkeit konkrete Repressionen und Sanktionen gegenüber Dritten etwa
durch Schäden an Leib oder Leben zur Folge hatten. Es reicht vielmehr der
Nachweis, dass die gelieferten Informationen geeignet waren, den
Denunzierten ernsthaft in Gefahr zu bringen (BVerwG, Urt. v. 19.1.2006 - 3 C
11.05 -). Die Klägerin hat im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit dem MfS u.a.
Informationen über eine Strafgefangene geliefert, die ihr gegenüber die Absicht
geäußert hatte, die DDR illegal zu verlassen (vgl. Bericht des MfS vom 14.
August 1968, BStU 000029) bzw. der Klägerin zu helfen, damit sie aus dem
Gebiet der DDR „herauskommt“ (vgl. undatierte handschriftliche Notiz der
Klägerin, BStU 000031). Ferner berichtet die Klägerin, dass eine Mitgefangene
bis 1961 einen westdeutschen Pass benutzt habe, der den Staatsorganen bei
ihrer Inhaftierung nicht in die Hände gefallen sei (vgl. Treffbericht vom 15.
Januar 1969, BStU 000011). Soweit die Klägerin mit ihrem Zulassungsantrag
eingewandt hat, dass die von ihr über die Mitgefangene getätigten Berichte
nicht geeignet gewesen seien, deren Ausreise zu verzögern oder ihre Haft zu
verlängern, da die Inhalte ihrer Berichte dem MfS bereits bekannt gewesen
seien, ändert dies nichts an der abstrakten Eignung der vorgenannten
Berichte, die von ihr denunzierte Mitgefangene ernsthaft in Gefahr zu bringen.
Im Übrigen hat die Klägerin nach ihrer Haftentlassung einen schriftlichen
Bericht über einen Arbeitskollegen verfasst, in dem sie über dessen
Fluchtpläne informiert hat (vgl. Bericht der Klägerin vom 8.3.1971, BStU
000011 ff.). Der Einwand der Klägerin, dieser Bericht sei nicht geeignet
gewesen, den Arbeitskollegen zu gefährden, und sie habe dessen
Gefährdung auch nicht billigend in Kauf genommen, da sie davon
ausgegangen sei, dass es sich um eine Überprüfungsaktion des MfS
gehandelt habe, als der ihr nahezu fremde Arbeitskollege seine Fluchtpläne
mitgeteilt hatte, verfängt nicht. Selbst wenn die Klägerin ihren Kollegen noch
nicht lange gekannt und die mitgeteilte Fluchtabsicht aus ihrer Sicht sehr
unrealistisch geklungen haben sollte, konnte sie nicht sicher sein, einer
Überprüfungsaktion durch das MfS unterzogen zu werden. Im Übrigen
bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass es sich insoweit tatsächlich um eine
Überprüfungsaktion des MfS gehandelt haben könnte. In dem Vorschlag zur
Kompromittierung und weiteren Bindung vom 11. Mai 1972 (BStU 000195 ff.)
heißt es vielmehr, dass nach dem Inhalt der Berichte der Klägerin „P.
beabsichtigt, die DDR illegal zu verlassen“ und „W. Kenntnis hat von der
Absicht des P., die DDR illegal zu verlassen“. Ferner wird vermerkt, dass W.
am 27. April 1972 festgenommen worden sei und sich der Haftbefehl u. a. auf
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die Nichtanzeige der beabsichtigten Straftat des P. nach § 213 StGB stütze. Es
ist nicht ersichtlich, dass es sich - wie die Klägerin eingewandt hat - bei dem
Bericht vom 11. Mai 1972 um einen gefälschten Bericht handeln könnte, um
gegen die Klägerin ein weiteres Druckmittel in der Hand zu haben. Denn
hierfür hätte es keines inhaltlich unzutreffenden internen Vermerks über die
Verhaftung von P. und W. bedurft.
Die mit dem Zulassungsantrag ebenfalls vorgebrachte Rüge der Klägerin, das
Verwaltungsgericht habe den Amtsermittlungsgrundsatz verletzt, weil es keine
Ermittlungen bezüglich etwaiger Vermögensdispositionen der Klägerin
gemacht habe, begründet bereits deshalb keine ernstlichen Zweifel an der
Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung, weil die Klägerin mit ihrem
Zulassungsantrag nicht dargelegt hat, welche tatsächlichen Feststellungen im
Rahmen weiterer Aufklärungsmaßnahmen durch das Gericht getroffen worden
wären und dass diese Einfluss auf das Ergebnis der erstinstanzlichen
Entscheidung gehabt hätten.
Der weitere Einwand der Klägerin, dass die Beklagte mit Bescheid vom 6.
