Urteil des OVG Niedersachsen vom 11.07.2013

OVG Lüneburg: schutz des privatlebens, schutz der familie, systematische auslegung, unionsbürger, emrk, integration, lebensgemeinschaft, ausreise, kreis, bier

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Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts
Die Möglichkeit zur Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach §
5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU (vormals: § 5 Abs, 5 Satz 1 FreizügG/EU) erlischt
nicht schon dann, wenn sich der Ausländer bloß tatsächlich fünf Jahre
ständig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die Fünfjahresfrist des § 5 Abs. 4
Satz 1 FreizügG/EU beginnt vielmehr erst dann zu laufen, wenn der
Unionsbürger oder der Familienangehörige eines Unionsbürgers in
Ausübung seines Freizügigkeitsrechts seinen ständigen Aufenthalt im
Bundesgebiet begründet oder fortsetzt.
OVG Lüneburg 8. Senat, Beschluss vom 11.07.2013, 8 LA 148/12
§ 2 FreizügG/EU, § 5 Abs 4 S 1 FreizügG/EU, § 5 Abs 5 FreizügG/EU, § 124 Abs 2 Nr
3 VwGO, § 124 Abs 2 Nr 2 VwGO, § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO
Gründe
I.
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlustes seines
Freizügigkeitsrechts durch den Beklagten.
Der Kläger wurde 1986 in B. geboren. Er ist serbischer Staatsangehöriger und
1991 in das Bundesgebiet eingereist. Nach bestandskräftiger Ablehnung seines
Asylantrages wurde sein Aufenthalt im Bundesgebiet geduldet.
Am C. 2006 wurde die Tochter des Klägers geboren, die ebenso wie ihre Mutter
die französische Staatsangehörigkeit besitzt. Am D. 2007 heiratete der Kläger
die Kindesmutter und führte mit dieser und der gemeinsamen Tochter eine
familiäre Lebensgemeinschaft in der Gemeinde E. im F., Kreis G.. Auf den
Antrag des Klägers stellte der Kreis G. ihm unter dem 3. Mai 2007 eine bis zum
2. Mai 2012 befristete Aufenthaltskarte für freizügigkeitsberechtigte
Familienangehörige von Unionsbürgern aus. Seit dem 3. November 2009 halten
sich die Ehefrau und die Tochter des Klägers nicht mehr Bundesgebiet auf. Der
Kläger verzog im Februar 2011 in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten.
Nach Anhörung des Klägers stellte der Beklagte mit Bescheid vom 19. Juli 2011
den Verlust des Freizügigkeitsrechts fest, widerrief die Aufenthaltskarte, forderte
den Kläger zur Ausreise aus dem Bundesgebiet auf und drohte ihm die
Abschiebung nach Serbien oder einen anderen zur Aufnahme bereiten Staat an.
Zur Begründung wies der Beklagte darauf hin, dass der Kläger sein nur
abgeleitetes Freizügigkeitsrecht verloren habe, nachdem die
freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen das Bundesgebiet verlassen
hätten. Gründe, die gegen den Verlust des Freizügigkeitsrechts sprächen, seien
nicht ersichtlich. Die Familienangehörigen lebten in Frankreich und dem nur
kurzen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet stehe ein deutlich länger
währender nur geduldeter Aufenthalt gegenüber.
Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht Hannover mit Urteil
vom 22. Juni 2012 abgewiesen. Die sich aus dem Freizügigkeitsgesetz/EU
ergebenden Voraussetzungen für die Feststellung des Verlustes des
Freizügigkeitsrechts und den Widerruf der Aufenthaltskarte lägen vor. Der Kläger
habe sein lediglich akzessorisches Freizügigkeitsrecht verloren, nachdem die
Familienangehörigen, von denen er sein Recht abgeleitet habe, im November
2009 ihren ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet beendet hätten. Die
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Verlustfeststellung sei auch innerhalb der zu beachtenden Fünfjahresfrist erfolgt.
