Urteil des OVG Niedersachsen vom 14.11.2012

OVG Lüneburg: persönlichkeitsstörung, diagnose, schuldfähigkeit, in dubio pro reo, psychotherapeutische behandlung, wiederaufnahme des verfahrens, beweismittel, icd, neue tatsache, psychische störung

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Wiederaufnahme eines Disziplinarverfahrens
Zu den Anforderungen an die Begründung eines Wiederaufnahmeantrags für
ein Disziplinarverfahren bei Geltendmachung neuer Erkenntnisse hinsichtlich
der im Ausgangsverfahren nach sachverständiger Begutachtung verneinten
Verminderung der Schuldfähigkeit.
OVG Lüneburg 19. Senat, Urteil vom 14.11.2012, 19 LD 10/10
§ 64 Abs 1 Nr 2 DG ND, § 64 Abs 2 S 1 DG ND, § 66 Abs 1 DG ND
Tatbestand
Der Antragsteller begehrt die Wiederaufnahme eines Disziplinarverfahrens, das
zu seiner Entfernung aus dem Dienst geführt hat.
Mit Urteil vom 28. März 2006 hat das Verwaltungsgericht ihn wegen einer
Vielzahl von Dienstverletzungen im Zeitraum von 19... bis 20... eines
Dienstvergehens für schuldig befunden, ihn aus dem Dienst entfernt und ihm
einen Unterhaltsbeitrag in Höhe von 75 v. H. des im Zeitpunkt der Rechtskraft
des Urteils erdienten Ruhegehalts für die Dauer von 6 Monaten bewilligt. Die
hiergegen gerichtete Berufung hat der 20. Senat dieses Gerichts mit Urteil vom
6. März 2008 (- 20 LD 10/06 -) zurückgewiesen. Zur Frage der Schuldfähigkeit
des Antragstellers hat er ausgeführt:
"Diese Dienstpflichtverletzungen hat der Beamte schuldhaft im Sinne von §
85 Abs. 1 Satz 1 NBG begangen. Der Senat schließt sich insoweit den
erstinstanzlichen Ausführungen an, wonach die in dem eingeholten
Gutachten von Dr. med. F. vom 9. November 2005 unter Einbeziehung
des Testpsychologischen Zusatzgutachtens von Dr. G. vom 4. September
2005 enthaltenen Feststellungen und Bewertungen nachvollziehbar sind.
Nach ihrer Auffassung könnte bei dem Beamten allenfalls eine leichte bis
mittelschwere depressive Symptomatik vorgelegen haben, während
Anhaltspunkte für eine (zumindest erheblich verminderte)
Schuldunfähigkeit aufgrund einer schweren depressiven Episode im
streitgegenständlichen Zeitraum nicht vorliegen. Die Feststellungen und
Bewertungen der Sachverständigen werden durch die vorliegenden
amtsärztlichen und privatärztlichen Stellungnahmen bestätigt bzw.
jedenfalls nicht widerlegt. Letztes gilt insbesondere für die Stellungnahmen
des den Beamten behandelnden Arztes Dr. H. vom 30. April 2003 und 7.
März 2005 und den Berichten von Dr. I. vom 18. März 2004 und 1. März
2005, die - wie das Verwaltungsgericht eingehend dargelegt hat - nicht
geeignet sind, den Ausführungen im Sachverständigengutachten in Bezug
auf die Nichtfeststellbarkeit einer schweren depressiven Störung
entgegenzutreten.
Auch die im Berufungsverfahren gegen die erstinstanzliche Würdigung des
Gutachtens von Dr. med. F. vorgetragenen Einwände des Beamten greifen
nicht durch und ziehen ihre Schlussfolgerung seiner Schuldfähigkeit zum
damaligen Zeitpunkt nicht in Zweifel.
Soweit nach Auffassung des Beamten die Gutachterin lediglich die für den
streitgegenständlichen Zeitraum vorliegenden Befundunterlagen
wiedergegeben habe, ohne eine eigene Bewertung vorzunehmen, ist
dieser Einwand in der Sache nicht begründet. Denn die Gutachterin hat auf
den Seiten 39 bis 42 ausführlich zur der Frage des Vorliegens einer
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Schuldunfähigkeit und einer verminderten Schuldfähigkeit in wertender
Betrachtungsweise unter Berücksichtigung der Befundunterlagen Stellung
genommen. Sie hat - worauf das Verwaltungsgericht zutreffend
hingewiesen hat (UA S. 14 oben) - ausgeführt und im Einzelnen
begründet, dass aufgrund der damaligen Diagnose und ihrer eigenen
Einschätzung der Erkrankung des Beamten aus psychiatrischer Sicht die
Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit wegen Schwachsinns, einer
tiefgreifenden Bewusstseinstörung oder einer krankhaften seelischen
Störung ausscheide, zumal keine Hinweise auf eine schwere depressive
Störung vorlägen. Auch erfülle die festgestellte psychische Störung nicht
die Voraussetzungen für die Einordnung als schwere seelische Abartigkeit.
Insgesamt ergäben sich keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer
Schuldunfähigkeit sowie einer Herabsetzung der Einsichts- und
Steuerungsfähigkeit aufgrund persönlichkeitsbedingter Auffälligkeiten, die
auf eine verminderte Schuldfähigkeit schließen lassen könnten.
Den Feststellungen der Gutachterin kann der Beamte nicht erfolgreich mit
der Begründung entgegentreten, dass nach den Ausführungen des
Amtsarztes Dr. med. J. vom 4. Dezember 2006 (GA, Bl. 179 ff.) die in dem
Testpsychologischen Zusatzgutachten von Dr. G. vom 4. September 2005
durchgeführten psychologischen Testverfahren nicht geeignet seien,
direkte Diagnosen aus ihnen abzuleiten. Denn die Gutachterin hat ihre
Feststellungen nicht allein auf Grundlage der Ergebnisse der
Testverfahren, sondern im Wesentlichen aufgrund der vorliegenden
Befundunterlagen und eigener Anschauung unter Berücksichtigung der
Erkenntnisse aus dem Zusatzgutachten getroffen. Das Zitat der Äußerung
des Amtsarztes Dr. med. J. in dessen Stellungnahme vom 4. Dezember
2006 ist aus dem Zusammenhang gerissen. Der Amtsarzt konkretisiert die
Aussagekraft der psychologischen Testverfahren nachfolgend
dahingehend, dass diese Testverfahren dem Untersucher unter anderem
wichtige Hinweise auf bestimmte Richtungen geben, die aber in jedem Fall
intensiv mit dem klinischen Eindruck abgeglichen werden müssen.
Anhaltspunkte, dass die Sachverständige Dr. med. F. die Ergebnisse der
Testverfahren anders behandelt und sie nicht mit den klinischen Befunden
abgeglichen hat, sind indes nicht ersichtlich.
Die Schuldfähigkeit des Beamten bei der Verletzung der ihm obliegenden
Dienstpflichten ist im Übrigen auch deshalb zu bejahen, weil es sich um
Verstöße gegen Kernpflichten eines Lehrers handelt, die leicht einsehbar
sind. In einem solchen Fall kann und muss im Hinblick auf die als
selbstverständlich zu fordernde und vorauszusetzende korrekte
Verhaltensweise von einem Beamten erwartet werden, dass er selbst bei
einer erheblich verminderten Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit noch
genügend Widerstandskraft gegen verbotenes bzw. nicht
richtlinienkonformes Verhalten im Dienst aufbietet (BVerwG, Urt. v.
