Urteil des OVG Niedersachsen vom 09.01.2014

OVG Lüneburg: wiedereinsetzung in den vorigen stand, aufschiebende wirkung, faires verfahren, klagefrist, zustellung, rechtsschutzinteresse, mitverschulden, vervielfältigung, genehmigung, datenschutz

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Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen
eines das Verschulden des Klägers überlagernden
Mitverschuldens der Behörde an der Versäumung der
Klagefrist
OVG Lüneburg 4. Senat, Beschluss vom 09.01.2014, 4 ME 8/14
§ 60 VwGO
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts Hannover - 10. Kammer - vom 10. Dezember 2013 wird
zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500,-
EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den erstinstanzlichen Beschluss ist
unbegründet. Denn das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage in Bezug auf die in dem Bescheid
vom 11. Juni 2013 enthaltene Abschiebungsandrohung nach § 80 Abs. 5
VwGO anzuordnen, im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
Die Vorinstanz ist bei summarischer Prüfung allerdings zu Unrecht davon
ausgegangen, dass der Zulässigkeit des Antrags auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes bereits die Bestandskraft des Bescheides vom 11. Juni 2013
entgegensteht. Dieser Bescheid der Antragsgegnerin hat zwar Bestandskraft
erlangt, da er - wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat - wirksam
öffentlich zugestellt und erst nach Ablauf der einmonatigen Klagefrist
angefochten worden ist; dass die Antragsgegnerin den Bescheid nach dem
Ablauf der Klagefrist am 2. August 2013 Rechtsanwältin P., die sich bei ihr am
1. Juli 2013 als Bevollmächtigte des Antragstellers gemeldet hatte, zugestellt
hat, hat die Bestandskraft des Bescheides nicht beseitigt und keine neue
Klagefrist in Gang gesetzt. Die Bestandskraft des Bescheides vom 11. Juni
2013 kann der Zulässigkeit des Antrags auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes aber nicht entgegengehalten werden, weil dem Antragsteller
bei summarischer Prüfung nach § 60 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand wegen Versäumung der Klagefrist zu gewähren ist. Der Senat teilt zwar
die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass der Antragsteller die Umstände, die
zur öffentlichen Zustellung geführt haben, zu vertreten hat und seine
Unkenntnis von der öffentlichen Zustellung des Bescheides vom 11. Juni 2013
daher nicht unverschuldet ist. Die Antragsgegnerin trifft jedoch ein
Mitverschulden an der Versäumung der Klagefrist, weil sie den Antragsteller
auf die öffentliche Zustellung des Bescheides vom 11. Juni 2013 nicht
hingewiesen hat, nachdem Rechtsanwältin P. sich unter Versicherung
ordnungsgemäßer Bevollmächtigung für den Antragsteller bei ihr am 1. Juli
2013 gemeldet hatte und sie am 16. Juli 2013 vom Jobcenter der Region
Hannover auch über die neue Anschrift des Antragstellers informiert worden
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war. Zu einem derartigen Hinweis hätte für die Antragsgegnerin nämlich schon
im Hinblick auf das verfassungsrechtlich verbürgte Grundrecht auf ein faires
Verfahren Anlass bestanden, weil sie erstens davon ausgehen musste, dass
weder dem Antragsteller noch seiner Rechtsanwältin die öffentliche Zustellung
des Bescheides vom 11. Juni 2013 bekannt war, zweitens dem Schreiben der
Rechtsanwältin des Antragstellers zu entnehmen war, dass der Antragsteller
weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland leben wollte, und drittens die
Klagefrist noch nicht abgelaufen war. Bei summarischer Prüfung überlagert
dieses Mitverschulden der Antragsgegnerin das Verschulden des
Antragstellers, da davon auszugehen ist, dass dieser bei einem rechtzeitigen
Hinweis der Antragsgegnerin auf die öffentliche Zustellung des Bescheides
vom 11. Juni 2013 die Klagefrist eingehalten hätte; dafür spricht nicht zuletzt
der Umstand, dass der Antragsteller nach der Zustellung des Bescheides an
Rechtsanwältin P. am 2. August 2013 umgehend, nämlich bereits am 6.
August 2013, beim Verwaltungsgericht Klage erhoben hat. Dies hat zur Folge,
dass dem Antragsteller nach § 60 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zu gewähren ist.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erweist sich dennoch
als unzulässig, weil ein Rechtsschutzinteresse für die begehrte Anordnung der
aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung
gegenwärtig nicht besteht. Denn die Antragsgegnerin hat in ihrer Klage- und
Antragserwiderung vom 25. September 2013 ausdrücklich versichert, dass sie
von der aufschiebenden Wirkung der Klage ausgeht und zwischenzeitlich
keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ergreifen wird. Angesichts dieser
Erklärung besteht vorerst keine Notwendigkeit, die aufschiebende Wirkung der
Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen, so dass das
erforderliche Rechtsschutzinteresse für den Antrag auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes zur Zeit nicht besteht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG