Urteil des HessVGH vom 04.12.2000
VGH Kassel: politische verfolgung, amnesty international, ausreise, bevölkerung, polizei, zahl, regierung, asylbewerber, türkische republik, körperliche unversehrtheit
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 968/99.A
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 51 Abs 1 AuslG 1990, Art
16a GG
(Türkei: inländische Fluchtalternative für Kurden bejaht)
Tatbestand
Die ... 1985 in F (Provinz Sirnak/Türkei) geborene Klägerin reiste am 14. Oktober
1994 zusammen mit ihrem Bruder und jetzigen Vormund, dem 1974 geborenen T
Y, in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19. September 1996
durch Schriftsatz ihres Bevollmächtigten einen Antrag auf Anerkennung als
Asylberechtigte.
Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge am 10. Oktober 1996 gab die Klägerin an, sie sei in der Nähe von Cizre
in einen TIR-Lkw eingestiegen und wisse nicht, über welche Länder sie nach
Deutschland gefahren seien. In der Türkei habe sie etwa einen Monat lang die
Schule besucht und den Schulbesuch in Deutschland fortgesetzt. Ihr Heimatort F
(Kreis Idil) sei bombardiert, ihr Elternhaus dabei zerstört worden und die Eltern
sowie sämtliche Geschwister bis auf ihren Bruder T seien verschwunden gewesen.
Sie selbst sei zu diesem Zeitpunkt bei ihrem Bruder T auf der Weide gewesen;
sämtliche Nachforschungen nach dem Aufenthaltsort von Eltern und Geschwistern
seien erfolglos geblieben. Am nächsten Tag sei eine Razzia im Dorf gewesen,
dabei sei ihr Großvater nach ihrem Bruder T gefragt und so geschlagen worden,
dass er daran gestorben sei. Sie und ihr Bruder seien zu einem Onkel
mütterlicherseits gegangen und hätten dort von der Razzia erfahren. Zehn Tage
vor ihrer Ausreise seien die Häuser von verdächtigen Personen in Brand gesteckt
worden; es lebten mittlerweile nur noch fünfzig von zuvor dreihundert Familien in
dem Ort.
Mit Bescheid vom 10. Dezember 1996 lehnte das Bundesamt den Asylantrag und
die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 51 AuslG sowie nach § 53
AuslG mit der Begründung ab, die Klägerin habe keine individuelle Verfolgung
erlitten, sondern lediglich Beeinträchtigungen, die in den südöstlichen Gebieten
der Türkei üblich und daher hinzunehmen seien. Jedenfalls hätte sie eine
inländische Fluchtalternative wahrnehmen können; denn weitere
Familienangehörige wie ihr Onkel oder der Großvater hätten sich um sie kümmern
können.
Mit ihrer am 15. Januar 1997 erhobenen Klage hat die Klägerin die Anerkennung
als Asylberechtigte und die Feststellung von Abschiebungshindernissen gemäß §§
51 und 53 AuslG begehrt und sich zur Begründung auf die geänderte allgemeine
Situation in ihrem Heimatland sowie darauf berufen, dass die Ausländerbehörde
ihren Namen und weitere Angaben zu ihrer Person an die Heimatbehörden
übermittelt habe, sodass sich für sie eine besondere Gefährdungslage bei einer
Rückkehr ergebe. In einer informatorischen Anhörung in der mündlichen
Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt am 6. Mai 1997 berichtete
der Bruder und Vormund der Klägerin, dass ihr Heimatdorf an die zehnmal
überfallen worden sei, wobei kurz vor ihrer Ausreise auch ihr Elternhaus zerstört
worden sei. Die Klägerin habe ihm Essen auf die Weide gebracht, deshalb sei sie
bei ihm gewesen. Eltern und Geschwister seien bis jetzt verschwunden. Sie hätten
sich beim Großvater aufgehalten und das Vieh verkauft, um ausreisen zu können.
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sich beim Großvater aufgehalten und das Vieh verkauft, um ausreisen zu können.
Drei Tage später sei der Großvater verhört und geschlagen worden, sie seien
deshalb mit dem Vieh zu dem Onkel gegangen. Dieser habe das Vieh verkauft und
den Schlepper beauftragt, und in dieser Zeit sei der Großvater gestorben. Er
selbst, T, sei im Dezember 1992 oder Januar 1993 einmal festgenommen und
einen Monat in Idil inhaftiert worden, danach sei er freigelassen worden.
Die Klägerin hat ihre Klage hinsichtlich der begehrten Verpflichtung zur
Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen und beantragt,
die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass hinsichtlich der Klägerin die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen,
hilfsweise,
die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach
§ 53 AuslG vorliegen und insoweit den Bescheid des Bundesamtes vom 10.
Dezember 1996 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Bundesbeauftragte hat keinen Antrag gestellt und sich auch nicht am
Verfahren beteiligt.
Mit Urteil vom 6. Mai 1997 hat das Verwaltungsgericht Darmstadt nach Einstellung
des Verfahrens hinsichtlich des Antrags auf Anerkennung als Asylberechtigte die
Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass der Klägerin eine
inländische Fluchtalternative in ihrem Heimatland zur Verfügung stehe und sie
diese gemeinsam mit ihrem Bruder erreichen und dort leben könne.
Auf den Zulassungsantrag der Klägerin hat der erkennende Senat die Berufung
mit Beschluss vom 24. März 1999 zugelassen. Zur Begründung der Berufung
beruft sich die Klägerin auf ihr bisheriges Vorbringen und führt des weiteren an,
dass ein weiterer Bruder während seines Türkeiaufenthaltes festgenommen und
nach dem Aufenthalt ihres Bruders T befragt worden sei; es bestehe deshalb die
Gefahr der Sippenhaft für sie. Der Bruder T sei exilpolitisch aktiv, seine
Asylverfahren seien zwar rechtskräftig abgeschlossen, er habe jedoch infolge
seiner Wehrdienstverweigerung schon die Ausbürgerung aus der türkischen
Staatsangehörigkeit angedroht bekommen und, wie ein anderes Verfahren zeige,
deshalb Strafverfolgung in der Türkei zu befürchten.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Darmstadt
vom 6. Mai 1997 und teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 10. Dezember 1996
zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
und hilfsweise die des § 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Bundesbeauftragte hat keinen Antrag gestellt.
Über die Asylgründe der Klägerin ist aufgrund des Beweisbeschlusses vom 31. Juli
2000 Beweis erhoben worden durch ihre Vernehmung als Beteiligte; ihr Bruder B Y
wurde informatorisch befragt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und
der Befragung wird auf die Niederschrift über den Termin vor der Berichterstatterin
am 16. August 2000 Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakte nebst den von der Klägerin vorgelegten Unterlagen und die sie
betreffenden Behördenakten der Beklagten (Az.: 2148762-163) sowie die
beigezogenen Akten des Verwaltungsgerichts Darmstadt 8 E 30642/95.A
betreffend T Y und 2 E 30088/99.A betreffend B Y, des Verwaltungsgerichts
Frankfurt am Main 3 E 30145/99.A betreffend Y B, des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge betreffend Yalcin Baydu (2390531-163)
und der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main 54 AR 1515/99 und 54 AR 575/00
betreffend Rechtshilfe Y B Bezug genommen. Diese waren ebenso Gegenstand der
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betreffend Rechtshilfe Y B Bezug genommen. Diese waren ebenso Gegenstand der
mündlichen Verhandlung wie die nachfolgend aufgeführten, den Beteiligten mit
Schreiben des Vorsitzenden vom 14. November 2000 bekanntgegebenen
Erkenntnisquellen sowie die in der mündlichen Verhandlung beigezogenen
Dokumente:
I.
1. 18.02.1981 Auswärtiges Amt an VG Berlin
2. 12.06.1981 Sachverständiger Roth vor VG Hamburg
3. 12.06.1981 Sachverständige Kappert vor VG Hamburg
4. 22.06.1981 Auswärtiges Amt an VG Oldenburg
5. 09.08.1981 a. i. an VG Mainz
6. 22.10.1981 Sternberg-Spohr vor VG Düsseldorf
7. 20.11.1981 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
8. 10.11.1982 Nebez vor VG Berlin
9. 10.11.1982 Kaya vor VG Berlin
10. 11.11.1982 Taylan vor VG Berlin
11. 15.11.1982 von Sternberg-Spohr vor VG Berlin
12. 15.11.1982 Roth vor VG Berlin
13. 03.01.1983 Auswärtiges Amt an VG Hannover
14. 18.02.1983 Max-Planck-Institut Heidelberg an VG Karlsruhe
15. 12.06.1983 Oehring an VGH Baden-Württemberg
16. 16.06.1983 Hauser an VGH Baden-Württemberg
17. 06.02.1984 Gesellschaft für bedrohte Völker an VG Hamburg
18. Mai 1984 Bericht der Delegation Fischer u. a.
19. 29.05.1984 Kappert an VGH Baden-Württemberg
20. 16.10.1984 Roth an Hess. VG
21. Okt. 1984 Oguzhan, Die Rechtsstellung der Kurden in der Türkei
22. Sept. 1985 Das türkische Sprachenverbotsgesetz
23. 15.03.1987 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
24. 29.06.1987 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
25. 27.07.1990 Auswärtiges Amt an VG Oldenburg
26. 28.01.1991 FAZ: "Ankara hebt Verbot des Kurdischen auf"
27. 31.07.1991 Auswärtiges Amt an OVG Saarland
28. 10.10.1991 Auswärtiges Amt an VG Stade
29. 15.10.1991 Auswärtiges Amt an VG Hamburg
30. 10.12.1991 FR: "Demirel nennt Kurden Brüder"
31. 14.12.1991 FAZ: "Die türkische Republik ist unser gemeinsamer
Staat"
32. 20.02.1992 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
33. 12.03.1992 Auswärtiges Amt an Niedersächsisches
Innenministerium
34. 22.04.1992 Die Welt: "Ankara will mehr für Kurden tun"
35. 18.05.1992 Taylan an OVG Hamburg
36. 12.06.1992 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
37. 30.06.1992 Kaya an VG Düsseldorf
38. 01.07.1992 Rumpf an VG Düsseldorf
39. 20.08.1992 SZ: "Özal kündigt Erleichterungen an"
40. 15.09.1992 Rumpf an VG Bremen
41. 30.10.1992 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
42. 15.12.1992 SZ: "Die fortgesetzte Chronik der Gnadenlosigkeit"
43. 15.01.1993 a. i. an VG Stuttgart
44. 02.02.1993 Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden
45. 03.03.1993 Oberdiek: "Gefährdung von Kurden in Städten der
Westtürkei"
46. 08.03.1993 Rumpf an VG Wiesbaden
47. 28.04.1993 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
48. 14.05.1993 Auswärtiges Amt an OVG Schleswig-Holstein
49. 17.05.1993 Der Spiegel: "Den eigenen Vater foltern"
50. 02.06.1993 Kaya an OVG Schleswig-Holstein
51. 15.07.1993 Auswärtiges Amt an Regierungspräsidium Ludwigsburg
52. 04.08.1993 Rumpf an VG Gießen
53. 06.08.1993 a. i., Türkei -- Menschenrechtsverletzungen an
Kurden
54. 11.08.1993 FR: "Staatliche Gewalt"
55. 16.08.1993 SZ: "140.000 Soldaten gegen Kurden im Einsatz"
56. 21.08.1993 a. i., Türkei (Kurden)
57. 26.08.1993 Sahin in Özgür Gündem
58. 27.08.1993 taz: "Hier gibt es keine zivile Gewalt, nur Militär"
59. 02.09.1993 FR: "Im Kurdenkonflikt setzt Tansu Ciller aufs
Militär"
60. 18.09.1993 FR: "Publizist in Ankara verhaftet"
61. 20.09.1993 Kaya an VG Aachen
62. 23.09.1993 Gesellschaft für bedrohte Völker an VG Frankfurt am
Main
63. 30.09.1993 SZ: "PKK-Führer droht mit totalem Krieg"
64. 20.10.1993 Kaya an VG Köln
65. 25.10.1993 SZ: "Berichte über Hunderte von getöteten Kurden"
66. 26.10.1993 FR: "Ausnahmezustand in Türkei verlängert"
67. 28.10.1993 FR: "Türkei will kurdische Rebellen ausrotten"
68. 29.10.1993 taz: "Der Kampf gegen den Terror"
69. 29.10.1993 Auswärtiges Amt an VG Aachen
70. 30.10.1993 FR: "Armee -- Auf Lice bestätigt"
71. 06.11.1993 FR: "Wegen Kurden-Verfolgung Waffenembargo gegen
Türkei
verlangt"
72. 10.11.1993 FR: "Hilferufe aus Kurdendorf"
73. 11.11.1993 FR: "Parlament verlängert Notstand"
74. 16.11.1993 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
75. 07.01.1994 Auswärtiges Amt an VG Bremen
76. 28.01.1994 a. i. an VG Ansbach
77. 20.04.1994 Kaya an VG Kassel
78. 10.05.1994 Oberdiek an VG Frankfurt am Main
79. 06.06.1994 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
80. 30.06.1994 Rumpf an VG Frankfurt am Main
81. 23.08.1994 Rumpf an VG Frankfurt am Main
82. 19.10.1994 Hartwig "Tränen des Krieges in Kurdistan" in
Kurdistan aktuell
Nr. 31
83. 17.11.1994 a. i.: Menschenrechtsverletzungen an Kurden in der
Türkei
84. 21.11.1994 Dokumentation des Niedersächsischen Flüchtlingsrats
85. 04.12.1994 Sauter in Weltspiegel, Kurdistan aktuell Nr. 33
86. 02.01.1995 dpa: "Tote bei PKK-Überfall im türkischen
Kurdengebiet"
87. 04.01.1995 Auswärtiges Amt an OVG Hamburg
88. 09.01.1995 FAZ: "Pro-Kurdische Zeitungen beschlagnahmt"
89. 17.01.1995 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
90. 24.01.1995 dpa: "PKK will Genfer Konvention anerkennen"
90. 24.01.1995 dpa: "PKK will Genfer Konvention anerkennen"
91. 17.02.1995 FR: "PKK nennt manche türkische Lehrer Agenten"
92. 25.02.1995 FR: "Menschenrechtler gibt auf"
93. 27.02.1995 FR: "Politische Morde praktisch ohne Folgen"
94. 03.03.1995 Gesellschaft für bedrohte Völker an VG Aachen
95. 07.03.1995 Rumpf an OVG Hamburg
96. 13.03.1995 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
97. 13.03.1995 dpa: "Schwerste Unruhen in Istanbul seit 15 Jahren"
98. 18.03.1995 FAZ: "Lage in Istanbul normalisiert"
99. 21.03.1995 Die Welt: "Türkische Armee marschiert in Nordirak
ein"
100. 24.03.1995 FR: "Sorge um verschollene Reporter"
101. 07.04.1995 FAZ: "PKK-Rebellen kämpfen erstmals im Süden der
Türkei"
102. 10.04.1995 FR: "Für jedes Ohr gibt es eine Prämie"
103. 19.04.1995 SZ: "Mindestens 23 Tote bei Kämpfen in der Türkei"
104. 22.05.1995 Die Welt: "Acht PKK-Kämpfer bei Diyarbakir getötet"
105. 24.05.1995 Auswärtiges Amt an VG Aachen
106. 26.05.1995 Oberdiek an VG München
107. 02.06.1995 SZ: "Aktion gegen mysteriöses Verschwinden in der
Türkei"
108. 07.06.1995 dpa: "Deutscher amnesty-Ermittler aus der Türkei
ausgewiesen"
109. 16.06.1995 Die Zeit: "Hörst du einen Schrei?"
110. 22.06.1995 Kaya vor OVG Schleswig-Holstein
111.24/25.6.199 SZ: "Demirel ruft Kurden zum Frieden auf"
5
112. 26.06.1995 FR: "Immer mehr Menschen verschwinden in der Türkei"
113. 24.06.1995 Kaya an VG München
114. 12.07.1995 Auswärtiges Amt an VG Freiburg
115. 08.08.1995 FR: "Abgeordneter berichtet von Kurdenvertreibung"
116. 18.08.1995 FAZ: "Deutsche Aktivisten wieder frei"
117. 18.08.1995 NZZ: "Kurdenzeitung in der Türkei geschlossen"
118. 23.08.1995 NZZ: "Rekordzahl politischer Gefangener in der
Türkei"
119. Sept. 1995 a.i., Report Türkei
120. 01.09.1995 SZ: "Türkischer Journalist in der Haft gestorben"
121. 13.09.1995 dpa: "Wieder 23 Tote bei Kämpfen in türkischen
Kurdengebieten"
122. 14.09.1995 FR: "Bericht über folternde Polizisten"
123. 01.10.1995 Rumpf an VG Aachen
124. 12.10.1995 dpa: "In Deutschland geehrt, in der Heimat Türkei mit
Gefängnis
bedroht"
125. 13.10.1995 Die Zeit: "Exil in der Heimat"
126. 26.11.1995 dpa: "Türkische Menschenrechtsstiftung: Weiter Folter
von
Festgenommenen"
127. 29.11.1995 dpa: "Mindestens 18 Tote bei Kämpfen in
Kurdengebieten der
Türkei"
128. 30.11.1995 Kaya an VG Freiburg
129.2./3.12.199 SZ: "Europa siegt in Istanbul"
5
130. 07.12.1995 Auswärtiges Amt: Lagebericht
131. 16.12.1995 SZ: "Kurden bieten Feuerpause an"
132. 18.12.1995 FR: "Soldaten töten vier PKK-Kämpfer"
133. 21.12.1995 FR: "Journalisten verurteilt"
134. 02.01.1996 SZ: "Kämpfe im Herzen der Türkei"
135. 02.01.1996 FR: "Kämpfe mit Kurden jetzt auch in Zentralprovinz"
136. 09.01.1996 taz: "Mit Stangen erschlagen"
137. 09.01.1996 FR: "Schläge beim morgendlichen Zählappell"
138. 11.01.1996 FR: "Journalist zu Tode gefoltert"
139. 15.01.1996 FR: "Islamistische Wohlfahrtspartei bleibt weiter
ohne Partner"
140. 17.01.1996 NZZ: "Eingeständnis Ankaras zum jüngsten
Journalistenmord"
und "Rache der PKK an Dorfmiliz in Südostanatolien"
141. 30.01.1996 Auswärtiges Amt an VG Freiburg
142. 02.02.1996 FR: "Keine Besserung für Kurdistan"
143. 10.04.1996 SZ: "100 PKK-Terroristen getötet"
144. 17.04.1996 Auswärtiges Amt: Lagebericht Türkei
145. 10.06.1996 dpa: "PKK kündigt verstärkte militärische Aktivitäten
in der
Türkei an"
146. 11.07.1996 dpa: "Türkische Luftwaffe bombardierte PKK-Lager im
Norden
des Irak"
147. 04.12.1996 Auswärtiges Amt -- Lagebericht
148. 20.12.1996 Oberdiek an OVG Schleswig-Holstein
149. 01.02.1997 Taylan an OVG Schleswig-Holstein
150. 28.02.1997 Auswärtiges Amt an OVG Schleswig-Holstein
151. 02.04.1997 Rumpf an VG Bremen
152. 02.04.1997 Oberdiek an OVG Mecklenburg-Vorpommern
153. 10.04.1997 Auswärtiges Amt -- Lagebericht
154. 14.10.1997 Auswärtiges Amt an VG Bremen
155. 31.03.1998 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
156. 22.06.1998 Gesellschaft für bedrohte Völker an VG Kassel
157. 29.07.1998 Gesellschaft für bedrohte Völker an VG Freiburg
158. 18.08.1998 Kaya an VG Würzburg
159. 18.09.1998 Auswärtiges Amt -- Lagebericht Türkei
160. 22.12.1998 Dokumentation des Auswärtigen Amtes
161. 15.01.1999 Kaya an VG Sigmaringen
162. 03.02.1999 a.i. -- Gefährdung von Kurden im Fall ihrer Rückkehr
in die Türkei
163. 24.02.1999 a.i. an VG Berlin
164. 29.04.1999 Oberdiek an VG Berlin
165. 30.04.1999 a.i. an VG Aachen
166. 01.07.1999 a.i. an VG Bremen
167. 07.09.1999 Auswärtiges Amt -- Lagebericht
168. 13.09.1999 Kaya an VG Darmstadt
169. 24.09.1999 Die Welt: "Angeklagt für das Zitieren türkischer
Soldaten"
170. 29.09.1999 Frankfurter Rundschau: "Armee tötet PKK-Kämpfer"
171. 27.09.1999 Süddeutsche Zeitung: "Scheitern mit harter Hand"
172. 30.09.1999 Neue Zürcher Zeitung: "Neue türkische Offensive im
Nordirak"
173. 01.10.1999 Frankfurter Rundschau:"Türkische Polizei nimmt viele
173. 01.10.1999 Frankfurter Rundschau:"Türkische Polizei nimmt viele
Demonstranten fest"
174. 02.10.1999 Die Welt:"Häftlinge beenden Gefängnisaufstände"
175. 19.10.1999 Frankfurter Rundschau:"Türkische Polizisten in Haft"
176. 20.10.1999 Frankfurter Rundschau:"Gericht lässt Polizisten
gehen"
177. 02.11.1999 dpa-Meldung: "Haftbefehl gegen Mitglieder der PKK-
"Friedensgruppe""
178. 20.11.1999 NZZ:"Leichte Entspannung im Südosten der Türkei"
179. 25.11.1999 Internationaler Verein für Menschenrechte der Kurden
(IMK)
-- Wocheninformationsbrief Nr. 44/45
180. 02.12.1999 FR:"Minderheit in der PKK will den Kampf fortsetzen"
181. 10.12.1999 FR:"PKK-Rebellen getötet"
182. 11.12.1999 NZZ:"Anhaltende Kämpfe im Südosten"
183. 15.12.1999 FAZ:"Türkei will kurdische Programme zulassen"
184. 16.12.1999 IMK-Wocheninformationsdienst Nr. 47
185. 30.12.1999 FR:"Birdal-Attentäter zu hohen Haftstrafen
verurteilt"
186. 05.01.2000 Die Welt:"Äußerungen zur kurdischen Sprache sind
keine
Straftat"
187. 07.01.2000 FR:"Ecevit sieht Kurdenkrieg kurz vor dem Ende"
188. 11.01.2000 FR:"Tote bei Kämpfen mit PKK"
189. 13.01.2000 IMK-Wocheninformationsdienst Nr. 49
190. 24.01.2000 SZ:"Ankara warnt Medien vor Öcalan-Erklärungen"
191. 27.01.2000 IMK-Wocheninformationsdienst Nr. 51
192. 04.02.2000 Die Welt:"Gericht spricht Menschenrechtler frei"
193. 04.02.2000 IMK-Wocheninformationsdienst Nr. 52
194. 09.02.2000 SZ:"Abgeschobener Kurde in der Türkei gefoltert"
195. 10.02.2000 FR:"Kurdische Arbeiterpartei beendet Kampf mit
Waffen"
196. 11.02.2000 FR:"Eine Chance für die Kurdenpolitik -- Neue Töne in
der
Türkei"
197. 19.02.2000 SZ:"Sendeverbot für CNN wegen PKK-Diskussion"
198. 03.03.2000 FR:"Türkei: Neun Tote bei Kämpfen"
199. 04.03.2000 Die Welt:"Polizisten trotz Schuldspruchs auf freiem
Fuß"
200. 09.03.2000 IMK-Wocheninformationsdienst Nr. 55/56
201. 11.03.2000 NZZ:"Kämpfe zwischen PKK und Armee in Ostanatolien"
202. 13.03.2000 NZZ:"Über 300 Festnahmen vor Demonstration in
Istanbul"
203. 15.03.2000 FR:"Ecevit will Gesetz entschärfen"
204. 16.03.2000 Die Welt:"Ankara verschließt sich Reformen"
205. 21.03.2000 Die Welt:"Behörden verbieten Empfang der
prokurdischen
HADEP-Partei"
206. 22.03.2000 FR:"Hunderttausende Kurden feiern friedlich Newroz"
207. 04.04.2000 Die Welt:"Ankara setzt Offensive gegen PKK im
Nordirak fort"
208. 19.04.2000 FR:"Birdal harrt medizinischer Hilfe -- Türkei
verweigert
Menschenrechtler ärztliche Versorgung"
209. 22.04.2000 FR:"Öcalan-Bruder beschuldigt"
210. 03.05.2000 NZZ:"Kämpfe im Südosten der Türkei"
211. 05.05.2000 FR:"Türkische Parlamentarier kritisieren
Polizei-Folter"
212. 12.05.2000 FR:"Türkische Armee tötet 53 kurdische Rebellen"
213. 15.05.2000 FR:"Kurdische Musik verpönt"
214. 16.05.2000 taz:"Presse: haft für Morde"
215. 20.05.2000 taz:"Türkei Menschenrechte -- IHD-Büro geschlossen"
216. 27.05.2000 NZZ:"Vorstoss der türkischen Armee in den Nordirak?"
217. 29.05.2000 SZ:"Türkisches Parlament deckt Polizei-Folter auf"
218. 30.05.2000 SZ:"Istanbul verbietet Demokratie-Symposium"
219. 31.05.2000 Die Welt:"Menschenrechtler übergeben Folterwerkzeuge
an
Ermittler"
220. 01.06.2000 dpa-Meldung:"HADEP-Chef wegen separatistischer
Propaganda
zu Haft verurteilt"
221. 06.06.2000 SZ:"Die Leere des Krieges"
222. 09.06.2000 FR:"Zensur in der Türkei angeprangert"
223. 16.06.2000 FR:"Anwalt setzt sich für Soysal ein -- Ehemaligem
PKK
Funktionär droht in Ankara Todesstrafe"
224. 20.06.2000 FR:"Neue Vorwürfe gegen Birdal"
225. 21.06.2000 Die Welt:"PKK will ohne Zugeständnisse aus Ankara
weiter
kämpfen"
226. 22.06.2000 Auswärtiges Amt -- Lagebericht
227. 24.06.2000 taz:"Reformen in der Warteschleife"
228. 28.06.2000 Die Welt:"30 Mitglieder von kurdischer Partei
festgenommen"
229. 12.07.2000 Auswärtiges Amt an VG Bremen
230. 20.07.2000 taz:"Ecevit will gegen Folter vorgehen"
231. 22.07.2000 FR:"'Reporter ohne Grenzen' kritisieren
Sendeverbote"
232. 18.08.2000 taz:"PKK-Dissidenten sind auf dem Vormarsch"
233. 21.08.2000 Auswärtiges Amt an VG Gießen
234. 31.08.2000 FR:"Kurden sprechen von Verrat -- Opposition wendet
sich
gegen die Linie von PKK-Chef Öcalan"
235. 13.09.2000 FR:"Journalisten verhaftet"
236. 16.09.2000 taz:"Justiz prüft Interview"
237. 16.09.2000 FR:"Weniger Repression in der Türkei -- Bericht über
Fortschritte, aber Folter immer noch alltäglich"
238. 21.09.2000 dpa-Meldung:"Türkischer Ministerrat erörtert Reformen
im
Hinblick auf EU"
239. 25.09.2000 FR:"Menschenrechtler Birdal aus der Haft entlassen"
240. 02.10.2000 taz:"Autorin freigesprochen"
241. 20.10.2000 IMK-Wocheninformationsdienst Nr. 82/83
242. 06.11.2000 FR:"Kurdische Politiker verhaftet"
243. 15.11.2000 FR:"Kurdenführer muss in Haft"
244. 16.11.2000 FR:"Polizisten wegen Folter bestraft"
22
23
II.
1. 02.05.1984 Max-Planck-Institut Heidelberg an VGH Baden-
Württemberg
2. 05.03.1990 Auswärtiges Amt an VG Hannover
3. 05.03.1990 Auswärtiges Amt an VG Hamburg
4. 29.03.1990 amnesty international an VG Stade
5. 18.06.1990 Oehring an VG Hannover
6. 29.08.1991 Kaya an VG Hamburg
7. 18.01.1993 amnesty international an VG Köln
8. 14.11.1994 amnesty international an VG Bremen
9. 13.03.1995 amnesty international an VG München
10. 10.05.1995 Taylan an VG Mainz
11. 20.05.1995 Kaya an VG Mainz
12. 09.08.1995 Rumpf an VG Darmstadt
13. 14.08.1995 Auswärtiges Amt an VG Mainz
14. September amnesty international: Familien von
1995
"Verschwundenen" als Opfer
15. 25.09.1995 SZ: "Bruder des PKK-Führers vorübergehend
festgesetzt
16. 27.11.1995 Auswärtiges Amt an VG Stuttgart
17. 25.02.1996 Taylan an VG Neustadt a. d. W.
18. 22.07.1996 amnesty international an VG Stuttgart
19. 15.11.1996 Oberdiek an VG Hamburg
20. 17.02.1997 Oberdiek an VG Hamburg
21. 14.03.1997 Gesellschaft für bedrohte Völker an VG Hamburg
22. 16.03.1997 Kaya an VG Gießen
23. 17.03.1997 Kaya an VG Stuttgart
24. 21.04.1997 Auswärtiges Amt an VG Bayreuth
25. 15.05.1997 Taylan vor VG Gießen
26. 15.05.1997 Rumpf an VG Hamburg
27. 20.08.1997 Rumpf an VG Hamburg
28. 14.10.1997 Kaya an OVG Meckl.-Vorpommern
29. 11.02.1998 Dinc an VG Berlin
30. 11.03.1998 Kaya an VG Berlin
31. 15.04.1998 amnesty international an VG Hamburg
32. 24.07.1998 Rumpf an VG Berlin-Moabit
33. 05.01.1999 Auswärtiges Amt an VG Braunschweig
34. 05.05.1999 Oberdiek an VG Stuttgart
35. 03.08.1999 Auswärtiges Amt an VG Stuttgart
36. 13.10.1999 Kaya an VG Gelsenkirchen
37. 28.12.1999 Kaya an OVG Greifswald
38. 10.03.2000 Kaya an VG Darmstadt
III.
