Urteil des OVG Niedersachsen vom 08.01.2014

OVG Lüneburg: wiedereinsetzung in den vorigen stand, gesetzliche frist, öffentliche sicherheit, verschulden, fristversäumnis, fürsorgepflicht, bier, sachbeschädigung, zustellung, niedersachsen

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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen
überholender Verletzung der gerichtlichen
Fürsorgepflicht - Antrag auf Zulassung der Berufung
1. Das Verwaltungsgericht ist aufgrund nachwirkender Fürsorgepflichten
gehalten, fristgebundene Begründungsschriftsätze für das
Rechtsmittelverfahren, die entgegen den gesetzlichen Anforderungen bei
ihm eingereicht werden, im ordentlichen Geschäftsgang an das
Rechtsmittelgericht weiterzuleiten.
2. Wenn ein solcher Schriftsatz vom Rechtsmittelführer so zeitig beim
Verwaltungsgericht eingereicht worden ist, dass die fristgerechte
Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang zu
erwarten ist, wirkt sich mit dem Übergang des Schriftsatzes in die
Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten
Verwaltungsgerichts ein etwaiges Verschulden des Rechtsmittelführers an
einer Fristversäumnis nicht mehr aus.
OVG Lüneburg 11. Senat, Beschluss vom 08.01.2014, 11 LA 229/13
§ 124a Abs 4 S 5 VwGO, § 124a Abs 4 S 4 VwGO, § 60 Abs 1 VwGO
Tenor
Der Beschluss des Senats vom 23. Oktober 2013, mit dem der Antrag der
Beklagten auf Zulassung der Berufung verworfen wurde, wird aufgehoben.
Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betreffend die
versäumte Frist für die Begründung des Zulassungsantrages gewährt.
Auf den Antrag der Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Braunschweig - Einzelrichter der 5. Kammer - vom 5.
August 2013 zugelassen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
Der zulässige (dazu 1.) Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat
Erfolg, weil der von ihr geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen
Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO) hinreichend dargelegt worden ist und in der Sache auch vorliegt (dazu
2.).
1. Der Zulassungsantrag der Beklagten ist zulässig. Die Beklagte hat zwar die
Frist zur Begründung ihres Zulassungsantrages versäumt (dazu a), ihr ist aber
antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO zu
gewähren (dazu b). Der Beschluss des Senats vom 23. Oktober 2013, mit
dem der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung verworfen wurde,
ist deshalb aufzuheben.
a) Nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ist der Zulassungsantrag innerhalb einer
Frist von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu
begründen. Hier ist das Urteil des Verwaltungsgerichts ausweislich des von
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der Beklagten erteilten Empfangsbekenntnisses dieser am 13. August 2013
zugestellt worden, sodass die Begründungsfrist am 14. Oktober 2013 (einem
Montag) ablief. Innerhalb dieser Frist ist entgegen der Vorgabe in § 124a Abs.
4 Satz 5 VwGO bei dem Senat ein Begründungsschriftsatz der Beklagten nicht
eingegangen. Diese hat vielmehr ihren Begründungsschriftsatz vom 20.
September 2013 an das Verwaltungsgericht gesandt, wo es zunächst
verblieben war. Diese Einreichung beim Verwaltungsgericht wahrt die
Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht.
b) Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine
gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist nach § 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz
1 VwGO binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Bei
Versäumung der Frist zur Begründung des Zulassungsantrages beträgt die
Frist einen Monat (§ 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO). Nach § 60 Abs. 2
Satz 3 VwGO ist die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist
nachzuholen. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Zwar liegt der Fristversäumnis erkennbar ein Verschulden der Beklagten
zugrunde. Die zuständige Mitarbeiterin der Beklagten hat die Begründung des
Zulassungsantrages trotz des zutreffenden Hinweises in der
Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils statt an das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht fälschlicherweise an das
Verwaltungsgericht gesendet. Der Hinweis der Beklagten auf das zu diesem
Zeitpunkt noch nicht mitgeteilte Aktenzeichen durch das Niedersächsische
Oberverwaltungsgericht entlastet sie angesichts des eindeutigen
Gesetzeswortlautes zwar nicht. Dieses die Wiedereinsetzung grundsätzlich
ausschließende Verschulden der Beklagten wirkt sich aber aufgrund einer
überholenden Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht auf die
Fristversäumnis nicht mehr aus, sodass der Beklagten trotz ihres eigenen
Verschuldens gleichwohl Wiedereinsetzung zu gewähren ist. Denn der
Begründungsschriftsatz der Beklagten vom 18. September 2013 war am 20.
September 2013 und damit so rechtzeitig bei dem Verwaltungsgericht
eingegangen, dass er im ordentlichen Geschäftsgang noch fristgerecht bis
zum Ende der Antragsbegründungsfrist am 14. Oktober 2013 an das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hätte weitergeleitet werden können
oder die Beklagte bei einem entsprechenden Hinweis durch das
Verwaltungsgericht ohne Weiteres in der Lage gewesen wäre, die
Antragsbegründung erneut und fristgerecht bei dem zuständigen
Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht einzureichen. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschl. v.