16.3.1993 - 1 D 69.91 -, NJW 1993, 2632; Urt. v. 23.10.1996 - 1 D 55.96 -,
DÖD 1997, 159; vgl. auch NDH, Urt. v. 19.7.1999 - 1 NDH L 27/98 -; Nds.
OVG, Urt. v. 22.3.2007 - 19 LD 2/06 -). Der Einholung eines weiteren
Sachverständigengutachtens zur Frage, ob die Schuldfähigkeit des
Beamten zur Tatzeit erheblich vermindert war, bedarf es demnach nicht."
Im Zusammenhang mit der Erörterung von Milderungsgründen hat er ferner
ausgeführt:
"Die Voraussetzungen für den von dem Beamten geltend gemachten
Milderungsgrund einer psychischen Beeinträchtigung als Folge einer
negativen Lebensphase, die ein Absehen von der Entfernung aus dem
Dienst rechtfertigen könnte, liegen nicht vor. Der Milderungsgrund setzt
voraus, dass die Dienstpflichtverletzungen als Entgleisungen während
einer negativen Lebensphase anzusehen sind, die der Beamte infolge
einer psychischen Erkrankung begangen hat, und zu erwarten ist, dass er
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zukünftig entsprechende dienstliche Verfehlungen unterlassen wird (vgl.:
BVerwG, Urt. v. 10.11.1987 - BVerwG 1 D 24.87 - zitiert nach juris
Langtext, Rn. 17). Letzteres lässt sich jedoch nicht feststellen. Der Senat
kann insoweit zu Gunsten des Beamten unterstellen, dass er im Zeitraum
der hier abgeurteilten Dienstpflichtverletzungen an einer leichten bis
mittelschweren depressiven Symptomatik gelitten hat und sie mitursächlich
für die Begehung der Dienstpflichtverletzungen gewesen ist. Die bei dem
Beamten festgestellte Symptomatik mag zwar die Erfüllung der - leicht
einsehbaren - Kernpflichten eines Studienrats erschwert haben. Dennoch
ist dieses nicht mildernd zu berücksichtigen, weil der Beamte bereits seit
1993 in psychiatrischer Behandlung ist und auch nach einem
mehrmonatigen stationären Aufenthalt sowie den bereits früher verhängten
Disziplinarmaßnahmen nicht in der Lage gewesen ist, sein Verhalten zu
ändern und seine Dienstpflichten ordnungsgemäß zu erfüllen. Die
Erwartung, er werde zukünftig derartige dienstliche Verfehlungen
unterlassen, ist daher nicht begründet. Ein anderes Ergebnis folgt nicht
aus dem von dem Beamten (ungenau) zitierten Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Februar 1978 (- BVerwG 1 D 25.77 -,
BVerwGE 63, 11 ff.), da in dem dort zu entscheidenden Fall die
Schuldfähigkeit der betroffenen Beamtin als gegeben erachtet und ihre
Entfernung aus dem Dienst bestätigt wurde."
Mit seinem am 27. Dezember 20... eingegangenen Antrag auf Wiederaufnahme
des Disziplinarverfahrens hat der Antragsteller zunächst unter Beantragung der
zeugenschaftliche Vernehmung des Herrn Dipl.-Psychologen und
psychologischen Psychotherapeuten K. sowie der Einholung eines
Sachverständigengutachtens vorgetragen, vor weniger als drei Monaten (§ 66
Abs. 1 Satz 1 NDiszG), nämlich am 27. September 20...bzw. am 6. Oktober 20...,
seien Tatsachen bekannt geworden, die zu einer Wiederaufnahme des
Verfahrens berechtigten, weil er im Zeitpunkt der Begehung der Dienstvergehen
nicht schuldfähig gewesen sei. Am 27. September 20... habe er erstmals
tatsächliche Umstände gegenüber Herrn K. offenbart, die bereits seit dem Jahre
19... vorlägen. Herr K. habe am 6. Oktober 20...attestiert, dass die früheren
Diagnosen (schwere Depression und narzistische Persönlichkeitsstörung bzw.
leichte bis mittelgradige Depression) nicht aufrecht erhalten werden könnten.
Der Antragsteller leide an einer besonders schwer zu erkennenden psychischen
Störung, die auch in Fachkreisen oft fehlgedeutet werde. Es handele sich um
eine dissoziale und schizotype Persönlichkeitsstörung, wie sie bei "Messi-
Verhalten" regelmäßig attestiert werde.
Entscheidend sei die Diagnose, dass er schon im Jahr 19... und seitdem
fortwährend am Messi-Syndrom gelitten habe. Dies habe er zuvor niemandem
mitgeteilt und er sei auch krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen, dies zu
erkennen und bewusst mitzuteilen. Als Grundlage für die jetzige Diagnose habe
er berichtet, dass er im Jahr 19...bereits seit längerer Zeit mit der Führung seines
Haushalts derart überfordert gewesen sei, dass die Wohnung zunehmend
vermüllt sei. Seit dem Jahr 19... sei er episodenweise nicht fähig gewesen, seine
private Post zu öffnen. Seine außerschulischen zwischenmenschlichen
Kontakte hätten sich erheblich reduziert. Erst mit Beginn der Therapie bei Herrn
K. sei er in der Lage gewesen, das "Messi-Syndrom" anderen Menschen
gegenüber einzugestehen. Lediglich wenige Personen hätten seine Wohnung
ab 19... betreten.
Diese Tatsachen seien neu. Wären sie schon seinerzeit bekannt gewesen,
hätten sie zu einer anderen Entscheidung geführt, nämlich zur Feststellung
seiner Schuldunfähigkeit. Der Dienstherr hätte ihn deshalb in den vorzeitigen
Ruhestand versetzen oder eine amtsärztliche Untersuchung zur Feststellung
seiner Dienstfähigkeit veranlassen müssen. Er habe seinerzeit versäumt, in
Erfüllung seiner Fürsorgepflicht einen Hausbesuch beim Antragsteller
vorzunehmen, der das Ausmaß der Probleme offenbart hätte.
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Der Befundbericht vom 6. Oktober 20..., den der Antragsteller auf gerichtlichen
Hinweis vom 15. Oktober 2012 vorgelegt hat, lautet:
"Der o.g. Patient befindet sich seit dem 27.09.20... in meiner
psychotherapeutischen Behandlung.
Herr A. brachte umfangreiche Unterlagen über Vorbehandlungen bei und
berichtete u.a. auch, dass er unter dem sog. "Messi-Syndrom" leide. Zwar
habe er sich seit 19... mehrfach in psychotherapeutische Behandlung
begeben, die Beschwerden hätten gerade in diesem Bereich aber
persistiert.
In Würdigung des heutigen Zustandes des Herrn A. kann m.E. retrospektiv
nicht an der Diagnose einer schweren Depression und einer
narzisstischen Persönlichkeitsstörung festgehalten werden. Retrospektiv
ergibt sich nun eine neue Deutung, weil im Sprechen und Denken des
Herrn A. Hinweise auf Sinnverschiebungen zugenommen haben. Er
unterlegt teilweise Begriffe mit vom üblichen Alltagsverständnis
abweichenden Sinngehalten. Die interpersonale Wahrnehmung unterliegt
ebenfalls fortschreitenden Missdeutungen. Insofern stehen auch die ihm
zur Last gelegten Verfehlungen im Sinne dieser Entwicklungen in einem
neuen Licht.
