Urteil des OVG Niedersachsen vom 01.03.2013

OVG Lüneburg: verfügung, innere medizin, nbg, erfüllung, diabetes mellitus, gesetzliche vermutung, versetzung, sicherheit, form, verfassung

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Versetzung einer Lehrerin in den Ruhestand wegen
Dienstunfähigkeit
1. Die materielle Beweislast dafür, dass eine Beamtin in dem für die
Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Versetzung in den Ruhestand
maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung dienstunfähig
war, obliegt dem Dienstherrn.
2. Zu den Anforderungen an die erleichterte Feststellung der
Dienstunfähigkeit bei längeren Krankheitszeiten.
OVG Lüneburg 5. Senat, Beschluss vom 01.03.2013, 5 LB 79/11
§ 44 Abs 1 S 2 BBG, § 26 Abs 1 S 2 BeamtStG, § 54 Abs 1 S 1 BG ND, § 54 Abs 1 S
2 BG ND, § 55 Abs 1 S 1 BG ND
Gründe
I.
Die Klägerin wendet sich gegen ihre Versetzung in den Ruhestand wegen
Dienstunfähigkeit.
Die am ... April 19… geborene Klägerin wurde im Januar 1970 unter Berufung in
das Beamtenverhältnis auf Probe zur Lehrerin z. A. und im März 1974 unter
Verleihung der Eigenschaft einer Beamtin auf Lebenszeit zur Lehrerin ernannt.
Seit 1988 war die Klägerin an einer Grundschule in C. tätig. Seit 1988 war sie mit
unterschiedlichen Stundenzahlen teilzeitbeschäftigt.
Mit Bescheid vom 28. November 2006 stellte das Versorgungsamt C. bei der
Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 fest. Die Klägerin hatte eine
schwere Zuckerkrankheit, ein Verschleißleiden der Wirbelsäule mit
Funktionsstörungen sowie eine Sehbehinderung geltend gemacht. Der GdB der
Klägerin wurde unter Berücksichtigung einer zusätzlichen chronischen
Bronchitis ab März 2000 auf 40 festgesetzt. Auf einen weiteren Folgeantrag der
Klägerin wurde der GdB unter dem 4. April 2005 wegen fortschreitender
Sehbehinderungen auf 50 festgesetzt.
Ab dem 4. September 2006 war die Klägerin erkrankt. In den
Verwaltungsvorgängen der Beklagten befinden sich Krankschreibungen, die
zuletzt bis zum 29. Juni 2007 befristet waren.
Auf ein Ersuchen der Beklagten wurde die Klägerin am 16. Februar 2007 von
dem Amtsarzt des Landkreises C., Dr. D., im Hinblick auf ihre Dienstfähigkeit
untersucht. Dr. D. kam in seiner Stellungnahme vom 6. März 2007 zu dem
Ergebnis, dass nach seinem Untersuchungseindruck Dienstunfähigkeit auf
Dauer bestehe. Unter Berücksichtigung des starken Wunsches der Klägerin und
der gebotenen Fürsorge könne gegebenenfalls in sechs Monaten eine erneute
Untersuchung erfolgen.
Nach vorheriger Anhörung versetzte die Beklagte die Klägerin mit Verfügung
vom 11. Mai 2007 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand. Zur Begründung
wurde ausgeführt, aufgrund des amtsärztlichen Gutachtens vom 6. März 2007
sei festgestellt worden, dass die Klägerin wegen der Beeinträchtigung ihres
Gesundheitszustandes dauernd dienstunfähig sei. Angesichts der Schwere des
durch den Amtsarzt beschriebenen Krankheitsbildes sei auch nicht mehr von
einer vorübergehend herabgeminderten Dienstfähigkeit auszugehen.
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einer vorübergehend herabgeminderten Dienstfähigkeit auszugehen.
Die Klägerin hat am 25. Mai 2007 Klage erhoben.
Sie hat beantragt,
die Verfügung der Beklagten vom 11. Mai 2007 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Verwaltungsgericht hat aufgrund seines Beschlusses vom 27. Januar 2009
Beweis erhoben durch Vernehmung des Ehemanns der Klägerin, Herrn B., und
des Amtsarztes Dr. D. als Zeugen.
Mit Urteil vom 31. August 2009, berichtigt durch Beschluss vom 2. Dezember
2009, hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat
das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe die
Klägerin zu Recht gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 NBG a. F. wegen Dienstunfähigkeit
in den Ruhestand versetzt. Die Feststellung der Dienstunfähigkeit sei angesichts
der Krankheiten, an denen die Klägerin leide (Diabetes mellitus II,
Bluthochdruck, erhebliches Übergewicht, Geheinschränkung bei Lymphödem
linkes Bein), nicht zu beanstanden. Die Einschätzung des Amtsarztes Dr. D.
trage die Aussage, dass die Klägerin dienstunfähig sei. Die vor dem Erlass der
angegriffenen Verfügung gefertigten privatärztlichen Stellungnahmen seien nicht
geeignet, Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung des Amtsarztes zu
begründen, so dass auch eine weitere Sachaufklärung nicht erforderlich sei. Die
Einschätzung des Amtsarztes sei auch nicht gegenstandslos. Die von der
Klägerin geltend gemachte Befangenheit des Amtsarztes sei nach dem
Ergebnis der Beweisaufnahme nicht erwiesen. Die Einwendungen der Klägerin
griffen nicht durch. Da auch nicht die Möglichkeit bestehe, die Klägerin anderweit
zu beschäftigen, habe die Beklagte nicht von einer Versetzung in den
Ruhestand absehen müssen. Ob die Klägerin auch gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2
NBG a. F. als dienstunfähig anzusehen gewesen wäre, könne angesichts des
Umstandes, dass die Feststellung der Dienstunfähigkeit der Klägerin rechtmäßig
auf § 54 Abs. 1 Satz 1 NBG a. F. gestützt worden sei, offen bleiben.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 16. November 2009 zugestellte Urteil am 1.
Dezember 2009 die Zulassung der Berufung beantragt.
Durch Beschluss vom 18. März 2011 (5 LA 333/09) hat der Senat die Berufung
gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zugelassen.
Die Klägerin ist der Auffassung, sie sei zu Unrecht wegen vermeintlicher
Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt worden. Die angegriffene
Verfügung und das angefochtene Urteil seien rechtsfehlerhaft. Das nur aus
wenigen Zeilen bestehende Schreiben des Amtsarztes Dr. D. vom 6. März 2007
sei nicht geeignet, Grundlage der Zurruhesetzungsverfügung zu sein. Es erfülle
schon formal nicht die Anforderungen, die an ein amtsärztliches Gutachten zu
stellen seien. Es sei zudem in sich widersprüchlich und auch inhaltlich fehlerhaft.
Es komme hinzu, dass die Art und Weise, in der die Beklagte das amtsärztliche
Schreiben verwertet habe und daraufhin zur Dienstunfähigkeit gelangt sei,
rechtswidrig sei. Die angegriffene Verfügung habe auch deshalb nicht auf das
Schreiben des Amtsarztes gestützt werden dürfen, weil der Amtsarzt befangen
sei. Dies habe die erstinstanzlich durchgeführte Beweisaufnahme ergeben. Die
erst- und zweitinstanzlich gestellten Beweisanträge halte sie aufrecht.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Verfügung der Beklagten
vom 11. Mai 2007 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie meint, das Verwaltungsgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen. Das
Schreiben des Amtsarztes Dr. D. vom 6. März 2007 erfülle die Anforderungen an
ein amtsärztliches Gutachten. Die Angaben des Amtsarztes reichten aus, um die
Entscheidung, dass die Klägerin dauernd dienstunfähig sei, zu stützen.
Aufgrund der eindeutigen Aussage des Amtsarztes habe im Zeitpunkt des
Erlasses der Verfügung vom 11. Mai 2007 im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 2 NBG
a. F. keine Aussicht bestanden, dass die Dienstfähigkeit innerhalb von sechs
Monaten wieder voll hergestellt sein werde. Die von der Klägerin behauptete
Befangenheit des Amtsarztes habe das Verwaltungsgericht zutreffend nicht mit
der erforderlichen Sicherheit feststellen können.
