Urteil des OVG Niedersachsen vom 22.07.2013

OVG Lüneburg: aussetzung, auflage, hauptsache, überprüfung, vervielfältigung, genehmigung, datenschutz, niedersachsen, serie, entschädigung

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Beschwerde gegen die Aussetzung des Verfahrens
analog § 94 VwGO (hier: Stattgabe).
OVG Lüneburg 5. Senat, Beschluss vom 22.07.2013, 5 OB 146/13
§ 93a VwGO, § 94 VwGO
Gründe
I.
Der Kläger begehrt in dem zugrunde liegenden Hauptsacheverfahren die
Verpflichtung der Beklagten, ihm für über die zulässige Höchstarbeitszeit hinaus
geleistete Arbeit im Zeitraum vom 1. Januar 20... bis zum 30. Juni
20... Entschädigung, hilfsweise Freizeitausgleich, zu gewähren. Mit dem
angegriffenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit
entsprechend § 94 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ausgesetzt und
dies damit begründet, dass die Beteiligten sowohl in der 13. als auch in der 2.
Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover „Musterverfahren“ durchführten (13
A 1158/13 und 2 A 7086/12), welche dieselbe Rechtsfrage wie das vorliegende
Verfahren zum Gegenstand hätten; aus prozessökonomischen Gründen und
auch im Kosteninteresse der Beteiligten sei es daher zweckmäßig, den
Ausgang dieser „Musterverfahren“ abzuwarten.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Er
macht im Wesentlichen geltend, dass - was dem Verwaltungsgericht vor Erlass
des Aussetzungsbeschlusses auch mitgeteilt worden sei - die Beteiligten keinen
Aussetzungsantrag gestellt hätten, weil sie sich darüber einig (gewesen) seien,
drei Musterverfahren führen zu wollen. Diese Vereinbarung hätten sie
miteinander getroffen, damit auch tatsächlich zumindest eine Entscheidung
herbeigeführt werde. Die Auswahl von weniger Musterklägern erscheine nach
bisherigen Erfahrungen als zu risikobehaftet, weil unvorhergesehene Umstände
zu einem Abbruch der jeweiligen Verfahren führen könnten. Die Beklagte tritt
den klägerischen Ausführungen vollumfänglich bei; das Verwaltungsgericht hat
der Beschwerde mit Beschluss vom 6. Juni 2013 nicht abgeholfen.
II.
Die Beschwerde hat Erfolg.
Sie ist gemäß § 146 Abs. 1 VwGO zulässig, weil es sich bei der
verwaltungsgerichtlichen Aussetzungsentscheidung nicht um eine
prozessleitende Maßnahme im Sinne des § 146 Abs. 2 VwGO handelt, und weil
sich der Verwaltungsgerichtsordnung auch im Übrigen ein
Beschwerdeausschluss für Aussetzungsbeschlüsse nicht entnehmen lässt (vgl.
Bay. VGH, Beschluss vom 4.6.1991 - 8 C 91.1185 -, juris Rn. 7f.; Brem. OVG,
Beschluss vom 1.8.2008 - 1 S 89/08 -, juris Rn. 3; Hess. VGH, Beschluss vom
2.1.2013 - 5 E 2244/12 -, juris Rn. 1; Kopp/Schenke, VwGO, 18. Auflage 2012, §
94 Rn. 7; Redeker/von Oertzen, VwGO, 15. Auflage 2010, § 94 Rn. 4).
Die Beschwerde ist auch begründet, denn die Voraussetzungen für eine
Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO
liegen nicht vor.
Nach § 94 VwGO kann das Gericht - wenn die Entscheidung des Rechtsstreits
ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines
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Rechtsverhältnisses abhängt, das Gegenstand eines anderen anhängigen
Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist -
anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtstreits
oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei
(Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit). Auf die gegen einen
Aussetzungsbeschluss erhobene Beschwerde prüft das Beschwerdegericht nur,
ob die (formellen) Tatbestandsvoraussetzungen für eine Aussetzung vorlagen
und ob das Verwaltungsgericht ermessensfehlerfrei entschieden hat (Nds. OVG,
Beschluss vom 1.10.2004 - 1 OB 207/04 -; Beschluss vom 6.10.2011 - 5 OB
291/11 -; Rennert, in: Eyermann, VwGO, 13. Auflage 2010, § 94 Rn. 8). Dieser
Überprüfung ist die Würdigung der Sach- und Rechtslage durch das
Verwaltungsgericht zugrunde zu legen, d. h. das Beschwerdegericht prüft nicht,
ob das Verwaltungsgericht auf der Basis seiner materiellen Rechtsauffassung
zu Recht von einer Vorgreiflichkeit des in einem anderen Verfahren zur
Entscheidung anstehenden Rechtsverhältnisses ausgegangen ist (Hess. VGH,
Beschluss vom 11.12.2009 - 6 E 2989/09 -, juris Rn. 12). Denn andernfalls
würde es in dem die Aussetzung des Verfahrens betreffenden Zwischenstreit
den gesamten Streitstoff beurteilen und damit dem Verwaltungsgericht praktisch
sein Urteil in der Hauptsache vorgeben, worin eine Verletzung des gesetzlich
geregelten Ganges der Entscheidungsfindung und eine Aufhebung der
Selbständigkeit der verschiedenen Instanzen läge (Brem. OVG, Beschluss vom
1.8.2008, a. a. O., Rn. 5; Bay. VGH, Beschluss vom 4.6.1991, a. a. O., Rn. 10).
