Urteil des HessVGH vom 11.05.1989
VGH Kassel: grundstück, grundsatz der billigkeit, wohnhaus, befreiung, bauwerk, härte, grenzabstand, anbau, umbau, garage
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
3. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 UE 368/86
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 14 GG, § 34 BBauG, § 7
Abs 3 BauO HE, § 94 Abs 2
BauO HE, § 7 Abs 2 S 1
BauO HE
(Nichteinhaltung des Bauwichs durch beide Nachbarn -
Nachbarklage)
Tatbestand
Die Kläger wenden sich im Wege der Nachbarklage gegen eine den Beigeladenen
erteilte Baugenehmigung betreffend einen Wohnhausumbau und -anbau.
Sie sind Eigentümer des mit einem Wohnhaus sowie einer Garage und einem
Geräteraum bebauten Grundstücks Gemarkung Reiskirchen, Flur 7, Flurstück 14/3.
Das Wohnhaus, das im Süden zum Grundstück der Beigeladenen einen
Grenzabstand von etwa 5 bis 6 cm einhält, ist durch den Umbau einer Scheune
entstanden. Die Baumaßnahme wurde am 17. Juli 1963 als Grenzbebauung zum
Grundstück der Beigeladenen bauaufsichtlich genehmigt. Von der Einhaltung des
Bauwichs wurde Befreiung erteilt. Abweichend von der erteilten Baugenehmigung
wurde das Bauwerk jedoch mit dem oben angegebenen Grenzabstand ausgeführt.
Mit Bauschein vom 12. Februar 1970 erteilte der Beklagte dem Kläger W. J. die
Baugenehmigung zum Um- und Ausbau einer Lagerhalle in eine Garage mit
Geräte- und Brennstofflagerraum. Nach den genehmigten Plänen sollte das
Gebäude an der Grundstücksgrenze zum Grundstück der Beigeladenen errichtet
werden. Tatsächlich bildet es mit der Grundstücksgrenze einen spitzen Winkel und
berührt nur im westlichsten Punkt die Grenze zum Grundstück der Beigeladenen.
Gegen diese Baugenehmigung wandte sich der Rechtsvorgänger der Beigeladenen
ohne Erfolg in einem Verwaltungsrechtsstreit.
Die Beigeladenen sind Eigentümer des 174 qm großen Grundstücks Flur 7,
Flurstück 12, das im Norden und teilweise im Osten an das Grundstück der Kläger
angrenzt. Die Grundstücke der Beigeladenen und der Kläger liegen im
unbeplanten Innenbereich der Gemeinde Reiskirchen.
Unter dem 14. Oktober 1980 erteilte der Beklagte den Beigeladenen die
Baugenehmigung für einen Wohnhausanbau und Renovierungsarbeiten, nachdem
zuvor Befreiung von der Einhaltung des Bauwichs zu dem Grundstück der Kläger
erteilt worden war. Nach den genehmigten Bauvorlagen ist zum Wohnhaus der
Kläger hin eine Erweiterung des Gebäudes bis zur Grundstücksgrenze und eine
Aufstockung vorgesehen. Der dem Garagengebäude gegenüberliegende Teil des
Hauses soll durch eine Brandwand mit dem Holzlagerraum verbunden werden.
Über beiden Räumen soll im Erdgeschoß ein Freisitz errichtet werden.
Mit am 18. November 1980 bei dem Beklagten eingegangenem Schriftsatz
erhoben die Kläger gegen den Befreiungsbescheid und die Baugenehmigung mit
näherer Begründung Widerspruch, der durch Widerspruchsbescheid des
Regierungspräsidenten in Gießen vom 21. Juli 1982 zurückgewiesen wurde. Zur
Begründung wurde in dem Widerspruchsbescheid ausgeführt, Baugenehmigung
und Befreiungsbescheid seien rechtlich nicht zu beanstanden. Von der Einhaltung
des Bauwichs zur südlichen Grenze der Kläger sei zu Recht Befreiung erteilt
worden. Durch die nicht ausgeführte Grenzbebauung seitens der Kläger und den
dadurch nicht möglichen Anbau an die Südwand des Hauses der Kläger seien die
Voraussetzungen einer unzumutbaren Härte für die Kläger erfüllt. Das gleiche
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Voraussetzungen einer unzumutbaren Härte für die Kläger erfüllt. Das gleiche
gelte für die Bebauung im Bereich des der Garage der Kläger gegenüberliegenden
Grenzabschnitts. Da das vorhandene Bauwerk Bestandsschutz genieße, sei eine
sinnvolle Bebauung nur möglich, wenn sie zweigeschossig durchgeführt werde. Ein
um den Bauwich von 3 m verkürzter Dachgeschoßausbau stelle für die Kläger
ebenfalls eine unzumutbare Härte dar.