1. 31.10.1990 Rumpf an VG Hamburg
2. 23.10.1992 FR: "Krieg läßt die Kurdenprovinzen auch
wirtschaftlich
ausbluten"
3. 24.11.1992 a.i. an VG Bremen
24
25
26
4. 05.03.1993 Zeuge Ayzit vor VG Hamburg
5. März 1994 Saarländische Kurden-Delegation: Inländische
Fluchtalternative Westtürkei
6. 28.01.1997 Ges. für bedrohte Völker an OVG Schleswig-Holstein
7. 17.06.1997 Auswärtiges Amt an VG Hamburg
8. 20.08.1997 Rumpf an VG Hamburg
9. 14.10.1997 Kaya an OVG Greifswald
10. 20.10.1997 Auswärtiges Amt an Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge
11. 01.02.1998 Rumpf an VG Berlin
12. 09.07.1998 Auswärtiges Amt an VG Saarlouis
13. 12.11.1999 FR:"Zehn-Millionen-Note soll das Ende der
Fahnenstange
sein"
14. 27.04.2000 Oberdiek an OVG Hamburg
15. 29.04.2000 Kaya an OVG Hamburg
16. 13.05.2000 Taylan an OVG Hamburg
17. 05.06.2000 Auswärtiges Amt an OVG Hamburg
Entscheidungsgründe
Die vom Senat zugelassene, auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 51
AuslG und hilfsweise des § 53 AuslG gerichtete und auch sonst zulässige Berufung
ist unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage insoweit zu Recht abgewiesen; denn die
Klägerin hat in dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der
Berufungsentscheidung keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte zu ihren
Gunsten die Voraussetzungen des § 51 AuslG (A.) oder zumindest des § 53 AuslG
(B.) feststellt. Hieraus ergeben sich die zu treffenden Nebenentscheidungen (C.).
A.
Die Voraussetzungen für die als Flüchtlingsanerkennung geltende Feststellung
eines Abschiebungshindernisses nach § 51 Abs. 1 AuslG (vgl. §§ 3, 4 AsylVfG)
decken sich in dem hier maßgeblichen Umfang mit denen für die Asylanerkennung
nach Art. 16a Abs. 1 GG (vgl. dazu BVerwG, 26.10.1993 -- 9 C 50.92 u.a. --, EZAR
230 Nr. 2 = NVwZ 1994, 500; BVerwG, 18.01.1995 -- 9 C 48.92 --; BVerwGE 95, 42
= EZAR 230 Nr. 3). Asylrecht als politisch Verfolgter im Sinne des mit dem
früheren Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG übereinstimmenden Art. 16a Abs. 1 GG genießt,
wer bei einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen
Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen
seiner persönlichen Freiheit zu erwarten hat (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80
u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Wer unverfolgt seinen Heimatstaat
verlassen hat, ist nur dann als Asylberechtigter anzuerkennen, wenn ihm aufgrund
eines beachtlichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung droht (§ 28
AsylVfG; BVerfG, 26.11.1986 -- 2 BvR 1058/85 --, BVerfGE 74, 51 = EZAR 200 Nr.
18; BVerwG, 20.11.1990 -- 9 C 74.90 --, BVerwGE 87, 152 = EZAR 201 Nr. 22).
Eine Verfolgung ist in Anlehnung an den Flüchtlingsbegriff des Art. 1 Abschn. A Nr.
2 GK als politisch im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG anzusehen, wenn sie auf die
Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
oder die politische Überzeugung des Betroffenen zielt (BVerfG, 01.07.1987 -- 2
BvR 478/86 u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 17.05.1983 -- 9 C
874.82 --, BVerwGE 67, 195 = EZAR 201 Nr. 5, u. 26.06.1984 -- 9 C 185.83 --,
BVerwGE 69, 320 = EZAR 201 Nr. 8). Diese spezifische Zielrichtung ist anhand des
inhaltlichen Charakters der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht
nach den subjektiven Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, 10.07.1989 -
- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 80, 315, 344 = EZAR 201 Nr. 20; zur Motivation vgl.
BVerwG, 19.05.1987 -- 9 C 184.86 --, BVerwGE 77, 258 = EZAR 200 Nr. 19).
Werden nicht Leib, Leben oder physische Freiheit gefährdet, sondern andere
Grundfreiheiten wie etwa die Religionsausübung oder die berufliche und
wirtschaftliche Betätigung, so sind allerdings nur solche Beeinträchtigungen
27
28
29
wirtschaftliche Betätigung, so sind allerdings nur solche Beeinträchtigungen
asylrelevant, die nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und
über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort
herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (BVerfG, 02.07.1980 -- 1
BvR 147/80 u.a. --, a.a.O., u. 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --, a.a.O.; BVerwG,
18.02.1986 -- 9 C 16.85 --, BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7). Die Gefahr einer
derartigen Verfolgung ist gegeben, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger
Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit droht, wobei die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die
Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung
abgestellt und auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein muss (BVerwG,
03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Die
Prüfung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert eine qualifizierende
Betrachtungsweise, die neben der Eintrittswahrscheinlichkeit auch die zeitliche
Nähe des befürchteten Eingriffs berücksichtigt (BVerwG, 14.12.1993 -- 9 C 45.92 --
, EZAR 200 Nr. 30). Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch verfolgt war,
kann eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die
Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen ist (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, a.a.O.; BVerwG,
25.09.1984 -- 9 C 17.84 --, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12 m.w.N.). Die
Asylanerkennung kann wegen anderweitigen Verfolgungsschutzes, insbesondere
nach Einreise aus einem sicheren Drittstaat ausgeschlossen sein (Art. 16a Abs. 2
GG; §§ 26a, 27, 29 Abs. 1 und 2 AsylVfG, Anlage I zum AsylVfG; vgl. vor allem
BVerfG, 14.09.1996 -- 2 BvR 1516/93 --, BVerfGE 94, 49 = EZAR 208 Nr. 7).
Der Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen
Mitwirkungspflicht gehalten, von sich aus umfassend die in seine eigene Sphäre
fallenden Ereignisse substantiiert und in sich schlüssig zu schildern sowie
eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien
nachvollziehbar aufzulösen, so dass sein Vortrag insgesamt geeignet ist, den
Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, 08.05.1984 -- 9 C 141.83 --, EZAR 630
Nr. 13 = NVwZ 1985, 36, 12.11.1985 -- 9 C 27.85 --, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR
1986, 79, u. 23.02.1988 -- 9 C 32.87 --, EZAR 630 Nr. 25), und insbesondere auch
den politischen Charakter der Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG,
22.03.1983 -- 9 C 68.81 --, Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG, u. 18.10.1983 --
9 C 473.82 --, EZAR 630 Nr. 8 = ZfSH/SGB 1984, 281). Bei der Darstellung der
allgemeinen Umstände im Herkunftsland genügt es dagegen, dass die
vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer
Verfolgung ergeben (BVerwG, 23.11.1982 -- 9 C 74.81 --, BVerwGE 66, 237 =
EZAR 630 Nr. 1). Die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung kann schließlich nur
festgestellt werden, wenn sich das Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von
der Wahrheit des von dem Asylbewerber behaupteten individuellen
Verfolgungsschicksals verschafft, wobei allerdings der sachtypische
Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerstaat bei der Auswahl der
Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrags und der Beweise angemessen zu
berücksichtigen ist (BVerwG, 12.11.1985 -- 9 C 27.85 --, a.a.O.).
Nach diesen Grundsätzen kann aufgrund der persönlichen Angaben der Klägerin
bei der Anhörung durch das Bundesamt am 10. Oktober 1996, ihrer Vernehmung
durch die Berichterstatterin im Berufungsverfahren am 16. August 2000, der
Anhörung ihres Bruders T Y durch das Verwaltungsgericht am 6. Mai 1997, der
informatorischen Befragung ihres Bruders B Y im Berufungsverfahren durch die
Berichterstatterin am 16. August 2000 sowie aufgrund der in das Verfahren
eingeführten Erkenntnisquellen nicht zur Überzeugung des Senats festgestellt
werden, dass die Klägerin bis zu ihrer Ausreise aus der Türkei (I.) wegen ihrer
Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe (1.) -- trotz der Verfolgungslage in ihrer
Heimatregion (a) -landesweit (b) oder aus individuellen Gründen (2.) politisch
verfolgt war, dass sie bei einer Rückkehr in die Türkei (II.) die trotz der weiterhin in
den Notstandsgebieten festzustellenden Gruppenverfolgung (1.) bestehende
Möglichkeit des verfolgungsfreien Lebens in ihrer Heimat (2.) nicht wahrnehmen
(a, b) und erreichen kann (c) oder dass sie bei einer Rückkehr aus individuellen
Gründen politische Verfolgung zu befürchten hat (3.).
I.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin, an deren kurdischer
Volkszugehörigkeit der Senat keinen Zweifel hat, bis zu ihrer Ausreise im Oktober
1994 einer landesweiten politischen Verfolgung als kurdische Volkszugehörige oder
aus individuellen Gründen ausgesetzt war.
30
31
32
33
1. Die Klägerin unterlag zwar im Zeitpunkt ihrer Ausreise wegen ihrer
Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe einer Gruppenverfolgung, da ihre
Heimatprovinz Sirnak unter Notstandsrecht stand. Es stand ihr damals aber wie
allgemein kurdischen Volkszugehörigen aus den Notstandsgebieten eine
Möglichkeit verfolgungsfreien Lebens außerhalb der dem Notstandsrecht
unterliegenden Regionen zur Verfügung.
Nach den Feststellungen des Senats ist die Bevölkerungsgruppe der Kurden seit
etwa Mitte 1993 in den unter Notstandsrecht stehenden Provinzen der Türkei
allgemein dem türkischen Staat zurechenbarer politischer Verfolgung ausgesetzt
(st. Rspr. Hess.VGH, 07.08.1986 -- X OE 109/82 --; zuletzt 27.03.2000 -- 12 UE
583/99.A --), die als örtlich begrenzte und nicht als regionale Verfolgung zu
qualifizieren ist.
Asylrelevante politische Verfolgung kann sich nicht nur gegen Einzelpersonen,
sondern auch gegen eine durch gemeinsame Merkmale verbundene Gruppe von
Menschen richten mit der Folge, dass dann jedes Gruppenmitglied als von dem
Gruppenschicksal mitbetroffen anzusehen ist (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80
u. a. --, a.a.O., 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u. a. --, a.a.O., und 23.01.1991 -- 2 BvR
902/85 u. a. --, BVerfGE 83, 216 = EZAR 202 Nr. 20, 531; BVerwG, 02.08.1983 -- 9
C 599.81 --, BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1 und 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --,
a.a.O.). Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich
deshalb auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese
wegen eines asylerheblichen, auch bei ihm vorliegenden Merkmals verfolgt werden
und er sich in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsgefahr vergleichbaren Lage
befindet. Gilt die Verfolgung unabhängig von individuellen Umständen allein einer
durch ein asylerhebliches Merkmal gekennzeichneten Gruppe als solcher und
damit grundsätzlich allen Gruppenmitgliedern, so kann eine solche
Gruppengerichtetheit der Verfolgung dazu führen, dass jedes Mitglied der Gruppe
im Verfolgerstaat jederzeit der Gefahr eigener Verfolgung ausgesetzt ist (BVerfG,
23.01.1991 -- 2 BvR 902/85 u. a. --, a.a.O.). Die Annahme einer Gruppenverfolgung
setzt eine Verfolgungsdichte voraus, die in quantitativer Hinsicht die Gefahr einer
so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen aufweist, dass ohne weiteres von einer
aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit jedes Gruppenmitglieds gesprochen werden
kann (BVerwG, 08.02.1989 -- 9 C 33.87 --, EZAR 202 Nr. 15 = NVwZ-RR 1989, 502,
23.07.1991 -- 9 C 154.90 --, EZAR 202 Nr. 21 = DVBl. 1991, 1089 = InfAuslR 1991,
363, 24.09.1992 -- 9 B 130.92 --, EZAR 202 Nr. 23 = NVwZ 1993, 192, 05.07.1994
-- 9 C 158.94 --, EZAR 202 Nr. 25 = NVwZ 1995, 175). Mit dem Begriff der
Gruppenverfolgung werden derartige Fallkonstellationen schlagwortartig
zusammengefasst (BVerwG, 05.11.1991 -- 9 C 118.90 --, BVerwGE 89, 162 =
EZAR 202 Nr. 22). Eine mittelbare Gruppenverfolgung setzt nicht unbedingt
Pogrome oder vergleichbare Massenausschreitungen voraus (BVerwG, 24.09.1992
-- 9 B 130.92 --, a.a.O.). Übergriffe Privater sind dem Staat aber nur zuzurechnen,
wenn er dagegen grundsätzlich keinen effektiven Schutz gewährt (BVerwG,
05.07.1994 -- 9 C 1.94 --, EZAR 202 Nr. 24 = InfAuslR 1995, 24). Allerdings erfüllt
nicht erst eine (physische) Vernichtung einer Volksgruppe den Tatbestand einer
Gruppenverfolgung (BVerfG -- Kammer --, 11.05.1993 -- 2 BvR 2245/92 --; BVerfG -
- Kammer --, 09.12.1993 -- 2 BvR 1916/93 --, InfAuslR 1994, 156). Um zu
beurteilen, ob eine ausreichende Verfolgungsdichte vorliegt, müssen Intensität
und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung
gesetzt werden (BVerwG, 05.07.1994 -- 9 C 158.94 --, a.a.O.). Als nicht vorverfolgt
ist nur derjenige Gruppenangehörige anzusehen, für den die
Verfolgungsvermutung widerlegt werden kann (BVerwG, 03.10.1984 -- 9 C 24.84 --,
EZAR 202 Nr. 3); es kommt nicht darauf an, ob sich die Verfolgungsmaßnahmen
schon in seiner Person verwirklicht haben (BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --,
a.a.O.).
Bei der Prüfung, ob die kurdische Minderheit in der Türkei seinerzeit asylrechtlich
relevante Beeinträchtigungen zu erleiden oder zu befürchten hatte, ist zunächst
von der Befugnis eines Mehrvölkerstaates auszugehen, seine staatliche Einheit
und seinen Gebietsstand zu sichern und dieses Selbsterhaltungsinteresse auch
durchzusetzen. Dieser Grundsatz verbietet es, die von solchen Maßnahmen
Betroffenen notwendigerweise als politisch Verfolgte anzusehen. Eine andere
Beurteilung könnte Platz greifen, wenn ein Mehrvölkerstaat nach seiner Verfassung
oder in der Staatswirklichkeit von der Vorherrschaft einer Volksgruppe über andere
ausgeht, die ethnischen, kulturellen oder religiösen Eigenarten bestimmter
Volksgruppen überhaupt leugnet und diese an einer ihrer Eigenart entsprechenden
Existenzweise hindert (BVerwG, 17.05.1983 -- 9 C 36.83 --, BVerwGE 67, 184, und -
34
35
36
Existenzweise hindert (BVerwG, 17.05.1983 -- 9 C 36.83 --, BVerwGE 67, 184, und -
- 9 C 874.82 --, a.a.O.), wenn er also insbesondere eine Zwangsassimilierung
betreibt. Deshalb bedarf es vor allem der Untersuchung, wie der türkische Staat
die Kurden in seiner Rechts- und Wirtschaftsordnung bis zum Ausreisezeitpunkt
behandelt hat, wie sich deren Lebensverhältnisse im Vergleich zu denen der
türkischen Mehrheit in der Wirklichkeit darstellten und ob dabei etwa Unterschiede
je nach der soziologischen Herkunft, den regionalen Strukturen und dem Maß der
Assimilation der Minderheit an die Mehrheit festzustellen sind. Dabei genügt nicht
eine isolierte Untersuchung einzelner Ausschnitte des individuellen Schicksals des
Asylsuchenden; es kommt vielmehr auf eine umfassende Gesamtbetrachtung der
innenpolitischen Lage in dem angeblichen Verfolgerstaat und aller irgendwie
relevanten Lebensumstände der Betroffenen an. Hierfür sollen sowohl allgemein-
oder gerichtsbekannte geschichtliche Vorgänge als auch Tatsachenbekundungen
aus den oben aufgeführten Unterlagen verwertet werden.
a) Die im Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches siedelnden Kurden
erlebten nach dessen Zerfall eine wechselvolle Geschichte. Nach der Aufteilung
ihrer angestammten Heimat auf Syrien, den Irak und die Türkei und der
Zusicherung einer lokalen Autonomie und eines späteren Volksentscheids über die
volle Selbstständigkeit in dem Friedensvertrag von Sevres vom August 1920 waren
im Vertrag von Lausanne vom 21. Juli 1923 für ethnische Minderheiten wie Kurden
keinerlei Sonderrechte mehr vorgesehen. Nach der Proklamation der Türkischen
Republik im Oktober 1923 und der Wahl von Mustafa Kemal -"Atatürk" -- zum
Staatspräsidenten wurden verstärkt Türkisierungsversuche unternommen. So
wurden etwa kurdische Dorfnamen und kurdische Vornamen geändert, die
kurdische Sprache als Amts- und Unterrichtssprache verboten und die Türkei in
drei ethnisch abgegrenzte Regionen aufgeteilt. Die erste war das Gebiet, in dem
die türkische Kultur in der Bevölkerung sehr stark verankert war; die zweite war
diejenige, in der die Bevölkerung angesiedelt werden sollte, die zu türkisieren war;
bei der dritten handelte es sich um Gebiete, die aus gesundheitlichen,
ökonomischen, kulturellen, militärischen und sicherheitstechnischen Gründen
entvölkert werden sollten und in denen sich niemand mehr ansiedeln durfte. Es
kam zu großangelegten Umsiedlungsaktionen, die teilweise in
Zwangsdeportationen ausarteten. Die auf Atatürk zurückgehenden sechs
kemalistischen Grundprinzipien des türkischen Staats-Nationalismus,
Säkularismus, Republikanismus, Populismus, Etatismus und Reformismus --
wurden auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufgegeben. Nach anfänglichen
Erfolgen bei Demokratisierungsbestrebungen unter den Ministerpräsidenten Inönü
(CHP) und Menderes (DP) kam es im Mai 1960 zu einem Militärputsch und im Juli
1961 zu einer neuen Verfassung, die wiederum vom Kemalismus geprägt war. In
den nachfolgenden zwei Jahrzehnten gab es in der Türkei verschiedene Koalitions-
und Minderheitsregierungen, bis im Dezember 1978 von Ecevit das Kriegsrecht vor
allem über ostanatolische Provinzen verhängt und später auf weitere Provinzen
ausgedehnt und verlängert wurde. Nach dem Militärputsch im Jahre 1980 kam es
zunächst zu einer Verschärfung und gesetzlichen Absicherung der Restriktionen
und Diskriminierungen der kurdischen Volksgruppe durch Maßnahmen, mit denen
der Gebrauch der kurdischen Sprache behindert, die Kurden in der Pflege ihrer
kulturellen Eigenheiten eingeschränkt und in den kurdischen Provinzen massiert
Sicherheitskräfte eingesetzt wurden. Seit Beginn der 90er Jahre verschärften sich
die Auseinandersetzungen mit der PKK (Partiya Karkeren Kurdistan --
Arbeiterpartei Kurdistans) insbesondere in den südöstlichen Landesteilen.
Trotz einer Vielzahl von Restriktionen und Diskriminierungen der kurdischen
Volksgruppe vermag der Senat nicht zu der Überzeugung zu gelangen, dass in der
Vergangenheit bis zum Jahr 1992/93 eine staatliche Verfolgung der ethnischen
Minderheit der Kurden erfolgt ist. Obwohl der türkische Staat den Gebrauch der
kurdischen Sprache behinderte, die kurdische Volksgruppe in der Pflege ihrer
kulturellen Eigenheiten einschränkte und der wirtschaftlichen und kulturellen
Unterentwicklung in kurdischen Provinzen nicht effektiv entgegentrat, lässt sich
nach Auffassung des Senats für diesen Zeitraum nicht der Schluss ziehen, der
türkische Staat unterdrücke und verfolge die Kurden bewusst mit dem Ziel, sie zu
assimilieren, zu vertreiben oder zu vernichten.
Anzeichen für eine asylerhebliche Zwangsassimilierung der Kurden ergeben sich
zunächst nicht aus dem Leugnen ihrer Existenz als eigenständige Volksgruppe.
Die Kurden wurden in der Vergangenheit nach dem historisch gewachsenen
Selbstverständnis der Türkischen Republik offiziell als nicht vorhanden angesehen
und damit von Staats wegen als ethnische Gruppe schlechthin ignoriert. Diese
Einstellung gegenüber den Kurden kam unter anderem in der in den letzten
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Einstellung gegenüber den Kurden kam unter anderem in der in den letzten
Jahrzehnten offiziell verwandten Bezeichnung als "Bergtürken" zum Ausdruck (I 3,
6.). Selbst wenn indessen die Kurden in der Türkei aufgrund dieser Umstände auf
Dauer gesehen der Assimilierung nicht entgehen sollten, ließe sich daraus ein
asylrelevanter Umstand nicht herleiten. Denn das Asylrecht schützt nicht vor
langfristigen und allmählichen Anpassungsprozessen aufgrund veränderter
Lebensbedingungen (BVerwG, 15.02.1984 -- 9 CB 191.83 --, EZAR 203 Nr. 2 =
InfAuslR 1984, 152).
Von allen legislativen und administrativen Mitteln, die zum Zwecke der
Verdrängung oder vollständigen angleichung gegen eine ethnische Minderheit
eingesetzt werden können, kommt einem Verbot der eigenen Sprache eine
wesentliche Bedeutung zu. Soweit es das Primat der türkischen Sprache und den
Ausschluss jeder anderen -- und damit vor allem der kurdischen -- Sprache
angeht, lässt sich eine eindeutige Rechtslage und Rechtswirklichkeit seit Bestehen
der Türkischen Republik nicht erkennen. Andererseits kann aber auch nicht
festgestellt werden, der Gebrauch der kurdischen Sprache sei im hier
maßgeblichen Zeitraum in der Türkei praktisch verboten gewesen.
Staatspräsident Atatürk soll bereits einige Monate nach Unterzeichnung des
Lausanner Friedensvertrages vom Juli 1923, nach dessen Art. 39 keinem
türkischen Staatsbürger irgendwelche Beschränkungen beim Gebrauch einer
Sprache auferlegt werden können, Kurdisch als Amtssprache verboten haben (I 3,
17). Anderen Angaben zufolge soll der Gebrauch der kurdischen Sprache jedenfalls
in der Zeit von 1924 bis 1929 gesetzlich verboten worden sein. Dieses Verbot ist
aber danach staatlicherseits im Laufe der Zeit nicht mehr durchgesetzt worden (I
5). Im Jahre 1967 machte sodann der Ministerrat von einer im Pressegesetz von
1950 enthaltenen Ermächtigung Gebrauch und verbot die Einfuhr und die
Verteilung sämtlicher in kurdischer Sprache im Ausland herausgegebenen
Druckerzeugnisse, Schallplatten, Tonbänder und dergleichen. Damit war die
Verbreitung von im Ausland hergestellten Erzeugnissen dieser Art unter Strafe
gestellt (I 5, 14). Wenn demgegenüber teilweise ohne nähere Erläuterung und
ohne Schilderung nachprüfbarer Beispiele angegeben wird, allgemein seien der
Besitz (I 2, 12) oder die Herausgabe und nicht nur die Einfuhr kurdischer Schriften
und Tonträger verboten und strafbar gewesen (I 3, 8), so kann dies durchaus auf
Missverständnissen und Ungenauigkeiten bei der Einholung und Wiedergabe von
Informationen beruhen. Denn nach den glaubhaften Angaben von anderen
Sachverständigen (I 14, 15) wurde die Herausgabe kurdischer Zeitschriften --
teilweise mit Beiträgen in türkischer Sprache -- nur dann und nur deswegen
verboten und strafrechtlich verfolgt, weil deren Inhalt als autonomistisch oder
separatistisch angesehen wurde.
Nach dem Militärputsch von 1980 wurden die Kurden zunehmend stärker in der
Pflege ihrer Kultur und Sprache behindert. Nach der neuen Verfassung vom 9.
November 1982 ist die Türkische Republik als Einheitsstaat konzipiert (Präambel)
und als dem Nationalismus Atatürks verbundener Staat bezeichnet (Art. 2).
Gemäß Art. 3 stellt sie in ihrem Staatsgebiet und Staatsvolk ein unteilbares
Ganzes dar, dessen Sprache Türkisch ist. Die auch in der Verfassung von 1982
zum Ausdruck gelangte Negierung der Existenz der kurdischen Volksgruppe durch
den türkischen Staat rechtfertigt indessen nicht den Schluss auf eine staatlich
bezweckte asylerhebliche Zwangsassimilierung.
Im Umgang mit Behörden und anderen staatlichen Stellen sowie im Militärdienst
wurde seit jeher auf den Gebrauch der türkischen Sprache Wert gelegt. Darüber
hinaus war wegen der Türkisierung der Vor-, Familien- und Ortsnamen die
Registrierung kurdischer Namen nicht erlaubt (vgl. I 8). Anders als in der Schule,
im Rundfunk und im amtlichen Verkehr war der Gebrauch des Kurdischen jedoch
bei privaten Unterhaltungen und im geschäftlichen Verkehr in den von Kurden
bewohnten Siedlungsgebieten im hier maßgeblichen Zeitraum allgemein üblich
und weder verboten noch gar strafbar (I 5, 9, 13, 15). Am 19. Oktober 1983 erging
das Gesetz Nr. 2932 über "Veröffentlichungen in einer anderen als der türkischen
Sprache" -- Sprachenverbotsgesetz -- (I 22), das die Grundlagen und Verfahren
regelte, "die auf Veröffentlichungen in nicht zugelassenen Sprachen Anwendung
finden" (Art. 1). Gemäß Art. 2 Abs. 2 dieses Gesetzes waren die Erklärung,
Verbreitung und Veröffentlichung von Meinungen in jeder Sprache verboten, die
nicht die erste offizielle Sprache eines von der Türkei anerkannten Staats war.
Obwohl das Gesetz nach seiner Überschrift und der Beschreibung seines
Gegenstandes in Art. 1 nur "Veröffentlichungen" betraf und nur auf die allein für die
Presse geltende Bestimmung des Art. 28 Abs. 2 der Verfassung Bezug zu nehmen
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Presse geltende Bestimmung des Art. 28 Abs. 2 der Verfassung Bezug zu nehmen
schien, ging der Wortlaut der Vorschriften der Art. 2 und 3 darüber hinaus und
erfasste auch andere als veröffentlichte schriftliche Meinungsäußerungen. Eine
entsprechende verfassungsrechtliche Grundlage befindet sich in Art. 26 Abs. 3 der
Verfassung, der lautet: "Bei der Äußerung oder Verbreitung von Meinungen darf
keine durch Gesetz verbotene Sprache verwendet werden ...". Deshalb bestanden
gewichtige Bedenken gegen die Auffassung, nur der "öffentliche" Gebrauch der
kurdischen Sprache sei untersagt und der private Bereich "nicht berührt" (I 21).
Allerdings wurde das Monopol der türkischen Sprache seit dem Militärputsch
lediglich im Umgang mit Behörden und anderen staatlichen Stellen sowie im
Militärdienst durchgesetzt (I 8, 9, 12). Gegen den Gebrauch des Kurdischen bei
privaten Unterhaltungen und im geschäftlichen Verkehr wurde dagegen nicht
eingeschritten, und es war im eigentlichen Siedlungsgebiet der Kurden, im
Südosten der Türkei, jedenfalls faktisch möglich, sich des Kurdischen als
Umgangssprache zu bedienen (I 5, 7, 13, 15, 16, 18, 19, 23, 24).
Neben dem Gebrauch der Sprache ist für den Bestand und die Erhaltung einer
eigenständigen Nationalkultur die Pflege von Brauchtum und Sitte wichtig und
letztlich unerlässlich. Auch in dieser Hinsicht unterliegen die Kurden gewissen
Beschränkungen. Sie konnten allerdings im hier maßgeblichen Zeitraum
grundsätzlich ungehindert ihre Nationaltracht tragen, kurdische Volkslieder singen
und ihr Newroz-Fest sowie andere bäuerliche Feste feiern und sich auch sonst als
Kurden zu erkennen geben -- angesichts ihrer kurdischen Sprache können sie ihre
Herkunft ohnehin kaum verbergen. Man kann für diesen Zeitraum im Vergleich zu
der Zeit bis 1950 von einer relativen Liberalisierung sprechen (I 9).