Unter Zugrundelegung dieses Kontrollmaßstabes hält die
verwaltungsgerichtliche Entscheidung der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Vorgreiflichkeit im Sinne des § 94 VwGO liegt nur dann vor, wenn kraft Gesetzes
oder rechtslogisch die Entscheidung in einem anhängigen Verfahren von dem
Bestehen oder Nichtbestehen des im anderen Verfahren anhängigen
Rechtsverhältnisses abhängt. Ist indes in dem anderen Verfahren kein
Rechtsverhältnis zu klären, sondern stellt sich dort lediglich die gleiche
Rechtsfrage, ist eine Vorgreiflichkeit nicht gegeben (BVerwG, Urteil vom
11.2.2009 - BVerwG 2 A 7.06 -, juris Rn. 34; Nds. OVG, Beschluss vom
18.10.2005 - 5 OB 243/05 -; Bader u. a., VwGO, 5. Auflage 2011, § 94 Rn. 5;
Redeker/v. Oertzen, a. a. O., § 94 Rn. 1; Rennert, a. a. O., § 94 Rn. 4). So liegt
es hier. Denn unter Zugrundelegung der materiellen Rechtsauffassung des
Verwaltungsgerichts ist in den „anderen Verfahren“ - den bei dem
Verwaltungsgericht Hannover anhängigen Klageverfahren 2 A 7086/12 und 13
A 1158/13 - lediglich über dieselben Rechtsfragen zu befinden.
Davon, dass der Rechtsstreit aus den o. g. Gründen nicht in direkter Anwendung
des § 94 VwGO ausgesetzt werden kann, ist auch die Vorinstanz ausgegangen.
Entgegen ihrer Auffassung ist jedoch im Streitfall für eine entsprechende
Anwendung des § 94 VwGO kein Raum.
Dass eine Aussetzung entsprechend § 94 VwGO in Fällen wie dem Streitfall -
Vorliegen einer (kleinen) „Serie“ gleicher oder gleich gelagerter Fälle, in denen
das Verwaltungsgericht ein oder wenige Verfahren als „Musterverfahren“
behandeln will - ausscheidet, ergibt sich bereits aus der Vorschrift des § 93a
VwGO. Diese Bestimmung regelt nämlich, dass eine Verfahrensaussetzung erst
dann erfolgen darf, wenn es sich um mehr als 20 dieser gleich gelagerten Fälle
handelt. Dies schließt es aus, bei anderen Parallelverfahren, welche diese
Voraussetzungen nicht erfüllen, auf eine analoge Anwendung zurückzugreifen
(OVG LSA, Beschluss vom 12.12.2008 - 1 O 153/09 -, juris Rn. 6; OVG NRW,
Beschluss vom 15.1.2009 - 4 E 1385/08 -, juris Rn. 2; Hess. VGH, Beschluss
vom 11.12.2009, a. a. O., Rn. 17; Bader u.a., a. a. O., § 94 Rn. 5). Denn insoweit
besteht gerade keine - für die Analogiebildung aber zwingend erforderliche -
Regelungslücke, die planwidrig wäre.
Einer Kostenentscheidung bedarf es für das - wie hier - erfolgreiche
Beschwerdeverfahren nicht, weil die Kosten dieses nichtstreitigen
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Zwischenverfahrens, in dem sich die Beteiligten nicht als Gegner
gegenüberstehen, von den Kosten des Rechtsstreits in der Hauptsache erfasst
werden und Gerichtskosten gemäß Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage
1 zu § 3 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes - GKG -) nur im Falle der
Verwerfung bzw. Zurückweisung der Beschwerde entstehen (ebenso: Nds.
OVG, Beschluss vom 1.10.2004 - 1 OB 207/04 -; Beschluss vom 17.11.2009 - 8
OB 203/09 -, juris Rn. 5; Hess. VGH, Beschluss vom 11.12.2009, a. a. O., Rn.
18; OVG Berl.-Bbg., Beschluss vom 28.10.2011 - OVG 12 85.11 -, juris Rn. 3;
Nds. OVG, Beschluss vom 30.1.2013 - 9 OB 173/12 -, a. a. O., Rn. 5). Daher ist
auch eine Streitwertfestsetzung entbehrlich.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO)