Urteil des OVG Niedersachsen vom 30.01.2014

OVG Lüneburg: genfer flüchtlingskonvention, asylbewerber, behandlung, mitgliedstaat, asylverfahren, verordnung, gefahr, überstellung, zugang, auskunft

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Überstellung nach Italien gemäß der Dublin-
Verordnung
Der Senat hält an seiner im Senatsbeschluss vom 2. August 2012 - 4 MC
133/12 - geäußerten Auffassung fest, wonach nicht ernsthaft zu befürchten
ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien
grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung der an Italien überstellten Asylbewerber im Sinne
von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union implizieren.
OVG Lüneburg 4. Senat, Beschluss vom 30.01.2014, 4 LA 167/13
§ 78 Abs 3 Nr 1 AsylVfG, Art 4 EUGrdRCh, EGRL 83/2004, EGV 343/2003
Tenor
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichterin der 6. Kammer - vom 4. Juni
2013 wird abgelehnt.
Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskosten-hilfe für das
Berufungszulassungsverfahren wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des
Berufungszulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die
außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien
Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe
Der Antrag der Kläger, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil
zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn der von den Klägern geltend gemachte
Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache
(§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) ist nicht hinreichend dargelegt worden.
Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG
grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich
bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die
im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der
Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts
einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (vgl. GK-
AsylVfG, § 78 Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 78
AsylVfG Rn. 15 ff. m.w.N.). Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache
ist daher nur dann im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt, wenn
eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden
ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich
und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über
den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern
oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan
werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im
angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer
Tatsachenfrage - welche neueren Erkenntnismittel eine anderslautende
Entscheidung nahe legen (vgl. GK-AsylVfG, § 78 Rn. 591 ff. m.w.N.).
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Danach kommt die von den Klägern beantragte Zulassung der Berufung
wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht in Betracht.
Die von den Klägern für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage, „ob
in Italien die Durchführung eines mit der Richtlinie 2004/83/EG konformen
Asylverfahrens gewährleistet werden kann und hier insbesondere, ob Zugang
zum Asylverfahren und Lebensunterhalt sowie Obdach gesichert sind“, wäre in
dem von den Klägern angestrebten Berufungsverfahren nicht
entscheidungserheblich.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 (C-
411/10 und C-493/10) ausgeführt, dass eine Vermutung dafür besteht, dass
die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang
mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der
Europäischen Menschenrechts-konvention steht. Allerdings könne - so der
EuGH - nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf
größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass
eine ernstzunehmende Gefahr bestehe, dass Asylbewerber bei einer
Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit
deren Grundrechten unvereinbar sei. Daraus könne aber nicht geschlossen
werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen
Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der
Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde. Es wäre auch
nicht mit den Zielen und dem System in der Verordnung Nr. 343/2003
vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83
oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an
den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Daher müsse die
Vermutung der menschenrechtskonformen Behandlung von Asylbewerbern,
die dem einschlägigen Regelwerk zugrunde liege, als widerlegbar angesehen
werden. Art. 4 der Charta sei folglich dahingehend auszulegen, dass es den
Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliege, einen
Asylbewerber nicht an den “zu-ständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der
Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen „nicht unbekannt sein
könne, dass die systematischen Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernst-hafte
und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der
Antragsteller tatsächlich Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu sein“.
Demzufolge ist die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in
jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta der
Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und
der Europäischen Menschenrechtskonvention steht, nicht bereits bei
einzelnen einschlägigen Regelverstößen des zuständigen Mitgliedstaats
widerlegt, sondern nur dann, wenn die vom Europäischen Gerichtshof
herausgearbeiteten, oben wiedergegebenen Voraussetzungen vorliegen.
Folglich wäre in dem von den Klägern angestrebten Berufungsverfahren allein
entscheidungserheblich, ob systematische Mängel des Asylverfahrens und
der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien bekannt sind und ob
solche Mängel ernst-hafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die
Annahme darstellen, dass Asyl-bewerber in Italien tatsächlich Gefahr laufen,
einer unmenschlichen oder erniedrigen-den Behandlung im Sinne des Art. 4
der Charta ausgesetzt zu werden (vgl. auch Senatsbeschl. v. 27.5.2013 - 4 LA
88/13 -, v. 13.1.2014 - 4 LA 262/13 - und - 265/13 -, und v. 14.1.2014 - 4 LA
258/13 - und - 263/13 -). Dagegen bedürfte es keiner grundsätzlichen Klärung
der von den Klägern aufgeworfenen Frage, „ob in Italien die Durchführung
eines mit der Richtlinie 2004/83/EG konformen Asylverfahrens gewährleistet
werden kann und hier insbesondere, ob Zugang zum Asylverfahren und
Lebensunterhalt sowie Obdach gesichert ist.“ Folglich lässt sich die
grundsätzliche Bedeutung der vorliegenden Rechtssache nicht mit der
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Klärungsbedürftigkeit dieser von den Klägern aufgeworfenen Frage
begründen.
Soweit die Kläger des Weiteren für grundsätzlich klärungsbedürftig halten „ob
systematische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für
Asylbewerber in Italien bekannt sind und ob solche Mängel ernsthafte und
durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass
Asylbewerber in Italien tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta ausgesetzt zu
werden“, haben sie zwar die zutreffende entscheidungserhebliche Frage
aufgeworfen. An der hinreichenden Darlegung des Zulassungsgrunds des
§ 78 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG fehlt es hier aber deshalb, weil die Kläger nicht
dargetan haben, dass die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders
als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und dass neuere
Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahe legen.
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts ist nicht (mehr) ernsthaft zu
befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien
derart grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren würden
(Urteilsabdruck, S. 7 ff.). Das Verwaltungsgericht hat insoweit die aktuelle
Auskunftslage, insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG
Freiburg vom 11. Juli 2012 und die Stellungnahme des Hohen
Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen vom 24. April 2012 sowie die
Feststellungen in den vom Verwaltungsgericht zitierten Entscheidungen unter
Bezugnahme der dort verwerteten Erkenntnisse berücksichtigt. Darüber
hinaus hat es das Gutachten der Flüchtlingsorganisation Borderline-Europe
aus Dezember 2012 und die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21. Januar
2013 an das OVG des Landes Sachsen-Anhalt zur Grundlage seiner
Entscheidung gemacht.
Mit diesen Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil setzen sich die Kläger in
ihrem Zulassungsantrag nicht auseinander. Sie benennen weder Gründe,
weshalb die vom Verwaltungsgericht verwerteten Erkenntnismittel keine
hinreichende Beantwortung der von ihnen bezeichneten Frage ermöglicht,
noch wird von ihnen dargelegt, dass die vom Verwaltungsgericht verwerteten
Erkenntnisse eine abweichende Entscheidung rechtfertigen oder andere,
neuere Erkenntnismittel zu dieser Frage vorliegen. Die Kläger verweisen
vielmehr allein auf verschiedene Entscheidungen anderer
Oberverwaltungsgerichte, mit denen die grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit
dieser Frage bestätigt worden sei. Die bloße Bezugnahme auf andere
Entscheidungen ersetzt insoweit jedoch nicht die für die Darlegung des
Zulassungsgrunds des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG erforderliche
Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht verwerteten
Erkenntnismitteln.
Entgegen der Auffassung der Kläger ist dem Senatsbeschluss vom 27. Mai
2013 - 4 LA 88/13 - auch nicht zu entnehmen, dass der Senat an seiner
Entscheidung vom 2. August 2012 - 4 MC 133/12 -, wonach auf der Grundlage
des vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern in
Italien nicht ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die
Aufnahmebedingungen dort grundlegende Mängel aufweisen, die eine
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat
überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, nicht
mehr festhält. Auch insoweit ist ein Bedarf, die bezeichnete Frage in einem
Berufungsverfahren zu klären, von den Klägern daher nicht dargelegt worden.
Zur Klarstellung weist der Senat in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR (Beschl. v. 2.4.2013 - 277725/10
- und v. 18.6.2013 - 53852/11-) auch kein Anlass besteht, die im
Senatsbeschluss vom 2. August 2012 - 4 MC 133/12 - geäußerte Auffassung
zu ändern.
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Schließlich ist dem Vorbringen der Kläger, nach ihrer Kenntnis würden
Schutzbewerber weiterhin nicht vollständig untergebracht und versorgt, es
fehle am vollen Zugang zum nationalen Gesundheitssystem in Italien und
zurückgeführten Flüchtlingen würde ein Obdach nicht mehr - auf Dauer - zur
Verfügung gestellt, nicht zu entnehmen, worauf ihre Annahme beruht. Auch
insoweit ist von ihnen daher nicht hinreichend dargelegt worden, dass die
aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen
Urteil zu entscheiden sein könnte.
Die Bewilligung der von den Klägern beantragten Prozesskostenhilfe für das
Berufungszulassungsverfahren kommt nicht in Betracht, weil die
Rechtsverfolgung schon im Zeitpunkt der Entscheidungsreife des
Prozesskostenhilfeantrags nicht die nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1
ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht geboten hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83 b AsylVfG und §
166 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.