Der Senat hat gemäß Beschluss vom 16. Dezember 2011 Beweis darüber
erhoben, ob die Klägerin in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage
maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung der Beklagten vom 11. Mai
2007 wegen ihres körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen
zur Erfüllung ihrer Dienstpflichten als Lehrerin dauernd unfähig war, durch
Einholung eines Sachverständigengutachtens und zweier ergänzender
Stellungnahmen des Facharztes für Innere Medizin Dr. E., Oberarzt der
Medizinischen Klinik II des Klinikums F., vom 14. Februar 2012, 7. Mai 2012 und
30. November 2012. Die Beklagte hat zu dem Sachverständigengutachten und
den ergänzenden Stellungnahmen des Sachverständigen Unterlagen des
Amtsarztes Dr. D. (Beiakte D) sowie Stellungnahmen des Amtsarztes vom 16.
März 2012, 6. August 2012, 18. Oktober 2012, 11. Januar 2013 und 17. Januar
2013 vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, des Vorbringens der
Beteiligten, des Ergebnisses der Beweisaufnahme und des Inhalts der von der
Beklagten eingeholten Stellungnahmen des Amtsarztes Dr. D. wird auf die
Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
II.
Der Senat trifft diese Entscheidung nach Anhörung der Beteiligten durch
Beschluss (§ 130 a Satz 1 VwGO), weil er die Berufung einstimmig für begründet
und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Verfügung der Beklagten vom 11.
Mai 2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1
Satz 1 VwGO). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist deshalb zu ändern und
die Verfügung vom 11. Mai 2007 aufzuheben.
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Zurruhesetzungsverfügung wegen
Dienstunfähigkeit kommt es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
letzten Verwaltungsentscheidung an (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.4.2012 -
BVerwG 2 C 17.10 -, juris Rn 9 m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 3.8.2012 - 5
LB 234/10 -, juris Rn 36; Beschluss vom 7.12.2011 - 5 ME 352/11 -; Beschluss
vom 6.9.2007 - 5 ME 236/07 -, juris Rn 20).
Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 NBG in der im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung
der Beklagten vom 11. Mai 2007 maßgeblichen Fassung (NBG a. F.) ist ein
Beamter auf Lebenszeit in den Ruhestand zu versetzen, wenn er dienstunfähig
ist. Der Beamte ist dienstunfähig, wenn er wegen seines körperlichen Zustandes
oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd
unfähig ist (§ 54 Abs. 1 Satz 1 NBG a. F.). Als dienstunfähig kann der Beamte
auch dann angesehen werden, wenn er wegen Krankheit innerhalb von sechs
Monaten mehr als drei Monate keinen Dienst getan hat und keine Aussicht
besteht, dass er innerhalb weiterer sechs Monate wieder voll dienstfähig wird (§
54 Abs. 1 Satz 2 NBG a. F.).
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Der Kreis der möglichen Ursachen der Unfähigkeit zur Erfüllung der
Dienstpflichten ist begrenzt auf den körperlichen Zustand des Beamten sowie
auf gesundheitliche Gründe. Dadurch wird die zur Versetzung in den Ruhestand
führende Dienstunfähigkeit abgegrenzt gegenüber anderen Eignungsmängeln.
Wenn sich im Laufe der Zeit mangelnde Begabung für die eingeschlagene
Fachrichtung oder jedenfalls für die konkreten Dienstaufgaben herausstellt, ist
dies kein Fall der Dienstunfähigkeit (vgl. Plog/Wiedow, BBG, Band 1 a, § 42
BBG a. F. Rn 7). Eine zur Dienstunfähigkeit im jeweiligen Amt führende
„Schwäche der geistigen Kräfte“ kann demgegenüber bereits vorliegen, wenn
der Beamte wegen seiner geistig-seelischen Konstitution schon unterhalb der
Schwelle einer psychischen Erkrankung nicht mehr im Stande ist, seine Pflicht
zur harmonischen Zusammenarbeit mit den übrigen Bediensteten, seinen
Vorgesetzten, oder - im Falle eines Lehrers oder Schulleiters - mit den Eltern zu
erfüllen und dadurch den notwendigen Verwaltungsablauf erheblich
beeinträchtigt. Zur Erfüllung des Begriffs der Dienstunfähigkeit reicht es aus,
wenn die geistig-seelische Verfassung des Beamten mit Blick auf die Erfüllung
seiner amtsgemäßen Dienstgeschäfte bedeutende und dauernde
Abweichungen vom Normalbild eines in dieser Hinsicht tauglichen Beamten
aufweist. Dabei ist diese Abweichung nicht an dem Normalbild eines im
medizinischen Sinne gesunden Menschen zu messen, sondern an der
Verfassung eines vergleichbaren und durchschnittlichen, zur Erfüllung seiner
amtsgemäßen Dienstgeschäfte tauglichen Amtsinhabers. Es ist daher
maßgebend, ob der Beamte aufgrund seiner gesamten Konstitution und seines
Verhaltens, ohne dass eine Erkrankung im engeren Sinne vorliegen muss, zur
Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd unfähig ist (vgl. VGH Mannheim,
Beschluss vom 3.2.2005 - 4 S 2398/04 -, juris Rn 8; Nds. OVG, Beschluss vom
3.8.2012, a. a. O., Rn 38; Beschluss vom 6.9.2007, a. a. O., Rn 16).
