Urteil des HessVGH vom 17.08.1999

VGH Kassel: schutzwürdiges interesse, anhörung, rechtsschutzinteresse, anfechtungsklage, beamtenverhältnis, verfügung, beendigung, verwaltungsakt, kündigungsschutz, auflage

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
1. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 UE 4164/98
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 50 Abs 2 S 1 SchwbG, §
50 Abs 2 S 2 SchwbG, § 25
Abs 2 S 1 SchwbG
(Anhörung von Hauptfürsorgestelle und
Schwerbehindertenvertretung vor Zurruhesetzung eines
schwerbehinderten Beamten)
Tatbestand
Der 1952 geborene Kläger, der mit einem Grad der Behinderung von 50
schwerbehindert ist, war bis zu seiner Zurruhesetzung mit Ablauf des 30. April
1996, die den Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet, als Inspektor
in der Allgemeinen Landesverwaltung beim Landrat des Wetteraukreises
beschäftigt. Nach zwei Dienstunfällen verfügte das Regierungspräsidium
Darmstadt mit Bescheid vom 16. Januar 1996, bestätigt durch
Widerspruchsbescheid vom 29. April 1996, die Zurruhesetzung des Klägers wegen
Dienstunfähigkeit.
Am 28. Mai 1996 hat der Kläger Klage erhoben. Wegen des vom
Verwaltungsgericht festgestellten Sachverhalts und des erstinstanzlichen
Vorbringens der Beteiligten wird in entsprechender Anwendung des § 130b Satz 1
VwGO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid des Regierungspräsidiums D vom 16. Januar 1996 und den
Widerspruchsbescheid derselben Behörde vom 29. April 1996 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Urteil vom 27. April 1998 hat das Verwaltungsgericht die Klage als unzulässig
abgewiesen, und zwar mit der Begründung, dem Kläger fehle das
Rechtsschutzbedürfnis, da er in der Sache nicht die Aufhebung der Versetzung in
den Ruhestand, sondern eine verbindliche Entscheidung über die Ursachen seiner
Dienstunfähigkeit begehre. Die Frage, ob diese auf einem Dienstunfall beruhe, sei
jedoch für die Ruhestandsversetzung ohne Belang. Zur Sicherung möglicher
Ansprüche auf Unfallruhegehalt sei die vorliegende Klage nicht erforderlich.
Auf Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluß vom 10. November 1998 -- 1
UZ 2251/98 -- die Berufung gegen dieses Urteil zugelassen.
Der Kläger rügt die fehlende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung. Er hat
mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 1. Dezember 1998 sinngemäß
beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Gießen vom 27. April
1998 -- 5 E 757/96 (1) -- nach seinem in erster Instanz gestellten Antrag zu
entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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die Berufung zurückzuweisen.
Er macht geltend, die Zurruhesetzung des Klägers wäre auch bei entsprechender
Beteiligung der Hauptfürsorgestelle erfolgt, da keine Ermessensentscheidung zu
treffen gewesen sei. In Anbetracht des Krankheitsbildes des Klägers habe keine
Alternative, etwa in Form einer anderweitigen Verwendung, bestanden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des
Beklagten (ein Band Personalakten des Klägers) verwiesen, der Gegenstand der
Beratung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet gemäß § 130a VwGO über die Berufung durch Beschluß,
weil er sie einstimmig für begründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für
erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, zu dieser Verfahrensweise
Stellung zu nehmen.
Die Berufung hat Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hätte die Anfechtungsklage des Klägers nicht abweisen
dürfen. Diese Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid des
Regierungspräsidiums Darmstadt vom 16. Januar 1996, mit dem der Kläger wegen
Dienstunfähigkeit mit Ablauf des 30. April 1996 in den Ruhestand versetzt worden
ist, ist wegen fehlender Beteiligung der Hauptfürsorgestelle und der
Schwerbehindertenvertretung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen
Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Klage ist zulässig. Sämtliche Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor;
insbesondere fehlt dem Kläger nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Zwar
trifft es zu, daß das eigentliche Rechtsschutzziel des Klägers, das nach seinem
gesamten Vorbringen auf eine verbindliche Entscheidung über die Ursachen seiner
Zurruhesetzung mit dem Ziel der Geltendmachung eines Anspruchs auf
Unfallruhegehalt (§ 36 Beamtenversorgungsgesetz -- BeamtVG --) gerichtet ist, im
Anfechtungsprozeß gegen die Zurruhesetzungsverfügung nicht erreicht werden
kann. Dies rechtfertigt es jedoch nicht, ein rechtlich schutzwürdiges Interesse des
Klägers an der Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts zu verneinen. Der
Senat hat in seinem im Zulassungsverfahren ergangenen Beschluß vom 10.
November 1998 hierzu ausgeführt:
"Der Kläger hat vielmehr das prozessuale Recht, einen ihn belastenden
Verwaltungsakt unter allen denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten anzufechten.
Für das allgemeine Rechtsschutzinteresse als Sachurteilsvoraussetzung einer
jeden Klage genügt die Geltendmachung jeder erdenklichen Besserung der
rechtlichen, tatsächlichen oder wirtschaftlichen Position der klagenden Partei, so
auch das Interesse an einer formell-rechtlichen Überprüfung der Entscheidung
über die Zurruhesetzung oder an einem Hinausschieben des Zeitpunktes, von
dem an Ruhegehalt bezogen wird." (S. 2 des Abdrucks)
Hieran ist festzuhalten. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist es für die
Beurteilung der Zulässigkeit der Anfechtungsklage unerheblich, ob der Kläger im
Verwaltungsverfahren eine wirksame Zustimmungserklärung gemäß § 52
Hessisches Beamtengesetz (HBG) abgegeben hat und ob er nach Aufhebung der
Verfügung willens und (gesundheitlich) in der Lage wäre, den Dienst wieder
aufzunehmen. Das Rechtsschutzinteresse ist gegeben, weil der Kläger allein durch
die Aufhebung des Verwaltungsakts, der sein aktives Beamtenverhältnis beenden
soll (vgl. § 38 Abs. 2 HBG) und ihn somit belastet, einen rechtlichen Vorteil und
durch den fortbestehenden Anspruch auf Dienstbezüge über den vorgesehenen
Zeitpunkt der Zurruhesetzung hinaus auch einen wirtschaftlichen Vorteil erlangt.
Die Klage ist auch begründet, so daß das angefochtene Urteil auf die Berufung des
Klägers entsprechend abzuändern ist. Die Zurruhesetzungsverfügung leidet an
einem nicht heilbaren Verfahrensmangel.
Der Kläger gehört gemäß § 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zu dem
geschützten Personenkreis dieses Gesetzes. Gemäß § 50 Abs. 2 Satz 1 SchwbG
bedarf die vorzeitige Zurruhesetzung eines schwerbehinderten Beamten der
vorherigen Anhörung der für die Beschäftigungsdienststelle zuständigen
Hauptfürsorgestelle; gemäß § 50 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 25 Abs. 2 Satz 1 SchwbG
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Hauptfürsorgestelle; gemäß § 50 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 25 Abs. 2 Satz 1 SchwbG
ist auch die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen. Dies ist unstreitig
unterblieben. Der Kläger hat die Zurruhesetzung auch nicht selbst beantragt, so
daß die gesetzlich vorgesehene Ausnahme vom Beteiligungserfordernis nach § 50
Abs. 2 Satz 1 SchwbG nicht eingreift. Er hat zwar mit Schreiben vom 15.
Dezember 1995 erklärt, er stimme der vorgesehenen Maßnahme nunmehr zu.
Eine derartige Erklärung eröffnet dem Dienstherrn gemäß § 52 Abs. 1 HBG jedoch
lediglich die Möglichkeit, die Dienstunfähigkeit des Beamten in einem gegenüber
der Prozedur nach § 51 Abs. 1 HBG vereinfachten Verfahren festzustellen; die
Beteiligungsrechte der Hauptfürsorgestelle und der Schwerbehindertenvertretung
bleiben unberührt.
Die Nichtbeachtung dieser Beteiligungsrechte führt zur formellen Rechtswidrigkeit
der Zurruhesetzung. Eine nachträgliche Heilung dieses Verfahrensmangels ist
nicht möglich (BVerwG, Urteile vom 13. Dezember 1963 -- VI C 203.61 --, BVerwGE
17, 279 = ZBR 1965, 18; vom 23. Oktober 1979 -- 2 C 128.67 --, BVerwGE 34, 131,
138 ff. = ZBR 1970, 18 sowie vom 17. September 1981 -- 2 C 4.79 --, Buchholz
232 § 32 BBG Nr. 29 = ZBR 1982, 116; OVG NW, Beschluß vom 7. November 1994
-- 1 B 2335/94 --, ZBR 1995, 82; Beschluß des Senats vom 15. Dezember 1993 --
1 TH 1911/93 --, PersR 1994, 292 zum Fall einer erneuten Berufung in das
Beamtenverhältnis).
Die Frage, ob für den Dienstherrn eine andere Personalmaßnahme als die
Zurruhesetzung in Betracht gekommen wäre, ist für die zwingend vorgeschriebene
Beteiligung der Hauptfürsorgestelle und der Schwerbehindertenvertretung ohne
Belang. Diese findet vielmehr ihre innere Rechtfertigung darin, daß
schwerbehinderte Beamte keinen Kündigungsschutz nach §§ 15 ff. SchwbG
beanspruchen können, so daß für diesen Personenkreis durch das in § 50 Abs. 2
SchwbG vorgeschriebene Verfahren bei einer vorzeitigen Beendigung des
Beamtenverhältnisses zumindest ein gewisser Schutz gewährleistet wird (vgl. dazu
Neumann/Pahlen, Schwerbehindertengesetz, 8. Auflage Rdnr. 13 f. zu § 50).
Da die angefochtene Verfügung bereits wegen des dargelegten
Verfahrensmangels aufzuheben ist, kommt eine Erörterung der vom Kläger in den
Mittelpunkt des Rechtsstreits gestellten Frage eines Anspruchs auf
Unfallruhegehalt nicht in Betracht. Aus gegebenen Anlaß ist jedoch darauf
hinzuweisen, daß nach der zutreffenden Ansicht des Beklagten im Rahmen des
Zurruhesetzungsverfahrens nach § 51 HBG allein die Frage der Dienstunfähigkeit
zu klären ist, nicht jedoch zugleich die Frage, ob der Beamte infolge eines
Dienstunfalls dienstunfähig geworden ist (vgl. §§ 30 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4, 36 Abs. 1
BeamtVG).
Als unterliegende Partei hat der Beklagte gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten
des Verfahrens in beiden Rechtszügen einschließlich der Kosten des
Zulassungsverfahrens zu tragen.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision sind nicht erfüllt
(§§ 127 BRRG, 183 HBG, 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts für das Berufungsverfahren beruht auf §§ 14, 13
Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1a GKG. Der Senat berechnet den Streitwert ebenso wie
das Verwaltungsgericht mit Beschluß vom 27. April 1998.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.