Es kann schließlich nicht festgestellt werden, dass der türkische Staat eine gezielte
Assimilierungspolitik durch bewusste Vernachlässigung kurdischer
Siedlungsgebiete in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht betrieben hat. Während
Industrie und Wirtschaft der Türkei hauptsächlich in den westlichen Teilen des
Landes, vorzugsweise in den Ballungsgebieten um die großen Städte angesiedelt
und konzentriert sind, sind die überwiegend von Kurden bewohnten 18 Provinzen in
Ostanatolien von der Agrarwirtschaft geprägt, und deren Strukturen und
Arbeitsweisen sind zudem durch die Herrschaft von Großgrundbesitzern
gekennzeichnet (I 2, 3). Aufgrund unsicherer Besitzverhältnisse, Streitigkeiten um
Weideland und Ackerboden und wegen der Hoffnung auf bessere
Verdienstmöglichkeiten im Westen der Türkei und den Industrieländern Mittel- und
Westeuropas haben im Hinblick auf die eklatante Unterentwicklung der östlichen
Gebiete im Laufe der letzten 30 Jahre immer mehr kurdische Bauern ihre Dörfer
verlassen. Diese Landflucht hat das Ungleichgewicht zwischen den östlichen und
westlichen Provinzen der Türkei noch verstärkt. Das Einkommensgefälle hat auch
in den letzten Jahren weiter zugenommen (I 148, III 10). Die Bodenschätze des
Ostens wurden zur Industrialisierung des Westens genutzt. Gesundheitswesen und
Schulen sind wesentlich schlechter ausgestattet als allgemein in der Türkei. Es
sind jedoch keine konkreten Tatsachen festzustellen, die den Vorwurf
rechtfertigen, die türkische Regierung hätte die kurdischen Provinzen in der
Absicht vernachlässigt, die dort lebenden Kurden ihres Volkstums wegen zu
benachteiligen, oder in ihrer Politik habe dieses Ziel zumindest eine nicht
unwesentliche Rolle gespielt (so aber etwa I 10, 18). Gegen eine solche Annahme
spricht, dass von den im Osten der Türkei herrschenden Lebensbedingungen auch
andere Bevölkerungsgruppen wie etwa Christen, Jeziden und Muslime betroffen
waren und sind. Für die Benachteiligung der kurdischen Regionen scheinen
insgesamt gesehen ganz unterschiedliche Faktoren verantwortlich zu sein, etwa
die ungünstigen Boden-, Klima- und Verkehrsverhältnisse. Das Fehlen besonderer
Erschließungs- und Entwicklungsprogramme dürfte auf den desolaten Zustand der
Staatsfinanzen der Türkei zurückzuführen gewesen sein.
Ungeachtet dessen bestand für Kurden, die ihre Volkszugehörigkeit im
gesellschaftlichen Bereich verbunden mit der Forderung nach politischer
Autonomie oder Unabhängigkeit vom türkischen Staat ostentativ bekundeten, die
Gefahr, durch staatliche Organe des Separatismus bezichtigt zu werden (I 3, 6, 7,
9, 11, 15 bis 20). Insoweit war aber auch eine deutliche Liberalisierung und
Zurückhaltung der Sicherheitskräfte gegenüber friedlichen Meinungsäußerungen
für ein eigenständiges Kurdistan erkennbar. Wegen des schlichten Bekenntnisses
zu ihrer Volkszugehörigkeit waren Kurden nicht von staatlicher Verfolgung bedroht
(I 4, 5). Eine sich in diesem Rahmen haltende Pflege kurdischen Brauchtums war
legal möglich (I 19, 24).
In engem Zusammenhang mit Ermittlungen und Verfolgungen wegen Verdachts
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In engem Zusammenhang mit Ermittlungen und Verfolgungen wegen Verdachts
des Separatismus standen die nach dem Militärputsch verstärkt unternommenen
Razzien, die der Suche nach Waffen und dem Aufspüren Krimineller dienten, die
aber in der Regel pauschal alle Bewohner von Grenzdörfern oder bestimmten
Gecekondu-Bereichen erfassten und diese oft einer erniedrigenden, brutalen oder
sonst menschenrechtswidrigen Behandlung unterzogen (I 2, 10, 11, 17, 23, 24). Im
Zuge der Verfolgung kurdischer Separatisten kam es dabei im Herbst 1984
("Operation Sonne") auch zu türkischen militärischen Aktionen auf irakischem
Gebiet (I 23). Während teilweise angenommen wird, diese Aktionen richteten sich
systematisch gegen die kurdische Bevölkerung und sollten deren Einschüchterung
bewirken (I 2, 11, 12), wird in anderen Berichten betont, kurdische
Siedlungsgebiete seien nur wegen der dort festzustellenden Häufigkeit von
anarchistischen, extremistischen und separatistischen Untergrundorganisationen
besonders oft und hart betroffen (I 1, 4, 7, 13, 23, 24). Aufgrund der Vielzahl
terroristischer Aktionen in den kurdischen Siedlungsgebieten kam es nach und
nach zu einer stärkeren Konzentration von Sicherheitskräften in diesen Gebieten
und im Zusammenhang damit zu vielen militärischen Aktionen gegen die PKK, die
das Ziel der Gründung eines unabhängigen kurdischen Staats in den von Kurden
besiedelten Gebieten des türkischen Staatsgebiets verfolgen. Zur Durchsetzung
dieses Ziels führte die PKK in den südöstlichen Landesteilen der Türkei einen
bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat; bei ihren Operationen bediente
sie sich der Guerillataktik (I 25).
Zu Beginn der 90er Jahre trat zunächst eine gewisse Entspannung der Lage der
Kurden ein. Durch Art. 23e des "Gesetzes über die Bekämpfung des Terrors" (Nr.
3713) -- Anti-Terror-Gesetz (ATG) -- vom 12. April 1991 wurde das
Sprachenverbotsgesetz ersatzlos aufgehoben (I 28). Daraus kann angesichts des
in Art. 1 normierten Zwecks des Sprachenverbotsgesetzes entnommen werden,
dass der Gebrauch einer anderen als der türkischen Sprache, insbesondere der
Sprache der Kurden als größter nichttürkischer Volksgruppe im Staatsverband der
Türkei, nicht mehr als separatistische, gegen die Einheit des türkischen Staats
gerichtete Handlung qualifiziert wird. Zudem wird mit der Aufhebung der
bisherigen Feststellung des Art. 3 Abs. 1 des Sprachenverbotsgesetzes, die
Muttersprache der türkischen Staatsbürger sei türkisch, für die türkischen
Staatsbürger auch der Besitz einer anderen Muttersprache eingeräumt und damit
mittelbar auch die Existenz anderer ethnischen Gruppen neben den Türken
anerkannt. Die Aufgabe der Leugnung der Existenz einer kurdischen Volksgruppe
in der Türkei kommt im Übrigen in der Anfang 1991 getroffenen Feststellung des
damaligen Staatspräsidenten Özal zum Ausdruck, in der Türkei lebten 10 bis 12
Millionen Kurden (I 26). Insgesamt wurde durch die Aufhebung des
Sprachenverbotsgesetzes vor allem der öffentliche Gebrauch der kurdischen
Sprache erheblich erleichtert. So ist es nicht mehr gesetzlich verboten, auf
Versammlungen und Demonstrationen Plakate in einer anderen als der türkischen
Sprache zu zeigen und dort in diesen Sprachen Schallplatten und ähnliches
abzuspielen oder kurdischsprachige Lieder zu singen (I 27). Wenngleich für
bestimmte Bereiche das Verbot der Verwendung anderer Sprachen als der
türkischen, wie etwa im Parteiengesetz und Vereinsgesetz (I 22), weiter
fortbesteht, hat dennoch die Aufhebung des Sprachenverbotsgesetzes zunächst
in einer wesentlichen Frage zu einer Abnahme der Beeinträchtigungen der
kurdischen Volksgruppe in der Türkei geführt. So wurde vom Kultusministerium die
Freigabe von ungefähr 25.000 früher verbotenen Buchtiteln bestätigt (I 26). Dies
führte zum Beispiel auch Ende 1991/Anfang 1992 zur Herausgabe zweier
kurdischsprachiger Wochenzeitungen (I 32), von denen allerdings eine später ihr
Erscheinen -- möglicherweise aufgrund behördlicher Schikanen -- wieder eingestellt
hat (I 42). Die Zeitung Özgür Gündem wurde seit ihrem Erscheinen von den
türkischen Behörden belästigt (I 60), ein Verbot dieser Zeitung war letztlich nur
eine Frage der Zeit (I 68), und auch die Nachfolgezeitung Özgür Ülke hatte von
Anfang an mit Schwierigkeiten gegenüber den Behörden zu kämpfen (vgl. I 81).
Darüber hinaus wurde im Jahre 1993 durch den Nationalen Sicherheitsrat das Anti-
Terror-Gesetz (ATG) wieder verschärft. Danach wurden kurdische Musik, kurdische
Reden und das Bekenntnis, Kurde zu sein, mit der Strafandrohung des Art. 8 ATG
verfolgt (I 71); auch Demonstrationen und Märsche gegen die nationale und
territoriale Einheit der Türkei sowie gegen die laizistische Grundordnung auf der
Basis einer strikten Trennung von Staatsführung und Religion sollten schwerer als
früher geahndet werden (I 73).
Die von Dezember 1991 an amtierende Regierungskoalition von DYP und SHP
setzte die zuvor begonnene Liberalisierung in der Kurdenpolitik verstärkt fort,
indem sie mehrfach ausdrücklich bekundete, dass sie die Kurden als eine
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indem sie mehrfach ausdrücklich bekundete, dass sie die Kurden als eine
eigenständige ethnische Minderheit anerkenne und grundsätzlich ein friedvolles
Zusammenleben von Kurden und Türken anstrebe (I 30, 31, 40). In dem
Regierungsprogramm war vorrangig die Fortsetzung des
Demokratisierungsprozesses und die Verbesserung der Menschenrechtssituation,
wozu vor allem eine Normalisierung der Situation in den Notstandsgebieten zählt,
aufgenommen worden (I 32). Das Versprechen für mehr Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit konnte die Regierungskoalition allerdings nicht einlösen (I 41).
Nach einem im April 1992 von der türkischen Regierung gefassten Beschluss sollte
die soziale und wirtschaftliche Lage der Kurden dadurch verbessert werden, dass in
den zehn südöstlichen Provinzen der Türkei, also in den Siedlungsgebieten der
Kurden, 10.000 neue Arbeitsplätze geschaffen und das Erziehungs- und
Gesundheitswesen ausgebaut werden sollten (I 34). Auf dieser Linie lag auch die
Ankündigung des damaligen türkischen Staatspräsidenten Özal, in Zukunft
könnten auch Unterricht sowie Rundfunk- und Fernsehsendungen in kurdischer
Sprache erlaubt werden (I 39). Da die PKK -- bei ihr handelt es sich um eine
stalinistische Organisation, die blutigen Terror für ein legitimes Mittel hält (I 25) --
offensichtlich die "Gefahr" sah, dass es auf der Grundlage dieses
Öffnungsprozesses zu einer geregelten Autonomie der kurdischen
Siedlungsgebiete innerhalb des türkischen Staatsverbands kommen könnte,
versuchte sie seit dem Frühjahr 1992 mit umfangreichen militärischen Aktionen,
den türkischen Staat und insbesondere das Militär zum Rückzug aus den
kurdischen Siedlungsgebieten sowie zur Aufgabe staatlicher Hoheitsgewalt in
diesem Gebiet zu zwingen. Durch Gegenaktionen der türkischen Armee wurde
auch die kurdische Zivilbevölkerung zum Teil erheblich in Mitleidenschaft gezogen.
Erster Höhepunkt waren die schweren Zusammenstöße zwischen türkischen
Sicherheitskräften und kurdischen Guerillas aus Anlass des kurdischen
Neujahrsfestes (Newroz) am 21. März 1992. Es kam zu zahlreichen Toten und
Verwundeten, wobei diese Unruhen in Cizre begannen und danach unter anderem
noch Sirnak, Nusaybin, Batman erfassten. In Sirnak kam es Mitte August 1992 zu
weiteren heftigen Kämpfen, in deren Folge die Stadt von ihren Bewohnern
weitgehend verlassen wurde, wobei allerdings die PKK eine Verwicklung ihrer
Mitglieder in die Vorfälle leugnete und sich im weiteren Verlauf die Anzeichen
mehrten, dass es sich allein um eine von den Sicherheitskräften zu
verantwortende Aktion gegen die Bevölkerung handelte (I 40). Gegen die unter
Einsatz von militärischen Mitteln -- mit Bomben, Mörsern und Raketenwaffen --
zum Teil mit Hunderten von Guerillakämpfern durchgeführten Überfälle der PKK,
Anschläge in zahlreichen Städten und Ortschaften des südöstlichen Grenzgebiets
der Türkei und Angriffe auf öffentliche Gebäude wie Bankfilialen und insbesondere
Einrichtungen des Militärs, der Gendarmas und der Polizei setzte der türkische
Staat große Einheiten von Sicherheitskräften -- zunehmend die paramilitärisch
ausgerüsteten Gendarmas (Landpolizei) und die in gleicher Weise ausgerüsteten
Sicherheitseinheiten des Innenministeriums -- ein, die in Gegenschlägen in
kurdischen Siedlungsgebieten selbst und im nördlichen Irak -- dem Rückzugsgebiet
der PKK -- PKK-Kämpfer aufspüren und bekämpfen sollen (I 36). Durch
Umsiedlungsaktionen im Kampfgebiet der PKK sollte der PKK auch die in diesem
Gebiet mögliche logistische Unterstützung durch die örtliche Bevölkerung
entzogen werden (I 43).
Die Maßnahmen des türkischen Staates in den kurdischen Siedlungsgebieten,
insbesondere in den Notstandsgebieten im südöstlichen Grenzgebiet, richteten
sich zunächst im wesentlichen gegen die Kampfaktionen der PKK. Der Senat hat
dazu schon früher festgestellt, dass anläßlich dieser Maßnahmen gehäuft
vorkommende illegale oder sogar menschenrechtswidrige Übergriffe auf
Zivilpersonen nicht zu der Annahme einer allgemeinen und landesweiten
Verfolgung der Kurden in Anknüpfung an ihre Volkszugehörigkeit führten (vgl.
Hess.VGH, 23.11.1992 -- 12 UE 2590/89 --). Erkenntnisse, die Anlass geben
könnten, diese Einschätzung neu zu überdenken, liegen für den hier maßgeblichen
Zeitraum nicht vor (vgl. Hess.VGH, 24.01.1994 -- 12 UE 200/91 --; 19.01.1998 --
12 UE 1624/95 --; zuletzt 27.03.2000 -- 12 UE 583/99.A --).
Im Jahr 1993 standen sich im Südosten der Türkei ungefähr 140.000 türkische
Soldaten und etwa 10.000 PKK-Kämpfer gegenüber (I 55). Damit wurden dort etwa
zwei Drittel der Streitkräfte der türkischen Armee stationiert, dazu zählen auch 80
% der Panzer- und Helikoptereinheiten (I 64). Die Situation in der Südosttürkei
wurde mittlerweile als Krieg (I 55, 64) oder doch jedenfalls als bürgerkriegsähnlich
charakterisiert (I 47), wobei die PKK in bestimmten Bergregionen im Südosten und
Osten der Türkei sogar schon effektive Gewalt ausübte (I 74). In dieser insgesamt
angespannten Situation entschloss sich die Führung der PKK am 20. März 1993 --
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angespannten Situation entschloss sich die Führung der PKK am 20. März 1993 --
auch um für eine geplante Frühjahrsoffensive der türkischen Streitkräfte nicht den
Grund zu liefern, wobei der Newroz-Enthusiasmus des kurdischen Volkes als
Vorwand für eine Provokation genutzt werden sollte (I 61) --, dem türkischen Staat
zunächst bis zum 15. April 1993 und alsdann bis auf weiteres einen einseitigen
Waffenstillstand und die Bereitschaft zu Verhandlungen anzubieten (I 56). Eine
offizielle Reaktion gab es darauf nicht. Der damalige Staatschef Özal hatte für die
dritte Aprilwoche den Nationalen Sicherheitsrat zu einer Sondersitzung geladen,
bei der er seine Kurdeninitiative erläutern wollte. Dazu kam es jedoch nicht mehr,
da der Staatschef eine Woche vor dieser Sitzung verstarb (I 59). Nach der
Aufkündigung des von der PKK einseitig erklärten Waffenstillstandes am 24. Mai
1993 (I 69) kündigten die türkische Regierung und der Generalstabschef eine
Großoffensive mit dem Ziel der endgültigen Vernichtung der PKK an (I 53). Der
Generalstabschef Güres erklärte, wenn man die PKK bis zum Winterbeginn nicht
ausgerottet habe, müsse über die Türkei das Kriegsrecht verhängt werden (I 59).
Staatspräsident Demirel sprach sich dagegen aus, der kurdischen Minderheit das
Recht auf Schulunterricht in ihrer Muttersprache einzuräumen, und schloss "jeden
Kuhhandel und jedes Zugeständnis" an die PKK aus (I 67). Die damalige
Ministerpräsidentin Ciller lehnte kurdischen Schulunterricht ab und sprach
anlässlich einer Informationsreise durch die Südostprovinzen davon, dass es gar
keine Kurdenfrage gebe (I 59). Die Armeeführung kündigte einen
"Vernichtungskrieg" unter Einsatz von moderneren und wirksameren Waffen an (I
67). Bereits vorher hatte der Führer der PKK, Abdullah Öcalan, der Türkei den
Vernichtungskrieg erklärt, nachdem er den türkischen Streitkräften vorgeworfen
hatte, bei ihren Aktionen chemische Waffen und Napalmbomben gegen die Kurden
einzusetzen (I 63; vgl. auch I 61).
Im Zuge der präventiven Bekämpfung von PKK-Einheiten durch türkische
Sicherheitskräfte wurden zunehmend unbeteiligte Bewohner in terrorgefährdeten
Gebieten der Südosttürkei erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Übergriffe gegen
die Zivilbevölkerung geschahen häufig bei Dorf- und Räumungsaktionen. Dabei
kam es auch zu zahlreichen Misshandlungen von Zivilpersonen durch
Sicherheitskräfte (I 75). Insgesamt verbesserte sich die Menschenrechtslage in
den kurdischen Provinzen der Türkei unter der Regierung Ciller nicht, sie wurde
eher verschärft. Die Verschleppung und Ermordung von Menschen, teils durch
uniformiert auftretende offizielle Sicherheitskräfte, aber auch durch die PKK nahm
erschreckende Ausmaße an (I 76). Die Regierung setzte entgegen einer im
Koalitionsprotokoll vom 24. Juni 1993 erklärten Absicht einseitig auf eine
militärische Lösung. Die staatlichen Handlungen in den Notstandsprovinzen des
Südostens und Ostens der Türkei haben in der Folge insgesamt den Charakter
eines Guerilla-Bürgerkriegs angenommen. Übergriffe der Sicherheitskräfte in Form
von Eigentumszerstörung, Freiheitsberaubung, Misshandlung und Tötung auch
gegenüber Unbeteiligten kamen verbreitet vor; die Aktionen gingen zum Teil in
ihrer Intensität auch über das für die Wiederherstellung der staatlichen
Friedensordnung erforderliche Maß erheblich hinaus (I 77).
Die Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der
PKK verschärften sich Mitte 1993 erheblich und erhöhten die damit verbundenen
Gefahren für die in diesen Provinzen lebende Bevölkerung (I 47, 56). Im
Zusammenhang mit der Eskalation der Gewalt im Südosten wurde der über zehn
Provinzen (Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Hakkari, Mardin, Siirt, Sirnak, Tunceli,
Van) verhängte Ausnahmezustand mehrmals verlängert (I 73, 87, 89). Die
Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte richteten sich seit den verschärften
Kämpfen mit der PKK auch gegen die Zivilbevölkerung. Früher waren die
Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte durchgehend dadurch
gekennzeichnet, dass sie aus Anlass und zum Zweck der Eindämmung des
bewaffneten Kampfes der PKK in der Südosttürkei durchgeführt wurden. So
erfolgten zum Beispiel Umsiedlungsaktionen (I 36) zielgerichtet unter militärisch-
strategischen Gesichtspunkten der Bekämpfung der PKK und noch nicht wahllos
unter Anknüpfung an die kurdische Volkszugehörigkeit, sondern veranlasst durch
Operationen der PKK vor allem in Gebieten, in denen die PKK besondere
Unterstützung genoss (I 36). Dazu zählten auch -- bedingt durch die Guerilla-Taktik
der PKK -- Durchsuchungen und vorläufige Festnahmen der Einwohner ganzer
Dörfer (vgl. Hess. VGH, 23.11.1992 -- 12 UE 2590/89 --).
Dagegen kann bei den Maßnahmen der Sicherheitskräfte seit etwa Mitte 1993
nicht mehr davon gesprochen werden, sie würden nur dem aktiven Terroristen,
dem Teilnehmer im strafrechtlichen Sinn oder demjenigen gelten, der im Vorfeld
Unterstützungshandlungen zugunsten terroristischer Aktivitäten vornimmt, ohne
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Unterstützungshandlungen zugunsten terroristischer Aktivitäten vornimmt, ohne
sich an diesen Aktivitäten unmittelbar zu beteiligen. Die Maßnahmen der
türkischen Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung sowohl nach Angriffen der
PKK als auch nach legalen oder illegalen Demonstrationen erscheinen seit Mitte
1993 als Strafaktionen gegen die kurdische Bevölkerung; für den türkischen Staat
gelten seitdem offenbar alle Kurden als potentielle Unterstützer der PKK. Dies
zeigt sich unter anderem darin, dass als Reaktion auf PKK-Aktivitäten
Sicherheitskräfte nicht die Guerillakämpfer verfolgten, sondern ganze Ortschaften
im kurdischen Osten zusammenschossen (I 49, 61). Zwar wurde von der
türkischen Staatsführung angekündigt, sie werde die Rebellen der verbotenen PKK
ausrotten (I 67). Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, von etwaigen
Maßnahmen der Sicherheitskräfte sei die Zivilbevölkerung nicht betroffen.
Vielmehr kam es tatsächlich in einer Vielzahl von Fällen zu Angriffen auf die
Zivilbevölkerung in den Notstandsgebieten, wobei sogar zunehmend Massaker an
kurdischen Zivilisten vom Militär in Kauf genommen wurden (I 68).
Beispielsweise wurde die hauptsächlich von Kurden bewohnte Stadt Lice von der
türkischen Armee angegriffen. Dabei wurden aus Hubschraubern und Panzern
Brandsätze eingesetzt; anschließend wurden die Bewohner von Soldaten aus ihren
Wohnungen geholt und diese dann in Brand geschossen (I 70). Während nach
offiziellen Angaben dabei 34 Menschen ums Leben kamen, berichteten Einwohner
von Hunderten von Toten und Vermissten (I 68). Danach gab es Befürchtungen,
dass die Regierungstruppen auch in der nahegelegenen Kleinstadt Kulp ein
Massaker anrichten würden, nachdem diese Stadt belagert und angegriffen
worden war (I 66). Die ungefähr 950 Einwohner des Dorfes Kursunlu bei Dicle
wurden vom Militär aufgefordert, ihre Siedlung zu verlassen; gleichzeitig wurde
ihnen angedroht, nach Ablauf des Ultimatums werde das Dorf beschossen, auch
wenn Einwohner dort bleiben würden (I 72). In Lice war kurze Zeit vorher der
Kommandeur der Militärpolizei dieser Region erschossen worden (I 65). Im Frühjahr
und Sommer 1993 wurden 108 Siedlungen zerstört (I 54); nach einer in der
Zeitung Özgür Gündem veröffentlichten Liste wurden vom 20. März bis 30. August
1993 117 Dörfer verbrannt und deren Bewohner vertrieben (I 61; vgl. auch I 59).
Zwar steht den Betroffenen eine Entschädigung zu; zu Entschädigungsleistungen
ist es bisher aber nachweislich nicht gekommen (I 69). Bei diesen Aktionen trieben
die Sicherheitskräfte regelmäßig zunächst alle Dorfbewohner auf dem Dorfplatz
zusammen, durchsuchten danach die Häuser, raubten das Geld und die
Wertsachen der Bewohner und setzten die Häuser einschließlich der darin
befindlichen Gegenstände und die Ställe mit den Tieren in Brand. Teilweise wurden
die Dorfbewohner noch misshandelt und geschlagen (I 61). Dabei wurden in der
Region um Lice, Kulb und Bingöl innerhalb von drei Tagen neun Dörfer von
Soldaten niedergebrannt. In der Provinz Bitlis wurden drei Dörfer -- Kovanis, Sap
und Kutlu -- von Soldaten und Dorfschützern unter Einsatz von Artillerie
angegriffen und innerhalb von vier Stunden vernichtet (I 61). Am 14. August 1993
richteten Sondereinheiten der türkischen Armee in der Kreisstadt Digor während
eines Schweigemarsches von über 4.000 Kurden aus Anlass des 9. Jahrestages
des Beginns des bewaffneten Kampfes der PKK ein Blutbad an (I 58). Als sich einen
Tag später Tausende von Menschen am Kreuzungspunkt Dolabas im Kreis
Malazgirt (Provinz Mus) versammelten, um zu demonstrieren, wurden sie von
Militäreinheiten umstellt und unter anderem von Panzern und Helikoptern unter
Beschuss genommen; dabei gab es drei Tote und über 70 Verletzte (I 64). Darüber
hinaus waren noch zahlreiche weitere Dörfer von Militäraktionen betroffen (I 53, 61,
64). In der Provinz Mardin wurden fünf Dörfer geräumt, weil die Bewohner nicht
Dorfwächter werden wollten (I 60), obwohl das Dorfschützeramt nicht zwangsweise
übertragen und eine Weigerung nicht strafrechtlich geahndet wird (I 114, 141).
Auch nach den Angaben des Auswärtigen Amtes leidet die Bevölkerung in den
unter Notstandsrecht stehenden Gebieten seither unter den oft
unverhältnismäßigen Aktionen der Sicherheitskräfte und unter anderem den
blutigen Anschlägen der PKK (I 47, 130, 144, 151), wobei aufgrund der in den
Notstandsgebieten nicht gewährleisteten Pressefreiheit (I 32) davon ausgegangen
werden kann, dass nicht alle dort vorkommenden schwerwiegenden
Menschenrechtsverletzungen bekannt werden. Die Übergriffe der Sicherheitskräfte
im Südosten in Form von Eigentumszerstörung, Freiheitsberaubung, Misshandlung
oder Tötung ereignen sich meistens -- und damit nicht immer -- im
Zusammenhang mit militärischen Einsätzen als Antwort auf bewaffnete Angriffe
der PKK, im Zusammenhang mit polizeilichen Maßnahmen zur Strafverfolgung von
Staatsschutzdelikten sowie zur Gefahrenabwehr oder auch im Zusammenhang
mit notstandsrechtlich sanktionierten Zwangsevakuierungen von Dörfern (I 73),
wobei die Grenze zwischen Terrorismusbekämpfung und individuellen und/oder
kollektiven Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung immer
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kollektiven Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung immer
schwerer zu ziehen ist (I 69). Bei Straßenkämpfen in den größeren Ortschaften der
Region verschwimmen die Grenzen zwischen gezieltem Vorgehen gegen PKK-
Militante und willkürlichem Beschuss ganzer Stadtteile. Als Beispiel wird in diesem
Zusammenhang angeführt, dass die Stadt Sirnak im August 1992 noch lange
nach dem Rückzug angreifender PKK-Militanter vom türkischen Militär zum Teil mit
Artillerie unter Beschuss genommen und schwer beschädigt wurde (I 69). Nach
Angaben der pro-kurdischen Zeitung "Özgür Gündem" wurde Anfang 1993 über die
Ortschaft Beytüssebap ein Nahrungsmittelembargo verhängt, das seit August
1993 auf die Städte Uludere, Sirnak und umliegende Dörfer ausgeweitet wurde,
wobei zur Begründung angegeben wurde, dass die Bewohner die PKK mit
Lebensmitteln versorgten (I 69). Das Lebensmittelembargo wurde dann auf die im
Dreieck der Kreise Lice, Kulp und Genc liegenden Kreisstädte und Dörfer sowie auf
die auf den Bergen Agri und Tendürek gelegenen Dörfer ausgedehnt (I 61). Die
türkische Regierung selbst hat auf eine parlamentarische Anfrage eines DEP-
Abgeordneten bestätigt, dass bis Ende 1993 über 870 Dörfer zwangsweise
geräumt wurden; ein großer Teil dieser Dörfer wurde niedergebrannt (I 79). Dabei
kam es zu zahlreichen Übergriffen, zu "standrechtlichen" Erschießungen und
Folterungen an Dorfbevölkerungen, die eindeutig nicht mehr durch Notstandsrecht
zu rechtfertigen sind (I 79, 89). Bis zum Herbst 1994 waren etwa 1.300 Dörfer (I
78, 87, 89) evakuiert und teilweise ganz zerstört worden.