Es steht nicht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin im
maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung der Beklagten vom 11. Mai
2007 gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 NBG a. F. dienstunfähig war.
Die Dienstunfähigkeit der Klägerin ist in der auf Veranlassung der Beklagten
gefertigten Stellungnahme des Amtsarztes Dr. D. vom 6. März 2007 und dessen
ergänzender Stellungnahme vom 16. Januar 2009 bejaht worden. In den auf
Veranlassung der Klägerin gefertigten privatärztlichen Stellungnahmen ist der
Gesundheitszustand der Klägerin dagegen anders eingeschätzt worden (vgl.
Attest Dr. G. vom 15.2.2007, Befund Medizinisches Labor H. vom 20./28.2.2007,
Attest Dr. G. vom 29.5.2007, Attest Dr. G. vom 17.2.2009, Stellungnahme Priv.
Doz. Dr. I. vom 13.4.2009).
Im Hinblick auf die massiven Einwände, die die Klägerin gegen die auf
Veranlassung der Beklagten gefertigten amtsärztlichen Stellungnahmen
vorgetragen hat, und der Einwände, die die Beklagte gegen die auf
Veranlassung der Klägerin gefertigten privatärztlichen Stellungnahmen geäußert
hat, hat der Senat von Amts wegen Beweis darüber erhoben,
ob die Klägerin in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage
maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 11. Mai 2007 wegen
ihres körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung
ihrer Dienstpflichten als Lehrerin dauernd unfähig war, durch Einholung eines
Gutachtens und zweier ergänzender Stellungnahmen des Facharztes für Innere
Medizin Dr. E., Oberarzt an der Medizinischen Klinik II des Klinikums F.. Der
Sachverständige Dr. E. ist in seinem ausführlich begründeten Gutachten vom
14. Februar 2012 zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin im maßgeblichen
Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 11. Mai 2007 nicht wegen ihres
körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung ihrer
Dienstpflichten als Lehrerin dauernd unfähig war. Der daraufhin wiederum von
der Beklagten eingeschaltete Amtsarzt Dr. D. hat in seiner ergänzenden
Stellungnahme vom 16. März 2012 und in seinen weiteren Stellungnahmen vom
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6. August 2012, 18. Oktober 2012, 11. Januar 2013 und 17. Januar 2013 zwar
an seiner Einschätzung festgehalten. Seine Ausführungen vermögen jedoch
nichts daran zu ändern, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. E. in
seinem Gutachten vom 14. Februar 2012 und in seinen ergänzenden
Stellungnahmen vom 7. Mai 2012 und 30. November 2012, die er unter
ausführlicher Auseinandersetzung mit den amtsärztlichen Stellungnahmen und
der von der Beklagten erst im Verlaufe des Berufungsverfahrens vorgelegten
Untersuchungsdokumentation (Beiakte D) gefertigt hat, zu einer anderen
Einschätzung gelangt ist.
Angesichts der einander widersprechenden Gutachten und Stellungnahmen,
insbesondere des eine Dienstunfähigkeit verneinenden Gutachtens und der
Stellungnahmen des gerichtlich bestellten Sachverständigen, kann auch in
Ansehung der gegenteiligen Einschätzung des Amtsarztes die
entscheidungserhebliche Frage, ob die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt des
Erlasses der Verfügung vom 11. Mai 2007 im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 NBG
a. F. dienstunfähig war, nicht mit der gebotenen Sicherheit bejaht werden. Dieser
Umstand geht zu Lasten der Beklagten, da dieser die materielle Beweislast für
die Dienstunfähigkeit der Klägerin obliegt (vgl. OVG Koblenz, Beschluss vom
6.4.2010 - 2 A 10095/10 -, juris Rn 5; Nds. OVG, Beschluss vom 3.8.2012, a. a.
