Urteil des HessVGH vom 15.09.2005

VGH Kassel: berg, politische verfolgung, armenien, republik aserbaidschan, genfer flüchtlingskonvention, gefahr, anerkennung, ausländer, abschiebung, hohes alter

Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
3. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 UE 2381/04.A
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 8 Abs 1 EGRL 83/2004,
Art 16a GG, § 60 Abs 1
AufenthG 2004
(Inländische Fluchtalternative Berg-Karabach;
Qualifikationsrichtlinie gewährt Schutz nur bei
verfolgungsbedingten Gefahren)
Leitsatz
Sowohl die Republik Aserbaidschan als auch die Republik Armenien und die
völkerrechtlich nicht anerkannte Republik Berg-Karabach kennen den juristischen Begriff
der Volkszugehörigkeit, wobei zwischen amtlicher und gewillkürter Volkszugehörigkeit
unterschieden wird. Die amtliche Volkszugehörigkeit wird mit der Geburt erworben und
richtet sich grundsätzlich nach der Volkszugehörigkeit des Vaters, ansonsten nach der
des Vaters der Mutter, wenn dieser unbekannt ist, nach der der Mutter.
Armenische Volkszugehörige können grundsätzlich die Enklave Berg-Karabach von
Deutschland aus über Armenien erreichen. Soweit der Einreisewillige über einen
gültigen Nationalpass verfügt, kann er aus der Republik Armenien in die Republik Berg-
Karabach einreisen, muss aber ein Einreisevisum in die Republik Berg-Karabach bei
deren ständiger Vertretung in Eriwan einholen. Für Personen ohne amtliche Papiere ist
zunächst eine Einreiseerlaubnis für Armenien erforderlich, mit der dann bei der
ständigen Vertretung der Republik Berg-Karabach in Eriwan die Weiterwanderung
beantragt werden kann.
Selbst das Fehlen des wirtschaftlichen Existenzminimums in Berg-Karabach rechtfertigt
nicht die Feststellung der Voraussetzungen des Art. 16 a GG, § 60 Abs. 1 AufenthG, da
das fehlende wirtschaftliche Existenzminimum nicht verfolgungsbedingt wäre.
Die in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über
Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder
Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz
benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie -
genannten Gefahren führen nur dann zur Anerkennung internationalen Schutzes, wenn
es sich um verfolgungsbedingte Gefahren handelt. Soweit wirtschaftliche Nachteile, die
am Ort der Verfolgung ebenso oder noch stärker bestehen als am Ort des internen
Schutzes, nicht verfolgungsbedingt sind, sind sie bei der Frage, ob von dem jeweiligen
Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, sich am Ort des internen
Schutzes aufzuhalten, nicht zu berücksichtigen.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden
vom 30. Oktober 2003 - 5 E 99/02.A (2) - wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten
werden nicht erhoben.
Der Beschluss ist hinsichtlich der Entscheidung über die Kosten vorläufig
vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe
der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
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Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der nach seinen Angaben am ... in Baku geborene Kläger beantragte am 11.
Oktober 2001 seine Anerkennung als Asylberechtigter und trug im Rahmen seiner
Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die
in armenischer Sprache durchgeführt wurde, im Wesentlichen vor, er spreche
armenisch, russisch und aserisch. Er besitze die aserbaidschanische
Staatsangehörigkeit, sei jedoch armenischer Volkszugehörigkeit. Papiere besitze
er keine, man habe ihnen 1990 die Pässe abgenommen. Er habe mit seiner
Ehefrau und den beiden Kindern in Baku gelebt. Seine Ehefrau sei
Aserbaidschanerin. Seine Ehefrau sowie die Kinder lebten noch bei seiner
Schwiegermutter in Baku. Er selbst habe als Schuhmacher gearbeitet, diesen
Beruf habe er 1983 bis 1988 ausgeübt, danach habe er zu Hause Schuhe repariert
und genäht. Am 15. Oktober 2001 habe er Baku verlassen und sei mit dem Pkw
nach Georgien gefahren. Von dort aus sei er am 22. Oktober 2001 mit dem
Flugzeug nach Deutschland gereist. Der Grund für seinen Weggang sei gewesen,
dass sein Onkel, der ebenfalls in Baku lebe, ihm gesagt habe, dass er ihn nach den
Vorfällen in der USA am 11. September des Jahres nicht mehr länger unterstützen
könne und dass er nicht mehr länger bei ihm bleiben könne. Sein Onkel habe
seinetwegen ständig Probleme gehabt. Die letzten fünf Jahre in Aserbaidschan
habe er überwiegend bei seinem Onkel gelebt. Seine Ehefrau und die Kinder seien
bereits bei der Schwiegermutter gewesen. Es sei sehr schlimm gewesen, er sei nie
rausgegangen, und wenn er rausgegangen sei, habe man ihn bespuckt. Auf seine
Tür sei auch ein Kreuz gemalt worden, und es seien Schimpfwörter geschrieben
worden. Sein Onkel sei seinetwegen dreimal geschlagen worden, bei dem letzten
Vorfall habe man versucht, ihn in den Wald zu entführen, wobei ihm angedroht
worden sei, ihn dort zu missbrauchen. Dies sei am 5. September 2001 gewesen.
Ein Schulfreund seiner Ehefrau habe dieser gesagt, dass er in Gefahr sei. Sie
hätten daraufhin alles verkauft und seine Flucht organisiert. Er habe auch
Probleme wegen seiner 14-jährigen Tochter, die in Gefahr sei. Man wisse nie, was
mit ihr irgendwann einmal passieren werde. Schließlich habe er auch seine Familie
nicht mehr ernähren können. Es habe keine Möglichkeit mehr gegeben, mit der
Familie zusammen zu leben.
Mit Bescheid vom 20. Dezember 2001 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers ab und stellte fest, dass
weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse
nach § 53 AuslG vorliegen. Des Weiteren wurde der Kläger aufgefordert, die
Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe bzw. im
Falle einer Klageerhebung innerhalb eines Monats nach unanfechtbarem
Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. für den Fall der Nichteinhaltung der
Ausreisefrist wurde ihm seine Abschiebung nach Aserbaidschan oder in einen
anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme
verpflichtet ist, angedroht.