Aufgrund dieser Entwicklung im Südosten der Türkei ergibt sich zur Überzeugung
des Senats seit Mitte 1993 und damit für den hier maßgeblichen Zeitpunkt der
Ausreise der Klägerin eine gegen die Kurden als Gruppe in den
Notstandsprovinzen gerichtete staatliche Verfolgung, die an ihre
Volkszugehörigkeit und damit an ein asylerhebliches Merkmal anknüpft. Die die
kurdische Zivilbevölkerung in diesen Gebieten betreffenden Maßnahmen und
Übergriffe der türkischen Sicherheitskräfte stellen sich nach den oben
aufgeführten Grundsätzen als eine Gruppenverfolgung der Kurden in diesen
Gebieten dar. Es ist nämlich festzustellen, dass die türkischen Sicherheitskräfte
die Angehörigen der kurdischen Bevölkerung unter Anknüpfung an ihre
Volkszugehörigkeit durch schwerwiegende Rechtsverletzungen verfolgen, die
gerade auch darauf ausgerichtet sind, die dort lebenden Kurden wegen ihrer
Volkszugehörigkeit zu treffen. Die staatlichen Kräfte führen den Kampf gegen die
PKK in einer Weise, die auch auf die physische Vernichtung der durch
asylerhebliche Merkmale bestimmten Personengruppe der Kurden gerichtet ist,
obwohl diese keinen Widerstand leisten oder nicht am militärischen Geschehen
beteiligt sind. Diese Voraussetzungen sind nach Einschätzung des Senats seit
etwa Mitte 1993 festzustellen und für die voraussehbare Zukunft angesichts der
Art und Weise des militärischen Handelns der türkischen Sicherheitskräfte in den
Notstandsgebieten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Deren
Aktionen sind jedenfalls seit dieser Zeit bei einer Vielzahl von Angriffen bewusst
auch gegen die kurdische Zivilbevölkerung in diesen Gebieten gerichtet und gehen
über das hinaus, was im Interesse der Wiederherstellung der staatlichen
Friedensordnung notwendig ist. Dabei ist für das Vorliegen einer asylrelevanten
Intensität des Eingriffs maßgebend, ob sich dieser nicht nur als Beeinträchtigung,
sondern als ausgrenzende Verfolgung darstellt (BVerfG -- Kammer --, 04.04.1991 -
- 2 BvR 1497/90 --). Die Maßnahmen der Sicherheitskräfte in den
Notstandsprovinzen sind, soweit sie die Zivilbevölkerung betreffen, seither als
Aktionen eines bloßen Gegenterrors zu werten, die zwar auch der Bekämpfung des
Terrorismus und seines ihn aktiv unterstützenden Umfelds gelten mögen, aber
gleichzeitig darauf ausgerichtet sind, die an dem bestehenden Konflikt nicht
unmittelbar beteiligte Zivilbevölkerung unter den Druck brutaler Gewalt zu setzen
(vgl. BVerfG, 10.07.1989 -- 2 BvR 502/86 u. a. --, a.a.O.), so dass daraus auf eine
allgemeine Gefährdung der in diesem Gebiet lebenden durch die
Volkszugehörigkeit gekennzeichneten Gruppe der Kurden zu schließen ist. Dabei
ist auch zugrundezulegen, dass -- wie für die Annahme einer unmittelbar
staatlichen Gruppenverfolgung erforderlich -- mit diesem Handeln eigene
staatliche Ziele des türkischen Staates durchgesetzt werden sollen, wozu sich der
Staat der Sicherheitskräfte -- wie Gendarmas und Polizei -- sowie der Armee
bedient (vgl. grundsätzlich zu diesem Erfordernis für eine "unmittelbare" staatliche
Gruppenverfolgung im Unterschied zu einer mittelbaren Gruppenverfolgung:
BVerwG, 05.07.1994 -- 9 C 158.94 --, a.a.O.). Wie aus den dargelegten
Maßnahmen der Sicherheitskräfte und der Streitkräfte ersichtlich, wird damit eine
Konzeption der türkischen Regierung zur "Befriedung" der kurdischen
Siedlungsgebiete im Südosten der Türkei durchgesetzt, die auch auf politische
Verfolgung der kurdischen Bevölkerungsgruppe setzt. Dabei unterstellen die
Sicherheits- und Streitkräfte ganz überwiegend pauschal eine Nähe oder
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Sicherheits- und Streitkräfte ganz überwiegend pauschal eine Nähe oder
Unterstützung separatistischer Aktivitäten der PKK und knüpfen insoweit an die
kurdische Volkszugehörigkeit der Bewohner dieses Gebietes an (vgl. zu diesen
Kriterien für die Gerichtetheit von Verfolgungsmaßnahmen bei unmittelbarer
staatlicher Gruppenverfolgung: BVerfG -- Kammer --, 09.12.1993 -- 2 BvR 1638/93
--, a.a.O.; BVerwG, 05.07.1994 -- 9 C 158.94 --, a.a.O.). Obwohl der eigentliche
Grund für das Eingreifen der Sicherheitskräfte in dem pauschalen
Terrorismusverdacht zu sehen ist, handelt es sich um ethnische Verfolgung; denn
sie richtet sich allgemein gegen Angehörige der kurdischen Volksgruppe in den
dem Notstandsrecht unterworfenen Gebieten, die fast ausschließlich von Kurden
bewohnt sind. Gegen eine derartig zielgerichtete Verfolgung spricht auch nicht der
Umstand, dass bisweilen bei Razzien und ähnlichen Maßnahmen zwischen
Verdächtigen und Unverdächtigen unterschieden wird; denn in aller Regel werden
zunächst alle in den Notstandsgebieten Lebenden pauschal verdächtigt,
festgehalten und misshandelt. Insbesondere die zahlreichen Fälle von
Zwangsevakuierungen und vollständiger oder teilweiser Zerstörung von Dörfern
mit den damit einhergehenden massiven Eingriffen in die Freiheit und körperliche
Unversehrtheit der Dorfbewohner verdeutlichen, dass die Sicherheitskräfte
verstärkt zu einer Strategie übergegangen sind, die neben dem unmittelbaren
militärischen Kampf gegen die PKK auch auf eine politische Verfolgung der
kurdischen Bevölkerungsgruppe setzt, um so der PKK Ressourcen und eine
breitere Unterstützung in der Bevölkerung zu entziehen. Welche Dimensionen die
Aktivitäten der Sicherheitskräfte in Anwendung dieser Strategie hat, zeigen die
bekannt gewordenen Zahlen eindrucksvoll.
Insgesamt ist bei Abwägung und Einbeziehung aller genannten Berichte
festzustellen, dass die Aktionen der Sicherheitskräfte in den Notstandsprovinzen
seither nicht allein unmittelbar auf die Bekämpfung der PKK gerichtet sind,
sondern dass bewusst und in einer Vielzahl von Fällen zielgerichtet die Verletzung
und Tötung von Personen der Zivilbevölkerung in Kauf genommen wird, um
dadurch jedenfalls auch mittelbar -- durch Abschreckung und Einschüchterung der
kurdischen Zivilbevölkerung -- den militärischen Kampf gegen die PKK zu
erleichtern, ohne einen konkreten Anlass dafür zu haben, dass es sich bei den
jeweiligen Personen um Anhänger oder Unterstützer der PKK handelt. Dabei ist es
für die Asylrelevanz dieser Maßnahmen nicht erforderlich, dass sie auf die
Zerstörung der Identität der gesamten der Gegenseite zugerechneten
Zivilbevölkerung ausgerichtet sind. Es ist insoweit schon asylrechtlich erheblich,
wenn von solchen Aktionen nur Teile dieser Zivilbevölkerung betroffen sind, die --
wie hier -- nach asylerheblichen Merkmalen bestimmt sind (BVerwG, 27.01.1993 --
9 B 95.92 --). Für diese Beurteilung maßgeblich sind nicht die subjektiven Gründe
oder Motive der handelnden Sicherheitskräfte, sondern die nach ihrem inhaltlichen
Charakter erkennbare Gerichtetheit der von ihnen durchgeführten Aktionen. Damit
ist eine objektivierte Betrachtung der grundsätzlichen Zielrichtung der Aktionen
der türkischen Sicherheitskräfte erforderlich. Aus der Sicht eines objektiven Dritten
stellen sich die Aktionen der türkischen Sicherheitskräfte als in erheblichem
Umfange auch gegen die kurdische Zivilbevölkerung gerichtet dar. Die bewusst
auch gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Aktionen stellen eine seit etwa Mitte
1993 erweiterte Dimension der Kampfführung der türkischen Sicherheitskräfte
gegen die PKK dar, durch die als flankierende Maßnahmen zu dem direkten Kampf
gegen die PKK die kurdische Zivilbevölkerung mit brutaler Gewalt unter Druck
gesetzt werden soll, den PKK-Aktivisten keinen Schutz zu gewähren und sie nicht
zu unterstützen.
Der Senat hat auch die Überzeugung gewonnen, dass aufgrund der geschilderten
zahlreichen und durchgehenden Vorkommnisse während der kriegerischen
Handlungen im Südosten der Türkei, insbesondere auch in Anbetracht der
Tatsache, dass in den letzten Jahren über dreitausend kurdische Dörfer durch
Sicherheits- und Streitkräfte zwangsweise geräumt und Dorfbewohner dabei
regelmäßig Eingriffen in Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit ihrer
Person ausgesetzt waren, eine derartige Verfolgungsdichte besteht, dass jedem
kurdischen Volkszugehörigen im Südosten der Türkei akut ein den genannten
Vergleichsfällen entsprechendes Verfolgungsschicksal droht (zum Kriterium der
Verfolgungsdichte vgl. insbesondere BVerwG, 05.07.1994 -- 9 C 158.94 --, a.a.O.).
Dabei kann schon angesichts der in Rede stehenden Schwere der
Rechtsgutverletzungen nicht auf eine statistische Ermittlung der bereits schwer
Geschädigten, der eher leicht Betroffenen, der latent Gefährdeten und der noch
unbehelligt Gebliebenen abgestellt werden. Gerade die Vielfalt der Eingriffe erlaubt
keine selektive Betrachtung je nach Ort, Art und Folgen der Eingriffe. Insbesondere
hängt die Feststellung der erforderlichen Verfolgungsdichte nicht davon ab, dass
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hängt die Feststellung der erforderlichen Verfolgungsdichte nicht davon ab, dass
die ansässige kurdische Bevölkerung mehrheitlich oder zu einem bestimmten
Anteil getötet, gefoltert, verletzt oder vertrieben und der Heimat beraubt ist. Im
Hinblick auf die Unberechenbarkeit der Verfolgungshandlungen, die von der
wechselnden Taktik der PKK ebenso abhängen wie von den innenpolitisch und
militärisch bestimmten Gegenaktionen der Sicherheitskräfte, hat sich das Risiko in
so vielen Fällen verwirklicht, dass es für einen kurdischen Bewohner der
Notstandsprovinzen seither nur eine Frage der Zeit war, wann er selbst betroffen
wurde. Daher kann gegen die Annahme der erforderlichen Verfolgungsdichte nicht
ins Feld geführt werden, dass nicht bereits die gesamte kurdische Bevölkerung in
den Notstandsgebieten aktuell politische Verfolgung erlitten hat. Zudem ist es für
die Annahme einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung unerheblich, dass einige
ostentativ staatsloyale Bewohner wie beispielsweise Dorfschützer und
Großgrundbesitzer ebenso wenig durch Maßnahmen der Sicherheitskräfte
beeinträchtigt werden wie Inhaber hervorgehobener politischer Stellen wie
Parlamentsabgeordnete und Bürgermeister. Sie bilden nämlich wegen ihrer
besonderen persönlichen Eigenschaften eine fast jeder Gruppenverfolgung eigene
Ausnahme.
Der Senat hält es deshalb im Ergebnis für beachtlich wahrscheinlich, dass
durchaus jeder noch in seinem angestammten Siedlungsgebiet im Südosten der
Türkei lebende Kurde von an seine Volkszugehörigkeit anknüpfenden, oben
beschriebenen Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Organe in der Türkei betroffen
sein kann. Der Senat weist insoweit darauf hin, dass er zur Begründung und
Herleitung dieses Ergebnisses nur die wesentlichen Gründe angegeben hat, die für
die richterliche Überzeugungsbildung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO leitend
gewesen sind, und nicht alle Einzelheiten von Gutachten und Berichten, die er in
seine Entscheidungsfindung einbezogen hat, hier ausdrücklich wiedergegeben und
bewertet hat. Aus der Nichterwähnung einzelner Umstände ist deshalb nicht zu
schließen, dass der Senat diese bei seiner Entscheidung unberücksichtigt gelassen
hätte; insbesondere der Umstand, dass bestimmte verfolgungsrelevante
Situationen in einem Bericht nicht erwähnt sind, kann im vorliegenden Rahmen
nicht jeweils ausdrücklich dargestellt und bewertet werden (vgl. zu diesen
Erfordernissen grundsätzlich: BVerwG, 05.07.1994 -- 9 C 158.94 --, a.a.O.). Dies
bedeutet aber nicht, dass der Senat bei der Gewichtung der vorhandenen
Dokumente dies nicht im Blick gehabt und etwa nicht in seine Betrachtung
einbezogen hätte. Soweit der Senat hinsichtlich der Feststellung oder Bewertung
von Verfolgungstatsachen von der Rechtsprechung anderer Tatsachengerichte
abweicht, hat er dies bei seiner Überzeugungsbildung beachtet. Vor allem hat er
alle divergierenden Tatsachenfeststellungen, soweit sie ihm bekannt sind, in die
Beweiswürdigung einbezogen, auch soweit dies nicht ausdrücklich vermerkt ist.
Zusammenfassend ist danach festzustellen, dass einem kurdischen
Volkszugehörigen, der in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der Ausreise der
Klägerin in den Notstandsprovinzen des Südostens der Türkei lebte, mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung durch Aktionen der
türkischen Sicherheitskräfte drohte, da Angriffe der Sicherheitskräfte gezielt auch
die Zivilbevölkerung in Anknüpfung an ihre kurdische Volkszugehörigkeit wahllos
trafen, um diese von einer gerade aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit für möglich
gehaltenen Unterstützung der PKK abzuhalten (a.A. z. B. VGH Baden-
Württemberg, 22.07.1999 -- A 12 S 1891/97 --; OVG Nordrhein-Westfalen,
25.10.2000 -- 8 A 1292/96.A --; offengelassen z. B. von OVG Hamburg, 01.09.1999
-- 5 Bf 2/92.A -- und Niedersächsisches OVG, 28.01.1999 -- 11 L 2551/96 --).
Gegen diese Annahme spricht nicht, dass sich die Lage in städtischen Gebieten
anders darstellte als auf dem Lande und insbesondere in Grenznähe. Schon
wegen der stärkeren Präsenz der Sicherheitskräfte und der Anwesenheit
nichtkurdischer Bewohner erübrigen und verbieten sich dort militärische Aktionen
größeren Stils; dafür waren dort vermehrt repressive Maßnahmen wie willkürliche
Festnahmen festzustellen. Wie bereits ausgeführt, ist es auch unerheblich, dass es
in der hier maßgebenden Region einzelne Kurden geben wird, die aufgrund ihrer
wirtschaftlichen und sozialen Stellung oder ihrer Einbindung in den Staat von
diesen Aktionen nicht betroffen waren und im wesentlichen unbehelligt leben
konnten; denn für diese wäre dann gegebenenfalls die Verfolgungsvermutung als
widerlegt anzusehen.
Aus diesen Feststellungen zum Kreis der von der Gruppenverfolgung betroffenen
Personen folgt, dass es sich hier nicht um eine regionale, sondern um eine örtlich
begrenzte Gruppenverfolgung im Sinne der neueren Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts handelt (dazu BVerwG, 09.09.1997 -- 9 C 43.96 --,
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Bundesverwaltungsgerichts handelt (dazu BVerwG, 09.09.1997 -- 9 C 43.96 --,
a.a.O.; BVerwG, 30.04.1996 -- 9 C 171.95 --, a.a.O.). Nach den obigen
Feststellungen sind die Verfolgungsmaßnahmen strikt auf die Notstandsprovinzen
begrenzt, und im Zusammenhang mit der nachfolgenden Prüfung wird deutlich,
dass der türkische Staat die Bevölkerungsgruppe der Kurden nicht landesweit in
den Blick genommen hat und verfolgt, obwohl es auch gelegentlich außerhalb der
Notstandsprovinzen zu asylrelevanten Übergriffen kommt. Der türkische Staat
stellt sich nicht als mehrgesichtiger Staat dar, der sich insgesamt als
Verfolgerstaat erweist und nur beispielsweise aus Gründen politischer Opportunität
die Kurden nicht oder jedenfalls derzeit nicht landesweit verfolgt. Es gibt keine
Anhaltspunkte dafür, dass er lediglich aus politischem Kalkül oder aus ähnlichen
Gründen Kurden außerhalb der Notstandsprovinzen unbehelligt leben lässt, obwohl
er sie allgemein als gefährliche Sympathisanten und mögliche Unterstützer der
PKK und damit aus seiner Sicht als staatsgefährdende Terroristen einschätzt.
Nach den vom Senat getroffenen Feststellungen hegt der türkische Staat den
seine Verfolgungshandlungen auslösenden pauschalen Separatismusverdacht nur
gegenüber denjenigen kurdischen Volkszugehörigen, die in den
Notstandsprovinzen der Türkei leben. Nur ihnen gegenüber kommt es
insbesondere aufgrund der besonderen Bedingungen des Notstandsrechts zu
Übergriffen durch Sicherheitskräfte, gegen die weder die militärische noch die
politische Führung vorgeht, die im Gegenteil einen wichtigen strategischen Teil des
Kampfes gegen die PKK darstellen.
b) Ein kurdischer Volkszugehöriger konnte in der Türkei in dem hier maßgeblichen
Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin leben, ohne dass ihm politische Verfolgung
drohte, wenn er sich außerhalb der Notstandsprovinzen, vor allem in den
Großstädten Ankara und Istanbul, niederließ (vgl. Hess.VGH, 23.11.1992 -- 12 UE
2590/89 --, 24.01.1994 -- 12 UE 200/91 --, zuletzt 27.03.2000 -- 12 UE 583/99.A
und 12 UE 1562/99.A --).
Im Falle einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung stellt sich anders als bei einer
regionalen Gruppenverfolgung nicht die Frage nach einer zumutbaren inländischen
Fluchtalternative (vgl. BVerwG, 30.04.1996 -- 9 C 171.95 --, BVerwGE 101, 134 =
EZAR 203 Nr. 8; BVerwG, 09.09.1997 -- 9 C 43.96 --, BVerwGE 105, 204 = EZAR
203 Nr. 11; BVerwG, 08.03.2000 -- 9 B 620.99 --). Da Grundlage für die Relevanz
einer inländischen Fluchtalternative und deren Voraussetzungen die Überlegung
ist, dass ein von regionaler politischer Verfolgung betroffener Bürger eines Staats
erst dann politisch Verfolgter ist, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose
Lage gerät, weil er in anderen Teilen seines Heimatlandes eine zumutbare
Zuflucht nicht finden kann, ist im Unterschied zur regionalen Verfolgung bei örtlich
begrenzter Verfolgung die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung außerhalb des
örtlich begrenzten Verfolgungsgebiets schon dem Begriff nach nahezu
ausgeschlossen. Da nämlich die Verfolgung von vornherein strikt auf bestimmte
Gebiete begrenzt ist und der Verfolgerstaat nicht nur aufgrund von
Praktikabilitätsüberlegungen von der Verfolgung in einem anderen Gebiet absieht,
sind Verfolgungen dort nicht wahrscheinlich; denn anders als bei regionaler
Verfolgung hat der Staat die verfolgte Gruppe nicht landesweit in den Blick
genommen und lässt sie nicht nur aus opportunistischen oder ähnlichen Gründen
im übrigen Staatsgebiet unbehelligt. Bei einer Person, die zwar der ethnisch,
religiös oder sonst abgegrenzten Gruppe angehört, jedoch nicht zu der
Personengruppe zu rechnen ist, die örtlich begrenzt verfolgt wird, kann deshalb
von vornherein angenommen werden, dass sie ohne Gefahr kollektiver Verfolgung
in ihrer Heimatregion oder sonst außerhalb des Verfolgungsgebiets leben kann.
Auf die Möglichkeit eines nicht von existenziellen Risiken anderer Art bedrohten
Lebens kommt es für sie nicht an (grundsätzlich hierzu: Hess.VGH, 07.12.1998 --
12 UE 2091/98.A --; vgl. auch HessVGH, 27.01.1999 -- 6 UE 1253/96.A --).
Offenbleiben kann dabei, ob es für die aus dem Verfolgungsgebiet stammenden
und daher der Gruppenverfolgung unterliegende Personen ebenfalls nicht hierauf
ankommt (ebenso schon HessVGH, 07.12.1998 -- 12 UE 232/97.A --; HessVGH,
31.01.2000 -- 12 UE 176/99.A --; HessVGH, 27.03.2000 -- 12 UE 1562/99.A --), da
zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin Kurden, soweit sie in
ihrer Heimat allenfalls der marginalen Unterstützung der PKK verdächtig waren,
ohne sich aktiv und hervorgehoben für separatistische Bestrebungen einzusetzen,
insbesondere in der Westtürkei grundsätzlich unbehelligt leben und dort auch eine
hinreichende Existenzmöglichkeit finden konnten.
Mit der Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen Sicherheitskräften und
PKK im Südosten der Türkei sollen auch in der Westtürkei Repressionen gegen
Kurden zugenommen haben (I 44, 52, 62). Die kurdischen Zuwanderer sollen bei
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Kurden zugenommen haben (I 44, 52, 62). Die kurdischen Zuwanderer sollen bei
Razzien und Fahndungen in erster Linie von Festnahmen betroffen worden sein, da
sie bereits allein aufgrund ihrer kurdischen Herkunft als verdächtig galten (I 45,
62). Dies soll sich mit der Andauer des Kampfes im Südosten weiter verschlimmert
haben, wobei gleichgültig gewesen sein soll, welche konkreten Verdachtsmomente
in Bezug auf die Verwandtschaft oder Bekanntschaft mit PKK-Rebellen vorlagen.
Des Weiteren wird der Verdacht geäußert, dass Kurden in den west-, süd- und
nordtürkischen Regionen von der Polizei drangsaliert wurden, ohne dass auch nur
der Versuch gemacht worden sei, den Vorwurf einer tatsächlich vorhandenen
radikalen kurdischen Einstellung oder Aktivität nachzuweisen. Allein die
Zugehörigkeit zur ethnischen Gruppe der Kurden habe den Vorwurf einer
separatistischen Einstellung nach sich gezogen (I 67, 90). Demgegenüber wird in
anderen Berichten darauf verwiesen, dass nichts davon bekannt sei, dass Kurden
in den westlichen türkischen Großstädten allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit
verhaftet würden (I 42). Selbst in Zeitschriften, die in kurdischer Sprache
erscheinen, sei nicht von willkürlichen Festnahmen von Kurden, nur weil sie Kurden
seien, berichtet worden.
1992 und 1993 kam es in verschiedenen Orten der West- und Südtürkei zu
Zwischenfällen gegenüber kurdischen Volkszugehörigen (I 62, 67). Im Rahmen von
Beerdigungen und Trauerfeiern von türkischen Trauergemeinden gab es nicht nur
gegen die PKK, sondern gegen die Kurden gerichtete Ausschreitungen, die
teilweise mehrere Tage andauerten, beispielsweise Ende Oktober 1992 in Alanya in
der Nähe von Antalya (I 43, 49, 52) und in Fethiye (Provinz Mugla; I 43, 62). Anfang
Dezember 1992 entstanden in Antalya nach einem Feuerüberfall auf einen
Polizeiwagen Spannungen zwischen türkischer und kurdischer Bevölkerung, die in
Ausschreitungen gegen kurdische Geschäfte mündeten (I 53). Auch alltägliche
Streitereien zwischen Bürgern türkischer und kurdischer Herkunft wurden häufig
zum Anlass gewalttätiger Auseinandersetzungen genommen, wie in der Nacht
vom 12. zum 13. Juli 1993 in Ezine (Provinz Canakkale) zwischen kurdischen
Hotelangestellten und Gästen aus dem Nachbardorf (I 67). Darüber hinaus trugen
auch öffentliche diskriminierende Äußerungen von Politikern zur Verschlechterung
des Verhältnisses zwischen Türken und Kurden bei (I 67). Mit dem Andauern der
Kämpfe im Südosten der Türkei und weiterer Flüchtlingswellen aus diesen Gebieten
insbesondere in die Großstädte im Westen der Türkei verbesserte sich die Lage vor
allem in den überwiegend von Kurden bewohnten Vierteln nicht. Dort vermehrte
sich die Häufigkeit von Razzien und Überprüfungen einschließlich Festnahmen eher
noch, da die Sicherheitskräfte unter den neu aus den östlichen Provinzen
hinzugezogenen Kurden einen hohen Anteil von PKK-Anhängern vermuteten (I 83,
90, 95, 104). Nach auf Informationen von türkischen Menschenrechtsvereinen
beruhenden Berichten kam es im Jahre 1994 zu 14.473 Festnahmen (I 95); in der
gesamten Türkei soll es sich um eine Million Festnahmen pro Jahr gehandelt haben
(I 96). Oberdiek ermittelte aus Zeitungsberichten oder Informationen von
Menschenrechtsvereinen für Istanbul, Adana, Izmir und andere Orte insgesamt
etwa 118 Razzien und Verhaftungen im Zeitraum Oktober 1994 bis Mai 1995;
daneben kam es in diesem Zeitraum zu mehreren ungeklärten Fällen Ermordeter
und Verschwundener sowie zu Bombenanschlägen, deren Täter vielfach nicht zu
ermitteln waren, so beispielsweise in Adana und Mersin im März 1995 (I 104).
Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass in dem hier maßgeblichen Zeitraum bis
zur Ausreise der Klägerin Kurden allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit verhaftet,
verhört und gefoltert wurden. Zwar ergibt sich aus den recherchierten Fällen, dass
die kurdische Volkszugehörigkeit und der Zuzug aus dem Südosten vor kürzerer
Zeit schon als Anknüpfungspunkt für die Durchführung einer Razzia oder
Durchsuchung ausreichen konnten, da unter diesen Personen ein hoher Anteil von
PKK-Anhängern vermutet wurde (I 83). Jedoch sind solche, noch der Bekämpfung
terroristischer Anschläge und Täter dienende Maßnahmen für sich allein nicht als
asylrechtlich relevante Beeinträchtigung zu bewerten. Zu längerdauernder
Verhaftung kam es -- von einzelnen Fällen abgesehen -- in aller Regel nur bei
Vorliegen entsprechender Verdachtsmomente, auch wenn diese häufig als vage
und willkürlich erscheinen oder auf nicht rechtsstaatliche Weise erlangt wurden. So
ist auch in den ermittelten Fällen (I 78, 80) festzustellen, dass bei den länger
Inhaftierten Verdachtsmomente dieser Art vorlagen, wenn es sich beispielsweise
um HADEP-Mitglieder handelte oder die Verwendung kurdischer Farben und/oder
Symbole, das Singen kurdischer Lieder und ähnliche Begebenheiten Anlass für die
Maßnahme waren.
Es fehlen auch genügende Anhaltspunkte dafür, dass Ausschreitungen und
Übergriffe Privater vom türkischen Staat veranlasst oder geduldet wurden. Insoweit
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Übergriffe Privater vom türkischen Staat veranlasst oder geduldet wurden. Insoweit
ist vielmehr festzustellen, dass die türkischen Sicherheitskräfte grundsätzlich
schutzbereit waren. Soweit es zu spontanen und häufig emotional wegen der
türkischen Opfer der bewaffneten Auseinandersetzungen mit der PKK begründeten
Übergriffen Privater gegenüber kurdischen Volkszugehörigen in der Westtürkei
kam blieb die Polizei nicht völlig untätig, sondern forderte beispielsweise die
kurdische Bevölkerung auf, zu ihrem Schutz vorübergehend die Häuser nicht zu
verlassen, oder verhinderte weitere Ausschreitungen (I 62). Auch die berichteten
Einzelfälle von Übergriffen staatlicher Sicherheitskräfte nach Festnahmen von
Kurden in Adana (I 78) können insbesondere unter Berücksichtigung der großen
Zahl der im Westen der Türkei lebenden sechs bis acht Millionen Kurden nicht zu
der Feststellung führen, dass Kurden dort generell wegen ihrer Volkszugehörigkeit
politische Verfolgung droht. Aus Berichten türkischer Menschenrechtsvereine
gehen ca. 1.000 Folterfälle in den Jahren 1994 und 1995, 298 Todesfälle in
Polizeihaft oder bei Polizeirazzien und 328 Fälle vermuteten Verschwindenlassens
innerhalb eines Jahres hervor (I 96). Diesen Zahlen von Folterfällen, Todesfällen in
Polizeihaft oder bei Polizeirazzien und Fällen vermuteten Verschwindenlassens
steht eine (geschätzte) Zahl von etwa 3,5 Millionen Kurden in Istanbul (von etwa
8,5 Millionen Einwohnern; 1997: etwa 3 Millionen Kurden, I 89) und 800.000 Kurden
in Izmir (von über drei Millionen Einwohnern; I 94) gegenüber. Die Zahl der
Binnenflüchtlinge aus dem Südosten, die sich im Westen niedergelassen haben,
wird auf zwei bis drei Millionen geschätzt; etwa die Hälfte bis annähernd zwei Drittel
der kurdischstämmigen Bevölkerung lebte damit im Westen der Türkei (I 89). Der
Zunahme bei der Zahl von Verhaftungen und auch Übergriffen steht die noch
deutlichere Zunahme der Zahl der kurdisch-stämmigen, insbesondere auch aus
dem Südosten neu zugezogenen Bevölkerung gegenüber.