Januar 2012 keine eigene Entscheidung getroffen habe und es daher an einer
ordnungsgemäßen Ermessensausübung fehle, ist unbegründet. Selbst wenn
die Beklagte teilweise wortgetreu Texte aus vorhergehenden Bescheiden des
Niedersächsischen Innenministeriums für Inneres, Sport und Integration vom
4. März 2009 und des Landkreises C. vom 28. September 2010 sowie dem
Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 13. Juli 2011 - 2 A 371/20 -
übernommen hat, folgt daraus nicht, dass sie entgegen der Annahme des
Verwaltungsgerichts (Urteilsabdruck S. 13) keine eigene
Ermessensentscheidung getroffen hat und es damit an einer
ordnungsgemäßen Ermessensausübung fehlt. Die Beklagte hat die Klägerin
vor Erlass des Rücknahmebescheids vom 6. Januar 2012 mit Schreiben vom
1. Dezember 2011 zu der von ihr beabsichtigten Rücknahme der
Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 HHG angehört und die Klägerin hat mit ihrer
Antwort hierauf vom 12. Dezember 2011 Bezug genommen auf ihr bisheriges
Vorbringen in den Verwaltungsverfahren des Niedersächsischen
Innenministeriums und des Landkreises C.. Wegen der Bezugnahme der
Klägerin auf ihr bisheriges Vorbringen bestand für die Beklagte daher keine
Veranlassung, im Rahmen der von ihr zu treffenden Ermessensentscheidung
neuen Vortrag zu würdigen. Aus dem Fehlen neuer Erwägungen in dem
Bescheid der Beklagten kann folglich nicht geschlossen, dass diese keine
eigene Ermessensentscheidung getroffen hat.
Soweit nach Auffassung des Verwaltungsgerichts die Rücknahmefrist des § 48
Abs. 4 Satz 1 VwGO bei Erlass des angefochtenen Bescheides noch nicht
abgelaufen gewesen ist, sind von der Klägerin diesbezüglich ebenfalls keine
Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung dargelegt
worden. Wie vom Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 19.12.1984 - Gr.
Sen. 1.84 und 2. 84 -) ausgeführt, handelt es sich bei der Frist nach § 48 Abs.
4 Satz 1 VwVfG um eine Entscheidungsfrist, deren Beginn voraussetzt, dass
der - zuständigen - Behörde die Rechtswidrigkeit des zurückzunehmenden
Bescheids bekannt ist und der Behörde sämtliche für die
Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Zur
Herstellung der Entscheidungsreife, nach deren Eintritt die Entscheidungsfrist
des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG erst beginnen kann, gehört daher regelmäßig
das Anhörungsverfahren, und zwar unabhängig von dessen Ergebnis; denn
die Einwände des Anzuhörenden können nur dann ernstlich zur Kenntnis
genommen und in Erwägung gezogen werden, wenn sich die Behörde ihre
Entscheidung bis zum Abschluss des Anhörungsverfahrens offen hält (vgl.
BVerwG, Urt. v. 20.9.2001 - 7 C 6.01 -).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist es nicht zu beanstanden, dass das
Verwaltungsgericht die Entscheidungsreife über die Rücknahme der der
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Klägerin erteilten Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 HHG erst angenommen hat,
nachdem diese von der Beklagten als zuständige Behörde angehört worden
ist. Dem kann die Klägerin nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass wegen der
Rücknahme der Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 HHG zuvor zwei
Anhörungsverfahren durch für die Rücknahme unzuständige Behörden
durchgeführt worden sind, über deren Verfahrensstand die Beklagte auf dem
Laufenden gehalten worden sei. Denn dies hat die Beklagte nicht von der
Durchführung eigener Ermittlungen als zuständiger Behörde entbunden.
Soweit die Klägerin darüber hinaus eingewandt hat, dass die Beklagte wegen
unzutreffender rechtlicher Schlussfolgerungen zunächst die eigene
Zuständigkeit für die Rücknahme verneint habe und Rechtsirrtümer der
zuständigen Behörde dem Fristablauf nach § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG nicht
entgegenstünden, ändert dies nichts daran, dass die Beklagte als für die
Rücknahmeentscheidung zuständige Behörde vor Durchführung eines
eigenen Anhörungsverfahrens nicht die für diese Entscheidung erforderliche
umfassende Tatsachenkenntnis gehabt hat. Im Übrigen kann Kenntnis im
Sinne des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG erst dann gegeben sein, wenn sich die
zuständige Behörde nicht nur der Rechtswidrigkeit einer
Verwaltungsentscheidung, sondern zugleich auch der Notwendigkeit bewusst
ist, förmlich über eine Rücknahme entscheiden zu müssen. Denn nur dann
kommt ihr der Charakter einer Entscheidungsfrist zu (vgl. insoweit OVG
Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 24.4.2010 - 6 A 1135/08 -). Dies ist hier nicht
der Fall gewesen, da sich die Beklagte hier zunächst nicht für zuständig
gehalten und demzufolge auch keine eigenen Ermittlungen durchgeführt hat.