Mit Verfügung vom 3. September 1981 ordnete der Beklagte mit sofortiger
Vollziehung die Einstellung aller Bauarbeiten auf dem Grundstück der
Beigeladenen an. An diesen Baustop haben sich die Beigeladenen bisher gehalten.
Am 20. August 1982 haben die Kläger bei dem Verwaltungsgericht Wiesbaden -
Kammern Gießen - Klage erhoben. Sie haben die Auffassung vertreten, das
Grundstück der Kläger sei aufgrund seiner Beschaffenheit kein Baugrundstück. Die
erteilte Befreiung sei rechtswidrig. Da ihr Wohnhaus etwa 9 - 10 cm von der
Grundstücksgrenze entfernt stehe, würde in dieser Breite bei der genehmigten
Grenzbebauung eine unerwünschte Lücke entstehen. Der Umbau sei technisch
nur durchführbar, wenn zuvor ein Fundament errichtet würde. Hierfür seien
Ausschachtungsarbeiten erforderlich, die zu Absenkungen und Rißbildungen an
ihrem Wohnhaus führen könnten. Das Bauvorhaben würde auch an der östlichen
Grundstücksgrenze der Beigeladenen zu einer unerwünschten Lücke führen und
darüber hinaus ihr vorhandenes Bauwerk um 0,5 m bis 1 m überragen.
Die Kläger haben beantragt,
die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 15 Oktober 1980 und
den Befreiungsbescheid vom selben Tag in der Fassung des
Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidenten in Gießen vom 21. Juli 1982
aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat unter Bezugnahme auf die Gründe des Widerspruchsbescheids die
angefochtenen Bescheide verteidigt und ergänzend ausgeführt, das Vorhaben der
Beigeladenen sei weder bauplanungsrechtlich noch bauordnungsrechtlich zu
beanstanden. Bauplanungsrechtlich sei es nach § 34 BBauG zulässig, weil es sich
nach Art und Maß der baulichen Nutzung, Bauweise und Grundstücksfläche, die
überbaut werden solle, in die Eigenart der vorwiegend durch rückwärtige und
seitliche Grenzbebauung geprägte nähere Umgebung einfüge. Von der
bauordnungsrechtlichen Vorschrift des § 7 Abs. 3 HBO sei zu Recht Dispens erteilt
worden. Insoweit hat der Beklagte seine bisher vertretene Rechtsauffassung
wiederholt und vertieft. Ergänzend hat er vorgetragen, das Grundstück der Kläger
sei ebenso wie die in südlicher Richtung folgenden, etwa gleich großen
Nachbargrundstücke ein Baugrundstück. Soweit die Kläger durch die
Baumaßnahme der Beigeladenen Schaden an ihrem Wohnhaus befürchteten, sei
dies nicht in dem hier geführten Verwaltungsrechtsstreit, sondern in einem
Zivilrechtsstreit erheblich. Es würde auch dem Grundsatz der Billigkeit
widersprechen, wenn ein Grundstückseigentümer, der selbst einen unzulänglichen
Grenzabstand einhalte, Vorteile zu Lasten des Nachbarn an sich ziehen könnte,
indem er verlangte, daß dieser die erforderliche Belichtung, Belüftung und
Besonnung seines Gebäudes gewährleiste. In der näheren Umgebung des
Grundstücks der Beigeladenen, nämlich im Grundstücksbereich Schulstraße 3 - 7,
seien jeweils Grundstücke an oder auf der rückwärtigen Grundstücksgrenze
errichtet, so daß hier eine rückwärtige Grenzbebauung geboten sei und damit die
Vorschriften über Grenzabstände gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 und 4 HBO nicht gelten.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 22. Oktober 1985
abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Kläger hätten die Nichteinhaltung des
Bauwichs an der Nordseite des Grundstücks zu dulden, weil sie durch die
Errichtung eines nur grenznahen Wohnhauses die Anbaumöglichkeit vereitelt
hätten. Wer selbst den Bauwich unter Verletzung baurechtlicher Vorschriften nicht
einhalte, könne nachbarschützende Rechte aus der Bauwichvorschrift nicht
ableiten. Soweit die Aufstockung zu einer Nichteinhaltung des Grenzabstandes im
östlichen Grenzbereich führe, fehle es an der erforderlichen tatsächlichen
Beeinträchtigung der Kläger.
Gegen das den Klägern am 8. Januar 1986 zugestellte Urteil haben sie am 4.
Februar 1986 Berufung eingelegt. Sie nehmen Bezug auf ihr erstinstanzliches
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Februar 1986 Berufung eingelegt. Sie nehmen Bezug auf ihr erstinstanzliches
Vorbringen und tragen ergänzend vor, der von dem Verwaltungsgericht
angewandte Grundsatz, daß derjenige, der selbst rechtswidrig den Bauwich nicht
einhalte, keine nachbarschützenden Rechte aus der Bauvorschrift ableiten könne,
habe hier keine Geltung, weil sie ihren Umbau entsprechend der erteilten
Baugenehmigung durchgeführt hätten. Sie brauchten die Grenzbebauung auch
nicht zu dulden, weil dieser öffentliche Belange entgegenstünden. Das Vorhaben
der Beigeladenen sei bauplanungsrechtlich unzulässig, da es den gesetzlichen
Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse widerspreche.
Bauordnungsrechtlich verletze es auch § 3 Abs. 1 HBO, da sie, die Kläger, in ihrer
Gesundheit beeinträchtigt würden. Ihr Wohnhaus würde aufgrund des
entstehenden Spaltes von etwa 10 cm zwischen beiden Gebäuden einer
zunehmenden Durchfeuchtung ausgesetzt. Es liege auf der Hand, daß durch die
erteilte Baugenehmigung die vorhandene Grundstückssituation nachhaltig
verändert werde und sie in ihrem Eigentumsrecht verletzt würden.
Die Kläger beantragen,
unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Wiesbaden -
Kammern Gießen - vom 22. Oktober 1985 - VI/2 E 489/82 - die den Beigeladenen
erteilte Baugenehmigung vom 15. Oktober 1980 und den Befreiungsbescheid vom
selben Tag in der Fassung des Widerspruchsbescheides des
Regierungspräsidenten in Gießen vom 21. Juli 1982 aufzuheben.
Der Beklagte und die Beigeladenen beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte trägt ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen vor, eine drohende
Durchfeuchtung ihres Gebäudes könnten die Kläger dem Vorhaben der
Beigeladenen nicht entgegenhalten. Die Kläger müßten selbst dafür sorgen, daß
ihr Wohnhaus vor einer Durchfeuchtung geschützt sei. Da die Kläger tatsächlich
von der ihnen erteilten Baugenehmigung abgewichen seien, könnten sie sich auch
nicht auf die Verletzung nachbarschützender Bestimmungen berufen.
Selbst wenn die Baugenehmigung wegen Verstosses gegen § 34 BBauG
bauplanungsrechtlich unzulässig wäre, könnte die Klage keinen Erfolg haben, weil
die Kläger durch die Baumaßnahme nicht schwer und unerträglich getroffen
würden.
Die Beigeladenen verteidigen die angefochtenen Genehmigungen.
Der Senat hat das im Streit befindliche Grundstück der Beigeladenen und das
Grundstück der Kläger sowie deren nähere Umgebung in Augenschein genommen.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der
Sitzungsniederschrift vom 11. Mai 1989 Bezug genommen.