Kurdische Volkszugehörige hatten zum Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin
insbesondere in der Westtürkei, vor allem in den Großstädten Istanbul und Ankara
auch grundsätzlich die Möglichkeit, sich jedenfalls für eine bescheidene
Lebensführung eine ausreichende wirtschaftliche und finanzielle Grundlage zu
schaffen. Es drohte ihnen bei der gebotenen generalisierenden Betrachtung
(BVerwG, 08.02.1989 -- 9 C 30.87 --, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 104) nicht
auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum mit der Gefahr von Verelendung
und Hungertod. Etwa die Hälfte bis annähernd zwei Drittel der kurdischen
Bevölkerung (I 74, 89), deren Gesamtzahl auf etwa 12 oder 13 Millionen geschätzt
wurde (I 80), lebte mittlerweile außerhalb der ursprünglichen Siedlungsgebiete im
Osten der Türkei. In der übrigen Türkei, insbesondere in den Großstädten Istanbul,
Izmir und Ankara, lebten zwischen sechs und zehn Millionen türkischer
Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit (I 47, 89). Die Zahl der
Zuwanderer belief sich dort zwischenzeitlich auf etwa ein Fünftel bis ein Drittel der
Gesamteinwohnerzahl (I 28, 62). In Istanbul wohnten etwa 3,5 Millionen Kurden
unter einer Gesamtbevölkerung von jedenfalls über acht Millionen (III 1, 4, I 89) und
damit mehr als in den meistumkämpften Kurdenprovinzen (I 49). Im Großraum
Izmir lebte etwa eine Million Kurden bei einer Gesamteinwohnerzahl von etwas
über drei Millionen (I 42). Ein Teil der Kurden lebte schon seit Generationen und
assimiliert im Einvernehmen mit den jeweiligen Nachbarn im Westen, während
andere erst in neuerer Zeit zugewandert waren, wobei sich die Zuwanderung aus
einem bestimmten Dorf an dem Ort konzentrierte, an dem der erste Abwanderer
aus diesem Dorf sich niedergelassen hatte (I 28, 29). Das Gros der im Westen
lebenden kurdischstämmigen Bevölkerung befand sich im Familienverbund und
wurde dadurch auch in die Lage versetzt, sich gegenseitig zu unterstützen (III 5).
Ursachen für diese "Auswanderung" in den Westen der Türkei waren oft auch
wirtschaftliche Gründe, da sich die wirtschaftliche Lage insbesondere in den
städtischen Gebieten der Westtürkei in der Regel besser als im Heimatdorf der
Kurden in ihrem Siedlungsgebiet darstellte (I 32), wobei die wirtschaftliche
Situation der in der Westtürkei lebenden kurdischstämmigen Bevölkerung
tatsächlich nicht von ihrer Volkszugehörigkeit, sondern überwiegend von ihrem
Bildungs- und Ausbildungsstand abhing (I 29). Auch Kurden aus dem ländlichen
Bereich der kurdischen Siedlungsgebiete im Südosten der Türkei, die mangels
ausreichenden Schulbesuchs oft nicht einmal lesen oder schreiben konnten und
vor allem in der Landwirtschaft tätig waren, fanden in den Großstädten durchaus
Möglichkeiten, sich insbesondere als Hilfskräfte im Dienstleistungsbereich ein
bescheidenes Auskommen zu sichern. Da die Schulpflicht auch unter den in den
Gecekondus der Großstädte lebenden Zuwanderern zu einem hohen Prozentsatz
erfüllt wurde, waren die wirtschaftlichen Möglichkeiten dort heranwachsender
Kurden bereits erheblich besser und unterschieden sich nicht von denen
vergleichbarer angestammter Einwohner dieser Städte (I 29). Kurdischstämmige
Türken wurden hier in die Gesellschaft gut integriert und waren entsprechend ihrer
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Türken wurden hier in die Gesellschaft gut integriert und waren entsprechend ihrer
Qualifikation auch in höchsten Positionen der Wirtschaft, beim Militär und bei der
Regierung vertreten (I 29); der Präsident der Istanbuler Handelskammer etwa war
Kurde (I 80). Kurden konnten insbesondere in westtürkischen Großstädten, vor
allem in Istanbul, genauso wie die dort angestammten Einwohner Arbeit finden. Es
lässt sich nicht erkennen, dass Kurden in den Städten von Arbeitslosigkeit
verhältnismäßig stärker betroffen waren als andere Gruppen (I 40). Länger
ansässige Kurden hatten im Westen der Türkei ohne Anzeichen für irgendeine
Diskriminierung ihren festen Platz in der Geschäftswelt (I 40), etwa in der
Gastronomie, im Gemüse- und Obstgroßhandel, im Transportwesen oder der
Industrie. Ein Großteil des Kleinhandels, aber auch des Handwerks, befand sich fest
in kurdischer Hand. Aus dem Südosten zuwandernden Kurden war es nicht
schwerer gefallen als anderen Zuwanderern, auf dem Arbeitsmarkt
unterzukommen. Gerade in der türkischen Bauwirtschaft, die insbesondere an den
Küsten einen Boom erlebte, gehörten Kurden zu den beliebtesten Arbeitskräften (I
40). Tatsächlich sind aus diesem Grunde Hunderttausende aus den
Kurdenprovinzen, die auch unter dem Einfluss der zwischen der PKK und türkischen
Sicherheitskräften geführten bewaffneten Auseinandersetzungen wirtschaftlich
ausgeblutet waren, aus ihren heimatlichen Siedlungsgebieten in den Westen der
Türkei abgewandert (III 2). In den städtischen Ballungszentren war für sie immer
noch besser Arbeit zu finden als im mehr und mehr verödenden Südosten (I 47).
Neben der allgemein herrschenden Arbeitslosigkeit führte allerdings eine
zunehmend feindliche Haltung der Türken in der Westtürkei gegenüber Kurden
dazu, dass diese zum Teil bewusst nicht mehr beschäftigt wurden. Kurden, die oft
ihre einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, in einer Tätigkeit als Straßenhändler
sahen, wurde diese Tätigkeit zunehmend durch polizeiliche Maßnahmen wie
Verbote, Festnahmen und Misshandlungen erschwert (I 76, III 4), z. B. durch
Umwerfen der Wagen, so dass die Waren kaum mehr zu verkaufen waren. Männer
konnten durch Gelegenheitsarbeiten zunehmend nur das Notwendigste verdienen;
angesichts einer hohen Arbeitslosigkeit blieben ihnen auch in den Großstädten nur
schlecht bezahlte Arbeiten am Bau und in der Kanalisation (III 4). Andererseits ist
festzustellen, dass kurdische Arbeitnehmer auch auf dem Hintergrund der sehr
angespannten Arbeitsmarktsituation im Westen der Türkei dort und an der
Südküste immer noch eher Arbeit fanden als in ihrem südöstlichen Heimatgebiet.
Denn die Lebensverhältnisse in der Türkei wurden durch ein starkes West-Ost-
Gefälle geprägt; das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf belief sich in der Osttürkei nur
auf ein Zehntel des Wertes in der Westtürkei. Unter der hohen Arbeitslosigkeit
hatten Kurden und Türken in der jeweiligen Region gleichermaßen zu leiden (I 79,
89). Kurdische Flüchtlinge mussten im Westen der Türkei oft auf engerem Raum
zusammenleben als in ihren Heimatdörfern; zudem waren sie zusätzlich belastet
durch hohe Mieten und mangelnde Wasserversorgung. Einnahmen konnten sie
sich als ungelernte Arbeitskräfte nur durch eine Beschäftigung in der
Landwirtschaft, im Baugewerbe, als Lastenträger oder als Straßenhändler
verschaffen (I 62, 76). Auch wenn derartige existentielle Schwierigkeiten für Kurden
an ihrem Herkunftsort im Südosten in Friedenszeiten so nicht bestanden haben (I
40), ist zu beachten, dass angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen in
ihrem Heimatgebiet die Sicherheits- und Wirtschaftslage in der Regel im Westen,
jedenfalls in den Großstädten, gesicherter war, worauf auch die ganz erhebliche
Binnenwanderung vom Südosten nach Westen wegen der dort insgesamt
besseren materiellen Lebensumstände (I 79) hinweist.
Insgesamt lässt sich demnach aber feststellen, dass für Kurden außerhalb der
Notstandsprovinzen, jedenfalls aber in der Westtürkei, sowohl unter
Sicherheitsaspekten als auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine
Existenzmöglichkeit zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin
bestand (z.B.: VGH Baden-Württemberg, 22.07.1999 -- A 12 S 1891/97 --; OVG
des Saarlandes, 18.08.1999 -- 9 Q 66/98 --; OVG Nordrhein-Westfalen, 25.01.2000,
aaO; Niedersächsisches OVG, 28.01.1999, aaO; OVG Hamburg, 01.09.1999, aaO;
23.11.1995 -- 11 L 6076/91 --; OVG Rheinland-Pfalz, 04.12.1995 -- 10 A 12970/95 -
-).
2. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin in der Türkei vor ihrer
Ausreise aus individuellen Gründen politische Verfolgung erlitten hat.
Die von ihr als für die Ausreise relevant geschilderten Ereignisse beschreiben die
zum damaligen Zeitpunkt in ihrer Heimatregion herrschenden Verhältnisse, die,
wie oben ausgeführt, die Gruppenverfolgungssituation charakterisieren. Es ist
nichts dafür erkennbar oder sonst vorgetragen, dass es sich um individuell auf die
Klägerin oder auf einen ihrer Brüder gerichtete Maßnahmen handelte, sondern
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Klägerin oder auf einen ihrer Brüder gerichtete Maßnahmen handelte, sondern
offensichtlich war ihr Heimatort als generell vermuteter Unterschlupf für
Unterstützer der PKK von razziaähnlichen Maßnahmen betroffen, ohne dass
erkennbar gezielt nach bestimmten Personen gefahndet wurde. Selbst wenn man
trotz deutlicher Zweifel an den diesbezüglichen Bekundungen ihres Bruders T
davon ausgeht, dass später noch eine weitere Razzia mit gezielter Suche nach
diesem stattgefunden hat, bei der der Großvater der Klägerin erheblich mißhandelt
wurde, lassen sich hieraus zum damaligen Zeitpunkt landesweit drohende
asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen nicht folgern. Zweifel gründen sich darauf,
dass das Vorbringen hierzu in zentralen Punkten widersprüchlich und es der
Klägerin bzw. ihrem Bruder T im Lauf des Verfahrens nicht gelungen ist, diesen
Widerspruch überzeugend aufzulösen. Während nämlich zunächst davon die Rede
war, der Großvater sei bei dieser Razzia so geschlagen worden, dass er starb,
bekundete der Bruder und Vormund der Klägerin in der informatorischen Anhörung
vor dem Verwaltungsgericht, der Großvater sei bei dieser Razzia mißhandelt
worden und er sei während der Zeit ihres Aufenthaltes bei dem Onkel -- also
offenbar ein bis zwei Wochen später -- gestorben; der Grund hierfür seien
mutmaßlich die Mißhandlungen. Auch wenn man davon ausgeht, dass dieser
Widerspruch auf einem möglicherweise durch das Alter der Klägerin von damals
etwa neun Jahren bedingten Mißverständnis, einer Ungenauigkeit bei der Anhörung
vor dem Bundesamt oder ihrem aufgrund des Zeitablaufs von zwei Jahren seit der
Ausreise und durch die Ereignisse an sich eingeschränkten Erinnerungsvermögen
beruht, kann ein Zusammenhang zwischen den vom Großvater erlittenen
Misshandlungen und einer gezielten Suche nach dem Bruder und jetzigen
Vormund der Klägerin hieraus nicht gefolgert werden. Vielmehr spricht alles dafür,
dass die Klägerin wie ihre Familie von einer pauschalen, in Zusammenhang mit der
Bekämpfung der PKK stehenden Razzia betroffen war, dass sie jedoch darüber
hinaus weder individuell auf sie selbst noch auf ihren Bruder T gerichtete, über das
örtliche Umfeld hinausreichende und die Klägerin einbeziehende Maßnahmen
erlitten oder zu befürchten hatte. Es gibt keine weiteren Anhaltspunkte dafür, dass
sie oder ihr Bruder T über die allgemein angewandten Drangsalierungen hinaus vor
ihrer Ausreise derart in das Visier der Sicherheitskräfte geraten waren, dass
landesweit nach ihnen gefahndet worden wäre, insbesondere wurden offensichtlich
keine landesweit wirksamen Verfahren gegen ihren Bruder T eingeleitet, die
Gefahren auch für die neunjährige Klägerin bedeutet hätten. Der Umstand, dass
ihr Bruder T in seinem Heimatort seit der letzten Razzia nicht mehr angetroffen
wurde, hat die Sicherheitskräfte möglicherweise pauschal auf einen PKK-
Zusammenhang schließen lassen und eine örtliche Suche veranlasst, ohne dass
dies landesweite Maßnahmen ausgelöst hat, wie auch in den von ihm
angestrengten und ohne Asylanerkennung zwischenzeitlich rechtskräftig
abgeschlossenen Asylverfahren zugrunde gelegt wurde.
Im Übrigen wäre es der Klägerin ohne weiteres möglich gewesen, entweder
gemeinsam mit ihrem Bruder T vor im heimatlichen Bereich möglicherweise
drohenden weiteren, auch sie selbst betreffenden Maßnahmen in den Westen der
Türkei auszuweichen, wo sie vor allem unter Berücksichtigung der Unterstützung,
die sie durch Verwandte zur Finanzierung und Durchführung der Ausreise erhalten
haben, offensichtlich die Möglichkeit gehabt hätten, eine Existenzmöglichkeit zu
finden. Auch wenn man keinen gemeinsamen Verbleib im Westen der Türkei
berücksichtigt, da der Bruder T notfalls auch allein ausgereist wäre, und des
weiteren davon ausgeht, dass die Eltern und übrigen Geschwister zum damaligen
Zeitpunkt nicht auffindbar waren, hätte sie, sofern ihre Eltern oder Verwandte nicht
ermittelbar gewesen sein sollten, durch Aufnahme in einem Waisenhaus eine
Existenzmöglichkeit bis zur Volljährigkeit finden können (s. unten S. 77 f.).
II.
Die somit unverfolgt ausgereiste Klägerin kann die Feststellung des
Abschiebungshindernisses nach § 51 Abs. 1 AuslG nur bei nachträglichem Eintritt
eines Verfolgungstatbestands erreichen. Hierfür sind nicht die strengen
Voraussetzungen wie für die Anerkennung als Asylberechtigter (vgl. dazu § 28
AsylVfG und BverfG, 26.11.1986 -- 2 BvR 1058/85 --, a.a.O.) zu erfüllen (vgl. dazu
BverwG, 29.11.1977 -- I C 33.71 --, BverwGE 59, 82 = EZAR 201 Nr.3; UNHCR,
Handbuch über das Verfahren und die Kriterien zur Feststellung der
Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von
1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 1979, Nrn. 94 -- 96; Nr. 3
Gemeinsamer Standpunkt des EU-Rats vom 04.03.1996 betreffend die
harmonisierte Anwendung der Definition des Begriffs "Flüchtling" in Art. 1 GK, Abl.
EG Nr. 263/2 vom 13.03.1996). Vielmehr setzt ein Nachfluchtgrund im Rahmen
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EG Nr. 263/2 vom 13.03.1996). Vielmehr setzt ein Nachfluchtgrund im Rahmen
des § 51 Abs. 1 AuslG nur voraus, dass dem Asylbewerber aufgrund von
Umständen, die nach seiner Ausreise aus seinem Heimatland eingetreten sind, für
den Fall seiner Rückkehr dort gegenwärtig und in absehbarer Zeit politische
Verfolgung droht. Für die Prognose der Verfolgungsgefahr ist der Maßstab
anzulegen, ob dem unverfolgt ausgereisten Asylbewerber politische Verfolgung bei
einer Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (zur
Asylanerkennung: BVerwG, 31.03.1981 -- 9 C 286.80 --, EZAR 200 Nr. 3,
25.09.1984 -- 9 C 17.84 --, a.a.O., 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, a.a.O.).
1. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Klägerin als Angehöriger der
Volksgruppe der Kurden in ihrer Heimatregion, die zu den Notstandsprovinzen
zählt, nach wie vor politische Verfolgung in der Form der örtlich begrenzten
Gruppenverfolgung droht. Die unter A I 1. beschriebene Verfolgungssituation hat
sich in den letzten sechs Jahren nach ihrer Ausreise nicht verändert. Danach ist
festzustellen, dass die Klägerin aber nach der Sachlage im Zeitpunkt der
Entscheidung des Senats in sonstige Gebiete außerhalb der Notstandsprovinzen
zurückkehren kann, ohne dort politischer Verfolgung ausgesetzt zu sein, und dass
sie dort auch das notwendige Existenzminimum erreichen kann.
Auch nach 1994 wurden die Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften und den
Angehörigen der PKK in den Notstandsgebieten mit unveränderter Härte
fortgesetzt. Nachdem die PKK im Januar 1995 gegenüber dem Internationalen
Komitee des Roten Kreuzes die Genfer Konvention und das Zusatzprotokoll von
1977 anerkannt und sich insbesondere zur Schonung von Zivilisten bei
Kampfhandlungen und zur korrekten Behandlung von Gefangenen verpflichtet
hatte (I 90), haben sowohl die Sicherheitskräfte als auch die PKK ihre Aktivitäten
nach Anzahl und Umfang im Laufe des Jahres 1995 noch verstärkt. Seit
September 1994 konzentrierte die Armee ihre Streitkräfte in der Provinz Tunceli,
die seit Ende 1994/Anfang 1995 unter Notstandsrecht steht (I 86) und 1995
zunehmend zum wichtigsten Schauplatz der Kämpfe wurde; die Zahl der dort
stationierten Streitkräfte wurde erheblich verstärkt. Nachdem im März 1995 die
PKK ihre Übergriffe erstmals auf die südtürkische Provinz Hatay ausdehnte (I 108),
marschierten 35.000 türkische Soldaten mit Panzern und Artillerie in die
Kurdengebiete im Nordirak ein und gingen, bis Mai 1995 unterstützt von mit der
PKK rivalisierenden irakischen Kurdengruppen, gegen PKK-Lager vor. Die
türkischen Sicherheitskräfte wurden für zahlreiche Übergriffe gegen die kurdische
Zivilbevölkerung im Irak sowie die Zerstörung etlicher Dörfer verantwortlich
gemacht (I 99, 101). Bis zum Herbst 1995 kam es in allen Notstandsprovinzen
wiederum zu zahlreichen Auseinandersetzungen (vgl. z. B. I 103, 104, 111, 121,
127), auch nach einem von dem PKK-Führer Öcalan am 15. Dezember 1995
wegen der am 24. Dezember bevorstehenden Parlamentswahlen verkündeten
einseitigen Waffenstillstand (I 131, 132, 134, 135). Militäraktionen fanden auch
weiterhin seit 1995 in verschiedenen Provinzen statt (I 97, 113, 128), wobei zu
berücksichtigen ist, dass während des gesamten Jahres 1995 bei etlichen
Überfällen der PKK auf Dörfer sowohl in der Notstandsregion als auch in
angrenzenden Provinzen zahlreiche vor allem kurdische Zivilisten ums Leben
kamen, so bei einem Angriff von PKK-Kämpfern auf das Dorf Hamzali in der Provinz
Diyarbakir und auf das Dorf Naliza in der Nähe der Stadt Kulp (vgl. z. B. I 86, 121).
Die Anschläge der PKK richteten sich vor allem gegen Lehrer, die von ihr als
türkische Agenten und damit der gegnerischen Kriegspartei zugehörig bezeichnet
werden (I 91). Auch in den an die Notstandsregionen angrenzenden Provinzen kam
es zu mehreren Überfällen der PKK auf Bergdörfer, vor allem in der Provinz
Karamanmaras (I 96, 123), über welche bis zum Jahr 1995 ebenfalls der
Ausnahmezustand verhängt war (I 105). Nach Beendigung eines Waffenstillstands
im Juni 1996 (I 145) gab es im Rahmen der Frühjahrsoffensive 1996 auf beiden
Seiten wieder zahlreiche Tote und Verwundete (I 143), wobei es auch zu
Auseinandersetzungen mit der PKK im Nordirak kam. Im Juli 1996 griff auch die
türkische Luftwaffe PKK-Lager im Nordirak an (I 146).
Die türkischen Sicherheitskräfte, die sich aus Armeeangehörigen, Polizei- und
Gendarmaeinheiten sowie Spezialeinheiten, sogenannte Özel Tims,
zusammensetzen, setzten im Zuge der gesteigerten Aktivitäten zur Bekämpfung
der PKK in den Notstandsgebieten die massiven Übergriffe gegen die kurdische
Zivilbevölkerung fort, zunehmend unter Berücksichtigung der seitdem verstärkt
verfolgten Strategie, Dorfbewohner, bisweilen sogar ganze Dorfgemeinschaften
zur Übernahme des Dorfschützeramtes zu pressen und im Weigerungsfall die
Dorfbewohner zu schlagen, die Häuser zu verwüsten und Haushaltsgegenstände
zu zerstören (I 113). Seit November 1994 kommt es zu systematischen
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zu zerstören (I 113). Seit November 1994 kommt es zu systematischen
Zwangsevakuierungen, die mit völliger Zerstörung der Dörfer einschließlich des
Viehbestandes, der landwirtschaftlichen Geräte, Ernte und noch nicht geernteter
Feldfrüchte einhergehen (I 125). Die Dörfer werden entvölkert; es kommt zu
willkürlichen Verhaftungen (I 107). Oft lassen die Soldaten den Dorfbewohnern nur
Zeit, das Nötigste zusammenzupacken, und zerstören dann ihre Häuser. Die
Stadt Tunceli selbst war im April 1995 infolge der Vertreibungen in der Region in
kurzer Zeit von 25.000 auf 40.000 Einwohner angewachsen (I 102). Der
Bundestagsabgeordnete Özdemir berichtete nach einer Türkeireise Anfang August
1995, dass zwei Drittel der Dörfer um die Hauptstadt Tunceli entvölkert und die
Bewohner in die Flucht getrieben worden seien; rechtsextreme Sondereinheiten
hätten einen Staat im Staate errichtet und versuchten, mit Ausgangssperren und
Nahrungsmittelrationierungen jegliche Unterstützung für die PKK zu verhindern (I
115). Nach den Parlamentswahlen am 24. Dezember 1995 sollen die
Sicherheitskräfte in kurdischen Dörfern der Notstandsgebiete Strafaktionen gegen
die Zivilbevölkerung durchgeführt haben, weil diese die HADEP gewählt hätten; 34
Einwohner des Dorfes Kurtepe bei Diyarbakir sollen verhaftet worden sein, ebenso
drei Dorfschützer aus einem anderen Dorf der Region. In dem Dorf Narike sollen
die Einwohner gezwungen worden sein, sich auf dem Dorfplatz zu versammeln,
und gefoltert worden sein (I 134). In den Provinzen, über die der Notstand verhängt
ist, kommt es seither im Rahmen von Zwangsevakuierungen von Dörfern sowie bei
sonstigen großangelegten Aktionen der Sicherheitskräfte zu Übergriffen
gegenüber Zivilpersonen, insbesondere wenn diese verdächtigt werden, mit der
PKK zusammenzuarbeiten (I 144, 147, 151, 152, 153, 155, 158, 241). Im Jahr 1999
kam es nach Feststellungen des IHD zu 30 zwangsgeräumten und
niedergebrannten Dörfern sowie 341 Bombenangriffen und Razzien (I 189). Seit
der Verhaftung und Verurteilung des PKK-Führers Öcalan im Jahr 1999, dessen
Kapitulationsappellen und verschiedener Offensiven der türkischen
Sicherheitskräfte ist die PKK nur noch in wenigen Bergregionen im Südosten und
Osten der Türkei präsent. Mindestens ein Dutzend örtlicher PKK-Kommandeure soll
sich den Kapitulationsappellen Öcalans verweigert haben (I 196), etwa 500
Guerilleros werden noch auf türkischem Territorium vermutet während sich die ca.
5000 Mann starke Hauptmacht nach Nordirak, Syrien und Iran zurückgezogen
haben soll (I 196, 221). Die Drangsalierung der kurdischen Bevölkerung, wenn
diese die Unterstützung verweigert oder gar den türkischen Staat aktiv unterstützt
(I 144, 147, 151, 167) und von der Dorfschützer sowie ihre Familien,
Sicherheitsbeamte, Staatsanwälte, Richter und Lehrer besonders betroffen (I 167)
waren, hat offenbar nachgelassen. Dissidenten innerhalb der PKK oder diejenigen,
die als Verräter angesehen werden, werden nach wie vor von der PKK
gemaßregelt. So sollen 40 Dissidenten in einem verminten Gebiet an der
iranischen Grenze gefangen gehalten werden; andere wurden gewaltsam daran
gehindert, die Guerilla zu verlassen (I 232). Seit Beginn der bewaffneten
Auseinandersetzungen mit der PKK im Jahre 1984 in der Kurdenregion bis zum
Zeitpunkt der Entscheidung wurden nach Angaben des Auswärtigen Amtes (I 147,
151, 167, 226) etwa 3.428 Dörfer evakuiert und ganz oder teilweise zerstört, wobei
die Gesamtzahl der Dörfer im Notstandsgebiet mit 12.000 angegeben wird. Die
Evakuierungen betrafen nach unterschiedlichen Quellen demnach bisher 300.000
bis 2.000.000 Menschen (I 167, 226), wobei aufgrund der verschiedenen anderen
Maßnahmen wie der Räumung der Häuser von Familien, die keine Dorfschützer
stellen wollen, von Verhören und Mißhandlungen Verdächtiger und ihrer
Angehörigen, Razzien und Kampfhandlungen Orte häufig auch freiwillig aufgegeben
werden.
Insbesondere seit der Verhaftung und Verurteilung Öcalans zeichnen sich zwar
einige Veränderungen in der Kurdenpolitik ab, deren Auswirkungen sind allerdings
bisher geringfügig. So wurde das seit 1993 in zehn Provinzen bestehende
Notstandsrecht (I 130, 144, 147) für die Provinz Mardin am 28. November 1996 (I
151), für die Provinzen Bitlis, Batman und Bingöl zum 6. Oktober 1997 und zum 1.
Dezember 1999 in der Provinz Siirt aufgehoben. Die Provinzen Diyarbakir, Hakkari,
Sirnak, Tunceli und Van sind unter Notstandsrecht verblieben (I 167, 226), obwohl
die Aufhebung nach Angaben des türkischen Ministerpräsidenten infolge der
Veränderung der Situation möglichst bald geplant war (I 238). Nach ähnlichen
Fortschritten schon im Jahr 1995 und einer Stagnation 1996 (I 154) war es im Jahr
1997 erneut zu Attentaten der PKK einerseits und militärischen Offensiven in der
Türkei und im Nordirak andererseits gekommen (I 155), die im Frühjahr 1998 in der
Provinz Sirnak mit heftigen Kämpfen auch unter Beteiligung der türkischen
Luftwaffe, 40.000 Soldaten sowie 3.000 Dorfwächtern in einem Gebiet von 16.000
Quadratkilometern fortgesetzt wurden (I 156). Im Sommer 1998 gab es Gefechte
in Sirnak, Hakkari und Diyarbakir (I 156) sowie nach verstärkten Aktivitäten der PKK
in Sirnak, Hakkari und Diyarbakir (I 156) sowie nach verstärkten Aktivitäten der PKK
Offensiven des türkischen Militärs gegen die PKK im Grenzgebiet zum Irak (I 167);
dabei sollen 170 Menschen getötet worden sein. Schon während des Aufenthalts
von Öcalan in Rom im November 1998, nachdem er auf Druck der türkischen
Regierung hin seinen bisherigen Aufenthaltsort in Syrien verlassen hatte, kam es
zu verschiedenen Verhaftungswellen von etwa 3.000 Mitgliedern der HADEP, wobei
zwei Personen im Polizeigewahrsam ums Leben kamen und Freigelassene von
Folter berichteten; 200 Personen sollen sich Anfang Januar 1999 noch in
Untersuchungshaft befunden haben (I 163). Nach der Verhaftung Öcalans am
16.Februar 1999 und seiner Verbringung in die Türkei (I 167) kam es erneut zu
Massenverhaftungen (1.400 HADEP-Mitglieder, I 163). Büros von HADEP-
Mitgliedern wurden ebenso wie diejenigen des Mesopotamischen Kulturvereins und
anderer Vereinigungen durchsucht (I 164), und sowohl das Newroz-Fest am 21.
März als auch die Parlamentswahlen am 18. April boten weitere Anlässe für
verschiedene Aktionen seitens der Sicherheitskräfte, unter anderem als Reaktion
auf das Bombenattentat auf das Einkaufszentrum "Blauer Basar" sowie weiterer
Selbstmordattentate (I 164). Öcalan wurde wegen Hochverrats von dem
Staatssicherheitsgericht am 29. Juni 1999 gem. § 125 tStGB zum Tode verurteilt,
das Urteil wurde am 25. November 1999 vom Kassationsgerichtshof bestätigt. Am
12. Januar 2000 beschloss die Regierung, das Todesurteil vorerst nicht dem
Parlament zur Beschlussfassung über die Vollstreckung vorzulegen, sondern
zunächst den Ausgang des von Öcalan angestrengten Verfahrens vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte abzuwarten (I 226). Öcalans Bruder
Osman wurde trotz unbekannten Aufenthalts im April 2000 des Hochverrats
angeschuldigt und für ihn ebenfalls die Todesstrafe gefordert (I 209), und am 13.
Juli 2000 wurde der PKK-Funktionär Soysal aus Moldawien in die Türkei entführt,
dort wegen Hochverrats angeklagt und wiederum die Todesstrafe gefordert (I 223).