Gegen den am 7. Januar 2002 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 18. Januar
2002 Klage vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden erhoben. Im Rahmen des
Klageverfahrens trug er im Wesentlichen vor, sein Vater sei armenischer
Volkszugehöriger und seine Mutter aserische Volkszugehörige gewesen. Sein
Vater sei 1993 nicht eines natürlichen, sondern eines gewaltsamen Todes
gestorben. Ein aserischer Kollege, der seit längerem die Stelle des Vaters habe
einnehmen wollen, habe mit Hilfe von Angehörigen der Volksfront den Vater
angegriffen und ihn erschlagen. Anschließend sei er unter einem Olivenbaum
gelegt worden, damit das Ganze wie ein Unfall aussehe. Dies habe ihm ein
Arbeitskollege seines Vaters mitgeteilt. Sein Onkel habe nach Bekanntwerden der
Hintergründe des Todes mit ihm die Volksfront aufgesucht und dort Anzeige
erstattet. Zehn Tage später habe der Onkel ihn gebeten zu verschwinden, da die
Volksfront ihn wegen seiner Anzeige suche. Diese Ereignisse seien während der
Anhörung vor dem Bundesamt nicht präzise zur Sprache gekommen. Am 1. Mai
1989 sei er von 15 jugendlichen Aseris misshandelt worden, wobei ihm drei obere
Vorderzähne und weitere Zähne ausgeschlagen worden seien. Auch sei er einmal
auf dem Nachhauseweg vom Markt von aserischen Personen überfallen und
erheblich mit einem Messer verletzt worden. Am 14. September 1997, seinem
Geburtstag, habe er sich in der Wohnung der Schwiegermutter aufgehalten, um
dort mit seiner Familie zu feiern. Aufgrund einer unvorsichtigen Bemerkung seiner
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dort mit seiner Familie zu feiern. Aufgrund einer unvorsichtigen Bemerkung seiner
Ehefrau sei bekannt gewesen, dass er zuhause war, am Abend seien dann vier
jugendliche aserische Schläger erschienen, die ihn derart misshandelt hätten,
dass er den Notarzt habe rufen müssen. Dieser habe ihm jedoch lediglich ein
Beruhigungsmittel gegeben und eine weitere ärztliche Versorgung verweigert, da
er Armenier sei. Die vor dem Bundesamt erwähnte Razzia habe nicht am 5.
September 2001, sondern zwischen dem 13. und 15. September 2001, also
wenige Tage nach dem 11. September 2001 stattgefunden. Seinem Onkel sei
danach die mit seiner Anwesenheit verbundene Belastung zu groß geworden,
sodass er zunächst zu seiner Schwiegermutter gezogen sei. Am 13. September
2001 habe eine Kontrolle der Milizen stattgefunden, um Armenier aufzuspüren. Er
habe durch ein Hinterfenster entkommen können und vorübergehend Schutz bei
einem jezidischen Nachbarn finden können. Am 15. September 2001 sei dann
seine Ehefrau zu dem Onkel gekommen und habe ihm mitgeteilt, dass er auf einer
Liste stehe, in den Wald gebracht und dort liquidiert werden solle. Daraufhin sei er
ausgereist.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung, die auf Antrag des Klägers nach einem
klagabweisenden Gerichtsbescheid vom 2. September 2003 am 16. Oktober 2003
stattfand, trug der Kläger darüber hinaus vor, seine Ehefrau stamme aus
Martakert, ihr Vater sei Armenier, ihre Mutter Aserbaidschanerin. Sie sei jedoch bei
ihrer Mutter groß geworden, zu ihrem Vater habe sie keinen Kontakt. Seine
Ehefrau spreche armenisch, allerdings nicht so gut. Untereinander sprächen sie
russisch, erst als ihre Kinder geboren worden seien, hätten sie damit angefangen,
nur armenisch mit den Kindern zu sprechen. Ein Außenstehender merke jedoch
sofort, dass armenisch nicht ihre Herkunftssprache sei. Nach Berg-Karabach (im
Folgenden auch Nagorny Karabach oder Gebirgiges Karabach genannt) könne er
nicht ziehen, da er dort wirtschaftlich nicht Fuß fassen könne. Auch habe er an
dem Krieg um Berg-Karabach nicht teilgenommen, sodass er deshalb große
Probleme bekommen werde. Er werde keine Arbeit finden und kein Haus oder
irgendeine Unterstützung bekommen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 20. Dezember 2002 zu verpflichten
festzustellen, dass er Asylberechtigter ist und in seiner Person die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG erfüllt sind;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG
vorliegen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Urteil vom 16. Oktober 2003 hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden die Klage
abgewiesen. Das Urteil ist dem Bevollmächtigten des Klägers am 10. November
2003 zugestellt worden. Auf Antrag des Bevollmächtigten des Klägers vom 21.
November 2003 hat der 3. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs mit
Beschluss vom 5. August 2004 – 3 UZ 3303/03.A – die Berufung gegen das Urteil
des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 16. Oktober 2003 zugelassen.
Der Kläger beantragt,
ihn unter Aufhebung des angefochtenen Urteils als Asylberechtigten
anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG – jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG – vorliegen,
hilfsweise festzustellen,
dass die Voraussetzungen nach § 53 AuslG – jetzt § 60 Abs. 2 – 7 AufenthG –
erfüllt sind.
Die Beklagte und der Beteiligte stellen keinen Antrag.
Der Senat hat zur Frage der Erreichbarkeit der inländischen Fluchtalternative Berg-
Karabach sowie zu den Ansiedlungsmöglichkeiten dort Beweis erhoben durch
Einholung sachverständiger Auskünfte des Auswärtigen Amtes, der Frau Dr. A.,
des B. s (Hans Konrad) sowie der (Walter Kaufmann).
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Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme sowie wegen der weiteren
Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die in der Gerichtsakte
befindlichen Schriftstücke, den Verwaltungsvorgang der Beklagten (1 Aktenheft)
sowie auf die den Beteiligten mitgeteilten Erkenntnisse zur Situation in Armenien
und Aserbaidschan Bezug genommen. Die Unterlagen sind insgesamt zum
Gegenstand der Beratung gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet über die Berufung des Klägers gemäß § 130 a VwGO durch
Beschluss, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung
für nicht erforderlich hält. Die Beteiligten sind auf die von dem Senat erwogene
Entscheidung hingewiesen und zu dieser Verfahrensweise gehört worden.
Die Berufung des Klägers, mit der er die Abänderung des Urteils des
Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 16. Oktober 2003 begehrt, ist aufgrund der
Zulassung durch den Senat und auch sonst zulässig, jedoch nicht begründet. Das
Verwaltungsgericht hat die Klage auch nach Durchführung der Beweisaufnahme
des Senats zu Recht abgewiesen, denn der Kläger hat weder einen Anspruch auf
Anerkennung als Asylberechtigter noch einen Anspruch auf Feststellung der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (vormals § 51 Abs. 1 AuslG) noch auf
Feststellung von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG (vormals
§ 53 Abs. 6 AuslG).
Hierbei kann dahinstehen, ob der von dem Kläger geltend gemachte Asylanspruch
bereits daran scheitert, weil er ggfs. aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des §
26 a AsylVfG eingereist ist, da ihm materiell weder ein Anspruch auf Anerkennung
als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG noch ein Anspruch auf Feststellung
der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG, dessen Voraussetzungen in dem
hier maßgeblichen Umfang mit denen des Art. 16 a GG übereinstimmen (vgl.
BVerwG, Ue. v. 26.10.1993 – 9 C 52.92 u. a. – EZAR 203 Nr. 2 = NVwZ 1994, 500;
u. v. 18.01.1995 – 9 C 48.92 – EZAR 230 Nr. 3 = NVwZ 1994, 497 zu der
Vorläufervorschrift des § 60 Abs. 1 AufenthG, § 51 Abs. 1 AuslG), zusteht.
Asylrecht und damit Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG genießt,
wer bei einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen
Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen
seiner persönlichen Freiheit zu erwarten hat (BVerfG, 02.07.1980 – 1 BvR 147/80 u.
a. –, BVerfGE 54, 341). Eine Verfolgung ist in Anlehnung an den Flüchtlingsbegriff
des Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GK als politisch im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG
anzusehen, wenn sie auf die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe oder die politische Überzeugung des Betroffenen
zielt (BVerfG, 01.07.1987 – 2 BvR 478/86 u. a. –, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr.
20; BVerwG, 17.05.1983 – 9 C 874.82 –, BVerwGE 67, 195 = EZAR 201 Nr. 5, u.
26.06.1984 – 9 C 185.83 –, BVerwGE 69, 320 = EZAR 201 Nr. 8). Diese spezifische
Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen Charakters der Verfolgung nach deren
erkennbarem Zweck und nicht nach den subjektiven Motiven des Verfolgenden zu
ermitteln (BVerfG, 10.07.1989 – 2 BvR 502/86 u. a. –, BVerfGE 80, 315, 344 =
EZAR 201 Nr. 20; zur Motivation vgl. BVerwG, 19.05.1987 – 9 C 184.86 –, BVerwGE
77, 258 = EZAR 200 Nr. 19). Werden nicht Leib, Leben oder physische Freiheit
gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die Religionsausübung oder
die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so sind allerdings nur solche
Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und Schwere die
Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des
Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen
haben (BVerfG, 02.07.1980 – 1 BvR 147/80 u. a. –, a. a. O., u. 01.07.1987 – 2 BvR
478/86 u. a. –, a. a. O.; BVerwG, 18.02.1986 – 9 C 16.85 –, BVerwGE 74, 31 =
EZAR 202 Nr. 7). Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist gegeben, wenn dem
Asylsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische
Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei die insoweit
erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten
gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren
Zeitraum ausgerichtet sein muss (BVerwG, 03.12.1985 – 9 C 22.85 –, EZAR 202
Nr. 6 = NVwZ 1986, 760 m. w. N.). Eine Verfolgung droht bei der Ausreise mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise die
für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und
deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG,
Urteil vom 14.12.1993 – 9 C 45.92 –, DVBl. 1994, 524, 525). Einem Asylbewerber,
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Urteil vom 14.12.1993 – 9 C 45.92 –, DVBl. 1994, 524, 525). Einem Asylbewerber,
der bereits einmal politisch verfolgt war, kann eine Rückkehr in seine Heimat nur
zugemutet werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (BVerfG, 02.07.1980 – 1 BvR
147/80 u. a. –, a. a. O.; BVerwG, 25.09.1984 – 9 C 17.84 –, BVerwGE 70, 169 =
EZAR 200 Nr. 12 m. w. N.). Nach diesem Maßstab wird nicht verlangt, dass die
Gefahr erneuter Übergriffe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist – über die theoretische Möglichkeit,
Opfer eines Übergriffs zu werden, hinaus – erforderlich, dass objektive
Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale
Möglichkeit erscheinen lassen (BVerwG, Urteil vom 08.09.1992 – 9 C 62/91 –,
NVwZ 1993, 191). Hat der Asylsuchende sein Heimatland unverfolgt verlassen, hat
er nur dann einen Asylanspruch, wenn ihm aufgrund eines asylrechtlich
erheblichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit droht (BVerfG, 26.11.1986 – 2 BvR 1058/85 –, BVerfGE 74, 51,
64 = EZAR 200 Nr. 18 = NVwZ 1987, 311 = InfAuslR 1987, 56, und 10.07.1989 – 2
BvR 502/86 u. a. –, a. a. O.; BVerwG, 20.11.1990 – 9 C 74.90 –, BVerwGE 87, 152 =
NVwZ 1991, 382 = InfAuslR 1991, 145 = EZAR 201 Nr. 22).
Der Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen
Mitwirkungspflicht gehalten, von sich aus umfassend die in seine eigene Sphäre
fallenden Ereignisse substantiiert und in sich schlüssig zu schildern sowie
eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien
nachvollziehbar aufzulösen, so dass sein Vortrag insgesamt geeignet ist, den
Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, 08.05.1984 – 9 C 141.83 –, EZAR 630
Nr. 13 = NVwZ 1985, 36, 12.11.1985 – 9 C 27.85 –, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR
1986, 79, u. 23.02.1988 – 9 C 32.87 –, EZAR 630 Nr. 25) und insbesondere auch
den politischen Charakter der Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG,
22.03.1983 – 9 C 68.81 –, Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG, u. 18.10.1983 – 9
C 473.82 –, EZAR 630 Nr. 8 = ZfSH/SGB 1984, 281). Bei der Darstellung der
allgemeinen Umstände im Herkunftsland genügt es dagegen, dass die
vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer
Verfolgung ergeben (BVerwG, 23.11.1982 – 9 C 74.81 –, BVerwGE 66, 237 = EZAR
630 Nr. 1).
Der Anspruch auf Asyl ist zwar ein Individualgrundrecht, und der
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist ebenfalls personenbezogen,
beide setzen deshalb eigene Verfolgungsbetroffenheit voraus. Die Gefahr eigener
politischer Verfolgung kann sich aber auch aus gegen Dritte gerichteten
Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines insoweit asylerheblichen
Merkmals verfolgt werden, das der Schutzsuchende mit ihnen teilt, und wenn er
sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsmöglichkeit vergleichbaren
Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von
ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist
(BVerfG, Beschluss vom 23.01.1991 – 2 BvR 902/85 u. a. –, BVerfGE 83, 216;
BVerwG, Urteile vom 23.02.1988 – 9 C 85.87 –, BVerwGE 79, 79 und vom
05.07.1994 – 9 C 158.94 –, BVerwGE 96, 200 ff.). Zu einer in diesem Sinne
verfolgungsbetroffenen Gruppe gehören alle Personen, die der Verfolger für seine
Verfolgungsmaßnahmen in den Blick nimmt; dies können entweder sämtliche
Träger eines zur Verfolgung anlassgebenden Merkmals – etwa einer bestimmten
Ethnie oder Religion – sein oder nur diejenigen von ihnen, die zusätzlich
(mindestens) ein weiteres Kriterium erfüllen, beispielsweise in einem bestimmten
Gebiet leben oder ein bestimmtes Lebensalter aufweisen; solchenfalls handelt es
sich um eine entsprechend – örtlich, sachlich oder persönlich – begrenzte
Gruppenverfolgung (BVerwG, Urteile vom 20.06.1995 – 9 C 294.94 –, NVwZ-RR
1996, 97, und vom 30.04.1996 – 9 C 171.95 –, BVerwGE 101, 134 sowie vom
09.09.1997 – 9 C 43.96 –, BVerwGE 105, 204 = DVBl. 1998, 274). Die Annahme
einer gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte
voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung jedes einzelnen
Gruppenmitglieds rechtfertigt; hierfür ist die Gefahr einer so großen Zahl von
Eingriffshandlungen in relevante Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht
mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine bloße
Vielzahl solcher Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr
im Verfolgungszeitraum und Gebiet auf alle sich dort aufhaltenden
Gruppenmitglieder zielen und in quantitativer und qualitativer Hinsicht so um sich
greifen, dass dort für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern
ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, Urteile
vom 15.05.1990 – 9 C 17.89 –, BVerwGE 85, 139 und vom 05.07.1994 – 9 C 158.94
–, a. a. O.).
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Bisweilen erstreckt sich die politische Verfolgung nicht auf das ganze Land,
sondern nur auf einen Landesteil, so dass der Betroffene in anderen Landesteilen
eine inländische Fluchtalternative finden kann. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, der insoweit nach Auffassung des
Bundesverwaltungsgerichts Bindungswirkung im Sinne des § 31 BVerfGG zukommt
(BVerwG, 15. Mai 1990 – 9 C 17.89 –, BVerwGE 85, 139 ff., 145 f.), setzt die
inländische Fluchtalternative voraus, dass der Asylbewerber in den in Betracht
kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm
jedenfalls auch dort keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer
Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus
politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am
Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, 10. Juli 1989 – 2 BvR 502/86 u. a. –,
BVerfGE 80, 315 ff., 343 f.). Zu diesen existentiellen Gefährdungen können vor
allem die nicht mögliche Wahrung eines religiösen oder wirtschaftlichen
Existenzminimums gehören (BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990, a. a. O.; Urteil vom
31. März 1992 – 9 C 40.91 –, DVBl. 1992, 1541). Es kommt darauf an, ob der
Betroffene an dem Ort der inländischen Fluchtalternative bei generalisierender
Betrachtung auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hat,
das zu Hunger, Verelendung und schließlich Tod führt (BVerwG, Urteil vom 8.
Februar 1989 – 9 C 30.87 –, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 104). Trotz der
grundsätzlich gebotenen generalisierenden Betrachtungsweise können aber auch
individuelle Umstände Berücksichtigung finden. So kann eine inländische
Fluchtalternative beispielsweise zu verneinen sein, wenn für den Vorverfolgten dort
wegen in seiner Person liegender Merkmale wie etwa Behinderung oder hohes
Alter das wirtschaftliche Existenzminimum nicht gewährleistet ist. Sie kann auch
dann zu verneinen sein, wenn der Vorverfolgte am Ort der Fluchtalternative keine
Verwandten oder Freunde hat, bei denen er Obdach oder Unterstützung finden
könnte, und ohne eine solche Unterstützung dort kein Leben über dem
Existenzminimum möglich ist (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 1993 – 9 C 45.92
–, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 166 Seite 403 <407> m. w. N.).
Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger aufgrund seiner Angaben vor dem
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, seiner Angaben im
Klageverfahren sowie aufgrund der in das Verfahren eingeführten
Erkenntnisquellen (Erkenntnisquellenliste Aserbaidschan sowie Armenien, versandt
am 22. April 2005), zu denen auch die im Rahmen der Beweisaufnahme
eingeholten Stellungnahmen des B. s vom 30. Oktober 2004, der Frau Dr. A. vom
11. November 2004, des Auswärtigen Amtes vom 6. April 2005 sowie der (Herr
Walter Kaufmann) vom 15. Juli 2005 sowie die Auskunft des B. s vom 16. April 2005
an das OVG Mecklenburg-Vorpommern, auf die die Beteiligten mit Verfügung der
Berichterstatterin vom 19. Juli 2005 hingewiesen worden sind, gehören, keinen
Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter sowie Feststellung der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.
Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat bereits in seinem Beschluss vom 30.
Mai 2003 – 3 UE 858/02.A – zu den Lebensbedingungen armenischer
Volkszugehöriger in Aserbaidschan unter Bezugnahme auf die Entscheidungen
des OVG Rheinland-Pfalz vom 20. September 2001 – 6 A 11840/00 – und des OVG
Schleswig-Holstein vom 12. Dezember 2002 – 1 L 239/01 – ebenso wie zum
Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative in Berg-Karabach Stellung
genommen. Auf diese Entscheidung, auf die der Kläger besonders hingewiesen
worden ist, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Der
Senat kommt auch nach der durchgeführten Beweisaufnahme zu dem Ergebnis,
dass der Kläger heute bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan am Ort der
inländischen Fluchtalternative – Berg-Karabach – hinreichend sicher vor erneuten
asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen ist, er dort auch nicht anderen
existentiellen Bedrohungen ausgesetzt ist, die so am Herkunftsort nicht
bestünden, und die Enklave Berg-Karabach von Deutschland aus über Armenien
erreichbar ist.
Zunächst ist die Enklave Berg-Karabach für den Kläger von Deutschland aus über
Armenien erreichbar.
Grundsätzlich besitzt jeder das Recht, in die Republik Berg-Karabach einzureisen
und dort zu leben. Dort leben bereits sowohl Aserbaidschaner als auch Personen
binationaler Abstammung. Bei den letztgenannten handelt es sich allerdings um
Menschen, die schon immer in Berg-Karabach lebten, vor dem Krieg, während des
Krieges und danach (vgl. Frau Dr. A. an Hess. VGH vom 11. November 2004). Eine
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Krieges und danach (vgl. Frau Dr. A. an Hess. VGH vom 11. November 2004). Eine
große Zahl der Bewohner von Berg-Karabach stammt aus Familien, die früher im
Kerngebiet von Aserbaidschan lebten. Viele der Bewohner haben daher einen
aserischen Hintergrund oder sind zumindest selbst nicht ausschließlich
armenischer Abstammung (vgl. Auswärtiges Amt an Hess. VGH vom 6. April
2005), wenn auch die Mehrzahl der Angehörigen armenisch-aserbaidschanische
Familien mittlerweile nicht mehr im Südkaukasus, sondern in der Russischen
Föderation lebt (vgl., Walter Kaufmann an Hess. VGH vom 15. Juli 2005). Nach
Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes sind in Berg-Karabach armenisch-
aserbaidschanische Mischehen/Familien bekannt, wobei dem Auswärtigen Amt
keine Anhaltspunkte darüber vorliegen, dass armenisch-aserbaidschanische
Familien nicht nach Berg-Karabach könnten, auch in dem Fall, wenn eine
aserbaidschanische Abstammung eines Ehepartners oder Elternteils bekannt
werden sollte (Auswärtiges Amt an Hess. VGH vom 6. April 2005). Hinsichtlich der
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie kennen sowohl die Republik
Aserbaidschan als auch die Republik Armenien und die völkerrechtlich nicht
anerkannte Republik Nagorny-Karabach den juristischen Begriff der
Volkszugehörigkeit. Dabei wird unterschieden nach der amtlichen
Volkszugehörigkeit und der gewillkürten Volkszugehörigkeit. Die amtliche
Volkszugehörigkeit wird mit Geburt erworben und in die standesamtlichen Register
und die ausgestellten Geburtsurkunden eingetragen. Sie richtet sich bei amtlich
registrierten Verheirateten oder im Falle des Vaterschaftsanerkenntnisses nach
der Volkszugehörigkeit des Vaters, ansonsten nach der des Vaters der Mutter,
wenn dieser unbekannt ist, nach der der Mutter. Die amtliche Volkszugehörigkeit
konnte und kann auf Antrag geändert werden. Die gewillkürte Volkszugehörigkeit
ist die Volkszugehörigkeit nach Selbstbestimmung, die etwa bei neueren
Volkszählungen nach der Unabhängigkeit anzugeben war. Eine "gemischte"
Volkszugehörigkeit gab und gibt es bisher in den genannten Republiken als
juristischen Begriff nicht und die Vorstellung, eine Person könne sowohl Armenier
als auch Aserbaidschaner oder "gemischter" oder "verschmolzener"
Volkszugehöriger sein, überschreitet die Vorstellungskraft der meisten Berg-
Karabacher. Für die Behörden ist eine Person daher entweder ein Armenier oder
ein Aserbaidschaner (B. vom 30. Oktober 2004 an Hess. VGH), wobei der Kläger
aufgrund der Tatsache, dass sein Vater armenischer Volkszugehöriger war, selbst
armenischer Volkszugehöriger ist, und darüber hinaus sowohl sein Vor- als auch
sein Nachname von nahezu jedem Armenier und Aserbaidschaner als armenisch
angesehen werden (die russische männliche Nachnahmesendung – ov ist bei
Armeniern aus Aserbaidschan häufig und unerheblich; vgl. B. vom 30. Oktober
2004, a.a.O.).
Für die Frage der legalen Einreise nach Berg-Karabach und damit die Frage der
Erreichbarkeit der inländischen Fluchtalternative ist zu unterscheiden, ob die
betreffende Person über einen Pass verfügt oder über einen sonstigen
anerkannten Status oder über keinerlei Ausweispapiere. Verfügt die Person über
einen gültigen Nationalpass und sei es ein Reisepass der Republik Aserbaidschan,
kann sie im Prinzip aus der Republik Armenien in die Republik Gebirgiges Karabach
einreisen, müsste aber ein Einreisevisum in die Republik Gebirgiges Karabach bei
deren ständiger Vertretung in Eriwan einholen. Die Volkszugehörigkeit, die auch in
die Reisepässe der Republik Aserbaidschan nicht eingetragen wird, wird auch im
berg-karabachischen Visumantrag nicht angegeben. Allerdings müssten bei einer
Ansiedlung in Berg-Karabach gegenüber den dortigen Behörden die persönlichen
Daten einschließlich der Namen und der amtlichen Volkszugehörigkeit der Eltern
genannt werden (vgl. B. vom 30. Oktober 2004, a.a.O.), was jedoch in Anbetracht
der Tatsache, dass der Kläger selbst armenischer Volkszugehöriger ist und nach
der Auskunft des Auswärtigen Amtes in Berg-Karabach viele Familien mit
aserischem Hintergrund oder zumindest nicht ausschließlich armenischer
Abstammung leben (Auswärtiges Amt vom 06.04.2005 a.a.O.) ohne Hinzutreten
weiterer Besonderheiten nicht problematisch sein dürfte. Zwar hat das B. in seiner
Stellungnahme vom 30. Oktober 2004 darauf hingewiesen, der bei ihm angestellte
Gutachter Hans Konrad habe gesprächsweise erfahren, dass ein Teil der örtlichen
Bevölkerung die Aserbaidschanerinnen und ihre armenischen Nachfahren
ausgrenze, ein anderer Teil aber nicht. Nachteilszufügungen durch Ortsansässige
oder durch Behörden seien jedoch aus den Jahren seit 2000 nicht bekannt
geworden. Leistungen von Behörden, auch etwa Krankenhausleistungen, dürften
auch eingesessene Personen mit aserbaidschanischer Mutter vermutlich nicht
erhalten oder nur nach weitaus höheren Zahlungen. Gleichzeitig weist das B.
darauf hin, dass dort kein Fall bekannt geworden ist, dass ein ethnischer
Aserbaidschaner nach Berg-Karabach eingewandert wäre und auch noch kein
Armenier mit aserbaidschanischer Mutter. Die Annahmen zur Behandlung solcher
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Armenier mit aserbaidschanischer Mutter. Die Annahmen zur Behandlung solcher
Personen durch die örtliche Bevölkerung oder durch die Behörden sei daher
spekulativ (vgl. B. vom 30. Oktober 2004, a.a.O.). Soweit das B. im Weiteren darauf
hinweist, dass im Falle einer Einziehung eines Armeniers mit aserbaidschanischer
Mutter zu den bewaffneten Kräften der Republik Gebirgiges Karabach oder aber im
Falle einer Inhaftnahme einer solchen Person die höchste Gefahr der Folter oder
der Tötung bestehe (vgl. B. vom 30. Oktober 2004, a.a.O.), ist dies bereits deshalb
nicht relevant für das vorliegende Verfahren, da nicht ersichtlich ist, dass der im
Jahr 1959 geborene Kläger zu den bewaffneten Kräften der Republik Gebirgiges
Karabach eingezogen werden könnte.
Für Personen ohne amtliche Papiere ist die legale Einreise nach Berg-Karabach nur
über die ständige Vertretung der Republik Berg-Karabach in Eriwan möglich (vgl.
Frau Dr. A. vom 11. November 2004, a.a.O., sowie B. vom 30. Oktober 2004,
a.a.O.), wobei der Gutachter Walter Kaufmann von der in der Auskunft vom 15. Juli
2005 an den Hess. VGH davon ausgeht, dass ein in Deutschland befindlicher
Armenier, der über keine Dokumente verfügt, für die Einreise nach Armenien ein
sogenanntes "Dokument zur Rückkehr" benötigt, das erst nach langwieriger –
insbesondere bei Verbleib eines Armeniers in Aserbaidschan auch nach den
Vertreibungen im Jahr 1991 – Prüfung der Lebensumstände bis zur Übersiedlung
erteilt werden dürfte. In Anbetracht der Tatsache, dass seit Anfang der 90-er Jahre
eine Einreise nach Berg-Karabach aus dem Ausland nur auf dem Landweg und nur
über die Republik Armenien möglich ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die
asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 28.
Dezember 2004) gehen auch die übrigen Gutachter davon aus, dass Personen
ohne Reisepässe und damit ohne Visa für Berg-Karabach zunächst eine
Einreiseerlaubnis für Armenien erhalten müssen. Personen armenischer
Volkszugehörigkeit (in Armenien auch als "Nationalität" bezeichnet) ohne
armenische Staatsangehörigkeit haben die Möglichkeit, an der Grenze nach
Armenien einen Antrag auf Flüchtlingsstatus, Asyl und in bestimmten Fällen auch
auf die Anerkennung der armenischen Staatsangehörigkeit (Art. 10 Abs. 3
Armenisches Staatsangehörigkeitsgesetz) zu stellen (vgl. Auswärtiges Amt vom 6.
April 2005, a.a.O.). In Armenien halten sich nach offiziellen Angaben 235.926
(noch) nicht eingebürgerte Flüchtlinge auf. Diese Zahl wird jedoch nach inoffiziellen
Aussagen des UNHCR und IOM aufgrund von massiver Abwanderung als viel zu
hoch angesehen. Im Juni 2003 wurden bei einer offiziellen Zählung von
Flüchtlingsfamilien, welche bei ihrer Unterbringung staatlicher Hilfe bedürfen, noch
3.470 solcher Familien gezählt. Nach inoffiziellen Angaben des UNHCR und IOM
wurden vor drei Jahren bei einem Zensus lediglich 70.000 Flüchtlinge gezählt.
Diese Zahl wurde von verschiedenen Seiten als zu niedrig angezweifelt, sollte aber
verdeutlichen, dass die offiziellen Flüchtlingszahlen zu hoch sind. Die sich in
Armenien aufhaltenden, nicht eingebürgerten Flüchtlinge sind weit überwiegend
armenische Volkszugehörige, die ihre früheren Siedlungsgebiete in Aserbaidschan,
Nagorny Karabach, Abchasien, Tschetschenien und anderen Staaten verlassen
haben. Flüchtlinge armenischer Volkszugehörigkeit haben einen Rechtsanspruch
auf den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit. Voraussetzung ist der
Verzicht auf den Flüchtlingsstatus, der mit einer Antragstellung einhergeht. Der
Großteil der Flüchtlinge macht vom Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit
keinen Gebrauch, da mit Staatsangehörigkeitserwerb die Hilfeleistungen des
Staates eingestellt werden. Außerdem bestünde in diesem Falle Wehrpflicht. Mit
Verordnung vom Oktober 1999 wurde in Armenien ein Reisedokument gemäß Art.
28 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 eingeführt, erste Exemplare wurden
im April 2000 an armenische Volkszugehörige aus Aserbaidschan ausgegeben.
Das Dokument wird von den GUS-Mitgliedsstaaten und inzwischen auch von
Deutschland akzeptiert. Nach Angaben von UNHCR haben mit Stand Juli 2004 von
1999 bis 2004 60.523 Flüchtlinge die armenische Staatsangehörigkeit
angenommen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und
abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 28. Dezember 2004).
Staatsangehörige der Republik Armenien und in Armenien anerkannte Flüchtlinge
und Asylberechtigte mit entsprechenden Papieren benötigen für die Einreise nach
Berg-Karabach keine Visa. Für diesen Personenkreis ist eine
Wohnsitznahme/Ansiedlung in Karabach problemlos möglich – sogar öffentlich
erwünscht und teilweise durch Sachleistungen und/oder finanzielle Anreize
gefördert (vgl. Auswärtiges Amt an Hess. VGH vom 06.04.2005). Der Kläger hätte
mithin die Möglichkeit, einen Antrag auf "Flüchtlingsstatus" zu stellen und damit
seine Reisefreiheit nach Berg-Karabach zu gewährleisten. Einwandern wollende
Ausländer ohne einen Nationalpass, durchweg armenische Volkszugehörige,
sprechen jedoch immer zunächst in der ständigen Vertretung der Republik
Gebirgiges Karabach in Eriwan vor, regelmäßig in Begleitung von Bürgen. Die
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Gebirgiges Karabach in Eriwan vor, regelmäßig in Begleitung von Bürgen. Die
ständige Vertretung in Eriwan nimmt den "Rückwanderungsantrag" entgegen und
leitet ihn an das Außenministerium der Republik Gebirgiges Karabach in
Stepanakert weiter. Nach Überprüfung der Person sowie der Beweggründe für eine
Einwanderung – die Bearbeitungszeit des Antrags kann über ein Jahr
beanspruchen – erhält die betroffene Person ggfs. eine Einreiseerlaubnis, bzw. die
Erlaubnis zur dauerhaften Niederlassung, wobei im Falle einer selbstständig
finanzierten dauerhaften Niederlassung ohne Weiteres eine Aufenthaltserlaubnis
für 10 Jahre erteilt wird (vgl. B. vom 30. Oktober 2004, a.a.O.).
Aufgrund dieser Ausführungen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die
inländische Fluchtalternative Berg-Karabach für den Kläger erreichbar ist. Er kann
entweder durch Beantragung des "Flüchtlingsstatus" in Armenien ggfs. mit Erhalt
eines Flüchtlingsausweises nach Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention oder
durch Beantragung einer Einreiseerlaubnis nach Berg-Karabach in der ständigen
Vertretung in Eriwan seine Einreise erreichen, auch wenn die Bearbeitungszeit der
Anträge ggfs. einige Zeit in Anspruch nehmen kann. Dies ist jedoch zumutbar, da
der Kläger als armenischer Volkszugehöriger in Armenien sich dort wird
vorübergehend aufhalten können und einer Arbeit nachgehen kann, die es ihm
ermöglichen wird, die Zwischenzeit bis zur Einreise nach Berg-Karabach zu
überbrücken. Zwar muss hierbei auch berücksichtigt werden, dass Flüchtlinge, die
aus Aserbaidschan oder Abchasien kommend auf staatliche Hilfe angewiesen sind,
von einem Staat Hilfe erbitten, der kaum über eigene Ressourcen verfügt. Im
Rahmen der Flüchtlingsprogramme des UNHCR werden jedoch alle
Flüchtlingsgruppen auch heute noch betreut, um bei der Schaffung einer
Lebensgrundlage unterstützend zur Seite zu stehen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht
über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 28.
Dezember 2004). In diesem Zusammenhang weisen sowohl Frau Dr. A. als auch
das B. darauf hin, dass eine Einwanderung in die Sozialsysteme von Berg-
Karabach nicht stattfinde, da die Republik Gebirgiges Karabach nicht willens und
nicht in der Lage sei, hilfsbedürftigen Zuwanderern außerhalb eines der erwähnten
Zuwanderungsprogramme auch nur Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Selbst
ein Großteil der bereits von 1988 bis 1992 aus anderen Teilen Aserbaidschans
zugewanderten "Altflüchtlinge" armenischer Volkszugehörigkeit sei noch immer in
Notunterkünften untergebracht (vgl. B. vom 30.10.2004, a.a.O.), und die Wirtschaft
in Berg-Karabach liege danieder (vgl. Dr. A. vom 11.11.2004). Soweit der
Bevollmächtigte des Klägers vorträgt, der Kläger werde keine Einreiseerlaubnis
bekommen, da er keinen Nationalpass von Berg-Karabach besitze, handelt es sich
offensichtlich um ein Missverständnis, da die Einreiseerlaubnis nach den dem
Senat vorliegenden Auskünften nicht abhängig vom Besitz eines Nationalpasses
der Republik Gebirgiges Karabach ist. Soweit der Bevollmächtigte des Klägers
damit zum Ausdruck bringen will, dass der Kläger bei Ansiedlung in Berg-Karabach
keine staatliche Unterstützung erhalten wird, wovon auch der Senat ausgeht,
handelt es sich hierbei nicht um die Frage der Erreichbarkeit der inländischen
Fluchtalternative, sondern um die weiter unten zu beantwortende Frage der
Existenzmöglichkeit am Ort der inländischen Fluchtalternative. Nach den
eingeholten Auskünften geht der Senat davon aus, dass bei entsprechender
Mitarbeit des Klägers dieser zunächst nach Armenien wird einreisen können, sich
dort zur ständigen Vertretung von Berg-Karabach in Eriwan begeben kann, um
dort seine Einreiseerlaubnis nach Berg-Karabach zu beantragen oder seinen
Flüchtlingsstatus durch Armenien anerkennen zu lassen mit der Folge der
Reisefreiheit auch für Berg-Karabach.
Der Kläger wird am Ort der inländischen Fluchtalternative auch nicht anderen
existentiellen Bedrohungen ausgesetzt sein, die so am Herkunftsort nicht
bestünden. Hierbei verkennt der Senat nicht, dass die Lebensbedingungen in
Berg-Karabach schwierig sind und der Kläger mit staatlicher Unterstützung nicht
wird rechnen können. Der Kläger, der die russische und die armenische Sprache
beherrscht, wird sich in Berg-Karabach ansiedeln können, da die Beherrschung
dieser beiden Sprachen ausreichend für eine Ansiedlung dort ist. In Anbetracht der
Tatsache, dass die Ehefrau des Klägers aus Martakert, dem Norden von Berg-
Karabach, stammt, wird es ihm bei gemeinsamer Rückkehr mit seiner Ehefrau dort
noch eher möglich sein, Fuß zu fassen, als für einen Armenier gänzlich ohne Bezug
nach Berg-Karabach. Wird eine Ansiedlung dort nicht möglich sein, wird der Kläger
unter Aufwendung eigener Mittel in der Landwirtschaft tätig sein müssen, wobei
nicht unterstellt werden kann, dass in der Landwirtschaft Arbeitsplätze für
Außenstehende zur Verfügung stehen. Der Senat verkennt nicht, dass dies für den
Kläger besondere Schwierigkeiten aufwirft, da er zuvor nach seinen Angaben nicht
in der Landwirtschaft tätig war. Hierauf kommt es jedoch, worauf der Senat in
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in der Landwirtschaft tätig war. Hierauf kommt es jedoch, worauf der Senat in
seinem Beschluss vom 30. Mai 2003 – 3 UE 858/02.A – bereits hingewiesen hat,
nicht entscheidungserheblich an, da selbst wenn für den Kläger das wirtschaftliche
Existenzminimum in Berg-Karabach nicht gewährleistet wäre, dies nicht die
Feststellung der Voraussetzungen des Art. 16 a GG, § 60 Abs. 1 AufenthG
rechtfertigt, denn das fehlende wirtschaftliche Existenzminimum wäre nicht
verfolgungsbedingt. Auf die entsprechenden Ausführungen in dem Beschluss des
Senats vom 30. Mai 2003 (– 3 UE 858/02.A –, S. 17 ff. des Beschlussumdruckes)
wird verwiesen. In diesem Zusammenhang ist für den Senat mit entscheidend,
dass sich die wirtschaftliche Situation in Aserbaidschan nicht verbessert hat,
während dies in Armenien insgesamt der Fall ist. In Aserbaidschan leben 49 % der
Bevölkerung in Armut, viele unter dem Existenzminimum (vgl. Auswärtiges Amt,
Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik
Aserbaidschan vom 28.01.2005). Die medizinische Versorgung in Aserbaidschan
ist zusammengebrochen, besonders betroffen sind Rentner, Flüchtlinge aus den
besetzten Gebieten und Kranke. Zwar hat die wirtschaftliche Lage in Armenien
ebenfalls zur Folge, dass viele Armenier das Land verlassen wollen. Gleichwohl hat
sich die Versorgungslage in der Republik Armenien dahingehend entwickelt, dass
ein breites Warenangebot in- und ausländischer Produzenten vorhanden ist.