Die die Grundstücke der Kläger und der Beigeladenen betreffenden Bauakten des
Beklagten (Bauschein-Nr. 844/63, 1612/66, 1002/69, 1176/80 und Bauvoranfrage
Nr. 28/2/80) sind beigezogen worden und waren Gegenstand der mündlichen
Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat in dem aus dem Urteilstenor ersichtlichen Umfang
Erfolg, denn das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht in vollem Umfange
abgewiesen. Der den Beigeladenen erteilte Befreiungsbescheid sowie die
Baugenehmigung sind teilweise rechtswidrig und verletzen die Kläger insoweit auch
in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Bauplanungsrechtlich ist die erteilte Baugenehmigung nicht zu beanstanden. Da
für das hier betroffene Baugebiet kein Bebauungsplan besteht, kommt § 34
BBauG zur Anwendung. Maßgeblicher Zeitpunkt für den Erfolg der
Baunachbarklage ist regelmäßig die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
Erteilung der Baugenehmigung (vgl. Hess. VGH, Beschluß vom 9. November 1987,
Hess. VGRspr. 1988, 33 <35>). Eine Ausnahme gilt nur zugunsten des Bauherrn.
§ 236 Abs. 1 BauGB, wonach § 34 BauGB anzuwenden ist, wenn vor dem 1. Juli
1987 über die Zulässigkeit eines Vorhabens entschieden und die Entscheidung
noch nicht unanfechtbar geworden ist, ist einschränkend dahingehend auszulegen,
daß das neue Recht nur dann anwendbar ist, wenn die planungsrechtliche
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daß das neue Recht nur dann anwendbar ist, wenn die planungsrechtliche
Zulässigkeit des Vorhabens uneingeschränkt überprüfbar ist, dagegen nicht im
Falle des Drittwiderspruchs zugunsten des Nachbarn (Hess. VGH, Urteil vom 27.
Mai 1988 - 4 UE 1359/85 -).
Der Charakter des hier maßgeblichen Gebiets weist Elemente eines allgemeinen
Wohngebiets und eines Mischgebiets auf, denn in dem Bereich zwischen der
Wieseck, der Schulstraße und der Grünberger Straße befinden sich Wohn- und
Geschäftshäuser, in denen Wohngebäude generell zulässig sind. Das Bauvorhaben
der Beigeladenen hält sich von seiner Art, nämlich der Wohnnutzung, im Rahmen
der Nutzung der umliegenden Grundstücke; dasselbe gilt auch hinsichtlich des
Maßes der Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut
werden soll. Zwar wird das nur 170 qm große Grundstück nunmehr zum
überwiegenden Teil überbaut, eine insoweit vergleichbare Situation ist jedoch auf
den ebenfalls flächenmäßig kleinen Nachbargrundstücken Schulstraße 10 und 11
auch gegeben. Das Bauvorhaben hält sich damit bezüglich der absoluten Größe
der überbauten Grundstücksfläche im vorgegebenen Rahmen. Der von den
Klägern gerügte Verstoß des Vorhabens gegen die Anforderungen an gesunde
Wohn- und Arbeitsverhältnisse betrifft hier nicht die bauplanungsrechtliche
Vorschrift des § 34 BBauG. Für die Beantwortung der Frage, ob die Anforderungen
an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse gewahrt sind, können nur
städtebauliche Gesichtspunkte in die Betrachtung einbezogen werden. Ergeben
sich die ungesunden Wohnverhältnisse aus technisch-konstruktiver Hinsicht, ist
über die Zulässigkeit nach den Bestimmungen des Bauordnungsrechts zu
entscheiden (vgl. Ernst-Zinkahn-Bielenberg, BauGB, Lfg. 36, März 1987, § 34 Rdnr.
74). So liegt es auch hier, da die von den Klägern geltend gemachten ungesunden
Wohnverhältnisse mit einer befürchteten Durchfeuchtung der Außenwände und
damit bauordnungsrechtlichen Gesichtspunkten begründet wird.