Nach der Eröffnung des Prozesses gegen Öcalan kam es zu erneuten
Massenverhaftungen im Südosten; so wurden in den Dörfern Tilkiler, Törolar,
Cöcenler, Salliusagi und Musolar (Kreis Pazarcik) etwa 50 Personen
festgenommen, von denen am 17. Juni 1999 17 Personen freigelassen wurden (I
166). Der Aufruf Öcalans zum Rückzug der PKK und der Aufgabe des bewaffneten
Kampfes im September 1999 hat zwar dazu geführt, dass zumindest Teile der PKK
den Rückzug angetreten haben (I 226); immer wieder wurde und wird aber die
Aufgabe des Kampfes zumindest von einem Teil der PKK in Frage gestellt (I 180),
von Zugeständnissen und mehr Freiheiten für Kurden abhängig gemacht oder gar
als Verrat und Unterwerfung abgelehnt (I 225, 234). Auch Kaya (I 168) berichtet
von einem Rückzug der PKK seit September 1999, fügte aber hinzu, dass seither
die kurdischen Bewohner der Dörfer in den Provinzen Diyarbakir, Bingöl, Bitlis, Mus
und Batman von Sicherheitskräften aufgesucht worden seien, um sie
einzuschüchtern. Auch das Auswärtige Amt bestätigt (I 167, 226), dass sich im
Herbst 1999 zwei Gruppen von PKK-Mitgliedern in Istanbul und Hakkari den
Sicherheitskräften gestellt hätten; gegen sie wurden derzeit noch andauernde
Verfahren eingeleitet. Es sei aber weiterhin zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung
gekommen, wobei als Grund für das Vorgehen gegen Zivilisten regelmäßig der
Verdacht der Zusammenarbeit mit der PKK angegeben werde.
Zwangsevakuierungen beträfen in der Regel weiterhin Dörfer am Rande der
Rückzugsgebiete der PKK, die von dieser als Operations- oder Versorgungsbasen
genutzt werden. Der türkische Generalstabschef forderte die Rebellen auf, sich zu
stellen (I 177); der von Öcalan empfohlene Abzug der PKK wurde als taktische Finte
angesehen (I 178). Das türkische Militär führt weiterhin Offensiven gegen die PKK
durch und verfolgt PKK-Kämpfer regelmäßig auch außerhalb der Türkei im
Nordirak. So marschierten in einer Offensive Ende September 1999 5.000
türkische Soldaten im Nordirak ein und griffen Stellungen der PKK an (I 172). Eine
neue, großangelegte und grenzüberschreitende Aktion fand Anfang April 2000
statt (I 226) und dauerte bis Mai an (I 212, 216); es kamen auch Kampfflugzeuge
zum Einsatz (I 207). Bei Zusammenstößen zwischen PKK und Militär im Südosten
der Türkei wurden noch im Jahr 1999 15 bis 20 PKK-Rebellen getötet (I 170, 182),
unter anderem in Sirnak (I). Erstmals im Januar 2000 gab der türkische
Ministerpräsident an, dass die Aktivitäten der PKK fast auf Null zurückgegangen
seien (I 187); dennoch fanden weiterhin Auseinandersetzungen statt. So wurden
bei Zusammenstößen zwischen PKK-Rebellen und Soldaten in der Provinz Tunceli
im Januar sechs Rebellen und sechs Soldaten getötet (I 188). Auch nach der
Erklärung der PKK, den Kampf aufgeben zu wollen (I 195) fanden in Mardin und
Sirnak weitere Kämpfe statt, bei denen 6 PKK-Aktivisten und 3 Soldaten getötet
worden sein sollen (I 198). Kurz darauf kamen 9 Rebellen und 2 Sicherheitskräfte
bei Kämpfen im Südosten ums Leben (I 201) und im April/Mai insgesamt 5
Personen (I 210). Auch im Oktober/November 2000 kam es erneut zu Kämpfen (I
242).
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Seit der Verschärfung der Auseinandersetzungen mit der PKK ist die Situation in
der Türkei immer wieder von dem verschärften Vorgehen staatlicher Organe
gegen Oppositionelle und insbesondere Kritiker der Kurdenpolitik der Regierung
geprägt. Hiervon betroffen sind in erster Linie Menschenrechtsaktivisten, türkische
und ausländische Journalisten sowie Politiker von Parteien, die sich für die Kurden
einsetzen, insbesondere der HADEP bzw. DEP. So wurde nach dem Verbot der pro-
kurdischen Zeitung Özgür Gündem im April 1994 auch das Nachfolgeorgan Özgür
Ülke nach Beschlagnahme ihrer Ausgaben jeweils noch vor der Auslieferung im
Februar 1995 eingestellt (I 88, 117), und im August 1995 wurde die
Nachfolgezeitung Yeni Politika mit der Begründung verboten, die Zeitung sei im
wesentlichen eine Fortsetzung der Özgür Ülke gewesen (I 117). Die Tageszeitung
Ülkede Gündem musste Ende 1998 schließen; das Nachfolgeblatt Özgür Bakyp
konnte noch einige Zeit ungehindert erscheinen, wurde aber Anfang Mai 2000
zusammen mit einigen anderen Zeitungen jedenfalls im Notstandsgebiet im
Südosten des Landes verboten (I 226). Insgesamt 13 Medien wurden in neuerer
Zeit verboten, darunter das prokurdische Blatt Yeni Gundem (in fünf Provinzen; I
222). 21 Radiosender und 20 Fernsehanstalten sollen in diesem Jahr mit
zeitweiligen Sendeverboten belegt worden sein (I 231). Insbesondere
Menschenrechtsaktivisten müssen auch weiterhin mit Verhaftungen rechnen. In
Izmir wurde am 19. Oktober 1999 ein Arzt, der ehrenamtlich im Behandlungs- und
Rehabilitierungszentrum der Türkischen Stiftung für Menschenrechte (HRFT)
mitarbeitet, unter dem Vorwurf verhaftet, zwei Patienten behandelt zu haben,
obwohl er Kenntnis von ihrer Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation hatte; in
einem ärztlichen Attest wurden Folterspuren bestätigt. Zwei andere Mitarbeiter
wurden im Oktober 1999 bei dem Besuch des Begräbnisses eines Folteropfers
wegen Teilnahme an einer illegalen Demonstration festgenommen, und ein
international anerkannter Experte für Fälle von Folter und Behandlung von
Folteropfern wurde nach dem Pressegesetz angeklagt, nachdem er sich über die
zuvor beschriebenen Ereignisse öffentlich geäußert hat (I 189). In jüngster Zeit
häufen sich auch wieder Massnahmen gegen führende HADEP-Mitglieder. So
wurden am 13. März 2000 der stellvertretende Vorsitzende der Partei sowie am
18. und 19. Februar 2000 drei Bürgermeister festgenommen; am 24. April 2000
begann der Prozeß gegen diese und neunzehn weitere HADEP-Mitglieder vor dem
Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir (I 226). Der Vorsitzende der HADEP, Demir,
wurde Ende Mai 2000 wegen einer im Oktober 1999 gehaltenen Rede zur "Lösung
der Kurdenfrage" zu einem Jahr Haft und Geldstrafe verurteilt (I 220). Ende Juni
wurden 30 HADEP-Mitglieder, darunter der Istanbuler Vorsitzende und sein
Stellvertreter, festgenommen, die Büros durchsucht und Dokumente
beschlagnahmt (I 228). Im September wurde gegen die der HADEP angehörige
Bürgermeisterin von Kiziltepe ein Verfahren nach einem Interview eröffnet (I 236).
Ein im März geplanter Empfang zum kurdischen Neujahrsfest Newroz wurde vom
Istanbuler Gouverneur wegen der kurdischen Schreibweise untersagt (I 205);
ansonsten konnten im Unterschied zu früheren Jahren die Feiern vor allem in
Diyarbakir, Batman und anderen kurdischen Orten unbehelligt ablaufen und es
kam nur am Rande zu einzelnen Verhaftungen (I 206).
Das massive Vorgehen der türkischen Behörden gegen Kritiker der staatlichen
Kurdenpolitik wird aus den Angaben verschiedener Quellen über die im
Zusammenhang mit Art. 8 ATG Inhaftierten und Verurteilten deutlich. So sollen im
Juli 1995 171 Personen im Zusammenhang mit einer Verletzung des Art. 8 ATG
inhaftiert gewesen sein (I 118), andere Quellen sprechen von fast 200 türkischen
Journalisten, Schriftstellern und Intellektuellen, die sich in Haft befanden (I 149).
Am 27. Oktober 1995 wurden die Vorschriften der Art. 8 und 13 ATG reformiert.
Dies führte zwar zu einer Einengung sowohl des objektiven als auch des
subjektiven "Separatismus"-Tatbestandes; der Strafrahmen sieht nunmehr statt
Zuchthaus von zwei bis fünf Jahren und schwerer Geldstrafe von 50 bis 100
Millionen türkische Lira Gefängnisstrafe von einem bis drei Jahre und schwere
Geldstrafen von 100 bis 300 Millionen TL vor und lässt die Umwandlung von
Freiheitsstrafen in Geldstrafen oder eine Maßnahme sowie die Aussetzung der
Strafen zur Bewährung zu (I 130). Die Reform des Art. 8 ATG führte unmittelbar
zum Freispruch des türkischen Schriftstellers Yasar Kemal sowie der
amerikanischen Journalistin Eliza Marcus, denen Separatismus vorgeworfen wurde.
Bis April 1996 wurden von etwa 150 bis 180 nach Art. 8 ATG Verurteilten über 140
freigelassen (I 144), unter ihnen auch prominente Menschenrechtler (I 129, 130:
111 von insgesamt 146 nach Art. 8 ATG Verurteilten). Da das türkische Parlament
die Wiederaufnahme der bis dahin nach Art. 8 ATG durchgeführten Verfahren auch
nach Eintritt der Rechtskraft innerhalb eines Monats nach Inkrafttreten der
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nach Eintritt der Rechtskraft innerhalb eines Monats nach Inkrafttreten der
gesetzlichen Regelung unter Beurteilung der Strafbarkeit nach neuem Recht
beschloss (I 130), mussten die bisher nach Art. 8 ATG Verurteilten jedoch mit einer
erneuten Verurteilung rechnen. Das Staatssicherheitsgericht in Istanbul verurteilte
am 21. Dezember 1995 einen türkischen Journalisten, der im April 1994 in der
Zeitung Özgür Ülke einen Artikel über den PKK-Führer Öcalan veröffentlicht hatte,
wegen separatistischer Propaganda zu 10 Monaten Haft und einer Geldstrafe in
Höhe von umgerechnet 8.300 DM (I 133). Am 9. Januar 1996 wurde ein früherer
kurdischer Abgeordneter der Partei der Ministerpräsidentin Ciller, der zwei Jahre
zuvor aus Protest gegen die Kurdenpolitik der Regierung aus der Partei
ausgetreten war, unter dem Vorwurf der Unterstützung der PKK festgenommen,
wobei den Behörden politische Motivationen wegen der deutlichen Kritik des
Festgenommenen an der Kurdenpolitik der Regierung vorgeworfen wurde (I 139).
Im Dezember 1999 sollen etwa 100 Journalisten inhaftiert gewesen sein (I 184); ein
geplantes Symposium zum Thema Demokratie und multikulturelle Entwicklung in
Istanbul wurde wegen der Gefahr separatistischer Propaganda verboten (I 218).
Insgesamt ist festzustellen, dass auch nach der Reform des Art. 8 ATG die bisher
geübte Strafverfolgungspraxis gegenüber kritischen türkischen und türkisch-
kurdischen aber auch ausländischen Journalisten, Mitgliedern von
Menschenrechtsvereinen und den die Kurdenpolitik kritisierenden Politikern keine
grundlegende Veränderung erfahren hat, da die türkische Justiz zunehmend von
Art. 8 ATG auf andere Straftatbestände ausweicht (I 167). So wurde beispielsweise
Esber Yagmurdereli am 19. Oktober 1997 zur Verbüßung einer 1991 zur
Bewährung ausgesetzten 36-jährigen Haftstrafe aus dem Jahr 1978 wegen
kritischer Meinungsäußerungen zur Unterdrückung des kurdischen Volkes
verhaftet; die mit Haftentlassung am 9. November 1997 gewährte
Haftverschonung wurde wiederum ausgesetzt und er befindet sich seit dem 1. Juni
1998 erneut in Haft (I 226). Die Büros des IHD in Diyarbakir und Van wurden unter
dem Vorwurf, die öffentliche Ordnung zu stören, im Mai 2000 geschlossen (I 215).
Auch der Außenminister selbst geriet in die Kritik als er vorschlug, kurdische Radio-
und Fernsehsender zuzulassen (I 183); ein auf Privatanzeige hin eingeleitetes
Strafverfahren wurde allerdings eingestellt (I 186). Seitens der Regierung wurde ein
hartes Vorgehen gegenüber Journalisten angekündigt, die Erklärungen Öcalans
veröffentlichten; auch dessen Anwälte wurden beschuldigt (I 190). Der türkische
CNN wurde nach einem Interview mit Öcalan mit einem eintägigen Sendeverbot
belegt (I 197). Der Generalsekretär des türkischen Menschenrechtsvereins IHD
wurde wegen eines Artikels zum Weltfriedenstag angeklagt, vom Gericht jedoch
freigesprochen (I 192). Vor dem Staatssicherheitsgericht in Izmir läuft ein Prozeß
gegen mehrere Ärzte, die sich in Zusammenhang mit Todesfällen bei der
Niederschlagung der Gefängnismeuterei im September 1999 geäußert haben (I
226), und eine Dolmetscherin wurde allein wegen ihrer Übersetzung in die
kurdische Sprache bei einer öffentlichen Veranstaltung zu 10 Monaten Haft
verurteilt (I 179). Reformen wie der am 6. März 1997 verabschiedete
Gesetzesentwurf über die Verkürzung der maximal zulässigen Dauer des
Polizeigewahrsams sowie eine Beschneidung der Kompetenzen der
Staatssicherheit, wobei allerdings während der ersten vier Tage des
Polizeigewahrsams das Recht anwaltlichen Beistandes nicht gewahrt wird (I 151),
zeigen ebenso wie die unter dem Eindruck des Öcalan-Prozesses nach einer
Verfassungsänderung eilig vom Parlament verabschiedeten Anpassungsgesetze,
wonach die Staatssicherheitsgerichte in Zukunft lediglich aus zivilen Richtern
zusammengesetzt sind (I 167), noch keine besondere Wirkung. Zu einer von
Ministerpräsident Ecevit im März 2000 angekündigten Abschwächung des
Gesetzes gegen Aufwiegelung kam es bisher ebenfalls noch nicht (I 203). Auch die
beabsichtigte Diskussion über eine grundlegende Reform des § 312 TStGB, der
hohe Haftstrafen für diejenigen vorsieht, die "Hass unter Ausnutzung von
Unterschieden in Gesellschaftsklassen, Religionen, Rassen oder Regionen
verbreiten" und regelmäßig die Grundlage für Verfahren gegen HADEP-Mitglieder
darstellt, ist bisher ausgeblieben (I 204). Am 1. September 1999 verweigerte
Staatspräsident Demirel allerdings die Ausfertigung eines vom Parlament am 27.
August 1999 verabschiedeten Amnestiegesetzes, das auch prominente Häftlinge
begünstigen sollte, die als Mitglieder des organisierten Verbrechens oder wegen
Korruption verurteilt worden waren, während politische Straftaten ausgenommen
werden sollten (I 167, S. 20).
Auch gegen missliebige Journalisten gehen die Sicherheitskräfte brutal vor. So ist
im August 1995 ein kurdischer Journalist offensichtlich im türkischen
Polizeigewahrsam in Bitlis ums Leben gekommen; nach Erklärungen der Polizei
hatte er sich in seiner Zelle erhängt. Nach Angaben von Familienangehörigen wies
die Leiche aber Folterspuren auf (I 120). Am 8. Januar 1996 wurde der türkische
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die Leiche aber Folterspuren auf (I 120). Am 8. Januar 1996 wurde der türkische
Journalist Metin Göktepe in Istanbul tot aufgefunden, nachdem er während der
Beerdigung zweier während des Gefängnisaufstandes Ende Dezember 1995 in
Istanbul getöteter Häftlinge abgeführt worden war (I 138). Später räumte die
Regierung ein, dass er im Polizeigewahrsam umgebracht wurde (I 140).
Mindestens 20 kritische Journalisten sollen in dem Zeitraum von 1991 bis Ende
1996 ermordet worden sein (I 149). Von dem Vorgehen der Sicherheitskräfte
gegen missliebige Journalisten oder sonstige Kritik äußernde Personen blieben
auch ausländische Beobachtergruppen, Aktivisten und Journalisten nicht verschont
(I 100, 108, 109, 116, 164). Der türkische Menschenrechtler Akin Birdal wurde zu
einer einjährigen Haftstrafe wegen "separatistischer Äußerungen" verurteilt und
mußte diese im Juni 1999 trotz der nach einem Attentat verbliebenen erheblichen
Gesundheitsschäden antreten. Ende September 1999 wurde der Vollzug aus
gesundheitlichen Gründen ausgesetzt; am 28. März 2000 wurde er erneut
verhaftet (I 226) und verbüßte die restliche Haftstrafe im Zentralgefängnis Ankara
bis Ende September 2000 (I 239). Die erforderliche medizinische Betreuung soll
trotz vorheriger Zusage nicht gewährt worden sein (I 208), und seit Juni 2000 muss
Birdal sich wegen Beleidigung des Staates erneut vor Gericht verantworten (I 224);
es sollen noch rund 20 weitere Strafverfahren wegen Meinungsäußerungen gegen
ihn anhängig sein (I 239). Die Autorin und der Herausgeber eines Buches über die
Erfahrungen türkischer Soldaten im Kampf gegen PKK-Rebellen wurden in einem
Gerichtsverfahren wegen des Vorwurfs der Herabsetzung der Streitkräfte (I 169)
zwar freigesprochen, die Anklage will allerdings Revision einlegen (I 240). Im August
2000 wurden sechs als prokurdisch bzw. linksgerichtet bezeichnete Journalisten
verhaftet und Sendesperren über drei Radiosender sowie eine Fernsehstation
verhängt (I 235). Seit August 1999 werden wegen schriftlicher
Meinungsäußerungen verhängte Strafen sowie laufende Verfahren zwar für drei
Jahre zur Bewährung ausgesetzt und nach erfolgreichem Ablauf der Frist werden
die Verfahren eingestellt sowie ergangene Verurteilungen als nie geschehen
behandelt (I 226). Bis Dezember 1999 wurden allerdings erst sechs Journalisten
auf dieser Grundlage aus Gefängnissen freigelassen (I 184).
2. Ein kurdischer Volkszugehöriger kann in der Türkei aber auch zum heutigen
Zeitpunkt der Entscheidung des Senats leben, ohne dass ihm politische
Verfolgung droht, wenn er sich außerhalb der Notstandsprovinzen, vor allem in den
Großstädten Ankara und Istanbul, niederlässt (vgl. Hess.VGH, 23.11.1992 -- 12 UE
2590/89 --, 24.01.1994 -- 12 UE 200/91 --, 07.12.1998 -- 12 UE 232/97.A und
17.03.1999 -- 12 UE 463/94 -- sowie 30.01.2000 -- 12 UE 176/99.A --; zuletzt
27.03.2000 -- 12 UE 583/99.A).
Im Fall derjenigen, die sich bei Einsetzen der örtlich begrenzten Gruppenverfolgung
nicht in dem von Verfolgung betroffenen Gebiet aufgehalten haben und die daher
von vornherein ohne Gefahr kollektiver Verfolgung in ihrer Heimatregion leben
konnten, stellt sich -- wie oben festgestellt -- bei einer örtlich begrenzten
Gruppenverfolgung anders als bei einer regionalen Gruppenverfolgung nicht die
Frage nach einer zumutbaren inländischen Fluchtalternative. Diese Personen sind
unverfolgt ausgereist und können sich auch nicht auf eine örtlich begrenzte
Gruppenverfolgung als objektiven Nachfluchtgrund berufen (HessVGH, 27.01.1999
-- 6 UE 1253/96.A --). Auf die Möglichkeit eines nicht von existenziellen Risiken
anderer Art bedrohten Lebens kommt es in diesem Fall nicht an, da diese
Personen nicht gezwungen sind, in ein von örtlich begrenzter Verfolgung
betroffenes Gebiet zurückzukehren, sondern in solche Gebiete ausweichen
können, in denen ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine politische
Verfolgung droht (vgl. HessVGH, 17.03.1999 -- 12 UE 3035/97.A --; 27.03.2000 --
12 UE 1562/99.A). Offenbleiben kann, ob demgegenüber für die
Gefährdungsprognose im Falle einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung im
Bereich des (ursprünglichen) Heimatortes des Asylbewerbers in jedem Fall eine
Rückkehr in die nunmehr von Gruppenverfolgung betroffene Heimatregion
zugrundegelegt werden kann oder ob insoweit die räumliche Beziehung des
Asylbewerbers infolge der Ausreise aufgehoben ist (vgl. dazu Niedersächsisches
OVG, 22.10.1998 -- 12 L 1448/98 --), da der Heimatstaat seiner
Schutzverpflichtung gegenüber den Staatsangehörigen nachzukommen vermag,
indem er ihnen jedenfalls in einem Teil des Staatsgebiets ein verfolgungsfreies
Leben ermöglicht, und deswegen bei einem aus dem Ausland zurückkehrenden
Asylbewerber, der aus einem Gruppenverfolgungsgebiet stammt, grundsätzlich
zumindest nicht zusätzlich festgestellt werden muss, er sei außerhalb der
Gruppenverfolgungsregion auch frei von existenziellen Bedrohungen anderer als
politischer (oder ethnischer) Art. Kurden, die in ihrer Heimat allenfalls der
marginalen Unterstützung der PKK verdächtig waren, ohne sich aktiv und
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marginalen Unterstützung der PKK verdächtig waren, ohne sich aktiv und
herausgehoben für separatistische Bestrebungen einzusetzen, können nämlich
nach wie vor außerhalb der unter Notstandsrecht stehenden Provinzen,
insbesondere in der Westtürkei grundsätzlich unbehelligt leben und das
erforderliche Existenzminimum erzielen.
a) In Zusammenhang mit den Verhaftungswellen nach der Ankunft Öcalans in Rom
im November 1998 stellte Oberdiek (I 164) bei einem Aufenthalt in der Türkei zwar
fest, dass selbst alt eingesessene Kurden befürchteten, jederzeit auf der Straße
festgenommen zu werden, konkrete Fälle einer signifikant erhöhten Gefahr der
Festnahme und Inhaftierung über längere Zeit wurden jedoch nicht benannt.
Es fehlen auch weiterhin genügende Anhaltspunkte dafür, dass Ausschreitungen
und Übergriffe Privater vom türkischen Staat veranlasst oder geduldet werden.
Insoweit ist nach wie vor festzustellen, dass die türkischen Sicherheitskräfte
grundsätzlich schutzbereit sind. Nach den durch unbekannte Täter verübten
Anschlägen und Morden führte die Polizei Ermittlungsmaßnahmen beispielsweise
durch Hausdurchsuchungen durch (I 106, S. 27); teilweise war die Polizei auch
selbst betroffen von solchen Anschlägen (I 106, S. 25). Zwei Morde an Journalisten
wurden unlängst aufgeklärt und führten zu Verhaftungen (I 214).
Es lässt sich auch nach wie vor nicht feststellen, dass Kurden allein wegen ihrer
Volkszugehörigkeit verhaftet, verhört und gefoltert werden. Aus den
zwischenzeitlich recherchierten Fällen ergibt sich zwar weiterhin, dass die kurdische
Volkszugehörigkeit und der Zuzug aus dem Südosten vor kürzerer Zeit schon als
Anknüpfungspunkt für die Durchführung einer Razzia oder Durchsuchung
ausreichen können. Nach wie vor jedoch sind solche, noch der Bekämpfung
terroristischer Anschläge und Täter dienende Maßnahmen für sich allein nicht als
asylrechtlich relevante Beeinträchtigung zu bewerten. Zu längerdauernder
Verhaftung kommt es -- von einzelnen Fällen abgesehen -- in aller Regel nur bei
Vorliegen entsprechender Verdachtsmomente, auch wenn diese bis heute häufig
als vage und willkürlich erscheinen oder auf nicht rechtsstaatliche Weise erlangt
wurden. In der weiter angestiegenen Zahl der zwischenzeitlich ermittelten Fälle (I
106, 152, 164) ist auch heute festzustellen, dass bei den länger Inhaftierten
Verdachtsmomente dieser Art vorlagen, wie beispielsweise die HADEP-
Mitgliedschaft oder bei Verwendung kurdischer Farben und/oder Symbole, dem
Singen kurdischer Lieder und ähnliche Begebenheiten, die immer wieder Anlass für
Maßnahmen sind, wie beispielsweise das Spielen einer kurdischen Musikgruppe (I
213). Ein Zusammenhang besteht oft auch mit früheren Verhaftungen von
Freunden, Bekannten oder Verwandten, so dass -- möglicherweise unter Folter
erzwungene -- Denunziationen der Anlass hierfür sein können.
Mit dem Andauern der Kämpfe im Südosten der Türkei und weiterer
Flüchtlingswellen aus diesen Gebieten insbesondere in die Großstädte im Westen
der Türkei sowie aufgrund der Verurteilung Öcalans hat sich die Lage vor allem in
den überwiegend von Kurden bewohnten Vierteln nicht verbessert, die Häufigkeit
von Razzien und Überprüfungen einschließlich Festnahmen hat sich eher noch
vermehrt, da die Sicherheitskräfte unter den neu aus den östlichen Provinzen
zugezogenen Kurden nach wie vor einen hohen Anteil von PKK-Anhängern
vermuten (I 106, 167). Laut Taylan verschwanden nach einer Aufstellung von
amnesty international allein 1995 mindestens 35 Personen; in den ersten 11
Monaten des Jahres 1996 sollen es schon 179 gewesen sein (I 149). Auch nach
dem Vorfall in einer Teestube in Istanbul im März 1995, bei dem mehrere Aleviten
von Unbekannten erschossen wurden und es in der Folge zu Demonstrationen und
schweren Unruhen mit etlichen Toten kam, nachdem die Polizei in die
demonstrierende Menge geschossen hatte (I 97, 106), normalisierte sich die Lage
in Istanbul nach mehrtägigen Unruhen jedoch wieder. Gegen die an den
Todesfällen beteiligten Polizisten wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, zwanzig
Polizisten wurden vor Gericht gestellt (I 98, 119), zwei von ihnen wurden schließlich
wegen Totschlags verurteilt (I 199). Eine in diesem Zusammenhang durchgeführte
Demonstration war Anlass zu einer Großrazzia, bei der etwa 350 Personen
festgenommen wurden (I 202). Nach der Verhaftung Öcalans am 15./16. Februar
1999 und seiner Inhaftierung in der Türkei kam es zu einer Welle von Festnahmen
im ganzen Land. Nach Auskunft des Auswärtigen Amts (I 167) geht der IHD von
3.000 vorübergehend in Gewahrsam genommenen Personen aus. Dabei werden
solche Razzien in den Siedlungen von Türken kurdischer Volkszugehörigkeit
überdurchschnittlich häufig vorgenommen, da dies Teil der Suche der
Sicherheitskräfte nach PKK-Mitgliedern und Sympathisanten ist (I 167, S. 19).
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In den Großstädten im westlichen Teil der Türkei sowie in Städten im Süden des
Landes, zum Beispiel Adana und Mersin, kommt es nach Angaben des
Auswärtigen Amtes deshalb in den dortigen Kurdensiedlungen überdurchschnittlich
häufig zu Polizeirazzien mit zahlreichen vorläufigen Festnahmen bei der Suche der
Sicherheitskräfte nach PKK-Mitgliedern und Sympathisanten und dabei häufiger zu
Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte (I 130, 144, 167). Der türkische
Menschenrechtsverein IHD gab im Juni 1995 die Zahl der nach Festnahmen durch
die Sicherheitskräfte verschwundenen Menschen für die ersten drei Monate des
Jahres 1995 mit 77 an, während in einer anderen Studie von 30 bis 40
"Verschwundenen" im Monat gegenüber 328 Menschen im Jahre 1994 die Rede ist.
Diesen Angaben zufolge verschwinden die meisten Opfer im Polizeigewahrsam,
andere werden auf offener Straße von Unbekannten verschleppt. Die meisten
bleiben spurlos verschwunden, in anderen Fällen sind die Leichen Verschwundener
nach Tagen oder Wochen meist mit schweren Folterspuren tot aufgefunden
worden. Es wird vermutet, dass es sich bei den Opfern in vielen Fällen um unter
der Folter im Polizeigewahrsam gestorbene Menschen handelt, deren Leichen zur
Verwischung der Spuren beseitigt wurden (I 112). Der IHD wies auf 21 im
Polizeigewahrsam umgekommene oder von Unbekannten getötete Menschen im
August 1995 sowie auf 22 Fälle von Folter durch die türkische Polizei hin (I 122).
Nach einem Bericht von amnesty international vom September 1995 konnten 80
politische Morde von Januar bis August 1995 festgestellt werden (I 119). Der
türkische Menschenrechtsverein Human Rights Association (HRA) gab im Oktober
1995 die Zahl der bis dahin Verschwundenen mit 158 an (I 124). In einer im Januar
1996 veröffentlichten Jahresbilanz für 1995 zählt der türkische
Menschenrechtsverein IHD 99 Tote und 136 Verletzte, die offenbar politisch
motivierten Anschlägen zum Opfer fielen; dem Bericht zufolge starben 122
Personen durch extralegale Hinrichtungen oder Folter im Polizeigewahrsam, 231
Personen verschwanden, 251 wurden im Gefängnis gefoltert, 14.473 Personen
wurden vorläufig und 2.101 dauernd festgenommen (I 142). Der im Juli 1998
erschienene Jahresbericht der Türkischen Menschenrechtsstiftung (TIHV) von 1997
wies insgesamt 518 Fälle von Folter aus; das Auswärtige Amt zitiert den
Jahresbericht 1999 von amnesty international, in dem die Zahl der 1998
"Verschwundenen", durch Folter zu Tode gekommenen oder außergerichtlich
hingerichteten Menschen mit mindestens 30 angegeben worden sein soll (I 167, S.
22), nach Angaben des Vereins zeitgenössischer Rechtsanwälte der Türkei belief
sich die Zahl der Folteropfer auf 324, dabei 17 Todesfälle sowie 17 in oder aus
Polizeigewahrsam Verschwundene (I 184). Der IHD hat im Januar 2000 48.095 in
Polizeigewahrsam genommene Personen festgestellt sowie 523 Fälle von Folter
und 199 Todesfälle (I 189). Im ersten Halbjahr 2000 sind zwar deutlich weniger
Menschenrechtsverletzungen festgestellt worden, da die Zahl unaufgeklärter
Morde aus politischen Motiven auf 73 gegenüber 130 im Vorjahr zurückging und es
noch 6 Fälle von "Verschwindenlassen" gegenüber 12 im Vorjahr gab. Die Zahl der
Folterungen ist nach den Feststellungen des IHD aber immer noch sehr hoch mit
263 gegenüber 334 im Vorjahreszeitraum (I 237). Nach einem Bericht des IHD
vom Januar 2000 sind in den letzten zehn Jahren insgesamt 1964 Menschen von
unbekannten Tätern ermordet worden, 80 % von ihnen in den kurdischen
Provinzen im Südosten (I 191).
An dem schon oben (S. 40f) dargestellten Verhältnis zwischen den ermittelten
Zahlen von Folterfällen, Todesfällen in Polizeihaft oder bei Razzien sowie Fällen
vermuteten Verschwindenlassens einerseits und der zunehmenden kurdischen
Zuwanderer aus dem Südosten hat sich bis zum Zeitpunkt der Entscheidung
nichts Wesentliches verändert (I 153, 226). Nach Oberdiek (I 164) kam es im Jahr
1998 zu 3.200 Festnahmen; im Februar 1999 sollen es insgesamt (landesweit)
3.400 Festnahmen und zum Newroz-Fest 8.000 Festnahmen gewesen sein. Auch
bei den nach der Verhaftung Öcalans, der Prozesseröffnung und der Verurteilung
festzustellenden Verhaftungswellen handelt es sich um -- wenn auch sehr
weitgehend -- anlassbezogene Maßnahmen gegen Personen, die bestimmte
Verdachtsmomente aufwiesen, auch wenn es sich dabei nur um die HADEP-
Mitgliedschaft handelte.
Nach einem Bericht der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV wird die Folter
von den türkischen Sicherheitskräften weit verbreitet als systematische
Verhörmethode sowie als Mittel zur Bestrafung und Abschreckung angewandt.
Danach wird am häufigsten, nämlich mit ca. 78 % aller bekannt gewordenen Fälle,
in Polizeihauptquartieren gefoltert; der Erhebung zufolge werden von den
Folteropfern, die bei der TIHV, die medizinische Zentren zur Behandlung von
Folteropfern unterhält, um Hilfe nachsuchten, ca. 85 % aus politischen Gründen, 2
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Folteropfern unterhält, um Hilfe nachsuchten, ca. 85 % aus politischen Gründen, 2
% wegen gewöhnlicher Kriminalität und ca. 13 % ohne ersichtliche Gründe gefoltert
(I 126). Ein Grund für diese Übergriffe liegt dem Auswärtigen Amt zufolge darin,
dass die Beweisführung türkischer Sicherheitskräfte in hohem Maße auf
Geständnissen beruht, denen traditionell von den Gerichten hoher Beweiswert
zugemessen wird. Generell bestreiten die türkischen Behörden die erhobenen
Foltervorwürfe und räumen nur Übergriffe in Einzelfällen ein (I 167, S. 22, 226). Die
Veröffentlichung des Berichts der von der türkischen Regierung Anfang 1994
eingesetzten Menschenrechtskommission wurde verweigert, und mehrere
Mitglieder der eingesetzten Kommission traten aus Protest dagegen zurück. Ihren
Angaben zufolge kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass in türkischen
Polizeiwachen systematisch gefoltert wird, die daran beteiligten Beamten aber
überhaupt nicht oder nur unzureichend belangt werden (I 92). Auch nach den
zwischenzeitlichen Reformen wie der Erhöhung des Strafmaßes für Folter in
Polizeihaft aufgrund eines am 10. August 1999 vom Rechtsausschuss des
türkischen Parlaments verabschiedeten Gesetzes gewinnt die strafrechtliche
Aufklärung und Ahndung von Übergriffen nur langsam an Konsequenz. Neben der
unklaren Beweislage liegt ein Grund hierfür darin, dass Staatsbedienstete bisher
nur dann gerichtlich belangt werden konnten, wenn der zuständige
Provinzverwaltungsrat dem zugestimmt hat (I 167, 226). Seit einer Novellierung
des einschlägigen Gesetzes sind Zuständigkeiten und Verfahren bei der Freigabe
der Einleitung eines Strafverfahrens zwar präziser bestimmt, es bleibt allerdings
bei der Notwendigkeit der Genehmigung durch einen Vorgesetzten; gegen deren
Verweigerung kann aber nunmehr der Rechtsweg beschritten werden. Auch eine
infolge der EU-Beitrittsbemühungen tätig gewordene Parlamentskommission hat
festgestellt, Folter sei bei der türkischen Polizei gängige Praxis (I 211, 217), der
Parlamentspräsident bezeichnete dies hingegen als Problem isolierter Einzelfälle (I
219). Erst nach konkreten Foltervorwürfen in türkischen Zeitungen im
Zusammenhang mit dem Gefängnisaufstand im Juli 1999 wurden Ermittlungen
eingeleitet (I 230). Nach einem tödlichen Polizeieinsatz in Adana wurde gegen
sechs Beamte, die Anfang Oktober 1999 auf der Suche nach einem Mitglied der
linksextremen DHKPC ein falsches Haus gestürmt und einen unschuldigen
Menschen erschossen haben, zwar Haftbefehl erlassen (I 175), fünf von ihnen
wurden einen Tag später aber wieder entlassen (I 176). Zehn Polizisten sind in
Manisa zu fünf bis zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil sie 1995 elf Teenager
gefoltert hatten, die Graffiti an die Wände gesprüht hatten (I 244).
Für die ungeklärten politischen Morde werden von Menschenrechtsorganisationen
und kurdennahen Oppositionskreisen Todesschwadronen verantwortlich gemacht,
bezeichnet als "Kontra-Guerilla" oder "Hisbollah", die über enge Verbindungen zum
staatlichen Sicherheitsapparat verfügen sollen. Seitens türkischer
Menschenrechtsgruppen wird den Strafverfolgern eine bewusste Verschleppung
der Ermittlungen vorgeworfen, ein zur Aufklärung dieser Morde eingesetzter
parlamentarischer Untersuchungsausschuss beendete seine Arbeiten jedoch
ergebnislos. Der Abschlussbericht soll sich ungewöhnlich kritisch mit der
Aufklärungsarbeit örtlicher Sicherheitskräfte und mit dem einschlägigen politischen
Umfeld befassen (I 93, 130, 159). Nach einem Verkehrsunfall in der Nähe von
Susurluk mit tödlichem Ausgang für einen in dem Auto befindlichen steckbrieflich
gesuchten Mafiaführer und einen hohen Polizeioffizier neben dem einzigen
Überlebenden, einem Parlamentsabgeordneten der DYP, wurde in der türkischen
Öffentlichkeit über Verbindungen zwischen Staatsapparat und dem organisierten
Verbrechen erneut diskutiert (I 159, 167). Diese Diskussion wurde wieder
angefacht, als Anfang 2000 eine erhebliche Zahl von Mordopfern der Hisbollah
entdeckt wurden, bei denen es sich vor allem um vormals "Verschwundene"
handelte und die zum Teil noch eindeutige Folterspuren aufwiesen (I 193). Von
staatlicher Seite wurde jegliche Verbindung zur Hisbollah verneint und deren
unerbittliche Verfolgung angekündigt. Hunderte von Hisbollah-Mitgliedern wurden
verhaftet, darunter soll auch ein im Premierministeramt angestellter
Computerfachmann sein (I 193).
Die Situation in der Türkei ist seit der zweiten Hälfte des Jahres 1995 bis zum
Entscheidungszeitpunkt durch Regierungskrisen geprägt, die von unterschiedlichen
Auffassungen zur Lösung des Kurdenproblems sowie insbesondere durch die
gravierende Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation ausgelöst wurden. Aus
den Neuwahlen vom 24. Dezember 1995 ging die islamistische Wohlfahrtspartei
(RP) mit 158 von 550 Sitzen als Sieger hervor, gefolgt von der Mutterlandspartei
(ANAP) mit 126 Sitzen und der Partei des Rechten Weges von Ministerpräsidentin
Ciller (DYP), die dicht unter 20 % der Stimmen blieben (I 150). Die neue Regierung
wurde aus einer Koalition von RP und DYP gebildet. Am 28. Juni 1996 wurde
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wurde aus einer Koalition von RP und DYP gebildet. Am 28. Juni 1996 wurde
Erbakan zum Ministerpräsidenten gewählt (I 153), am 18. Juni 1997 trat er zurück,
nachdem die Koalitionsregierung der islamisch orientierten Wohlfahrtspartei und
der Partei des Richtigen Weges (DYP) unter erheblichen innenpolitischen Druck
geraten war. Am 30. Juni 1997 wurde Mesut Yilmaz zum Ministerpräsidenten
ernannt (I 159) und am 16. Januar 1998 wurde die Wohlfahrtspartei verboten (I
167). Nach den Parlamentswahlen am 18. April 1999 hat die neue Regierung unter
Ministerpräsident Ecevit einige Reformvorhaben eingeleitet und nach Angaben des
Auswärtigen Amts bereits verwirklicht (I 226). Die Polizistenausbildung soll
verlängert und um das Fach Menschenrechte erweitert werden, Folter soll härter
bestraft und Beamte sowie öffentlich Bedienstete sollen für Vergehen leichter zur
Verantwortung gezogen werden können (I 167). Allerdings sollen die Mitglieder des
Höchsten Bildungsrats, Richter, Staatsanwälte und Soldaten hiervon
ausgenommen sein (I 179). Diese und andere neuere Entwicklungen wie auch die
Gefängnisrevolten und die Todesfastenaktion im Sommer 1996 sowie im
September 1999 haben jedoch zu keiner entscheidenden Änderung der
Vorgehensweise der Sicherheitskräfte geführt (I 153, 171, 172, 173, 174). Der
Vorsitzende einer vom Ministerpräsidenten eingesetzten Hohen Kommission für
Menschenrechte mußte nach Vorlage seines Kataloges über notwendige
Änderungen im türkischen Rechtssystem zurücktreten. Auch die von einer
Parlamentskommission vorgelegte Dokumentation über Menschenrechtsverstöße
in Polizeistationen wurde bislang nicht debattiert; auch der Minister für
Menschenrechte trat im April 2000 zurück (I 227). Die nach wie vor auch im
Westen feststellbaren Übergriffe (I 148, 149) rechtfertigen aber weiterhin nicht die
Annahme, Kurden seien in der Westtürkei generell von asylrechtsrelevanten
staatlichen Verfolgungsmaßnahmen bedroht. So erfolgten die anlässlich der
Beerdigung zweier politischer Häftlinge von der Polizei in Istanbul vorgenommenen
vorläufigen Festnahmen von zumindest 500 bis 800 Trauergästen offensichtlich
zur Feststellung der Personalien (I 137, vgl. auch I 136) und um befürchtete
Ausschreitungen zu verhindern; diese lassen allein eine verschärfte
Vorgehensweise der Sicherheitskräfte gegenüber den Kurden nicht erkennen. Bei
der den Sicherheitskräften vorgeworfenen Ermordung des türkischen Journalisten
Göktepe handelt es sich um einen der mittlerweile zahlreichen Fälle exzessiven
Vorgehens der türkischen Polizei gegen missliebige Journalisten, der zudem ein
Strafverfahren gegen die beschuldigten Polizisten nach sich zog. Am 19. März
1998 wurden fünf der elf Angeklagten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt,
dieses Urteil wurde im Januar 2000 rechtskräftig (I 167, 226). Im Dezember 1999
wurden elf Angeklagte im Zusammenhang mit dem Mordanschlag auf Birdal
rechtskräftig zu Haftstrafen von 10 Monaten bis 19 Jahren verurteilt; sechs weitere
wurden freigesprochen (I 185). Ebenso wie die von PKK-Chef Öcalan im Dezember
1995 angebotene und von der türkischen Regierung postwendend
zurückgewiesenen Feuerpause (I 131) bewirkte die Festnahme und Verurteilung
Öcalans sowie der Aufruf zum Rückzug der PKK im September 1999 keine
grundsätzliche Änderung der Situation. Die Auseinandersetzungen zwischen den
türkischen Sicherheitskräften und der PKK wurden sowohl nach dem später wieder
aufgekündigten Waffenstillstandsangebot als auch nach dem Rückzugsangebot
1999 fortgesetzt (I 132, 135, 145, 170, 172). Rückwirkungen auf das allgemeine
Verhältnis zu der kurdischen Bevölkerung außerhalb der Notstandsgebiete lassen
sich aber insoweit nicht feststellen. Zwar kam es schon, nachdem Öcalan Syrien
verlassen mußte und in Rom auftauchte, zu ersten Verhaftungswellen im Westen
der Türkei, ebenso nach seiner Festnahme und Überstellung in die Türkei. Hiervon
waren jedoch insbesondere Mitglieder der HADEP betroffen (I 164, 165, 166), nach
deren Angaben kam es schon im November 1998 zu ca. 2000 in Polizeigewahrsam
verbrachten Mitgliedern (I 226). Sonst handelte es sich meist um Verhaftungen
anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz bzw. im Vorfeld der türkischen
Parlaments- und Kommunalwahlen vom 18. April 1999 (I 165).
Die schon für die Vergangenheit festgestellte (s. o. S. 37 ff.) Möglichkeit, im
Bereich außerhalb der unter Notstandsrecht stehenden Provinzen die für eine
bescheidene Lebensführung ausreichende wirtschaftliche und finanzielle Grundlage
zu schaffen, hat sich trotz der weiter zunehmenden Zuwanderung nicht wesentlich
verändert. Nach wie vor gibt es im Westen weder Hungersnot noch sonstige
Existenzbedrohungen; die überwiegende Mehrheit findet dort immer noch ihr
Auskommen (I 89). Wenn die Rahmenbedingungen sich auch weiter verschlechtert
haben, so bestehen doch immer noch Möglichkeiten, einen Lebensstandard zu
erreichen, der dem Existenzminimum entspricht, so als Straßenverkäufer,
Schuhputzer oder ähnliches; trotz der auch dort sich verschlechternden Lage
kommen auch das Schwarzmeer- und das Mittelmeergebiet mit der
Tourismusbranche immer noch als attraktives Fluchtgebiet in Frage (I 88). Aus
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Tourismusbranche immer noch als attraktives Fluchtgebiet in Frage (I 88). Aus
einer Umfrage des Menschenrechtsvereins in Istanbul geht hervor, dass 62,5 %
der befragten Kurden Einkünfte durch Arbeit erzielen, wenn diese auch bei der
Mehrzahl äußerst niedrig sind und bei 44,6 % bis umgerechnet 100 DM pro Monat
und bei 38 % bis maximal 300 DM im Monat betragen (I 97).
Die wirtschaftliche Situation in der Türkei hat sich seither zwar weiter
verschlechtert; nach Angaben des Gewerkschaftsverbandes im Jahr 1995 mussten
40 % aller Beschäftigten mit einem Mindestlohn von umgerechnet ca. 150 DM im
Monat auskommen, die Mehrheit davon in den Städten. Nach dieser Einschätzung
handelte es sich um die schwerste soziale Krise der Türkei seit ihrer Gründung (I
125). Seit nunmehr zwanzig Jahren liegt die Inflationsrate zwischen 30 und 100
Prozent (III 13), im Jahr 2000 wird sie bei 67,9% liegen, falls Lohn- und
Gehaltserhöhungen unter 25% bleiben sollten (III 16). Nach neueren Angaben des
Auswärtigen Amtes beträgt das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei im Jahr etwa
2.200 $, wobei ein großes West-Ost-Gefälle besteht (III 10: 4.500 $/Jahr in Izmir;
500 $/Jahr in Diyarbakir, 170 $/Jahr in Hakkari). Allerdings besteht nach wie vor die
Möglichkeit, in der verstärkt ausgebildeten Schatten- und Nischenwirtschaft ein
Auskommen zu finden, die in der Türkei mittlerweile etwa die Hälfte des
Bruttoinlandsproduktes ausmacht (I 125). Zwar haben die Möglichkeiten, in der
Nischenwirtschaft ein Auskommen zu finden, mit der wachsenden Zuwanderung
vor allem in die Großstädte insgesamt weiter abgenommen (III 10: die Bevölkerung
Diyarbakirs wuchs von 381.000 im Jahr 1990 auf 1,5 Mio. im Jahr 1996; vgl. auch I
148 S. 102), eine Arbeitslosenversicherung oder Sozialhilfe gibt es nicht (III 7, 8,
10, 17); erst neuerdings wird aufgrund der seit dem Jahr 2000 geltenden neuen
Arbeitslosengeldverordnung nach 3 Jahren Tätigkeit max. 10 Monate lang
Arbeitslosengeld i.H.v. 50% des letzten Nettoeinkommens bezahlt (III 16). Es lässt
sich jedoch nicht feststellen, dass es für Kurden im Westen der Türkei generell
unmöglich ist, ein -- wenn auch bescheidenes -- Auskommen zu finden. Jedenfalls
ist bis auf wenige Einzelfälle eine soziale Verelendung der Kurden bis hin zum
Verhungern in der Türkei nicht feststellbar (III 7, 10; I 130, 144). Maßgebend für die
Frage, ob und inwieweit zurückkehrende Kurden im Westen der Türkei
unterkommen, dort auf dem regulären Arbeitsmarkt Fuß fassen, in der
Schattenwirtschaft ein Auskommen finden oder sonst versorgt werden können,
sind nach wie vor das Bestehen von familiären Kontakten zu Eingesessenen, die
allgemeinen Marktgegebenheiten sowie die beruflichen und sonstigen
Qualifikationen des Rückkehrers (III 6, I 95). Allerdings soll auch nicht verkannt
werden, dass die Existenzmöglichkeiten im Westen insbesondere außerhalb der
Großstädte immer schwieriger werden, weil gerade dort Kurden -- dies gilt gerade
auch in den touristischen Gebieten -- besonders argwöhnisch beobachtet werden,
so dass der Zuwanderungsdruck auf die Gecekondu-Viertel der Großstädte weiter
zunehmen dürfte (III 7, 9; I 148, 150). Weiterhin bieten der Tourismus in
verschiedenen Teilen des Landes, die Baubranche, der in Großstädten weit
verbreitete Klein- oder Straßenhandel, Handwerk und Dienstleistungen
Verdienstmöglichkeiten -- auch für Jugendliche, die beispielsweise in Gastronomie-
und Handwerksbetrieben beschäftigt werden (III 7, 8, 9, 10). Frauen, die aus dem
Südosten zuwandern, leiden zwar unter noch größeren Schwierigkeiten, da sie
deutlich weniger häufig die türkische Sprache beherrschen und die Analphabeten-
Quote unter ihnen höher ist; auch sie können jedoch im Bereich der Reinigung von
Wohn- und Arbeitsstätten, als Abwäscherin in Restaurants und Kasinos, in der
Wäscherei, der Landwirtschaft und in ähnlichen Bereichen Arbeit finden (III 17),
wenn auch zumeist vorübergehend, nicht abgesichert und in der Regel für
Einkommen in einer Höhe, die zur Existenzsicherung nur bei Erlangen mehrerer
solcher Arbeitsstellen ausreicht (III 9, 14). Dass beispielsweise in Antalya im
Bereich der Tourismusbranche die Nachfrage das Arbeitsplatzangebot um ein
zwanzigfaches übersteigt und Bewerber mit Sprachkenntnissen bevorzugt werden
(III 15), trifft kurdische und türkische Bewerber grundsätzlich in gleichem Maß (III
17). Auch bei höherer Qualifizierung ergeben sich für Rückkehrerinnen
Schwierigkeiten, gelungene Fälle von "Re"-Integration konnten aber bisher
jedenfalls bei männlichen Personen festgestellt werden. Existierende Arbeitsplätze
werden in der Regel von männlichen Bewerbern besetzt; in der Industrieproduktion
beträgt der Frauenanteil beispielsweise 13,3%; in der Landwirtschaft hingegen
65,4% (III 16). Frauen können jedoch bei zusätzlichen Kenntnissen z.B. im
Bürobereich mit einem Posten als Fremdsprachensekretärin rechnen (III 14).
c) Ein kurdischer Volkszugehöriger hat grundsätzlich die Möglichkeit, die Orte
außerhalb der Notstandsgebiete, insbesondere in der Westtürkei zu erreichen,
ohne dass ihm die Gefahr droht, an der Landesgrenze oder am Flughafen
asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein.
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Nach verschiedenen Gutachten und Auskünften müssen ehemalige Asylbewerber,
die in die Türkei abgeschoben werden oder freiwillig einreisen, an der Grenze mit
längerfristiger Polizeihaft rechnen, während von den türkischen Behörden geprüft
wird, ob sich der Betreffende politisch gegen den türkischen Staat betätigt hat
oder Informationen über exilpolitische Organisationen geben kann. Amnesty
international nimmt an, dass bei diesen während der Haft stattfindenden Verhören
bei Personen kurdischer Volkszugehörigkeit auch Folter angewandt wird (I 56, 83,
162), und stützt dies auf Berichte, die jedoch vor allem wegen der Angst der
Betroffenen vor weiteren Verfolgungsmaßnahmen schwer zu recherchieren seien.
In neuerer Zeit werde zunehmend berichtet, dass die betroffenen Rückkehrer nach
der routinemäßigen Eingangskontrolle am Flughafen zunächst freigelassen, später
jedoch auf ihrer Weiterreise in ihre Heimatregion oder in ihrem Heimatort erneut
festgenommen worden seien, wobei es mit hoher Wahrscheinlichkeit zur
Anwendung von Folter und Mißhandlungen komme (I 162). Eine diese Gefahr mit
sich bringende Überstellung zu weiteren Verhören erfolge häufig, wenn im Verlauf
der Routinekontrolle Verdachtsmomente einer oppositionellen politischen Tätigkeit
aufkämen; insbesondere, wenn Betroffene keine Personaldokumente mit sich
führten oder solche Dokumente, die auf ein Asylverfahren im Ausland hinweisen (I
162).
Rumpf (I 46, 80) stuft eine Festnahme bei der Einreise als wahrscheinlich ein;
zurückgewiesene Asylbewerber müssten, wenn sie als solche von den türkischen
Behörden erkannt worden seien, mit Festnahme und genauerer Untersuchung der
persönlichen Verhältnisse und, wenn es sich um einen Kurden handele, mit
verschärften sonstigen Maßnahmen, wozu die körperliche Misshandlung zähle,
rechnen, wobei diese Gefahr erst nach Weiterleitung an die politische Abteilung
bestehen soll (I 38, 46). Dabei ist seinen Angaben zufolge davon auszugehen,
dass das abgefragte Fahndungsregister alle Personen ausweist, die mit
staatsanwaltschaftlichen Festnahmeanordnungen gesucht werden, die ihrerseits
auf der Grundlage eines Haftbefehls ergehen. Gleiches nimmt er auch für solche
Personen an, die ohne Haftbefehl aufgrund staatsanwaltschaftlicher oder
polizeilicher Festnahmeanordnung gesucht werden, allerdings bildeten diese die
Ausnahme. Als Personengruppen kommen insoweit entflohene Strafhäftlinge oder
Personen in Betracht, die bereits, unabhängig auf welcher Grundlage,
festgenommen worden waren und den Bewachern entkommen sind. Auf frischer
Tat ertappte Täter oder sonstige Täter, für deren Ergreifung Staatsanwaltschaften
oder Polizeiorgane wegen Fluchtgefahr oder Gefahr im Verzuge unmittelbar zur
Festnahme befugt sind, werden dem Sachverständigen zufolge nicht im
Fahndungsregister geführt. Danach ist davon auszugehen, dass es zu einem
Eintrag im Fahndungsregister auch einen vollziehbaren Haftbefehl gibt (I 95).
Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (I 62, 157 mit Hinweis auf ein Gutachten
von März 1995) kann das Risiko einer Festnahme und anschließende Folterung von
abgeschobenen kurdischen Asylbewerbern nur schwer beurteilen und letztlich
keine konkreten Fälle nennen mit Ausnahme von Einzelfällen, die auf
Erkenntnissen aus Pressemeldungen beruhen, nicht jedoch auf eigenen
Recherchen (Auskunft an VGH Baden-Württemberg v. 05.06.97 in I 160). Die
Gefahr sei erhöht, wenn der Betreffende auf Fahndungslisten stehe, insbesondere
bei Kurden, die irgendwann einmal für die PKK tätig gewesen seien. Ein erhöhtes
Risiko treffe noch denjenigen, der mit einem gefälschten Pass in die Türkei
einreise. Die Asylantragstellung gelte als verdächtig, da davon ausgegangen
werde, dass im Rahmen der Begründung des Asylgesuchs "separatistische
Aktivitäten" und entsprechende Reaktionen des türkischen Staats geltend
gemacht würden. Auch Aktivitäten kurdischer Asylbewerber im Ausland würden
den türkischen Sicherheitsbehörden durchaus bekannt, jedoch werde von den
Behörden regelmäßig bestritten, dass es zu solchen Maßnahmen komme.
Zwischen den regierungsamtlichen Äußerungen und der Realität bestehe aber
eine große Diskrepanz, so dass es nicht als abwegig angesehen werden könne,
dass Vorwände gefunden würden, um Abgeschobene auch dann, wenn ihre
ausländischen Aktivitäten in der Türkei nicht strafbar seien, gleichwohl zur
Rechenschaft zu ziehen (I 157).
Kaya berichtet, dass Folter in der Türkei bei Verhören durch alle Sicherheitskräfte
als gängige Methode angewandt werde (I 37, 161). Flüchtlinge, die nach Ablehnung
ihres Asylantrages in die Türkei zurückkehren müssten, würden unterschiedlich
behandelt. Dabei spiele es eine Rolle, ob man türkischer oder kurdischer
Abstammung sei, einen gültigen Reisepass habe oder durch die Polizei
abgeschoben werde. Personen mit einem gültigen Reisepass könnten, wenn nicht
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abgeschoben werde. Personen mit einem gültigen Reisepass könnten, wenn nicht
nach ihnen gefahndet werde, nach Durchlaufen der für alle anderen Reisenden
üblichen Kontrollen wieder in die Türkei zurückkehren. Kurden, die mit einem
vorläufigen Reisedokument einreisten, würden von den Sicherheitskräften zwecks
Feststellung ihrer Personalien und ihrer rechtlichen Lage eine Zeitlang
festgehalten. Sie würden nach ihren Kontakten im Ausland und nach dem Grund
ihres Asylantrages befragt. Abgeschobene ehemalige Asylbewerber würden ohne
Ausnahme direkt der türkischen Polizei überstellt; gegen sie werde ausführlich
ermittelt. Gegen Personen, die bereits früher aufgrund ihrer politischen Aktivitäten
verfolgt oder verurteilt, von der politischen Abteilung der Polizei erfasst worden
oder vorbestraft seien, werde genauer und sorgfältiger ermittelt (I 50). Seinen
Angaben zufolge wird vor allem gegen Kurden, die längere Zeit im Ausland waren,
besonders ermittelt, da ihnen unterstellt wird, dass sie sich für die kurdische Sache
eingesetzt haben. Liegen keine Beweise vor, werde die betreffende Person
freigelassen, müsse aber damit rechnen, beschattet zu werden (I 110). Die aus
dem Osten oder Südosten stammenden Personen würden schon aufgrund des
generellen Verdachts, in Verbindung mit der PKK zu stehen, eine Zeitlang
festgehalten und verhört. Gewalt werde auch dann angewandt, wenn nichts gegen
die Betroffenen vorliege, schon um sie einzuschüchtern. Dies sei in 80 % der Fälle
von in die Türkei abgeschobenen Asylbewerbern zu beobachten gewesen; etwa die
Hälfte davon sei länger als drei Tage festgehalten worden, und gegen einige seien
Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet worden (I 161). Er beschreibt 13 Fälle von
Verhaftungen nach Abschiebungen seit 1995 im Einzelnen, wobei allerdings in drei
Fällen keine weitere Klarheit über das anschließende Schicksal der Betroffenen
erlangt werden konnte. Darüberhinaus werden sieben Fälle aus dem Bericht des
Menschenrechtsvereins für den Zeitraum 1997 und 1998 angegeben sowie ein
Bericht aus der Zeitung Özgür Politica vom Dezember 1998 (I 161). Auch Kaya
räumt ein, dass ein kurdischstämmiger Bewohner eines Dorfes oder einer Stadt
beispielsweise in Erzincan, der vor seiner Ausreise noch nicht in das Blickfeld der
Sicherheitskräfte geraten ist, im Hinblick auf den Vorfall Öcalan nicht mit
Schwierigkeiten zu rechnen hat, wenn er sich nicht an Aktionen gegen die
Festnahme Öcalans beteiligt oder entsprechende Kampagnen unterstützt hat (I
168).
