Urteil des OVG Niedersachsen vom 21.03.2014

OVG Lüneburg: aufschiebende wirkung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, aufenthaltserlaubnis, befristung, vorläufiger rechtsschutz, beendigung, geldstrafe, vollziehung, erlass, sozialstaat

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Sofortvollzug der nachträglichen Befristung einer
Aufenthaltserlaubnis.
Die Anordnung des Sofortvollzugs der nachträglichen Befristung einer
Aufenthaltserlaubnis erfordert ein über das Interesse am Erlass des
Verwaltungsakts hinausgehendes besonderes öffentliches Interesse an
einer Beendigung des Aufenthalts des Betreffenden vor Eintritt der
Unanfechtbarkeit.
OVG Lüneburg 8. Senat, Beschluss vom 21.03.2014, 8 ME 24/14
§ 28 Abs 1 S 1 Nr 1 AufenthG, § 50 Abs 1 AufenthG, § 59 AufenthG, § 7 Abs 2 S 2
AufenthG, § 146 Abs 4 VwGO, § 80 Abs 1 S 1 VwGO, § 80 Abs 1 S 2 VwGO, § 80
Abs 2 S 1 Nr 4 VwGO, § 80 Abs 5 VwGO
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des
Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 10. Februar 2014
geändert.
Die aufschiebende Wirkung der vom Antragsteller vor dem Verwaltungsgericht
Oldenburg am 27. Dezember 2013 - 11 A 7120/13 - erhobenen Klage wird
wiederhergestellt, soweit sie sich gegen die nachträgliche Befristung der
Aufenthaltserlaubnis in Nr. 1 des Bescheides des Antragsgegners vom
25. November 2013 richtet, und wird angeordnet, soweit sie sich gegen die
Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheides des Antragsgegners vom
25. November 2013 richtet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens und der Streitwert des
erstinstanzlichen Verfahrens vorläufigen Rechtszuges werden auf jeweils
2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts hat Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende
Wirkung der vom Antragsteller vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg am
27. Dezember 2013 - 11 A 7120/13 - erhobenen Klage wiederherzustellen,
soweit sie sich gegen die nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis in
Nr. 1 des Bescheides des Antragsgegners vom 25. November 2013 richtet,
und anzuordnen, soweit sie sich gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 3
des Bescheides des Antragsgegners vom 25. November 2013 richtet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende
Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen. Ist die sofortige
Vollziehung von der Behörde den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3
Satz 1 VwGO genügend angeordnet worden, so setzt die gerichtliche
Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO über die Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung der Klage eine Abwägung des Interesses des
Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis
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zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu
bleiben, gegen das vorrangig öffentliche Interesse an dessen sofortiger
Vollziehung voraus (vgl. Senatsbeschl. v. 16.3.2004 - 8 ME 164/03 -, NJW
2004, 1750 m.w.N.).
Im Rahmen dieser Abwägung hat das Verwaltungsgericht zutreffend
berücksichtigt, dass dem öffentlichen Vollzugsinteresse überhaupt nur dann
Vorrang eingeräumt werden kann, wenn der angefochtene Verwaltungsakt
voraussichtlich auch im Hauptsacheverfahren Bestand haben, mithin sich als
rechtmäßig erweisen wird. Die Annahme der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit
des Bescheides des Antragsgegners vom 25. November 2013 ist auch unter
Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens nicht zu beanstanden, soweit
mit diesem die dem Antragsteller nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zum
Zusammenleben mit seiner Ehefrau, der deutschen Staatsangehörigen B.,
zunächst befristet bis zum 9. Dezember 2014 erteilte Aufenthaltserlaubnis
nachträglich bis zum 15. Dezember 2013 befristet worden ist.
Das Verwaltungsgericht hat indes nicht hinreichend berücksichtigt, dass für die
Anordnung des Sofortvollzugs der nachträglichen Befristung einer
Aufenthaltserlaubnis, die als schwerwiegende Maßnahme nicht selten tief in
das Schicksal des Betroffenen eingreift und deren Gewicht durch die
Anordnung des Sofortvollzugs noch zusätzlich verschärft wird, ein über das
Interesse am Erlass des Verwaltungsakts hinausgehendes besonderes
öffentliches Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Betreffenden
vor Eintritt der Unanfechtbarkeit erforderlich ist (vgl. BVerfG, Beschl.
v. 25.1.1996 - 2 BvR 2718/95 -, juris Rn. 20; VGH Baden-Württemberg, Beschl.
v. 29.4.2013 - 11 S 581/13 -, juris Rn. 18; OVG Bremen, Beschl. v. 23.4.2010 -
1 B 44/10 -, juris Rn. 12; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 19.5.2009 -
18 B 421/09 -, juris Rn. 8 f.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 6.6.2008 -
19 CS 08.1233 -, juris Rn. 4 f.; Hessischer VGH, Beschl. v. 30.7.2007 -
9 TG 1360/07 -, juris Rn. 3 f.).
An einem solchen besonderen öffentlichen Interesse fehlt es hier.
Es ergibt sich nicht aus dem allgemeinen öffentlichen Interesse an der
Einhaltung aufenthaltsrechtlicher Vorschriften. Der Gesetzgeber hat durch die
Regelung des § 84 Abs. 1 AufenthG zu erkennen gegeben, im Falle des § 7
Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Regelfall keinen das Abwarten des
Hauptsacheverfahrens entgegenstehenden unverzüglichen Handlungsbedarf
zu sehen, es vielmehr beim Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO bleiben sollte,
wonach der Klage aufschiebende Wirkung zukommt. Die infolgedessen
bestehende aufschiebende Wirkung einer Klage gegen einen auf § 7 Abs. 2
Satz 2 AufenthG gestützten Bescheid und die hieran anknüpfende Möglichkeit
während des Rechtsmittelverfahrens im Bundesgebiet zu bleiben, ist Folge
des gesetzlichen, durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechtsschutzsystems
(vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 19.5.2009, a.a.O., Rn. 15).
Ein besonderes öffentliches Interesse an einer sofortigen Beendigung des
Aufenthalts des Antragstellers ergibt sich auch nicht mit Blick auf eine
Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Der Antragsteller ist zwar
im Bundesgebiet strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er wurde durch Urteil
des Amtsgerichts C. vom 30. Januar 2009 - 23 Cs 26 Js 7764/08 - wegen
Urkundenfälschung in Tateinheit mit Erschleichen eines Aufenthaltstitels zu
einer Geldstrafe von 110 Tagessätzen und durch Urteil des Amtsgerichts D.
vom 21. Mai 2012 - 3 Cs 66 Js 7826/12 - wegen vorsätzlichen Fahrens trotz
Fahrverbots zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. Das
Amtsgericht D. verhängte gegen den Kläger mit Strafbefehl vom 25. Februar
2013 - 5 Cs 22 Js 13617/13 - wegen Körperverletzung in Tateinheit mit
Beleidigung eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen. Aus diesen Verurteilungen
allein kann aber nicht auf die konkrete Gefahr erneuter strafrechtlicher
Verfehlungen des Antragstellers gerade in der Zeit bis zum Eintritt der
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Unanfechtbarkeit des Bescheides vom 25. November 2013 geschlossen
werden.
Ein besonderes öffentliches Interesse an einer sofortigen Beendigung des
Aufenthalts des Antragstellers ergibt sich schließlich nicht mit Blick auf eine
mögliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts. Hier ist schon nicht ersichtlich, dass der Antragsteller derzeit
Sozialleistungen bezieht. Nach dem unwidersprochenen Vorbringen des
Antragstellers befindet er sich in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis. Das
Jobcenter des Antragsgegners teilte am 6. November 2013 (Blatt 554 der
Beiakte D) mit, dass der Antragsteller keine Leistungen nach dem SGB II
bezieht. Der Antragsgegner selbst weist auch nur darauf hin, dass der
Antragsteller "möglicherweise dem Sozialstaat zur Last fallen" (vgl. Bescheid
v. 25.11.2013, dort S. 6) wird.
Hat damit der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der
Klage Erfolg, soweit sie sich gegen die für sofort vollziehbar erklärte
nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis in Nrn. 1 und 4 des
Bescheides des Antragsgegners vom 25. November 2013 richtet, ist auch die
aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Nr. 3 dieses Bescheides
verfügte Abschiebungsandrohung anzuordnen. Die wiederhergestellte
aufschiebende Wirkung der Klage erfasst nach § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO auch
die rechtsgestaltende nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis, so
dass aus dieser rechtliche Folgerungen nicht gezogen werden dürfen
(vgl. zum Inhalt der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO:
BVerwG, Urt. v. 6.7.1973 - BVerwG IV C 79.69 -, Buchholz 310 § 80 VwGO
Nr. 23; Finkelnburg/Dombert/Külp-mann, Vorläufiger Rechtsschutz im
Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl., Rn. 630 f. mit zahlreichen weiteren
Nachweisen zur Rechtsprechung). Dem Antragsgegner ist es daher derzeit
verwehrt, sich auf die allein durch die nachträgliche Befristung der
Aufenthaltserlaubnis gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG entstandene gesetzliche
Ausreisepflicht zu berufen und dem Antragsteller die Abschiebung
anzudrohen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf
§§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Die Änderung der
Festsetzung des Streitwertes für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen
Rechtsschutzes erfolgt gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.