Dem kann die Klägerin hier auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die
Beklagte bereits ab dem Jahr 2007 ihre Zuständigkeit hätte erkennen müssen.
Dass hier die Zuständigkeit für die Beklagte nicht ohne Weiteres zu erkennen
gewesen ist, belegt allein der Umstand, dass es zur Klärung der Zuständigkeit
für die Rücknahme der Bescheinigung der Klägerin zwei gerichtlicher
Verfahren vor dem Verwaltungsgericht (Az. 2 A 83/09 und 2 A 37/10) bedurft
hat.
Die Berufung ist auch nicht wegen des von der Klägerin geltend gemachten
Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124
Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Eine Rechtssache ist nur dann grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine
höchstrichterliche oder obergerichtlich noch nicht beantwortete Rechtsfrage
oder eine obergerichtlich bislang ungeklärte Tatsachenfrage von allgemeiner
Bedeutung aufwirft, die sich im Rechtsmittelverfahren stellen würde und im
Interesse der Einheit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des
Rechts einer fallübergreifenden Klärung durch das Berufungsgericht bedarf.
Daher ist die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache nur dann im Sinne
des § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt, wenn eine derartige Frage konkret
bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im
angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und
klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den
konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern
oder die Rechtseinheit zu wahren (vgl. nur Senatsbeschl. v. 6.12.2012 - 4 LA
308/11 - m. w. N.). Diesen Anforderungen wird die Antragsbegründung der
Klägerin schon deshalb nicht gerecht, weil sie die Frage, die ihrer Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung verleihen soll, nicht konkret bezeichnet hat.
Eine Zulassung der Berufung kommt schließlich auch nicht wegen des
ebenfalls geltend gemachten Zulassungsgrunds der Divergenz im Sinne des §
124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO in Betracht.
Der Zulassungsgrund der Divergenz im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist
nur dann gegeben, wenn das Verwaltungsgericht seinem Urteil einen
abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der mit einem in einer
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts,
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des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des
Bundesverfassungsgerichts aufgestellten, dieselbe Rechtsfrage betreffenden
und die Entscheidung tragenden Rechtssatz nicht übereinstimmt. Dabei muss
ein prinzipieller Auffassungsunterschied deutlich werden, weil die bloße
unrichtige oder unterbliebene Anwendung eines obergerichtlich oder
höchstrichterlich aufgestellten Rechtssatzes den Zulassungsgrund der
Divergenz nicht erfüllt. Die Darlegung der Divergenz, die § 124 a Abs. 4 Satz 4
VwGO verlangt, erfordert daher u. a. die Angabe des obergerichtlich oder
höchstrichterlich entwickelten Rechtssatzes, die Bezeichnung des
Rechtssatzes, mit dem das Verwaltungsgericht von dem obergerichtlich oder
höchstrichterlich gebildeten Rechtssatz abgewichen sein soll, und
Erläuterungen dazu, worin die Abweichung konkret besteht (Senatsbeschl. v.
11.7.2012 - 4 LA 54/11 - m. w. N.). Diesen Anforderungen genügt der
Zulassungsantrag der Klägerin nicht.
Die Klägerin hat in ihrem Zulassungsantrag lediglich vorgebracht, dass das
erstinstanzliche Urteil von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
vom 8. März 2002 abweiche und dieses Urteil auf dieser Abweichung beruhe,
weil das Verwaltungsgericht den Sachverhalt anders als das
Bundesverwaltungsgericht den fast identischen Sachverhalt bewertet habe.
Damit hat die Klägerin jedoch schon keinen Rechtssatz bezeichnet, den das
Verwaltungsgericht aufgestellt haben und mit dem es von dem vom
Bundesverwaltungsgericht gebildeten Rechtssatz abgewichen sein soll. Eine
solche Divergenz ist auch nicht ersichtlich. Die Entscheidung des
Verwaltungsgerichts enthält nämlich keinen Rechtssatz, der von einem in dem
vorgenannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Rechtssatz
abweicht. Dass das Verwaltungsgericht nach Ansicht der Klägerin die
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf den vorliegenden Fall
nicht richtig angewandt hat, stellt nach dem oben Gesagten keine Divergenz
im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO dar.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 VwGO.