Taylan (I 35, II 25) zufolge kann demgegenüber davon ausgegangen werden, dass
zurückkehrende Asylbewerber im allgemeinen unbehelligt die Grenze passieren
können. Zu Schwierigkeiten kommt es, wenn die betreffenden Personen in den
Computern registriert sind, weil sie als PKK-Aktivisten bekannt sind oder ihnen
beispielsweise die Einreise verweigert wurde (II 25). Ihm sei kein Fall dazu bekannt
geworden, dass diese generell an der türkischen Grenze misshandelt würden. Zu
Schlägen bei Verhören könne es immer kommen; das hänge vor allem von dem
vernehmenden Beamten ab (II 25).
Nach Berichten des Auswärtigen Amts liegen keine definitiven Nachweise darüber
vor, dass aus Deutschland zurückkehrende Kurden lediglich aufgrund ihrer
ethnischen Zugehörigkeit Opfer von Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte
geworden sind (I 159). Bei der Einreise in die Türkei hat sich jedermann einer
Personenkontrolle zu unterziehen (I 47, 87, 130, 144, 153, 159, 167, 233). Sofern
abgelehnte Asylbewerber freiwillig und mit einem gültigen Reisepass in die Türkei
zurückkehrten, hätten sie in der Regel nicht mit Repressalien zu rechnen. Ebenso
verhalte es sich, wenn türkische Asylbewerber im Wege der Abschiebung einreisten
und dies den türkischen Behörden bekannt sei. Es werde dann allerdings bei der
Grenzpolizei eine eingehendere Befragung durchgeführt, vor allem nach einer
eventuellen politischen Tätigkeit im Ausland, die jedoch nicht generell unterstellt
werde (I 87, 89). Ein solches Verhör finde in jedem Fall dann statt, wenn die
Einreisenden nicht über ein gültiges türkisches Reisedokument verfügten (I 74, 87,
144, 167, 233). Dann müsse zunächst eine Personenfeststellung durchgeführt
werden, die in den meisten Fällen eine Rückfrage bei den Sicherheitsbehörden am
Heimatort und bei den dortigen Personenstandsbehörden umfasse. Insbesondere
werde in diesem Zusammenhang der Geburtseintrag der Betreffenden überprüft.
Dies könne bei Einreisen am Wochenende und in den Fällen, in denen die
Personenstandsunterlagen in einer kleinen Kreisstadt in Ostanatolien geführt
würden, ein bis drei Tage dauern (I 74, 144, 159). Während dieser Zeit werde die
betreffende Person bei der Grenzpolizei am Flughafen in Polizeigewahrsam
genommen (I 51). Würden keine belastenden Erkenntnisse herausgefunden, könne
der Betreffende seine Reise fortsetzen (I 33). Schwierigkeiten für Abgeschobene
könnten eintreten, wenn Befragung, Durchsuchung des Gepäcks oder Recherchen
bei den Heimatbehörden den Verdacht der Mitgliedschaft in oder der
Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen begründe (I 159,
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Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen begründe (I 159,
241). Konkrete Erkenntnisse, dass ein aus Deutschland Abgeschobener der Folter
unterworfen worden sei, lägen nur in einem Fall vor, während Recherchen aufgrund
von Hinweisen auf Folter in anderen Fällen nicht oder noch nicht zu einer
Bestätigung geführt hätten (I 159, S. 18; 167, S. 25, S. 29f). In zwei weiteren Fällen
sei es nicht infolge der Abschiebung, sondern aufgrund später in der Türkei
vorgefallener Geschehnisse zu Verhaftungen wegen angeblicher PKK-Aktivitäten
gekommen. Von den aus Berichten türkischer Menschenrechtsvereine für das Jahr
1994 bekannt gewordenen 22 Fällen sei kein Fall belegt. In 21 dieser Fälle sei eine
Freilassung am Einreisetag oder dem darauffolgenden Tag erfolgt. Es könne auch
nicht bestätigt werden, dass während einer Festnahme grundsätzlich eine
menschenrechtswidrige Behandlung zu erwarten sei und dass türkische
Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit eher als andere türkische
Staatsangehörige Gefahr liefen, menschenunwürdig behandelt zu werden (I 48). Es
gebe auch keine gesicherten Erkenntnisse über eine Erhöhung der Gefährdung für
Abgeschobene aufgrund des Öcalan-Prozesses; wenn auch aufgrund der
hochemotionalisierten Situation von einem erhöhten Risiko für bisher schon in der
Kurdenfrage engagierte Personen auszugehen sei (I 167). Das Auswärtige Amt
berichtet, es seien vier Fälle von Verhaftungen und angeblicher Folter aus dem
Zeitraum bis Juli 1999 bekannt geworden, in denen teilweise jedoch die
Recherchen noch nicht abgeschlossen seien. Ein Betroffener sei vor dem
Staatssicherheitsgericht Ankara des Verstoßes gegen Art. 8 ATG angeklagt, im
Verfahren dann freigesprochen worden, während ein anderer nach Art. 125 tStGB
wegen "Separatismus" angeklagt worden sei. Ein weiterer Betroffener konnte
erneut nach Deutschland einreisen (I 167 S. 27, 29, 30). Seit November 1999
seien 2 Fälle bekannt geworden; Ermittlungen ergaben, dass einer der Betroffenen
nach Rumänien geflohen sei, nachdem er im Januar 2000 bei einem
Verwandtenbesuch in Izmir erneut festgenommen und gefoltert worden sei. In
dem zweiten Fall sei Anzeige bei der Oberstaatsanwaltschaft Izmir erstattet,
jedoch bisher noch keine Klage erhoben worden (I 226).
Oberdiek (I 106) führt demgegenüber an, dass aus dem Ausland zurückkehrende,
insbesondere abgeschobene Kurden den gleichen Risiken ausgesetzt seien wie die
Kriegsflüchtlinge. Sie alle würden bei einer Einreise sicherheitsdienstlich erfasst
und gälten zumindest im gleichen Maße wie Personen, die sich weigerten,
Dorfschützer zu werden, als "unloyale Staatsbürger". Die bisher recherchierten
Fälle von Verhaftung aus der Abschiebung ließen allerdings nach seiner Ansicht
keinen Rückschluß auf eine erhöhte Gefährdung von abgeschobenen
Asylbewerbern nach der Überführung von Öcalan in die Türkei zu; weiterhin
bestehe die Rückkehrergefährdung aber nicht nur zum Zeitpunkt der Einreise,
wenn die Betroffenen mit Paßersatz auf ihre Identität und mögliche gegen sie
angestrengte Strafverfahren überprüft würden, sondern viele würden erst später in
der Heimat aufgegriffen. Hiervon betroffen seien anscheinend alle Rückkehrer
gewesen, die aus dem Südosten stammten, und jüngere, unverheiratete Kurden (I
164 S. 30). Aus verschiedenen Quellen (I 57, 80, 82, 83, 84, 85, 87) sind Fälle von
Verhaftungen nach Abschiebung oder Rückreise in die Türkei bekannt geworden; in
einem Zeitraum von insgesamt fünf Jahren ließen sich 24 Fälle feststellen, die
teilweise noch weiter recherchiert wurden (I 160). Nicht in allen Fällen wurde von
längerdauernder Verhaftung, Misshandlungen oder Folter berichtet, sondern in der
Mehrzahl der Fälle handelte es sich um eine kurze Verhaftungsdauer, wobei auch
zum Teil später erneute Verhaftung erfolgte. Auch die Fälle, in denen
Misshandlungen und/oder Folter behauptet wurden, sind nicht alle belegt oder
belegbar. In einer Vielzahl von Fällen sind die ehemals Verhafteten nicht mehr
ermittelbar, wobei von Seiten der Sicherheitskräfte angegeben worden, die
Betreffenden seien freigelassen worden (I 80 S. 57f in fünf Fällen). Sowohl amnesty
international als auch Oberdiek stellen fest, dass die ihnen zur Kenntnis
gelangenden Fälle zumeist sehr schwer zu recherchieren seien, da in der Regel nur
der Betroffene als Zeuge zur Verfügung stehe. Amnesty international führt
insgesamt sieben stimmige und mit den allgemeinen Erkenntnissen
übereinstimmende Berichte aus den Jahren 1996 bis 1998 an (I 162). Oberdiek
berichtet über die vom IHD Istanbul recherchierten Fälle und weist in diesem
Zusammenhang auf die insoweit enorm beschränkten Mittel des IHD hin, der sich
hauptsächlich auf Informationen seitens der Flughafenpolizei stützen könne (I 164,
S. 17). Er berichtet über sechs einigermaßen gesicherte Fälle Anfang 1999, wobei
in einem Fall die Abschiebung 1997 erfolgt war (I 164, S. 18ff).
Nach Angaben des IHD im Januar 2000 werden alle Personen, die als abgelehnte
Asylbewerber aus Deutschland zurückkehren sofort nach ihrer Abschiebung in
Gewahrsam genommen und höchstens 24 Stunden auf den Polizeiwachen der
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Gewahrsam genommen und höchstens 24 Stunden auf den Polizeiwachen der
Flughäfen festgehalten. In dieser Zeit werden Nachforschungen über mögliche
Haft- und Suchbefehle, Militärdienst und eventuelle Desertion angestellt.
Personen, deren polizeiliche Akten Hinweise auf strafbare Handlungen enthalten,
werden demnach zur weiteren Vernehmung an die Abteilung zur
Terrorismusbekämpfung oder zur zuständigen Militärkommandantur gebracht (I
191).
Daneben gibt es auch in jüngerer Zeit wird immer wieder Berichte über Fälle, in
denen Abgeschobene nach ihrer Ankunft festgehalten und mißhandelt oder
gefoltert wurden. So soll nach Mitteilung des IHD in Izmir im vergangenen Jahr ein
aus Deutschland abgeschobener kurdischer Türke gefoltert worden sein; er wurde
nach seinen Angaben sieben Tage von der Flughafenpolizei festgehalten und
verschiedene Verletzungen wurden durch ein gerichtsmedizinisches Gutachten
belegt (I 194, 229). Außerdem wird über zwei weitere Fälle im Januar sowie Februar
2000 in Istanbul berichtet (I 200, 229), einer davon wurde bei der
Oberstaatsanwaltschaft Izmir zur Anzeige gebracht (I 226, 229).
Weder aus der Zahl dieser Fälle noch aus weiteren Umständen und Begebenheiten
lässt sich jedoch der Schluss ziehen, dass kurdische Volkszugehörige
grundsätzlich bei der Überprüfung nach einer Rückkehr menschenunwürdiger
Behandlung ausgesetzt sind. Zum einen handelt es sich bei den in den
verschiedenen Auskünften dokumentierten Fällen größtenteils um letztlich
ungeklärte Fälle, die nach der Verhaftung nicht mehr ermittelbar waren. Selbst
wenn man jedoch unterstellen wollte, dass es in allen diesen Fällen zu einer
menschenunwürdigen Behandlung gekommen ist, lässt sich angesichts der
Gesamtzahl von Abschiebungen hieraus der Schluss einer wenn nicht allen, so
jedoch der weitaus größten Zahl kurdischer Volkszugehöriger drohenden
Behandlung dieser Art nicht ziehen. Hiergegen spricht schon die vermutlich
wesentlich höher liegende Zahl von Rückkehrern türkischer Staatsangehörigkeit
und kurdischer Volkszugehörigkeit. Allein für den Zeitraum von Dezember 1994 bis
März 1995 liegt die Zahl abgeschobener türkischer Staatsangehöriger -- deren
kurdische Volkszugehörigkeit nicht immer erkennbar ist oder feststeht -- bei etwa
200, obwohl in dieser Zeit in verschiedenen Bundesländern Abschiebestopps
galten (BT-Drs. 13/1434). Die Zahl der Rückkehrer im Jahr 1994 und zuvor dürfte
insgesamt wesentlich höher gewesen sein. Im Jahre 1995 wurden von der
Grenzschutzdirektion Koblenz 2.610 Personen in die Türkei per Flugzeug
zurückgeführt, unter denen nach vorläufigen Angaben mindestens 1.234
abgelehnte Asylbewerber waren (I 144). Im Jahr 1996 wurden 4.609 Personen aus
Deutschland in die Türkei abgeschoben und 7 Personen ausgeliefert (BT Drucks.
13/7398 in I 160). Insgesamt lassen die bekannt gewordenen Zahlen jedenfalls
nicht die Bewertung zu, dass kurdische Volkszugehörige bei einer Rückkehr in die
Türkei verfolgungsfreie Regionen nicht ohne die erhebliche Gefahr drohender
menschenunwürdiger Behandlung erreichen könnten.
Auch nach neuen Erkenntnissen muss ein als Asylbewerber identifizierter
Rückkehrer bei der Einreise regelmäßig damit rechnen, dass er zunächst
festgehalten und einer intensiven Überprüfung unterzogen wird (I 80, 87, 89, 144,
151, 159, 167, 233). Dies gilt insbesondere, wenn gültige Reisedokumente nicht
vorgewiesen werden können. In diesem Falle erfolgt regelmäßig eine genaue
Personalienfeststellung (unter Umständen mit einem Abgleich der Angaben der
Personenbestandsbehörde und des Fahndungsregisters) hinsichtlich Grund und
Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventueller
Vorstrafen in Deutschland, Asylantragstellung und Kontakten zu illegalen
türkischen Organisationen im In- und Ausland (I 79, 144, 151, 159, 167, 233).
Diese Einholung von Auskünften, während der der Rückkehrer meist in den
Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache festgehalten wird, kann bis zu mehreren
Tagen dauern. Da den türkischen Behörden bekannt ist, dass viele türkische
Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Mittel der Asylantragstellung
versuchen, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, werden
Verfolgungsmaßnahmen nicht allein deshalb durchgeführt, weil der Betroffene in
Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, sondern nur, wenn sich konkrete
Anhaltspunkte für eine Mitgliedschaft oder Unterstützung der PKK ergeben (I 79,
144, 151, 159, 167, an VG Gießen, 21.08.00). Liegt gegen den Betroffenen nichts
vor, so wird er in der Regel nach spätestens zwei oder drei Tagen wieder
freigelassen. Anders ist es, wenn Personen wegen konkreter Anhaltspunkte für die
Begehung von Straftaten, insbesondere durch Unterstützung der PKK, durch die
politische Abteilung der Polizei in Haft genommen werden; dann besteht die reale
Gefahr von asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen bis hin zum Verschwinden von
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Gefahr von asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen bis hin zum Verschwinden von
Personen (I 80, vgl. auch I 149, 167).
Die in einem Briefwechsel zwischen dem türkischen Innenminister und dem
Bundesinnenminister enthaltene Erklärung der Republik Türkei (Text in BT-Drs.
13/1434, S. 2 bis 4) hat keine Auswirkung auf die Beurteilung der Frage, ob für
kurdische Volkszugehörige in der Türkei ein Leben ohne politische Verfolgung
möglich ist (vgl. HessVGH, 07.12.1998 -- 12 UE 2185/97.A --; siehe dazu auch OVG
Nordrhein-Westfalen, 03.06.1997 -- 25 A 3631/95.A -- und 28.10.1998 -- 25 A
1284/96.A --).
3. Der Klägerin droht auch unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse
bei einer Rückkehr in die Türkei nach Überzeugung des Senats nicht mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
a) Weder aufgrund der Situation vor der Ausreise der Klägerin, die zum damaligen
Zeitpunkt etwa neun Jahre alt war, noch aus dem zwischenzeitlichen Aufenthalt in
Deutschland folgen Anhaltspunkte dafür, dass ihr selbst und gegen sie aufgrund
ihrer Aktivitäten gerichtete Gefahren drohen, denn sie hat sich auch nicht in der
Zwischenzeit in einer Weise erkennbar exilpolitisch betätigt, die sie als exponierte
Regimegegnerin oder PKK-Anhängerin hätte auffallen lassen. Es ist nichts dafür
ersichtlich, dass bei den Heimatbehörden etwas gegen sie vorliegt und sie muss
daher nicht damit rechnen, dass sie durch die türkischen Behörden irgendwelchen
von Misshandlungen begleiteten Befragungen ausgesetzt sein wird. Die
zwischenzeitliche Übermittlung ihrer Daten an die Heimatbehörden zur
Paßausstellung vermag daher ebenfalls keine Anhaltspunkte für konkret drohende
Maßnahmen zu begründen, denn für eine konkrete Fahndung nach ihr bestehen
keinerlei Anhaltspunkte.
b) Zugunsten der Klägerin kann auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
angenommen werden, dass ihr politische Verfolgung wegen exilpolitischer
Betätigung ihres Bruders T Y als objektiver Nachfluchtgrund droht. Zwar kann eine
aus dem Schutzgedanken des Art. 16a Abs. 1 GG folgende Vermutung dafür
wirksam werden, dass auch dem Ehegatten eines politisch Verfolgten, über deren
Asylanspruch im konkreten Fall zu entscheiden ist, das gleiche Schicksal mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wenn nämlich Fälle festgestellt wurden, in
denen der Verfolgungsstaat Repressalien gegenüber Ehefrauen im
Zusammenhang mit der politischen Verfolgung ihres Ehemannes ergriffen hat
(BVerwG, 02.07.1985 -- 9 C 35.84 --, EZAR 204 Nr. 2 = InfAuslR 1985, 274; krit.
Anm. Bell, ZAR 1986, 188). Zu Gunsten von Ehegatten politisch Verfolgter ist das
Eingreifen dieser Vermutungsregel grundsätzlich auch im Fall der Türkei bejaht
worden (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, 29.09.1992 -- 18 A 10239/90 -- InfAuslR
1993, 113), da sich der türkische Staat unter bestimmten Voraussetzungen
Repressalien gegenüber diesem Personenkreis bedient. Vorliegend kommt eine
derartige Vermutung aber letztlich nicht zum Tragen.
Ein Institut der Sippenhaft gibt es im türkischen Strafrecht, das in seinen
wesentlichen Zügen dem italienischen Strafrecht nachgebildet ist, zwar nicht (II 1,
11, 24, 35; I 226), sondern Verfolgungsmaßnahmen sind auch gegenüber
Familienangehörigen von Straftätern grundsätzlich unzulässig (II 3). Obwohl die
Sippenhaft dem türkischen Recht insgesamt unbekannt ist, spielt der Zugriff auf
Angehörige in der Polizeiermittlungspraxis jedoch eine große Rolle, wie zahlreiche
Beispiele zeigen (II 12, 20, 26). Unter Umständen werden Verwandte von
Gesuchten polizeilich zu deren Aufenthaltsort vernommen (II 13; I 226), sodass es
auch möglich erscheint, dass die Ehefrau eines flüchtigen Straftäters in
Polizeigewahrsam genommen, verhört und bedroht und auf die eine oder andere
Art und Weise genötigt wird (II 6). Insbesondere nach 1990 wurde die
Unterdrückung von Angehörigen gesuchter Personen verstärkt, wie zahlreiche
Beispiele belegen (II 9, 10). Verwandte von gesuchten Personen müssen bei
Razzien zum Zwecke der Festnahme der gesuchten Personen damit rechnen,
unter Druck gesetzt, geschlagen und schikaniert zu werden (II 4). Zwar ist das
Recht der Aussageverweigerung gewährleistet, andererseits jedoch nicht
ausgeschlossen, dass es zu Übergriffen kommt (II 24, 33, 35, I 226). Vermehrt wird
darüber berichtet, dass Familienangehörige aktiver PKK-Angehöriger
menschenrechtswidrig behandelt werden, da angenommen wird, dass auch sie die
PKK unterstützen (II 21, 31). Zu solchen Übergriffen auf Verwandte kommt es vor
allem auch deshalb, weil es bei der Fahndung nach Personen, denen
Unterstützungshandlungen für die PKK zur Last gelegt werden, durchaus üblich ist,
alle bekannten Anschriften des Verdächtigen zu überprüfen (II 19). Nach Kaya (II
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alle bekannten Anschriften des Verdächtigen zu überprüfen (II 19). Nach Kaya (II
30) ergeht bei Personen, die per Haft- oder Festnahmebefehl gesucht werden, alle
drei Monate ein Befehl durch die republikanischen Staatsanwaltschaften, nach
dem das Haus der betreffenden Person durchsucht wird, sodass dort lebende
Angehörige mindestens alle drei Monate einmal Belästigungen durch die
Sicherheitskräfte ausgesetzt sind. Besonders betroffen von solchen Maßnahmen
sind Verwandte ersten Grades, da sie unter dem Verdacht stehen, den
Organisationen der kurdischen nationalen Opposition Unterstützung und
Unterschlupf zu gewähren (II 28). Diese Gefahr besteht vor allem, wenn die
Angehörigen wegen Unterstützung der Guerilla der Strafverfolgung ausgesetzt
waren, in der Regel jedoch nicht, wenn diese nur wie alle anderen kurdischen
Familien von den Razzien staatlicher Sicherheitskräfte betroffen waren (II 36). Eine
Verbindung zur politischen Vergangenheit des Ehemannes wird dadurch möglich,
dass die Personenstandsregistrierung der Ehefrau an den Ort verlegt wird, an dem
ihr Ehemann gemeldet ist, und dort auch Informationen über den Ehemann
vorhanden sind (II 29); bei den im Zuge der Einreise üblicherweise angestellten
Nachforschungen oder bei späteren Routinekontrollen wird hingegen nicht in
Erfahrung gebracht, ob Verwandte dieser Person gesucht werden oder nicht (II 37).
Bei anderen, weitläufigeren Verwandten (Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen)
können hingegen die Verwandtschaftsverhältnisse nicht so leicht über
Personenstandsregister in Erfahrung gebracht werden (II 22, 25). Anders ist dies zu
beurteilen, wenn die Personen nach der Einreise in ihren Heimatorten wohnen (II
22), vor allem, wenn es sich um kleinere Siedlungsgebiete (Dörfer) handelt (II 25).
Auch wenn schon der Verdacht besteht, dass die betroffene Person selbst
politische Kontakte pflegt und möglicherweise politische Aktionen durchführen
könnte, werden derartige Nachforschungen angestellt und eine solche Person
verhört, um Informationen beispielsweise über ihren gesuchten Bruder zu erhalten,
insbesondere wenn dieser in Deutschland als asylberechtigt anerkannt ist (II 37).
Rumpf (II 27, 32) zufolge erstreckt sich diese Gefahrenlage allerdings auch auf
"Bekannte". Grundlage dafür ist die Praxis, durch weit gestreuten Druck an
Informationen zu gelangen, die mit rechtsstaatlichen Mitteln nicht zu erlangen sind
(II 27, 32). Nach Oberdiek (II 34) kommt es bei weiterer Verwandtschaft wie z. B.
Cousins darauf an, ob aus dem Verhalten des Betroffenen zusätzliche
Verdachtsmomente in Richtung auf politische Tätigkeiten geschöpft werden
können, und inwieweit es zu Denunziationen im Heimatort kommen kann. Es gibt
indes keine Erkenntnisse über besondere Verfolgungsmaßnahmen gegen
minderjährige Kinder türkischer Staatsangehöriger, die nach türkischem Recht
verfolgt werden und sich im Ausland aufhalten (II 2, 5, 34). Auch
Familienangehörige von in der Türkei als Terroristen gesuchten Personen wie etwa
des Führers der PKK, Öcalan und des Cemil Isik wurden während ihres Aufenthalts
in der Türkei nicht behelligt (II 2); allerdings wurde der Bruder des PKK-Führers im
September 1990 vorübergehend festgenommen, als er mit gefälschtem Pass
zusammen mit seinen sechs Kindern auf eine griechische Ägäisinsel fliehen wollte
(II 15). In die Türkei zurückkehrende kurdische Volkszugehörige werden nicht allein
deswegen verfolgt, weil Verwandte im Ausland als Asylberechtigte anerkannt sind
(II 10, 16) oder dort ein Asylverfahren betreiben (II 11, 17, 33, 35, 37). Es gibt
jedoch Berichte darüber, dass der Ehegatte eines in Deutschland politisch aktiven
Asylbewerbers bei einer Rückkehr in die Türkei ebenfalls mit
menschenrechtswidriger Behandlung rechnen muss (II 7), dass insbesondere
gegen Frauen mittels entwürdigender Übergriffe vorgegangen wird (II 8) und dass
von derartigen Beeinträchtigungen auch die Familienangehörigen von
Verschwundenen (II 14) und von Asylberechtigten (II 18) betroffen sind. Kaya sieht
es für denkbar an, dass die Mutter eines in Deutschland als asylberechtigt
Anerkannten mit von Zeit zu Zeit erfolgenden Belästigungen durch die
Sicherheitskräfte rechnen muß (II 38). Unmittelbar bei der Rückkehr besteht die
Gefahr einer Festnahme wegen PKK-Aktivitäten Verwandter nach Auskunft von
Kaya (II 23) nicht, da den Grenzstationen keine Listen derjenigen, die sich der
Guerilla angeschlossen haben, mitgeteilt werden und dies auch bei den üblichen
Nachforschungen nicht bekannt werden dürfte. Allerdings kann dies bei Rückkehr
in die Heimatgemeinde durch dortige Nachforschungen bekannt werden und zur
Festnahme führen (II 23).
Unter Berücksichtigung dieser Umstände droht der Klägerin bei der Rückkehr in die
Türkei schon deshalb keine politische Verfolgung, da sie nicht mit einem politisch
Verfolgten eng verwandt ist. Selbst wenn man die grundsätzlich auch auf andere
nahe Angehörige anwendbare Vermutungsregel (vgl. hierzu Bell, a.a.O.) auch im
Falle von Geschwistern bejahen wollte, ist diese Vermutung widerlegt. Die Klägerin
wird unmittelbar bei ihrer Rückkehr oder danach aus diesem Grund nicht der
Gefahr einer Befragung ausgesetzt sein, die das Ziel verfolgt, den Aufenthaltsort
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Gefahr einer Befragung ausgesetzt sein, die das Ziel verfolgt, den Aufenthaltsort
ihrer Brüder, insbesondere des Bruders T oder weiterer Personen, die mit diesem
in Kontakt standen, zu ermitteln. Allein der Umstand der von ihren Brüdern
betriebenen Verfahren zur Asylanerkennung führt nicht dazu, dass diese schon
deshalb in der Türkei gesucht werden. Auch die Wehrdienstverweigerung des
Bruders T Y zieht keine derartigen Folgen nach sich, da dessen Aufenthaltsort aus
diesem Grund den türkischen Behörden schon bekannt ist und nicht ersichtlich ist,
was darüber hinaus durch eine Befragung der Klägerin noch zu ermitteln sein
sollte.
c) Die Klägerin kann bei einer Rückkehr zum hier maßgeblichen Zeitpunkt auch
ohne die Gefahr existenzieller Bedrohung in anderen Bereichen der Türkei
außerhalb ihrer Heimatregion, insbesondere in den Hauptstädten im Westen der
Türkei, leben.
Im Fall einer gemeinsamen Rückkehr mit ihrem Bruder T, dessen Rückkehr
aufgrund der bestehenden Ausreisepflicht zu unterstellen ist, kann sie von der ihr
grundsätzlich zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen Existenzmöglichkeit
Gebrauch machen, da sie jedenfalls gemeinsam -- insbesondere gilt das für den
Bruder im Alter von 26 Jahren -- in der Lage sein werden, das für die Existenz
Notwendige durch die nach obigen Feststellungen zur Verfügung stehenden
Arbeitsmöglichkeiten zu erlangen, und da davon auszugehen ist, dass der hier
zum Vormund bestellte Bruder auch weiterhin die persönliche Sorge für die
Klägerin übernimmt. Für den Fall, dass ihr Bruder T nach Rückkehr jedoch alsbald
jedenfalls den Wehrdienst ableisten oder aufgrund seiner Wehrdienstentziehung
sogar zusätzlich eine Haftstrafe verbüßen muss, so dass ihm die finanzielle und
persönliche Sorge für die Klägerin erschwert oder gar unmöglich wird, ist nach
Überzeugung des Senats die Unterbringung der Klägerin in einem Waisenhaus bis
zu ihrem 18. Lebensjahr möglich und auch praktisch durchführbar, sofern nach wie
vor keine anderen Verwandten ermittelt werden oder sich solche nicht um die
Klägerin kümmern können.
Für alleinstehende minderjährige Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren gibt es
grundsätzlich die Möglichkeit, die Hilfe der SHCEK in Anspruch zu nehmen, die in
eigenen Heimen oder bei Pflegeeltern den Grundbedarf von Waisenkindern
sicherstellt, wozu auch eine Ausbildung gehört, die unter bestimmten
Voraussetzungen auch über das 18. Lebensjahr hinaus sichergestellt wird (III 8,
11). Auch die "Cocuk Esirgeme Kurumu" (Kindesschutzgesellschaft) betreut
elternlose Kinder im Alter von 12 bis 18 Jahren in insgesamt 91 Erziehungsheimen
(III 10), es gibt sonst nur staatlich betriebene Waisenhäuser, die elternlose
Minderjährige auf gerichtliche Anordnung oder Verfügung der Polizei bis zu deren
18. Lebensjahr aufnehmen (III 12), wenn keinerlei Angehörige ermittelt werden
können.
B.
Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin bei einer Rückkehr
Beeinträchtigungen ausgesetzt ist, die unter § 53 AuslG fallen. Insbesondere ist
nichts dafür dargetan oder ersichtlich, dass ihr die konkrete Gefahr der Folter oder
anderer menschenrechtswidriger Behandlung im Sinne von § 53 Abs. 4 AuslG
i.V.m. Art. 3 EMRK droht.
D.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 VwGO; die
Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO, 167 VwGO.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.