17.1.2006 - 1 BvR 2558/05 -, NJW 2006, 1579 f.; Beschl. v. 3.3.2003 - 1 BvR
310/03 - NVwZ 2003, 728 f.; Beschl. v. 20.6.1995 - 1 BvR 166/93 -, BVerfGE
93, 99, 112 und 114 f.) ist jedenfalls im Rahmen nachwirkender
Fürsorgepflichten und wegen des Gebotes eines fairen Verfahrens ein Gericht,
bei dem das Verfahren anhängig gewesen ist, aufgrund fortwirkender
Fürsorgepflicht gehalten, fristgebundene Schriftsätze für das
Rechtsmittelverfahren, die fälschlicherweise bei ihm eingereicht werden, im
ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Rechtsmittelgericht
weiterzuleiten. Infolgedessen wirkt sich mit dem Übergang des Schriftsatzes in
die Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten Gerichts ein
Verschulden eines Verfahrensbeteiligten an einer Fristversäumnis nicht mehr
aus (so auch BVerwG, Beschl. v. 15.7.2003 - BVerwG 4 B 83.02 -, NVwZ-RR
2003, 901, 902; Nds. OVG, Urt. v. 24.9.2010 - 8 LC 40/09 -, juris; OVG
Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 13.1.2000 - 13 A 3934/97.A -, NVwZ-RR 2000,
841; Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: August 2012, § 60 Rdnr.
49; Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 60 Rdnr. 77 f. jeweils
m. w. N. zum Streitstand).
2. Der Zulassungsantrag ist begründet. Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124
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Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind dann anzunehmen, wenn der Erfolg des Rechtsmittels
(mindestens) ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg (vgl. Nds. OVG,
Beschl. v. 10.9.2012 - 2 LA 299/11 -; Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012,
§ 124, Rdnr. 7 m. w. N.). Hierbei reicht es aus, wenn ein die Entscheidung des
Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz oder eine erhebliche
Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt wird.
Ob schlüssig behauptete tatsächliche Umstände auch wirklich gegeben sind,
muss der Klärung im sich anschließenden Berufungsverfahren vorbehalten
bleiben (BVerfG, 2. Kammer d. 1. Senats, Beschl. v. 20.12.2010 - 1 BvR
2011/10 -, NVwZ 2011, 546 = juris, Rdnr. 17 m. w. N.; Senatsbeschl. v.
7.1.2014 - 11 LA 117/13 -). Nach diesen Kriterien war die Berufung
zuzulassen.
Das Verwaltungsgericht hat auf die Klage des Klägers den angefochtenen
Heranziehungsbescheid der Beklagten vom 18. Oktober 2012 mit der
entscheidungstragenden Begründung aufgehoben, die inzident auf ihre
Rechtmäßigkeit zu überprüfende Ingewahrsamnahme des Klägers sei bei dem
gebotenen strengen Maßstab unverhältnismäßig und mithin rechtswidrig
gewesen. Die Beklagte habe nicht hinreichend dargelegt und bewiesen, dass
in der konkreten Situation am Tag des Vorfalls am 15. September 2012 von
dem Kläger unmittelbar Straftaten zu befürchten gewesen seien. Daher könne
auch bei ex-ante-Betrachtung nicht davon ausgegangen werden, dass sofort
oder in allernächster Zeit mit einem Schaden für die öffentliche Sicherheit im
Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 a Nds. SOG zu rechnen gewesen sei. Dies gelte
selbst im Fall der Annahme einer vorsätzlichen Sachbeschädigung des am
Tag des Vorfalls stark alkoholisierten Klägers an dem Kinderwagen der
Mieterin C.. Vielmehr wären mildere Maßnahmen gegen den Kläger wie ein
Platzverweis oder die bloße Androhung der Ingewahrsamnahme angezeigt
gewesen.
Diesen Ausführungen ist die Beklagte in der Begründung ihres
Zulassungsantrages nach der in diesem Zulassungsverfahren gebotenen
summarischen Prüfung in plausibler Weise entgegen getreten. Sie hat darauf
hingewiesen, die Entscheidung der Polizeibeamten zur Ingewahrsamnahme
des Klägers sei aufgrund der Gesamtumstände am Tattag und unter
Berücksichtigung des wegen eines am selben Tag vorgekommenen Vorfalls
ihm gegenüber ausgesprochenen, im Ergebnis aber erfolglosen
Platzverweises sowie polizeilich vorhandener Erkenntnisse über den Kläger
aus der Vergangenheit, in der es mehrfach zu heftigen Streitigkeiten zwischen
dem Kläger und den Mietern des von ihm als Hausmeister betreuten
Wohnkomplexes gekommen sei, getroffen worden. Bei der gebotenen ex-ante-
Betrachtung hätten die Polizeibeamten von einer vorsätzlich begangenen
Sachbeschädigung des Klägers und der konkreten Gefahr der Begehung
weiterer Straftaten durch ihn ausgehen dürfen, zumal der Kläger stark
alkoholisiert gewesen und verbal aggressiv aufgetreten sei.
Das Zulassungsverfahren wird unter dem Aktenzeichen
11 LB 9/14
als Berufungsverfahren fortgeführt, das in allen Schriftsätzen anzugeben ist.
Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses
über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem
Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335
Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, einzureichen. Die
Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem
Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten
Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der
Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so
ist die Berufung unzulässig (§ 124 a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 6 Satz
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VwGO).
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).