Nunmehr ist deutlich, dass
- der Patient im Affekt inadäquat bzw. eingeschränkt fühlt.
- Er zeigt seltsames, exzentrisches und eigentümliches Verhalten.
- Verminderung der sozialen Bezüge mit der Tendenz zu sozialem
Rückzug.
- Noch sehr dezent mitunter auftretendes magisches Denken.
- Interpersonales Misstrauen mit noch dezenten paranoiden
Projektionen.
- Ständiges Grübeln, dem er sich ergibt, mit zunehmend aggressiven
Denkinhalten.
- Derealisationserleben.
- Tendenzen in Denken und Sprache vager zu werden, manchmal
gekünstelte Formulierungswahl, manchmal stereotyp und zerfahren.
- Dezente quasi psychotische Episoden, wenn er sich in Grübeleien
verliert.
Die jetzt zu bilanzierende Störung führt zu der
Diagnose
Das neu erwähnte "Messi-Syndrom" ist vor dem Hintergrund der oben
beschriebenen veränderten Sinngebung zu verstehen.
Eine schizotypische Persönlichkeitsstörung entsteht schleichend und wird
häufig insbesondere im Sinne einer schweren depressiven Störung
fehlgedeutet, wie es auch im vorliegenden Fall gegeben war.
Die Diagnose führt auch dazu, dass es Herrn A. schon langjährig
zurückliegend nicht möglich war, sich im beruflichen Sinne pflichtgemäß zu
verhalten.
Er konnte den Beginn der Störung auch nicht selber erkennen und hat
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anfangs nur von eher "verständlichen" Beschwerden gesprochen, die zur
Diagnose einer schweren Depression geführt hatten."
Auf gerichtlichen Hinweis, dass der Befundbericht anders als die Antragsschrift
eine dissoziale Persönlichkeitsstörung nicht erwähne, hat der Antragsteller eine
ergänzende Stellungnahme des Herrn K. vom 13. November 20... vorgelegt, die
lautet:
"… auf Ihre Bitte hin stelle ich klinisch-psychologisch noch einmal das
Folgende klar:
Eine dissoziale Persönlichkeitsstörung wirkt sich vor allem - meist im Wege
einer Impulskontrollstörung - auf die Kompetenz in den sozialen
Interaktionen aus, - im Erscheinungsbild sind so betroffene Menschen
meist von ruppiger und rücksichtsloser Wesensart.
Schwerwiegender bzw. anders gelagert ist die von mir bei Herrn A.
diagnostizierte schizotype Persönlichkeitsstörung (F21).
Im Alltagsverhalten wirkt sich diese Störung im Sinne fortschreitender
Inkompetenz sozialer Bewältigungsanforderungen aus (wie auch von mir
in meinem Befundbericht vom 06.10.20... beschrieben).
Diese Störung macht es dem Betroffenen sehr viel schwerer, eigenes
inadäquates Verhalten in selbstkritischer Distanz zu erkennen und zu
überdenken, weil das Sinngefüge sozialer Wahrnehmungen
durcheinander geraten ist. Das "Messie-Syndrom" ist ein Teilaspekt dieser
Störung. Charakteristisch ist aber auch ein Verfall zunächst bestanden
habender Kompetenzen, von dem auch die soziale Umwelt zunächst nur
kleinschrittig Kenntnis nimmt."
Ergänzend führt er aus, ein Befundbericht wie der hier vorgelegte reiche zur
Stützung eines Wiederaufnahmeantrags aus. Die eigentlich gebotene
Untersuchung könne nur durch einen vom Gericht bestellten Sachverständigen
geleistet werden; innerhalb der Dreimonatsfrist des § 66 Abs. 1 NDiszG sei sie
ohnehin nicht möglich.
Der Antragsteller beantragt,
1. Das Verfahren zu vertagen, um ihm Gelegenheit zur
Beibringung eines ergänzenden Gutachtens zu geben und
2. in der Sache das Urteil des Niedersächsischen
Oberverwaltungsgerichts vom 6. März 2008 - 20 LD 10/06 -
aufzuheben.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Wiederaufnahmeantrag abzulehnen.
Zur Begründung trägt sie vor:
Der Antrag sei nach § 66 Abs. 1 NDiszG (Dreimonatsfrist) bereits unzulässig,
weil der Antragsteller nicht gehindert gewesen sei, die ihm bekannten Umstände
seiner Krankheit bereits früher vorzutragen. Nur die Diagnose sei neu.
Ein Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 64 Abs. 1 Nr. 2 NDiszG liege nicht
vor. Die neue Diagnose stelle keine neue Tatsache dar. Im Übrigen habe bereits
Dr. G. in seinem Gutachten ausgeführt, der Antragsteller könnte dazu neigen,
seine Probleme zu verdrängen, was der Antragsteller jetzt als typisches
Symptom seiner Erkrankung darstelle. Der Antragsteller habe sich im Jahr 19...
mehrere Monate in stationärer Behandlung befunden, bei der Umstände, die
jetzt vorgebracht würden, nicht hervorgetreten seien. Ein unangemeldeter
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Hausbesuch sei seinerzeit auch nicht aus Gründen der Fürsorgepflicht geboten
gewesen. Der Antragsteller selbst habe immer behauptet, gesund zu sein.
Gleichwohl sei seine amtsärztliche Untersuchung veranlasst worden, um seine
Dienstfähigkeit zu überprüfen. Die Dienstunfähigkeit sei aber gerade nicht
festgestellt worden.
Auch wenn man unterstelle, dass der Antragsteller unter einer gemischt
dissozialen-schizotypen Persönlichkeitsstörung mit Messi-Syndrom leide, reiche
dies für die Annahme der Schuldunfähigkeit nicht aus. Dafür müsse ein
bestimmter Ausprägungsgrad erreicht sein. Dieser ergebe sich nicht aus der
Klassifikation in ICD-10 und DSM-IV. Angesichts der früheren Gutachten ergebe
sich der erforderliche Schweregrad nicht bereits aus der abweichenden
Diagnose des jetzt behandelnden Psychologen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des
Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Der Wiederaufnahmeantrag hat keinen Erfolg.
1. Mit den Beteiligten geht der Senat davon aus, dass sich der
Wiederaufnahmeantrag insgesamt nach dem Niedersächsischen
Disziplinargesetz beurteilt, nicht nach der vorangegangenen Niedersächsischen
Disziplinarordnung. Da das Niedersächsische Disziplinargesetz anders als § 85
Abs. 8 BDG keine Übergangsbestimmungen für Wiederaufnahmeverfahren
enthält, erfassen die mit ihm verbundenen Rechtsänderungen nach den
Grundsätzen des intertemporalen Verfahrensrechts alle bei ihrem Inkrafttreten
einschlägigen Fälle, sofern das Gesetz nicht mit hinreichender Deutlichkeit
etwas Abweichendes bestimmt (vgl. z.B. BVerwG, Urt. v. 28.9.2011 - 3 C 38.10 -,
Buchholz 427.3 § 349 LAG Nr. 28). Die Übergangsbestimmung des Art. 11 Abs.