Denn diese Frist beginne erst mit der Begründung eines rechtmäßigen, also in
Ausübung des Freizügigkeitsrechts begründeten oder fortgesetzten ständigen
Aufenthalts im Bundesgebiet. Das danach eröffnete Ermessen habe der
Beklagte rechtsfehlerfrei ausgeübt.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seinem Antrag auf Zulassung
der Berufung, für den er auch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe begehrt.
II.
Der Zulassungsantrag des Klägers bleibt ohne Erfolg.
Die von dem Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen
Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nach § 124 Abs. 2
Nr. 1 VwGO (1.), der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten
nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (2.) und der grundsätzlichen Bedeutung nach
§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (3.) sind teilweise schon nicht in einer den
Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt
und liegen im Übrigen nicht vor.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im
Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind zu bejahen, wenn aufgrund der
Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des
Verwaltungsgerichts gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung
sprechende Gründe zutage treten (vgl. Senatsbeschl. v. 11.2.2011 -
8 LA 259/10 -, juris Rn. 3). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf
das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der
angefochtenen Entscheidung führen wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004 -
7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542, 543).
Der Kläger wendet gegen die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ein,
das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die Einhaltung der zu beachtenden
Fünfjahresfrist angenommen. Nach dem Gesetzeswortlaut dürfe der Verlust des
Freizügigkeitsrechts nur dann festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen
des Freizügigkeitsrechts innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des
ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen seien. Ein rechtmäßiger
Aufenthalt sei hingegen nicht erforderlich. Diese Annahme werde bestätigt durch
einen Vergleich mit den Bestimmungen zum Daueraufenthaltsrecht, die
ausdrücklich einen seit fünf Jahren ständig rechtmäßigen Aufenthalt im
Bundesgebiet forderten. Diese höheren Anforderungen an die Qualität des
ständigen Aufenthalts seien nur bei dem Entstehen des Daueraufenthaltsrechts
gerechtfertigt, da dieses über das einfache Freizügigkeitsrecht hinausgehend
etwa dazu berechtige, den ständigen Aufenthalt in jedem Mitgliedsstaat zu
nehmen, und der Verlust nur unter erschwerten Bedingungen eintreten könne.
Die mit dieser Auslegung der Fünfjahresfrist verbundene Folge, dass bei langen
Aufenthaltszeiten vor Entstehen des Freizügigkeitsrechts unter Umständen
schon im Zeitpunkt dessen Entstehens eine Verlustfeststellung nicht mehr
erfolgen dürfe, sei entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts aufgrund des
eindeutigen Wortlauts hinzunehmen. Da er - der Kläger - sich schon seit 1991
ständig im Bundesgebiet aufgehalten habe, sei die Feststellung des Verlusts
seines im Jahre 2007 erworbenen Freizügigkeitsrechts nicht mehr zulässig.
Dieser Einwand ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der
erstinstanzlichen Entscheidung zu begründen.
Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von
Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) - vom 30. Juli 2004
(BGBl. I, S. 1950), in der hier maßgeblichen zuletzt durch Gesetz vom 17. Juni
2013 (BGBl. I S. 1555) geänderten Fassung (vgl. zum für die Beurteilung der
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Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts bei der Anfechtung
einer Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts: VG München, Urt.
v. 11.4.2013 - M 10 K 12.5130 -, juris Rn. 27; VG Stuttgart, Urt. v. 8.12.2011 -
11 K 2142/11 -, juris Rn. 23 f.; GK-AufenthG, Stand: Oktober 2010,
FreizügG/EU, § 5 Rn. 64), kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1
FreizügG/EU festgestellt und bei Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger
sind, die Aufenthaltskarte eingezogen werden, wenn die Voraussetzungen des
Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach
Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind.
Die Möglichkeit zur Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach
dieser Bestimmung erlischt entgegen der Auffassung des Klägers nicht schon
dann, wenn sich der Ausländer bloß tatsächlich fünf Jahre ständig im
Bundesgebiet aufgehalten hat. Die Fünfjahresfrist des § 5 Abs. 4 Satz 1
FreizügG/EU beginnt vielmehr erst dann zu laufen, wenn der Unionsbürger oder
der Familienangehörige eines Unionsbürgers in Ausübung seines
Freizügigkeitsrechts seinen ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet begründet
oder fortsetzt (vgl. VG Berlin, Urt. v. 14.6.2012 - 20 K 239.11 -, juris Rn. 24;
Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2013, FreizügG/EU, § 5 Rn. 22 f.;
Lüdke, Die Irrungen und Wirrungen des neuen FreizügG/EU, in: InfAuslR 2005,
177 f.; a.A. VG Osnabrück, Urt. v. 19.4.2010 - 5 A 63/09 -, juris Rn. 42 f.).
Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU.
Danach setzt die Verlustfeststellung voraus, dass "die Voraussetzungen des
Rechts nach § 2 Abs. 1 innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des
ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen" sind. "Entfallen" kann schon
nach dem Wortsinn nur etwas, was einmal vorhanden gewesen ist
(vgl. Grimm/Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 3, Spalte 513 f.). Ein Entfallen
der "Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1" FreizügG/EU setzt nach
dem Wortlaut des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU mithin voraus, dass der
Betroffene diese Voraussetzungen vorausgehend erfüllt hatte, und zwar im
Zeitpunkt der "Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet" (vgl. zur
hier nicht entscheidungserheblichen Frage der entsprechenden Anwendbarkeit
des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU, wenn zu keinem Zeitpunkt ein
Freizügigkeitsrecht bestanden hat: OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 2.4.2009 -
7 A 11053/08 -, juris Rn. 17; VG Osnabrück, Urt. v. 19.4.2010, a.a.O., Rn. 39 f.;
GK-AufenthG, a.a.O., § 5 Rn. 52 jeweils m.w.N.). Die anderslautende Annahme
des Verwaltungsgerichts Osnabrück (Urt. v. 19.4.2010, a.a.O., Rn. 42) teilt der
Senat nicht, da der Wortlaut der Bestimmung, anders als es das
Verwaltungsgericht Osnabrück meint, gerade nicht fordert, "dass die
Verlustfeststellung innerhalb von fünf Jahren nach der Begründung eines
ständigen Aufenthalts in dem Bundesgebiet erfolgt" (vgl. zur Möglichkeit der
Verlustfeststellung auch noch nach Ablauf der Fünfjahresfrist: VG Berlin, Urt.
v. 14.6.2012, a.a.O., Rn. 21 f.).
Das durch die Wortlautauslegung gewonnene Ergebnis wird durch Sinn und
Zweck des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU bestätigt. Das Erlöschen der
Möglichkeit zur Feststellung eines Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach § 5
Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU bezweckt ebenso wie die Zuerkennung eines
Daueraufenthaltsrechts in § 4a FreizügG/EU den Schutz und die Bewahrung
nicht einer gelungenen Integration als solcher (so aber VG Osnabrück, Urt.
v. 19.4.2010, a.a.O., Rn. 45), sondern gerade der durch den
freizügigkeitsgestützten Voraufenthalt vermittelten, jedenfalls aber erhöhten
Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.5.2012 -
10 C 8.12 -, NVwZ-RR 2012, 821, 823; Gesetzentwurf der Bundesregierung,
Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und
zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und
Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BT-Drs. 15/420, S. 103; Erwägungsgrund
Nr. 17 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
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29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen,
sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl.
EU L 158, S. 77).
Auch die systematische Auslegung bestätigt das gefundene Ergebnis.
Der Kläger weist für sich zwar zutreffend darauf hin, dass die Formulierungen in
Satz 1 ("Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im
Bundesgebiet aufgehalten haben, …") und Satz 2 ("Ihre Familienangehörigen,
die nicht Unionsbürger sind, haben dieses Recht, wenn sie sich seit fünf Jahren
mit dem Unionsbürger ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten
haben.") des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU sich von der in § 5 Abs. 4 Satz 1
FreizügG/EU ("Sind die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 innerhalb
von fünf Jahren nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet
entfallen") verwendeten Formulierung unterscheiden und hieraus sowie aus den
unterschiedlichen Regelungsinhalten auch auf unterschiedliche materielle
Anforderungen an den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a
FreizügG/EU und die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach
§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU geschlossen werden könnte. Dies blendet aber
aus, dass auch § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU nicht nur an den "ständigen
Aufenthalt" im Bundesgebiet anknüpft. Wie ausgeführt fordert diese Bestimmung
schon nach ihrem Wortlaut und ihrem Sinn und Zweck, dass die
Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU während des
ständigen Aufenthalts vorgelegen haben und nachträglich entfallen sind. Damit
fordert auch § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU einen rechtmäßigen, nämlich an die
Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU anknüpfenden
ständigen Aufenthalt. Zugleich definiert die Bestimmung die Voraussetzungen
für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts dahingehend, dass es nicht nur auf die
Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach nationalen Vorschriften, sondern
entscheidend auf die Freizügigkeitsberechtigung des Betroffenen ankommt
(vgl. BVerwG, Urt. v. 31.5.2012, a.a.O.).
Auch die Systematik der Richtlinie 2004/38/EG spricht dagegen,
unterschiedliche Anforderungen an das Vorliegen eines ständigen Aufenthalts
im Sinne der Bestimmungen der §§ 4a Abs. 1 und 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU
zu stellen. Aus der Systematik der Richtlinie ergibt sich ein gestuftes System von
Aufenthaltsrechten, das im Recht auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1
Richtlinie 2004/38/EG bzw. § 4a Abs. 1 FreizügG/EU mündet. Damit richtet sich
die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auch in Art. 16 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG
nicht nach dem im jeweiligen Aufnahmemitgliedstaat geltenden nationalen
Recht. Vielmehr setzt das Entstehen eines Rechts auf Daueraufenthalt
unionsrechtlich voraus, dass der Betroffene während einer Aufenthaltszeit von
mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des
Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG erfüllt hat (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-
424/10 u.a. -, NVwZ-RR 2012, 121, 122 f. (Ziolkowski u.a. ./. Deutschland);
BVerwG, Urt. v. 31.5.2012, a.a.O.). Würde man demgegenüber die Möglichkeit
der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 Satz 1
FreizügG/EU, die als solche eine rein nationale (Verfahrens-)Vorschrift ist und in
der Richtlinie 2004/38/EG keine Entsprechung findet (vgl. GK-AufenthG, a.a.O.,
§ 5 Rn. 42), nicht erst nach fünf Jahren des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts,
sondern schon nach fünf Jahren des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet
ausschließen, entstünde neben der Systematik der Aufenthaltsrechte nach der
Richtlinie 2004/38/EG ein weiteres unionsrechtlich fundiertes Aufenthaltsrecht,
das entgegen der Systematik der Richtlinie 2004/38/EG aber nicht für ein
Daueraufenthaltsrecht qualifiziert (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 5 Rn. 22). Dass der
nationale Gesetzgeber der in § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU getroffenen
Regelung eine solche Wirkung beimessen und insoweit eine überschießende
Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG vornehmen wollte, vermag der Senat nicht
zu erkennen.
Das danach gebotene Verständnis des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU hat auch
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das Verwaltungsgericht der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegt und
das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für die Feststellung des
Verlustes des Freizügigkeitsrechts des Klägers zutreffend bejaht. Dieser hat als
Familienangehöriger eines Unionsbürgers in Ausübung seines allein
akzessorischen Freizügigkeitsrechts seinen ständigen Aufenthalt im
Bundesgebiet erst ab März 2007 fortgesetzt. Sein Freizügigkeitsrecht ist vor
Ablauf der Fünfjahresfrist erloschen, als seine Ehefrau und die gemeinsame
Tochter im November 2009 das Bundesgebiet verlassen und einen ständigen
Aufenthalt in Frankreich begründet haben (vgl. GK-AufenthG, a.a.O., § 5 Rn. 57).
Der Kläger wendet gegen die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung
weiter ein, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht Ermessensfehler des
angefochtenen Bescheides verneint. Es habe die Ermessenserwägungen
anhand falscher Kriterien überprüft und weder die familiäre Lebensgemeinschaft
mit seinem deutschen Kind noch seinen langjährigen Aufenthalt im
Bundesgebiet angemessen berücksichtigt. Er sei Vater des am H. 2010
geborenen und im Bundesgebiet lebenden deutschen Staatsangehörigen I., mit
dem er zwar nicht in einer häuslichen Gemeinschaft lebe, aber regelmäßig
Umgang habe. Diese Umstände begründeten zu seinen Gunsten eine
Reduzierung des Ermessens dahingehend, von der Verlustfeststellung
abzusehen.
Auch dieser Einwand ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der
erstinstanzlichen Entscheidung zu begründen.
§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU stellt die Feststellung des Verlusts der Rechts
auf Freizügigkeit in das Ermessen der Behörde. Im Rahmen der durch das
Gericht gemäß § 114 Satz 1 VwGO durchzuführenden Rechtmäßigkeitsprüfung
ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte die Grenzen des
ihm zustehenden Ermessensspielraums verkannt oder von dem Ermessen in
einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch
gemacht hätte.
Nichts anderes ergibt sich im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der
Verlustfeststellung, insbesondere unter Berücksichtigung der sich aus Art. 6
Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK ergebenden Schutzwirkungen.
Ein etwaiges familiäres Zusammenleben des Klägers mit seinem am H. 2010
geborenen und im Bundesgebiet lebenden Sohn, dem deutschen
Staatsangehörigen I., wird durch die Verlustfeststellung nicht tangiert.
Ungeachtet der Frage, ob zwischen dem Kläger und seinem Sohn angesichts
der wohl eher sporadischen Umgangskontakte und der Absicht des Klägers, zu
seiner in Frankreich lebenden Ehefrau und der gemeinsamen Tochter zu
ziehen, überhaupt eine nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige familiäre
Lebensgemeinschaft besteht (vgl. zu den Anforderungen: Senatsbeschl.
v. 12.03.2013 - 8 LA 13/13 -, juris Rn. 24; v. 14.10.2010 - 8 PA 234/10 -, juris
Rn. 18 m.w.N.), wäre der Kläger zur tatsächlichen Führung einer solchen nicht
auf den Fortbestand des Freizügigkeitsrechts angewiesen. Er hat sein
akzessorisches Freizügigkeitsrecht nicht von seinem Sohn, sondern von seiner
am J. 2006 geborenen Tochter und seiner Ehefrau, die beide französische
Staatsangehörige sind, abgeleitet. Die Führung einer etwa gewünschten
familiären Lebensgemeinschaft mit seinem Sohn würde durch die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27, 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG hinreichend
ermöglicht.
Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf den Schutz nach Art. 8 EMRK
berufen.
Bezogen auf den Schutz der Familie nach Art. 8 Abs. 1 EMRK verweist der
Senat auf seine vorstehenden Ausführungen im Zusammenhang mit dem
Schutzgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG. Art. 8 EMRK kann dort, wo sein
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Anwendungsbereich sich mit dem des Art. 6 Abs. 1 GG deckt, keine
weitergehenden als die durch Art. 6 Abs. 1 GG vermittelten Schutzwirkungen
entfalten. Das ist unter anderem für das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern
der Fall; diese Beziehungen werden vom Schutzbereich beider Vorschriften
umfasst (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.12.1997 - 1 C 20.97 -, NVwZ 1998, 748, 750).
Im Hinblick auf den darüber hinausgehenden Schutz des Privatlebens nach
Art. 8 EMRK ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen des Klägers nicht, dass
es ihm gerade während des nur circa zweieinhalb Jahre währenden Zeitraums
des Innehabens eines Freizügigkeitsrechts gelungen wäre, sich derart in die
hiesigen Lebensverhältnisse zu integrieren, dass ihm ein Verlassen des
Bundesgebiets unzumutbar geworden ist. Auch in dem vorausgegangenen,
circa sechzehn Jahre währenden Zeitraum des Aufenthalts im Bundesgebiet ist
eine nach Art. 8 EMRK schutzwürdige Integration in die hiesigen
Lebensverhältnisse nicht entstanden. Denn der Kläger hat sich in diesem
Zeitraum - abgesehen von der nach § 55 Abs. 3 AsylVfG unerheblichen Zeit der
Durchführung eines Asylverfahrens - ohne einen erforderlichen Aufenthaltstitel
im Bundesgebiet aufgehalten, war also ausreisepflichtig und hat die bestehende
Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise gleichwohl nicht wahrgenommen. Während
solcher Aufenthaltszeiten kann nach der ständigen Rechtsprechung des Senats
eine durch Art. 8 EMRK geschützte Verwurzelung regelmäßig nicht entstehen
(vgl. mit eingehender Begründung: Senatsbeschl. v. 29.3.2011 - 8 LB 121/08 -,
juris Rn. 52 f.).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher
Schwierigkeiten zuzulassen. Solche Schwierigkeiten sind nur dann
anzunehmen, wenn die Beantwortung einer entscheidungserheblichen
Rechtsfrage oder die Klärung einer entscheidungserheblichen Tatsache in
qualitativer Hinsicht mit überdurchschnittlichen Schwierigkeiten verbunden ist
(vgl. Senatsbeschl. v. 26.1.2011 - 8 LA 103/10 -, juris Rn. 44). Daher erfordert
die ordnungsgemäße Darlegung dieses Zulassungsgrundes eine konkrete
Bezeichnung der Rechts- oder Tatsachenfragen, in Bezug auf die sich solche
Schwierigkeiten stellen, und Erläuterungen dazu, worin diese besonderen
Schwierigkeiten bestehen (vgl. Senatsbeschl. v. 11.10.2010 - 8 LA 65/10 -, juris
Rn. 17; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 124a Rn. 53).
Diesen Anforderungen trägt das Zulassungsvorbringen nicht hinreichend
Rechnung. Der Kläger hat zwar eine konkrete Rechtsfrage formuliert, aber nicht
dargelegt, mit welchen besonderen, also in qualitativer Hinsicht
überdurchschnittlichen Schwierigkeiten die Beantwortung dieser Frage
verbunden sein sollte. Im Übrigen vermag die abweichende Beurteilung - wie
hier dargelegt - eines Verwaltungsgerichts allein eine besondere rechtliche
Schwierigkeit der Rechtssache nicht zu begründen (vgl. Bader, in: Bader u.a.,
VwGO, 5. Aufl. 2010, § 124 Rn.38).
3. Die Berufung ist schließlich nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der
Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Eine solche
grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine
höchstrichterlich noch nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine obergerichtlich
bislang ungeklärte Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich
im Rechtsmittelverfahren stellen würde und im Interesse der Einheit der
Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer
fallübergreifenden Klärung durch das Berufungsgericht bedarf
(vgl. Senatsbeschl. v. 12.7.2010 - 8 LA 154/10 -, juris Rn. 3;
Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: August 2012, § 124 Rn. 30 f. m.w.N.).
Um die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124a Abs. 4
Satz 4 VwGO darzulegen, hat der Zulassungsantragsteller die für
fallübergreifend gehaltene Frage zu formulieren sowie näher zu begründen,
weshalb sie eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat und ein
allgemeines Interesse an ihrer Klärung besteht. Darzustellen ist weiter, dass sie
entscheidungserheblich ist und ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten
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steht (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 17.2.2010 - 5 LA 342/08 -, juris
Rn. 12; Schoch/Schneider/Bier, a.a.O., § 124a Rn. 103 f.).
Hieran gemessen kommt der vom Kläger aufgeworfenen Frage,
ob im Rahmen des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU der Verlust des
Freizügigkeitsrechts nur dann nicht mehr festgestellt werden darf, wenn
sich der Betroffene seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet
aufhält oder ob die Verlustfeststellung bereits dann nicht mehr möglich ist,
wenn sich der Betroffene seit fünf Jahren ständig im Bundesgebiet aufhält,
eine die Zulassung der Berufung rechtfertigende grundsätzliche Bedeutung
nicht zu. Die Frage ist, wie zu 1. ausgeführt, anhand des Gesetzes und
juristischer Auslegungsmethoden zu beantworten, ohne dass es hierzu der
Durchführung eines Berufungsverfahrens bedürfte.
Auch der weitere Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nach § 166
VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO abzulehnen, weil der
Berufungszulassungsantrag, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen
ergibt, keine Aussicht auf Erfolg hat.