O., Rn 49). Es ist Aufgabe der Beklagten, zu belegen, dass die Klägerin im
Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 11. Mai 2007 dienstunfähig war.
Dem Senat obliegt es, zu klären, ob die Beklagte nach den ihr zur Verfügung
stehenden Erkenntnissen annehmen durfte, dass die Klägerin im Sinne des §
54 Abs. 1 Satz 1 NBG a. F. dienstunfähig war. Dies durfte die Beklagte - wie
ausgeführt wurde - nicht.
Die Beklagte kann demgegenüber nicht mit Erfolg geltend machen, die Klägerin
sei unter Zugrundelegung der Norm des § 54 Abs. 1 Satz 2 NBG a. F. als
dienstunfähig angesehen worden. Insoweit muss sich die Beklagte
entgegenhalten lassen, dass sie sich erstmals im zweitinstanzlichen Verfahren
auf § 54 Abs. 1 Satz 2 NBG a. F. berufen hat. Die Verfügung vom 11. Mai 2007
ist nicht - jedenfalls nicht in präziser und nachvollziehbarer Form - auf diese
Vorschrift gestützt worden. Davon ist zutreffend auch das Verwaltungsgericht in
dem angefochtenen Urteil ausgegangen (vgl. UA S. 9 unten). Die Beklagte hat -
insoweit aus ihrer Sicht folgerichtig - auch eine Prognose, dass keine Aussicht
besteht, dass die Dienstfähigkeit der Klägerin innerhalb der nächsten sechs
Monate wieder voll hergestellt ist, in der Verfügung vom 11. Mai 2007 nicht -
jedenfalls nicht in mit der gebotenen Deutlichkeit, die eine Nachprüfung
ermöglicht - getroffen. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen (vgl. ebenso zu §
26 BeamtStG Reich, Beamtenstatusgesetz, § 26 Rn 12; Metzler-
Müller/Rieger/Seeck/Zentgraf, Beamtenstatusgesetz, 2. Aufl. 2012, § 26 Anm.
2.2.3).
Es kommt hinzu, dass die Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Satz 2 NBG a. F. in
dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt des
Erlasses der Verfügung vom 11. Mai 2007 nicht erfüllt waren. Für die erleichterte
Form der Feststellung der Dienstunfähigkeit gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 NBG a.
F. genügt keine bloß unsichere Prognose, ob der Beamte wieder voll dienstfähig
wird. Die Prognose muss vielmehr mit der gebotenen Sicherheit sachlich
gerechtfertigt werden können (vgl. ebenso zu § 44 Abs. 1 Satz 2 BBG OVG
Münster, Beschluss vom 3.2.2012 - 1 B 1490/11 -, juris Rn 4). Im Falle der
Klägerin kann angesichts der einander widersprechenden Gutachten und
Stellungnahmen, insbesondere des eine Dienstunfähigkeit verneinenden
Gutachtens und der Stellungnahmen des gerichtlich bestellten
Sachverständigen, auch in Ansehung der gegenteiligen Einschätzung des
Amtsarztes nicht mit der gebotenen Sicherheit angenommen werden, dass im
Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 11. Mai 2007 keine Aussicht
bestand, dass die Klägerin innerhalb weiterer sechs Monate wieder voll
dienstfähig wird.
37 Es kann deshalb offenbleiben, ob die Beklagte gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 NBG
a. F. eine Ermessensentscheidung treffen musste, um auf die gesetzliche
Vermutung zurückgreifen zu können (vgl. zu § 27 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG
Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12.1.2007, BT-Drucks. 16/4027 S. 28;
(vgl. zu § 26 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG Metzler-Müller/Rieger/Seeck/ Zentgraf, a.
a. O.; vgl. zu § 42 Abs. 1 Satz 2 BBG a. F. Plog/Wiedow, a. a. O., § 42 BBG Rn
4d).