1 Satz 2 des Gesetzes zur Neuordnung des Niedersächsischen
Disziplinarrechts vom 13. Oktober 2005 (GVBl. S. 296), nach der das Urteil vom
6. März 2008 im Ausgangsverfahren noch auf der Grundlage der
Niedersächsischen Disziplinarordnung - NDO - ergangen ist, ist für das
Wiederaufnahmeverfahren im Ergebnis nicht einschlägig. Das gilt bei dem
typischerweise dreistufigen Aufbau von Wiederaufnahmeverfahren auch für die
dritte Stufe, d.h. das wiederaufgenommene Verfahren. Zwar wird für
verwaltungsprozessuale Wiederaufnahmeverfahren angenommen, dass die alte
Sache nur "fortgesetzt" wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.6.1988 - 9 C 5.88 -, NVwZ
1989, 68; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 153 Rdnr. 26). Das
disziplinarrechtliche Wiederaufnahmeverfahren ist indes noch an die
strafprozessualen Bestimmungen angelehnt, für die in der Kommentarliteratur
hervorgehoben wird, es finde eine "völlig neue Hauptverhandlung" statt (vgl. z.B.
Karlsruher Kommentar, Einleitung Rdnr. 178, Vorbemerkungen Rdnr. 7, § 373
Rdnr. 1). Das rechtfertigt es, auch das wiederaufgenommene
Disziplinarverfahren dem aktuell geltenden Recht zu unterwerfen.
Eine Anwendung neuen Rechts entspricht auch der im Regierungsentwurf
(Landtagsdrucksache 15/1130 vom 16.6.2004) zum Ausdruck gekommenen
Absicht des Gesetzgebers. Auf Seite 84 heißt es in dem Regierungsentwurf:
"Für Wiederaufnahmeverfahren wird abweichend vom Bund keine
Übergangsfrist bestimmt, da die Wiederaufnahmeregelungen im neuen
Recht für die Beamtin oder den Beamten umfassender sind und somit
beim In-Kraft-Treten angewendet werden können."
Das hat trotz des Umstands Gewicht, dass die Begründung insoweit partielle
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Verschlechterungen der Rechtslage für den Wiederaufnahmeantragsteller nicht
in den Blick genommen hat, etwa die Einführung einer Antragsfrist in § 66 Abs. 1
NDiszG. Mangels Rückwirkung solcher Regelungen bedurfte es hierfür aber
auch keines besonderen gesetzgeberischen Begründungsaufwands.
2. In der Sache geht der Senat davon aus, dass die Dreimonatsfrist des § 66
Abs. 1 Satz 1, 2 NDiszG nicht eingehalten ist - so dass auch dem
Vertagungsantrag nicht zu entsprechen war - (a) und dass auch kein
Wiederaufnahmegrund vorliegt (b).
a) Nach § 66 Abs. 1 Satz 1 NDiszG muss der Antrag auf Wiederaufnahme des
Disziplinarverfahrens bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird,
binnen dreier Monate schriftlich oder zur Niederschrift der Urkundsbeamtin oder
des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingereicht werden. Nach Satz 2
beginnt die Frist mit dem Tag, an dem die oder der Antragsberechtigte von dem
Grund für die Wiederaufnahme Kenntnis erhalten hat. Nach Satz 6 ist der Antrag
unter Bezeichnung der Beweismittel zu begründen.
Welche inhaltlichen Anforderungen an die Begründung zu stellen sind, ergibt
sich zunächst aus der Art des geltend gemachten Wiederaufnahmegrundes.
Geht es - wie hier - um neue Tatsachen und Beweismittel im Sinne des § 64
Abs. 1 Nr. 2 NDiszG, erfordert das Tatbestandsmerkmal "beigebracht", dass das
Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweismittel "mit Bestimmtheit behauptet wird"
(vgl. Karlsruher Kommentar zur StPO, § 359, Rdnr. 37). Wann sie neu und
erheblich sind, ist in § 64 Abs. 2 Satz 1 NDiszG definiert; die tatsächlichen
Voraussetzungen hierfür sind dazulegen. Soweit in Nr. 1 die "Eignung"
vorausgesetzt wird, eine andere Entscheidung zu begründen, hat dies zugleich
Rückwirkungen auf die Frage, wann die "Bezeichnung" eines Beweismittels im
Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 6 NDiszG ausreichend ist. Für die vergleichbare
Vorschrift des § 366 Abs. 1 StPO ("Angabe" der Beweismittel) ist z.B. anerkannt,
dass die bloße Ankündigung eines weiteren psychiatrischen Gutachtens zur
Frage der Schuldfähigkeit nicht ausreicht (BGH, Beschl. v. 2.5.1983 - 3 ARs 4/83
-, BGHSt 31, 365 = NStZ 1983, 424), weil sich daraus nicht die Eignung ergibt,
die Feststellungen des Urteils zu erschüttern. Auch ein Beweisantrag reicht
insoweit nicht; das neue Gutachten muss in der Regel bereits vom Antragsteller
selbst vorgelegt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 3.12.1992 - StB 6/92 -, BGHSt 39,
75 = NJW 1993, 1481).
Bezogen auf den vorliegenden Fall kommt hinzu, dass sich der
Wiederaufnahmeantrag im Kern auf Darstellungen des Antragsstellers selbst
stützt, die im Widerspruch zu eigenen früheren Darstellungen stehen (ähnlich
der Fall des Widerrufs eines Geständnisses, vgl. z.B. Meyer-Goßner/Cierniak,
StPO, 52. Aufl. 2009, § 359 Rdnr. 46). Während im zivil- und
verwaltungsprozessualen Wiederaufnahmeverfahren nach § 581 Abs. 2 ZPO
der Beweis von Tatsachen, welche die Restitutionsklage begründen, von
vornherein nicht durch den Antrag auf Parteivernehmung geführt werden kann,
stellt das strafprozessuale Wiederaufnahmeverfahren in solchen Fällen
jedenfalls gesteigerte Darlegungsanforderungen. Beantragt der Antragsteller in
diesem Zusammenhang die gerichtliche Einholung eines weiteren
Sachverständigengutachtens, muss er deshalb zumindest hinreichend
substanziieren, welches Ergebnis dieses Gutachten haben wird. Insoweit kann
eine Parallele zu den Anforderungen an die Substanziierung eines
Sachverständigenbeweisantrags gezogen werden, der das Vorliegen einer
behandlungsbedürftigen posttraumatischen Belastungsstörung zum
Gegenstand hat (vgl. zu letzterem BVerwG, Urt. v. 11.9.2007 - 10 C 8.07 -,
BVerwGE 129, 251 = NVwZ 2008, 330). Danach ist schon mit dem
Wiederaufnahmeantrag innerhalb der Frist des § 66 Abs. 1 NDiszG ein -
gewissen Mindestanforderungen genügendes - fachärztliches Attest vorzulegen,
aus dem sich nachvollziehbar ergeben muss, auf welcher Grundlage der Arzt zu
seiner Diagnose gelangt ist und wie sich die Krankheit im konkreten Fall
darstellt.
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Eine zunächst unvollständige Darstellung der Wiederaufnahmegründe darf vor
der Entscheidung zwar noch ergänzt werden (vgl. Karlsruher Kommentar zur
StPO, § 366, Rdnr. 2). Die innerhalb der Dreimonatsfrist dargelegten Gründe
müssen jedoch für sich genommen schon geeignet sein, dem Gericht die
Überzeugung zu vermitteln, dass das angegriffene Urteil erschüttert ist.
Das ist hier nicht gelungen.