Ein Bauvorhaben, das sich in jeder Hinsicht in dem aus seiner Umgebung
ableitbaren Rahmen hält, kann sich gleichwohl ausnahmsweise in seine Umgebung
nicht einfügen, wenn es die gebotene Rücksichtnahme, insbesondere auf die in
unmittelbarer Nähe vorhandene Bebauung, vermissen läßt und bodenrechtlich
bewältigungsbedürftige Spannungen hervorruft. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit
eines Bauvorhabens am Maßstab des § 34 BBauG mit Einschluß der objektiv-
rechtlichen Tragweite des Gebots der Rücksichtnahme betrifft die der Feststellung
der Verletzung einer schutzfähigen und -würdigen Position vorgelagerte Stufe der
Prüfung. Für die Bestimmung des Umfangs der nötigen Rücksichtnahme kann
dabei auf den Rechtsgedanken des § 15 Abs. 1 BauNVO zurückgegriffen werden
(vgl. Hess. VGH, Beschluß vom 17. Dezember 1984, ESVGH 35, 125 <130>).
Hinsichtlich seiner Lage und seines Umfangs verstößt das Bauvorhaben nicht
gegen den objektiv-rechtlichen Teil des Gebots der Rücksichtnahme, da es sich in
dem Rahmen hält, der durch die Bebauung der Nachbargrundstücke gezogen ist,
und keine unzumutbaren Beeinträchtigungen der Kläger zur Folge hat.
Soweit bauordnungsrechtliche Vorschriften betroffen sind, hat die
Anfechtungsklage der Kläger sowohl gegen den Befreiungsbescheid vom 14.
Oktober 1980 als auch gegen die Baugenehmigung teilweise Erfolg. Wendet sich
ein Kläger im Rahmen der Nachbarklage gegen die Durchführung eines
Bauvorhabens, bedarf es neben der Aufhebung der Baugenehmigung auch der
Aufhebung des Befreiungsbescheides, weil hierdurch ein Sonderbaurecht
geschaffen wird (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 31. Januar 1986, HessVGRspr. 1986,
49 <50/51>). Im vorliegenden Fall kann dahingestellt bleiben, ob der Beklagte den
Beigeladenen zu Recht Befreiung bezüglich der Einhaltung des Bauwichs für die
nördliche Grenzwand erteilt hat, denn insoweit werden jedenfalls keine
Nachbarrechte der Kläger verletzt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Hess.
VGH dienen die Vorschriften der Hessischen Bauordnung über
Mindestabstandsflächen, die Gebäude von den Grundstücksgrenzen einhalten
müssen (Bauwiche), auch dem Schutz des Nachbarn (vgl. Hess. VGH, Beschluß
vom 1. Juni 1978, HessVGRspr. 1978, 67). Der durch § 7 HBO gewährte
Nachbarschutz besteht in den Fällen, in denen es - wie hier - in das Ermessen der
Behörde gestellt ist, von der Pflicht zur Einhaltung des Bauwichs Befreiung zu
erteilen (§ 94 Abs. 2 HBO), in einem Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung
im Hinblick auf seine rechtlich geschützten Interessen. Die von der Bauaufsicht zu
treffende Ermessensentscheidung ist in einem Nachbarrechtsstreit nur insoweit
von Bedeutung, als nachbarschützende Interessen, die von dem Schutzzweck der
Norm erfaßt werden, einer Genehmigung entgegenstehen. Die geschützten
nachbarrechtlichen Interessen beschränken sich grundsätzlich auf die Freihaltung
der Grenzabstandsflächen von der Bebauung an sich (vgl. Hess. VGH, Beschluß
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der Grenzabstandsflächen von der Bebauung an sich (vgl. Hess. VGH, Beschluß
vom 16. Juni 1988 - 4 TG 1830/88 -). Zutreffend hat das Verwaltungsgericht
ausgeführt, daß ein Grundstückseigentümer, der selbst den Grenzabstand nicht
einhält, billigerweise zumindest im selben Grenzbereich nicht verlangen kann, daß
sein Nachbar einen Abstand einhält (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 1. Dezember 1972
- IV OE 56/71 -; Beschluß vom 16. Juni 1988, a.a.0.; st. Rspr. des Bay. VGH, vgl.
Urteil vom 27. Mai 1975, BayVBl. 1975, 589; Urteil vom 22. November 1983,
BayVBl. 1984, 245 <246>; Simon, BaybauO, Stand: November 1988, Art. 6 Rdnr.
25). Diese Voraussetzungen liegen im Bereich der nördlichen Grundstücksgrenze
der Beigeladenen vor. Dem Kläger W. J. ist mit Bauschein vom 17. Juli 1963 der
Ausbau einer Scheune zur Wohnung an der Grenze zum Grundstück der
Beigeladenen unter gleichzeitiger Befreiung von der Einhaltung des
Grenzabstandes erteilt worden. Daß diese Baumaßnahme von der erteilten
Genehmigung mit einem Grenzabstand von wenigen Zentimetern ausgeführt
worden ist, müssen sich die Kläger zurechnen lassen, unabhängig davon, ob sie
der Auffassung gewesen sind, das Vorhaben an der gemeinsamen
Grundstücksgrenze errichtet zu haben oder nicht. Die Kläger können sich daher
insoweit nicht mit Erfolg gegen Befreiungsbescheid und Baugenehmigung wenden.
Etwas anderes gilt allerdings, soweit die streitige Baumaßnahme im Osten an das
Grundstück der Kläger grenzt. Nach der unter dem 12. Februar 1970 erteilten
Baugenehmigung sollte der Um- und Ausbau einer Lagerhalle in eine Garage mit
Geräte- und Brennstofflagerraum auf dem Grundstück der Kläger unmittelbar an
der Grenze zum Grundstück der Beigeladenen errichtet werden. Auch hiervon
wurde bei der Errichtung des Gebäudes abgewichen. Es wurde ebenfalls nur
grenznah gebaut. Der Hess. VGH hat in der oben bereits erwähnten Entscheidung
vom 16. Juni 1988 ausgeführt, daß in erster Linie baugestalterische und damit
öffentliche Interessen betroffen würden, wenn sich der Eigentümer eines
Grenzgebäudes gegen den Anbau an sein Gebäude wehre. Wer bei sonst offener
oder unregelmäßiger Bebauung selbst auf die Grenze baue und somit auf seinem
Grundstück eine Bauweise verwirkliche, wie sie bei geschlossener Bauweise
zulässig wäre, könne nicht besser gestellt werden, als im Fall bauplanungsrechtlich
festgesetzter oder tatsächlich vorhandener Bebauung. In derartigen Fällen
bedeute Anbaumöglichkeit oder Anbaupflicht, insbesondere dann, wenn nicht auch
die Geschoßzahl oder die Gebäudehöhe vorgeschrieben seien, keineswegs immer
deckungsgleichen Anbau. Deshalb könne der zuerst an die Grenze Bauende mit
einer solchen Gestaltung auch nicht sicher rechnen. Es würde eine
ungerechtfertigte Besserstellung bedeuten, wenn jemand selbst an die Grenze
bauen dürfte, aber vom Nachbarn die Freihaltung des Bauwichs verlangen könnte,
falls die eigene Grenzwand nicht voll abgedeckt werden solle. Es kann dahingestellt
bleiben, ob diese Grundsätze auch auf das nachbarliche Abwehrrecht eines
Grundstückseigentümers Anwendung finden, der in Abweichung von der enteilten
Genehmigung nicht an die Grundstücksgrenze, sondern grenznah gebaut hat; im
vorliegenden Fall kommt dies bereits deshalb nicht in Betracht, weil das Vorhaben
der Beigeladenen das Garagengebäude der Kläger im Ober- und Dachgeschoß
deutlich überragt. Ein derartiges Überschreiten der vorhandenen Gebäudehöhe ist
weder bezüglich eines auf der Grenze stehenden Gebäudes noch gegenüber
einem grenznahen Bauwerk zulässig.
Die Beigeladenen können sich bezüglich der östlichen Grenzwand auch nicht auf
die Grundsätze des Bestandsschutzes berufen, weil ihr Vorhaben keinen
Bestandsschutz genießt und daher auch an der östlichen Grundstücksgrenze wie
ein Neubau baurechtlich zu beurteilen ist. Der baurechtliche Bestandsschutz
gewährt als Ausfluß des verfassungsrechtlich garantierten Eigentumsschutzes das
Recht, ein Bauwerk, das seinerzeit im Einklang mit dem damals geltenden
Baurecht ausgeführt wurde, weiter so, wie es steht, zu nutzen und instand zu
setzen, auch wenn es nach dem nunmehr geltenden Recht ausgeschlossen wäre,
ein Bauwerk dieser Art oder an dieser Stelle auszuführen (BVerwG, Urteil vom 19.
Oktober 1966 - BVerwGE 25, 161 <162>; Hess. VGH, Urteil vom 22. Juni 1979,
BRS 35, Nr. 160, Urteil vom 20. September 1985, RdL 1986, 101 <102>). Der
Bestandsschutz deckt allein die Erhaltung des vorhandenen Bestandes, und zwar
des ursprünglich rechtmäßigen Bestandes in seiner bisherigen Funktion. Zwar sind
nach den Grundsätzen des Bestandsschutzes auch Erhaltungs- und
Verbesserungsmaßnahmen an einem bestandsgeschützten Bauwerk zulässig,
jedoch gilt hier die Einschränkung, daß nur solche Reparaturen gedeckt sind, die
das Gebäude vor dem vorzeitigen Verfall oder der Unbenutzbarkeit schützen, nicht
dagegen die Errichtung eines Neubaues anstelle des bereits verfallenen,
vorhandenen Baues. Umbau- und Renovierungsmaßnahmen sind dann nicht mehr
bestandsgeschützt, wenn der Eingriff in die vorhandene Bausubstanz seiner
Qualität nach so intensiv ist, daß die Standfestigkeit des gesamten Gebäudes
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Qualität nach so intensiv ist, daß die Standfestigkeit des gesamten Gebäudes
berührt ist und eine statische Nachberechnung des gesamten Gebäudes
erforderlich macht. In diesem Fall führt die Wiederherstellung des Hauwerks zu
etwas "Neuem", das nicht mehr bestandsgeschützt ist (BVerwG, Urteil vom 18.
Oktober 1974, BVerwGE, 47, 126 <128 ff>, Urteil vom 17. Januar 1986, BauR
1986, 302 <303>; Hess. VGH, Urteil vom 7. Oktober 1982 - III OE 8/82 -). So liegt
es auch hier. Die Errichtung des Kniestocks, der nördlichen und teilweise der
westlichen Außenwand und die Erneuerung des Dachgeschosses haben eine
statische Neuberechnung des gesamten Bauwerks erforderlich gemacht, so daß
das Vorhaben der Beigeladenen wie ein Neubau zu beurteilen ist.
Die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Einhaltung des Bauwichs an der
östlichen Grundstücksgrenze gemäß § 94 Abs. 2 HBO liegen nicht vor. Weder
erfordern Gründe des Allgemeinwohls die abweichende Bauausführung, noch führt
die Einhaltung des Bauwichs zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte für die
Beigeladenen. Für die Beantwortung der Frage, ob eine Härte im Sinne des § 94
Abs. 2 HBO vorliegt, sind die objektiven Verhältnisse des Grundstücks
entscheidend, nicht die persönlichen oder die wirtschaftlichen Bedürfnisse des
Grundstückseigentümers, denn unter dem Gesichtspunkt einen besseren
Rentabilität ließe sich so gut wie jedes Übermaß baulicher Nutzung rechtfertigen.
Eine nicht beabsichtigte Härte kann nicht bejaht werden, wenn ein Baugrundstück
angemessen und sinnvoll in einer Weise genutzt werden kann, die dem Charakter
des betreffenden Gebiets entspricht, ohne daß eine Abweichung von den
geltenden baurechtlichen Vorschriften zugelassen wird. Eine derartige
Nutzungsmöglichkeit ist hier im Rahmen des vorhandenen Baubestandes
gegeben. Der Befreiungsbescheid und damit auch die erteilte Baugenehmigung
sind daher insoweit rechtswidrig als das Bauvorhaben der Beigeladenen an der
östlichen Grundstücksgrenze im Ober- und Dachgeschoß keinen Bauwich einhält.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist das deutliche Überragen
eines grenznahen Bauwerks durch ein Nachbargebäude auch als tatsächliche
Beeinträchtigung anzusehen.
Der Berufung ist daher in dein aus dem Urteilstenor ersichtlichen Umfange
stattzugeben; im übrigen ist sie zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 154 Abs. 3 und 162
Abs. 3 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m.
den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO
liegen nicht vor.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.