Als Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 64 Abs. 1 Nr. 2 NDiszG führt der
Antragsteller den Umstand an, dass erst bei seiner psychotherapeutischen
Untersuchung vom 27. September 20... u.a. das zusätzliche Vorliegen eines
"Messi-Syndroms" erkennbar geworden sei, was eine durchgreifende
Neubewertung der bei ihm vorliegenden Persönlichkeitsstörung auch für die
Vergangenheit zur Folge haben müsse. Auf gerichtliche Nachfrage hat er
klargestellt, dass seine Prozessfähigkeit im gegenwärtigen Verfahren dadurch
nicht eingeschränkt sei. Da er sich in der mündlichen Verhandlung eloquent,
rational und auch in affektiver Hinsicht situationsangemessen geäußert hat, sind
Zweifel daran nicht angebracht. Denn auch eine schwere Persönlichkeitsstörung
erlangt in Bezug auf die Prozessfähigkeit erst Bedeutung, wenn hinreichende
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Erklärende nicht in der Lage ist, die
Bedeutung von ihm abgegebener Erklärungen zu erkennen, wobei Zweifel an
der prozessualen Handlungsfähigkeit zu seinen Lasten gehen (vgl. BGH,
Beschl. v. 28.7.2004 - 2 StR 199/04 -, NStZ-RR 2004, 341). Soweit der
Befundbericht vom 6. Oktober 20... formuliert, dem Kläger sei schon langjährig
zurückliegend nicht möglich gewesen, sich im beruflichen Sinne pflichtgemäß zu
verhalten, lässt sich daraus für eine Prozessunfähigkeit nichts herleiten.
Zutreffend ist daran allerdings, dass sich die Frage, ob der Antragsteller
verantwortlich handeln kann bzw. konnte, für einen längeren Zeitraum stellt, weil
der Antragsteller der Sache nach geltend macht, schon von Beginn seiner
Persönlichkeitsstörung an - d.h. seit vielen Jahren - habe er sein "Messi-
Syndrom" nicht erkennen bzw. offenbaren können.
Soweit dies auch den Zeitraum des Ausgangsverfahrens umfasst, das
wiederaufgenommen werden soll, stellt sich die Frage einer unerkannten
Prozessunfähigkeit in diesem Verfahren allerdings nicht (mehr). Zwar kommt
nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein
Wiederaufnahmeantrag entsprechend der Nichtigkeitsklage nach § 579 Abs. 1
Nr. 4 ZPO in Betracht (Urt. v. 17.12.2009 - 2 A 2.08 -, Buchholz 235.1 § 71 BDG
Nr. 1; anders noch Beschl. des Nds. Disziplinarhofs v. 5.7.1988 - NDH a (2)
14/86 -; Bieler/Lukat, NDiszG, § 64 Rdnr. 4); ein derartiger Antrag ist hier aber
innerhalb der Frist des § 66 Abs. 1 NDiszG nicht gestellt worden.
Unbeschadet dessen könnte eine für die Vergangenheit anzunehmende
Prozessunfähigkeit zugleich dazu führen, dass dem Antragsteller eigenes
Wissen über den Wiederaufnahmegrund nicht zugerechnet werden kann.
Soweit ein Betreuter einem Prozessunfähigen unter bestimmten Umständen
gleichsteht, hat das Bundesverwaltungsgericht deutlich gemacht, dass es für
den Fristbeginn insoweit auf die Kenntnis des Betreuers ankommt, nicht auf
diejenige des Betreuten (BVerwG, Urt. v. 17.12.2009 - 2 A 2.08 -, Buchholz
235.1 § 71 BDG Nr. 1 für den Fall der Betreuung bei Alkoholsucht; vgl. auch
Beschl. v. 31.10.2012 - 2 B 33.12 -). Wäre die Anordnung einer Betreuung für
den Antragsteller geboten gewesen, aber zu Unrecht unterblieben, dürfte er
nicht schlechter gestellt werden als bei tatsächlich erfolgter Betreuung.
Auch unterhalb der Schwelle der Prozessunfähigkeit bietet der
Wiederaufnahmeantrag jedoch keine überzeugende Begründung dafür, dass
der Antragsteller die Symptome der geltend gemachten Persönlichkeitsstörung -
namentlich das "Messi-Syndrom" - selbst nicht habe erkennen oder offenbaren
können.
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Der Wiederaufnahmeantrag selbst geht zunächst der Sache nach davon aus,
dass er - im Verhältnis zwischen den Alternativen "Tatsache" und "Beweismittel"
- vorrangig "Anknüpfungstatsachen" betreffe, und begründet die im Sinne des §
66 Abs. 1 Satz 1 NDiszG mangelnde Kenntnis damit, dass der Antragsteller sein
"Messi"-Verhalten gerade krankheitsbedingt vorher nicht habe kommunizieren
können.
Dem folgt der Senat insoweit, als tatsächliche Umstände den Ausgangspunkt
bilden, nämlich im Wesentlichen die nunmehrige Darstellung des Antragstellers -
im Explorationsgespräch am 27. September 20... und in der Antragsschrift -, er
sei bereits im Jahr 19... mit der Führung seines Haushalts derart überfordert
gewesen, dass die Wohnung zunehmend vermüllt sei. Dies konstituiert einen
Wiederaufnahmegrund für sich genommen allerdings noch nicht, weil sich eine
Bedeutung dieses Umstands für die Frage der Schuldfähigkeit erst durch eine
dem Gericht selbst - mangels Fachkunde (vgl. BGH, Beschl. v. 23.5.2012 - 5
StR 174/12 -, NStZ-RR 2012, 353) - nicht mögliche fachliche Bewertung
erschließt. Nur im Zusammenhang mit der auf ihm beruhenden, neuen Diagnose
der Persönlichkeitsstörung kann er also überhaupt für das
Wiederaufnahmeverfahren Bedeutung erlangen.
Diese Diagnose ist jedenfalls schriftlich erstmals am 6. Oktober 20... gestellt
worden, so dass allein darauf bezogen die Antragsschrift die Dreimonatsfrist
einhielt. Demgegenüber waren dem Antragsteller selbst seine tatsächlichen
Wohnverhältnisse, aus denen das Vorliegen eines "Messi-Syndroms" gefolgert
wird, bereits vorher bekannt. Dabei unterstellt der Senat - was auch von dem
Psychotherapeuten nicht durch Einnahme eigenen Augenscheins überprüft
worden ist -, dass der Zustand der Wohnung des Antragstellers tatsächlich den
Schluss auf das Vorliegen eines "Messi-Syndroms" zuließ.
Nicht nachvollziehbar dargetan ist hingegen, dass der Antragssteller - über die
"normale" Scham hinaus, sich zu einer "vermüllten" Wohnung zu bekennen -
gerade krankheitsbedingt nicht in der Lage war, sein "Messie"-Verhalten bereits
vor dem Explorationsgespräch vom 27. September 20... zu erkennen und zu
offenbaren.
Innerhalb der Frist des § 66 Abs. 1 NDiszG ist dies zunächst nur unter
Beweisangeboten, aber ohne Erhärtung durch den damals bereits vorliegenden
Befundbericht vorgetragen worden. Die Antragsschrift ging dabei inhaltlich über
die im Befundbericht gestellte Diagnose - schizotype Persönlichkeitsstörung
(ICD-10 F21) - hinaus und machte eine Kombination mit einer dissozialen
Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.2) geltend, die nach ergänzender
Stellungnahme des Therapeuten vom 13. November 20... jedoch nicht vorliegt.
Das populärwissenschaftlich geläufige "Messi-Syndrom" ist fachlich bislang
nicht als eigenständige Persönlichkeitsstörung anerkannt.
Die schizotype Störung wird in der Internationalen statistischen Klassifikation der
Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, Systematisches
Verzeichnis, Version 2013, Stand August 2012, Kapitel V, zitiert nach der
Download-Version im Internet-Auftritt des Deutschen Instituts für Medizinische
Dokumentation und Information - DIMDI -) unter Nr. F21 beschrieben als eine
„Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und
der Stimmung, die schizophren wirken, obwohl nie eindeutige und
charakteristische schizophrene Symptome aufgetreten sind. Es kommen
vor: ein kalter Affekt, Anhedonie und seltsames und exzentrisches
Verhalten, Tendenz zu sozialem Rückzug, paranoische oder bizarre
Ideen, die aber nicht bis zu eigentlichen Wahnvorstellungen gehen,
zwanghaftes Grübeln, Denk- und Wahrnehmungsstörungen, gelegentlich
vorübergehende, quasipsychotische Episoden mit intensiven Illusionen,
akustischen oder anderen Halluzinationen und wahnähnlichen Ideen,
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meist ohne äußere Veranlassung. Es lässt sich kein klarer Beginn
feststellen; Entwicklung und Verlauf entsprechen gewöhnlich einer
Persönlichkeitsstörung.“
Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DMS-IV, zitiert nach
http://behavenet.com) werden die diagnostischen Kriterien für eine Schizotypal
Personality Disorder unter Nr. 301.22 wie folgt angegeben:
“A. A pervasive pattern of social and interpersonal deficits marked by acute
discomfort with, and reduced capacity for, close relationships as well as
bycognitive or perceptual distortions and eccentricities of behavior,
beginning by early adulthood and present in a variety of contexts, as
indicated by five (or more) of the following:
(1) ideas of reference (excluding delusions of reference)
(2) odd beliefs or magical thinking that influences behavior and is
inconsistent with subcultural norms (e.g., superstitiousness, belief in
clairvoyance, telepathy, or "sixth sense"; in children and adolescents,
bizarre fantasies or preoccupations)
(3) unusual perceptual experiences, including bodily illusions
(4) odd thinking and speech (e.g., vague, circumstantial, metaphorical,
overelaborate, or stereotyped)
(5) suspiciousness or paranoid ideation
(6) inappropriate or constricted affect
(7) behavior or appearance that is odd, eccentric, or peculiar
(8) lack of close friends or confidants other than first-degree relatives
(9) excessive social anxiety that does not diminish with familiarity and
tends to be associated with paranoid fears rather than negative
judgments about self”
Diese Beschreibungen enthalten keine spezifischen Aussagen zu Korrelationen
dieses Krankheitsbildes mit dem "Messi-Syndrom" oder über krankheitsbedingte
Kommunikationsblockaden.
Selbst wenn man jedoch den nachgereichten Befundbericht vom 6. Oktober
20...in die Überprüfung einbezieht, enthält dieser auch vor dem Hintergrund der
angeführten Beschreibung keine Aussage dahin, dass der Antragsteller
krankheitsbedingt nicht habe über sein "Messi-Syndrom" sprechen können. Er
bezeichnet das "Messi-Syndrom" auf Seite 2 zwar als "neu erwähnt … vor dem
Hintergrund der oben beschriebenen veränderten Sinngebung" - was letzteres
für sich genommen nicht verständlich ist -, hat zuvor aber auf Seite 1 ausgeführt:
"Herr A. brachte umfangreiche Unterlagen über Vorbehandlungen bei und
berichtete u.a. auch, dass er unter dem sog. "Messi-Syndrom" leide. Zwar
habe er sich seit 19... mehrfach in psychotherapeutische Behandlung
begeben, die Beschwerden hätten gerade in diesem Bereich aber
persistiert."
Das lässt ein Verständnis dahingehend zu, dass sich der Antragsteller jedenfalls
auch wegen des "Messi-Syndroms" in Behandlung befunden habe. Selbst wenn
dies nur missverständlich ausgedrückt ist - wovon der Senat zugunsten des
Antragstellers ausgeht -, ist jedenfalls weder hier noch in der Stellungnahme
vom 13. November 20... ein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass der
Antragsteller nach Ansicht des Psychotherapeuten gerade krankheitsbedingt an
der Offenbarung eines "Messi-Syndroms" gehindert gewesen wäre. Allein der
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Umstand, dass die hier fragliche schizotype Persönlichkeitsstörung
"schleichend" eintritt und der Betroffene den Beginn der Störung nicht selber
erkennen kann, folgt nicht, dass er in der gesamten Zeitspanne der Erkrankung
an der Erkenntnis dieses Symptoms und an einer Offenbarung Dritten
gegenüber gehindert gewesen wäre.
Nachvollziehbar ist nach der Schilderung des Antragstellers in der mündlichen
Verhandlung zwar, dass er vor der Untersuchung vom 27. September 20... nicht
alle Aspekte seiner Persönlichkeit aus objektivem Blickwinkel betrachtet hat,
darunter auch Verhaltensweisen, die als "Messi-Syndrom" bezeichnet werden.
Daraus folgt jedoch nicht bereits, dass er das Vorhandensein solcher
Verhaltensweisen vorher nicht offenbaren konnte. Dagegen spricht schon, dass
er bereits in der Exploration für das nervenärztliche Gutachten vom 9. November
20... Andeutungen darüber gemacht hat. Auf Seite 4 des Gutachtens heißt es
unter dem Stichwort "Antrieb":
"Der sei seit 20... vermindert. Er lasse manches in der Wohnung liegen.
Manchmal sei ihm die Unordnung unangenehm. …"
Hinzu kommt, dass der Antragsteller sein "Messi-Verhalten" offenbar ohne
größere Probleme hat abstellen können, nachdem die Untersuchung vom 27.
September 20... entsprechende Selbsterkenntnis erbracht hatte. Weitere
therapeutische Hilfe hat er insoweit nicht in Anspruch genommen, sondern einen
Wohnungswechsel vorgenommen und sich bei dieser Gelegenheit von
Überflüssigem befreit. Eine krankheitsbedingte Unmöglichkeit, sich insoweit zu
offenbaren, ergibt sich daraus nicht.
Seine eigene Kenntnis der fraglichen Umstände ist auch nicht deshalb
unbeachtlich, weil - wie er selbst meint - sein Dienstherr schon früher hätte
Nachforschungen anstellen müssen, die das Vorliegen eines "Messi-Syndroms"
ergeben hätten. Aus dem Umstand, dass sich ein Teil der Arbeit von Lehrern
vielfach in ihrer häuslichen Umgebung vollzieht, folgt nicht, dass sich der
Dienstherr aus Gründen der Fürsorge ohne Weiteres durch Hausbesuche ein
Bild davon verschaffen dürfte, ob sich der betreffende Lehrer "normal" verhält.
Dessen Wohnung ist nach Art. 13 GG geschützt. Dabei kann offen bleiben, ob
ein "Hausbesuch" bereits als "Durchsuchung" im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG
zu werten wäre (vgl. die Abgrenzung zum "Betreten" in BVerwG, Beschl. v.
7.6.2006 - 4 B 36.06 -, NJW 2006, 2504). Jedenfalls bedürfte es nach Art. 13
Abs. 7 GG einer gesetzlichen Ermächtigung für solche Hausbesuche (vgl. auch
VGH München, Urt. v. 2.10.2012 - 10 BV 09.1860 -, juris), die jedoch weder vom
Antragsteller benannt noch ersichtlich ist.
b) Ein Wiederaufnahmegrund ist auch in der Sache nicht hinreichend geltend
gemacht.
Zwar sind "neue" Tatsachen bzw. Beweismittel beigebracht. "Neu" in diesem
Sinne sind Tatsachen oder Beweismittel nach § 64 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 NDiszG,
wenn sie dem Gericht bei seiner Entscheidung im Ausgangsverfahren nicht
bekannt gewesen sind. Hier hatte das Gericht von den jetzt geltend gemachten
Umständen im Ausgangsverfahren keine Kenntnis.
Neu sind die tatsächlichen Angaben des Antragstellers in der Antragsschrift,
daneben aber auch der Befundbericht vom 6. Oktober 20.... Auch wenn dieser
bereits als vorbereitendes Attest keine hinreichende Aussagekraft hatte - wie
oben ausgeführt -, ist er in dem hier maßgeblichen rechtlichen Zusammenhang
zugleich als Beweismittel im Sinne des § 64 Abs. 1 Nr. 2 NDiszG zu würdigen.
Ein "weiteres" Sachverständigengutachten eignet sich hierzu zwar in der Regel
nicht (vgl. im einzelnen BGH, Beschl. v. 3.12.1992 - StB 6/92 -, BGHSt 39, 75 =
NJW 1993, 1481). Erfolg versprechen kann es allerdings z.B., wenn ihm neue
Anknüpfungstatsachen zur Verfügung standen (vgl. Karlsruher Kommentar,
StPO, § 359 Rdnr. 27), wie hier geltend gemacht wird.
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Hier fehlt es indes an der Erheblichkeit im Sinne des § 64 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
NDiszG. Erheblich sind danach Tatsachen oder Beweismittel, wenn sie allein
oder in Verbindung mit früher getroffenen Feststellungen geeignet sind, eine
andere Entscheidung zu begründen, die Ziel der Wiederaufnahme sein kann.
Zur Auslegung dieser Norm kann im Wesentlichen auf die zu § 359 Nr. 5 StPO
entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden. Streitig ist danach in Bezug
auf die "Geeignetheit", in welchen Grenzen eine Vorwegnahme der
Beweiswürdigung zulässig ist; nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs, welcher sich der Senat anschließt, ist jedenfalls das
Beweismittel bereits im Zulässigkeitsverfahren auf seinen Beweiswert zu prüfen
(vgl. Karlsruher Kommentar, § 368 Rdnr. 10 ff.).
Da hier bereits im Ausgangsverfahren die Frage von Persönlichkeitsstörungen
des Antragstellers eine wichtige Rolle gespielt hatte, können neue Tatsachen
oder Beweismittel nur erheblich sein, wenn ihre Berücksichtigung dazu führt,
dass seiner Erkrankung ein anderer Stellenwert beizumessen ist und dadurch
seine damalige Schuldfähigkeit in Frage gestellt wird.
Zur Bedeutung der Schuldfähigkeit im Disziplinarverfahren geht der Senat von
folgenden Grundsätzen aus (vgl. Urt. v. 28.8.2012 - 19 LD 6/10 -):
"Wegen der von den Bemessungsvorgaben gemäß § 14 Abs. 1 NDiszG
geforderten prognostischen Gesamtwürdigung kann die Frage, ob der
Beamte im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit im Sinne von
§§ 20, 21 StGB gehandelt hat, nicht schematisch als unbeachtlich
behandelt werden. Vielmehr haben die Verwaltungsgerichte dieser Frage
nachzugehen, wenn der Sachverhalt hinreichenden Anlass bietet. Lässt
sich nach erschöpfender Sachaufklärung ein Sachverhalt nicht ohne
vernünftigen Zweifel ausschließen, dessen rechtliche Würdigung eine
erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Beamten ergibt, so ist dieser
Gesichtspunkt nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" in die
Gesamtwürdigung einzustellen. Dies trägt auch der disziplinarrechtlichen
Geltung des Schuldprinzips und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Rechnung (BVerfG, Beschl. v. 19.2.2003 - 2 BvR 1413/01 -, NVwZ 2003,
1504).
Erheblich verminderte Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB setzt voraus,
dass die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser
Einsicht zu handeln, wegen einer Störung im Sinne von § 20 StGB bei
Tatbegehung erheblich eingeschränkt war. Für die Steuerungsfähigkeit
kommt es darauf an, ob das Hemmungsvermögen so stark herabgesetzt
war, dass der Betroffene den Tatanreizen erheblich weniger Widerstand
als gewöhnlich entgegenzusetzen vermochte (BGH, Urt. v. 27.11.1959 - 4
StR 394/59 -, BGHSt 14, 30; Urt. v. 21.11.1969 - 3 StR 249/68 -, BGHSt 23,
176). Die an die Feststellung einer Störung im Sinne von § 20 StGB
anknüpfende Frage, ob die sich daraus ergebende Verminderung der
Schuldfähigkeit "erheblich" war, ist indes eine Rechtsfrage, die die
Gerichte ohne Bindung an die Einschätzung Sachverständiger in eigener
Verantwortung zu beantworten haben. Hierfür bedarf es einer
Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seines
Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der
Berücksichtigung der Tatumstände, insbesondere der Vorgehensweise.
Die Erheblichkeitsschwelle liegt umso höher, je schwerer das in Rede
stehende Delikt wiegt (vgl. BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 -, NStZ
2004, 437; Urt. v. 22.10.2004 - 1 StR 248/04 -, NStZ 2005, 329).
Dementsprechend hängt im Disziplinarrecht die Beurteilung der
Erheblichkeit im Sinne von § 21 StGB von der Bedeutung und
Einsehbarkeit der verletzten Dienstpflichten ab. Aufgrund dessen wird sie
bei Zugriffsdelikten und diesen gleichgestellten Delikten nur in
Ausnahmefällen erreicht werden. Insbesondere gilt dies dann, wenn es um
die Verletzung einer leicht einsehbaren innerdienstlichen Kernpflicht
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handelt. In einem derartigen Fall muss nämlich von dem Beamten gerade
im Hinblick auf die Bedeutung dieser Kernpflicht für das öffentlich-
rechtliche Dienst- und Treueverhältnis erwartet werden, dass er trotz der
verminderten Schuldfähigkeit noch genügend Widerstandskraft gegen eine
Verletzung dieser Pflicht im Dienst aufbringt (BVerwG, Beschl. v. 11.1.2012
- BVerwG 2 B 78.11 -, juris Langtext Rdnr. 6; Urt. v. 3.5.2007 - BVerwG 2 C
9.06 -, NVwZ-RR 2007, 696 = juris Langtext Rdnr. 34; Urt. v. 28.5.2008 -
BVerwG 2 C 59.07 -, a. a. O.; Beschl. v. 27.10.2008 - 2 B 48.08 -, juris
Langtext Rdnr. 7; Senat, Urt. v. 26.10.2010 - 19 LD 6/09 -; Nds. OVG, Urt.
v. 28.4.2009 - 3 LD 4/08 - zu § 13 Abs. 1 BDG; OVG Bremen, Urt. v.
26.5.2010 - DL A 535/08 -, juris Langtext Rdnr. 69; VGH Baden-
Württemberg, Urt. v. 16.9.2010 - DL 16 S 579/10 -, juris Rdnr. 70; Gansen,
Disziplinarrecht in Bund und Ländern, Stand: April 2012, § 13 Rdnr. 40).
Liegt eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21
StGB vor, kommt nach der neueren Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 11.1.2012 - BVerwG
2 B 78.11 -, juris Langtext Rdnr. 5 m. w. N.; dagegen offenbar Gansen, a.
a. O., § 13 BDG Rdnr. 120) die Höchstmaßnahme grundsätzlich nicht mehr
in Betracht."
Soweit der Wiederaufnahmeantrag den oben wiedergegebenen Bewertungen
des 20. Senats nunmehr die neue Diagnose einer schizotypen Störung
gegenüberstellt, kann diese für den heutigen Zeitpunkt als richtig unterstellt
werden. Insoweit bedarf es auch keiner Auseinandersetzung mit der - vom
Psychotherapeuten zwischenzeitlich explizit verneinten - Frage, ob eine
Kombination mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung vorliege. Ebensowenig
ist es von eigenständiger Bedeutung, ob das Phänomen des "Messi-Syndroms"
zu Recht nicht gesondert in ICD-10 aufgeführt ist, weil der Psychotherapeut die
entsprechende Symptomatik als Teil der schizotypen Störung eingeordnet hat.
Es fehlt jedoch an hinreichenden Darlegungen dazu, dass die behauptete
Störung im Zeitpunkt der disziplinarrechtlich geahndeten Vorfälle so ausgeprägt
war, dass dies die Annahme einer Verminderung der Schuldfähigkeit
rechtfertigte. Eine auf der Klassifizierung der ICD-10 beruhende Diagnose hat
nicht automatisch zur Folge, dass eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
anzunehmen ist. Das hat der Bundesgerichtshof bereits in einem Beschluss
vom 3. Juni 1998 klargestellt (- 2 StR 30/98 -, NStZ-RR 1998, 294), auf den auch
der Antragsteller selbst Bezug genommen hat, und der eine "schizotype
Persönlichkeit mit paranoiden Zügen" betraf. Noch grundsätzlicher hat sich der
Bundesgerichtshof in seinem bereits oben angesprochenen Urteil vom 21.
Januar 2004 (- 1 StR 346/03 -, BGHSt 49, 45 = NJW 2004, 1810; daran
anknüpfend Beschl. v. 18.1.2005 - 4 StR 532/04 -, NStZ-RR 2005, 137)
geäußert (hier zur Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei einer gemischten
Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und schizoiden Anteilen). Danach kann
eine Persönlichkeitsstörung im Sinne von ICD-10, Kapitel V, eine "andere
seelische Abartigkeit" im Sinne des § 20 StGB darstellen; dafür reicht eine
entsprechende Klassifizierung allein aber nicht aus. Es kommt vielmehr auf den
Ausprägungsgrad der Störung und ihren Einfluss auf die soziale
Anpassungsfähigkeit an. Ob eine anzunehmende Verminderung der
Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB erheblich war, hat der Tatrichter
ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung
zu beantworten. Erfüllt das Störungsbild die Merkmale eines oder mehrerer
Muster oder einer Mischform der Klassifikationen in ICD-10 oder DSM-IV, hat
dies nur Indizwirkung dafür, dass eine nicht ganz geringfügige Beeinträchtigung
vorliegt. Erforderlich für die Bewertung ist eine hinreichend tragfähige
Tatsachengrundlage, wofür persönliche Angaben des Betroffenen bei der
Exploration nicht ohne Weiteres ausreichen.
Dies vorausgeschickt, gibt es keine "harten" Fakten, welche die Annahme
stützen könnten, der Antragsteller sei seinerzeit nur vermindert steuerungsfähig
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gewesen. Nach außen ist bei den damaligen - teilweise gründlichen und gut
dokumentierten - Untersuchungen hierfür nichts hervorgetreten. Insbesondere
die im Gutachten vom 9. November 20...enthaltenen Aufzeichnungen der
Angaben des Antragstellers sind sehr ausführlich gehalten. In diesem Gutachten
wird nach gleichfalls umfassender Diskussion der psychischen Auffälligkeiten
einschließlich der bisherigen Diagnosen auf Seite 38 nur eine leicht- bis
mittelgradig ausgeprägte kombinierte Persönlichkeitsstörung angenommen
(ICD-10: F61, d.h. "Persönlichkeitsstörungen, die häufig zu Beeinträchtigungen
führen, aber nicht die spezifischen Symptombilder der in F60.- beschriebenen
Störungen aufweisen. Daher sind sie häufig schwieriger als die Störungen in
F60.- zu diagnostizieren.", DMS-IV: 301.9). Auf diese Diagnose hat der 20.
Senat in seinem Urteil maßgeblich abgestellt. Er hat zwar zugunsten des
Antragstellers aufgegriffen, dass "allenfalls" eine leichte bis mittelschwere
depressive Symptomatik vorgelegen haben könne, die eigentliche Diagnose
aber nicht in Zweifel gezogen.
Diese Diagnose wird durch den nunmehr vorgelegten Befundbericht nicht
nachhaltig in Frage gestellt. Das Gutachten vom 9. November 20...hebt selbst
hervor, dass es sich um eine schwer diagnostizierbaren Persönlichkeitsstörung
handele. Insoweit besteht Übereinstimmung mit dem neuen Befundbericht.
Letzterer trägt zu der Diagnose abgesehen von dem neu erwähnten "Messi-
Syndrom" - dessen faktisches Vorliegen er offenbar ungeprüft nur den Angaben
des Antragstellers entnommen hat - keine neuen Anknüpfungstatsachen bei,
sondern referiert im Wesentlichen nur die abstrakten Indikatoren nach DMS IV
(Nr. 301.22 - Schizotypal Personality Disorder), ohne diese mit konkreten
Beobachtungen zu hinterlegen.
Erst recht wird das Gutachten vom 9. November 20... nicht in Frage gestellt,
soweit es sich zum Schweregrad der Störung äußert. Dass diese nur leicht- bis
mittelgradig ausgeprägt sei, hat unabhängig davon Aussagewert, ob die
Diagnose im Nachhinein in Richtung auf eine schizotype Störung präzisiert
werden kann. Feststellungen, die dieser Einschätzung widersprechen, hat der
neue Befundbericht nicht getroffen. Warum er meint, dass es dem Antragsteller
schon langjährig zurückliegend nicht möglich gewesen sei, sich im beruflichen
Sinne pflichtgemäß zu verhalten, begründet er nicht einmal ansatzweise, so wie
er auch im Übrigen nur Ergebnisse mitteilt, ohne den Gang der Untersuchung
anschaulich zu machen. Die Beschränkung auf die Mitteilung bloßer Ergebnisse
mag zwar der begrenzten Umfang des erteilten Untersuchungsauftrags
geschuldet sein. Gerade in Fällen, in welchen bereits eine durch
Sachverständigengutachten fundierte Beurteilungsgrundlage bestanden hat,
reicht es zur Erschütterung dieser Grundlagen aber nicht aus, wenn ein neues
Gutachten dem nur ein anderes Ergebnis entgegensetzt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 69 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 NDiszG i. V. m. §
154 Abs. 1 VwGO.
Das Urteil ist rechtskräftig (§ 61 Abs. 2 NDiszG).