Wegen der Blockade durch die Türkei und Aserbaidschan gelangen
Lebensmittelimporte aus Griechenland, Iran, Georgien und der Türkei über die
georgische und iranische Grenze nach Armenien. Auch die umfangreichen
Hilfsmaßnahmen der Gebergemeinschaft tragen dazu bei, dass sich die
Lebenssituation für sozial Bedürftige in den letzten Jahren erheblich verbessert
hat. Rund 100.000 Personen werden jedoch noch vom World-Food-Programm der
Vereinten Nationen versorgt. Die Energieversorgung ist grundsätzlich gesichert,
Leitungswasser steht dagegen, insbesondere in den Sommermonaten, zwar
täglich, aber meistens nur stundenweise zur Verfügung. Die medizinische
Versorgung ist in Armenien flächendeckend grundsätzlich gewährleistet. Ein
Gesetz über die kostenlose medizinische Behandlung im Gesundheitswesen
besteht seit 1997, da das kostenlose Gesundheitssystem, das zu Sowjetzeiten
existiert hatte, mit deren Zerfall weggefallen war (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht
über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 28.
Dezember 2004). Zwar ist die Republik Armenien völkerrechtlich nicht für Berg-
Karabach zuständig. Das Gebiet gehört aus Sicht aller Staaten zu Aserbaidschan.
Faktisch hat die aserbaidschanische Regierung jedoch keine tatsächliche Kontrolle
und keinen Zugang zu dem Gebiet. Seit Jahren wird von armenischer Seite
versucht, mit staatlichen Unterstützungen in der Zuweisung von Wohnraum,
Grundstücken, Steuerbefreiungen etc. und humanitären Hilfsgütern Personen in
Berg-Karabach anzusiedeln. Für diesen Personenkreis werden auch einmalige
finanzielle Mittel für Familien zur Verfügung gestellt, die Höhe hängt von der
Personenzahl ab. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Geberländer oder
humanitäre Hilfsorganisationen von der Hilfslieferung bestimmte Personengruppen
ausschließen und bei Hilfsbedürftigen Unterschiede wegen des Geschlechts oder
anderer Merkmale gemacht werden. Das gesetzlich festgeschriebene
Existenzminimum beträgt in Armenien wie auch in Berg-Karabach 24.000 Dram im
Monat (derzeit ca. 38,70 €). Das Gesetz zur kostenlosen medizinischen
Versorgung der Republik Armenien gilt in Berg-Karabach nicht, aber dort gilt ein
vergleichbares und im Grundsatz fast identisches Gesetz. Staatliche
Unterstützungen im Sozialbereich sind auch vorhanden, jedoch aufgrund
knapperer Mittel nicht für eine so große Gruppe wie in Armenien. Es werden
zunächst die wirklich mittellosen Familien versorgt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht
über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien, 28.
Dezember 2004). Sind, wie in dem Beschluss vom 30. Mai 2003 – 3 UE 858/02.A –
unter Bezugnahme auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23. Mai 2002 an
das VG Schleswig ausgeführt (S. 17 unten des Beschlussabdrucks), die
Lebensbedingungen in Berg-Karabach eher mit denen in Armenien als mit denen
in Aserbaidschan zu vergleichen, sind die existentiellen Gefährdungen, die der
Kläger ggfs. bei einer Rückkehr nach Berg-Karabach zu befürchten hätte, nicht
verfolgungsbedingt, da er sich am Ort der inländischen Fluchtalternative unter
wirtschaftlichen und existentiellen Gesichtspunkten nicht schlechter stehen würde
als in seiner Herkunftsregion, hier in Baku.
Soweit der Bevollmächtigte des Klägers meint, dass Gebot der
richtlinienkonformen Anwendung stehe der Annahme einer inländischen
Fluchtalternative entgegen, kann dem nicht gefolgt werden.
Der Bevollmächtigte des Klägers meint insoweit, Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG
des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den
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des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den
Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als
Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt
des zu gewährenden Schutzes – Qualifikationsrichtlinie – (Amtsblatt Nr. L 304 vom
30/09/2004, S. 12 ff.) stehe der Annahme einer inländischen Fluchtalternative, dort
interner Schutz, entgegen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie können
die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz
feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in
einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine
tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht, und von dem
Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem
Landesteil aufhält. Gemäß Art. 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie berücksichtigen
die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die
Voraussetzungen nach Abs. 1 erfüllt, die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und
die persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung
über den Antrag. Gemäß Art. 8 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie kann Abs. 1 auch
dann angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das
Herkunftsland bestehen. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie ermächtigt die
Mitgliedsstaaten zunächst grundsätzlich, den internationalen Schutz
einzuschränken, wenn die betreffende Person in einem Teil des Herkunftslandes
internen Schutz genießt. Der Bevollmächtigte des Klägers stellt insoweit die Frage,
ob von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in dem
Landesteil – Berg-Karabach – aufhält oder ob dieser nur unter unzumutbaren
Bedingungen erreichbar ist. Der Kläger wird, um den Ort des internen Schutzes
aufsuchen zu können, notwendigerweise über Armenien reisen müssen. Aufgrund
der Tatsache, dass er selbst armenischer Volkszugehöriger ist – die
Volkszugehörigkeit leitet sich, wie bereits oben ausgeführt, von dem Vater des
Klägers ab – wird er in Armenien aufgenommen werden, und, soweit er den
Flüchtlingsstatus beantragt, sogar in Hilfsprogramme aufgenommen werden.
Eventuelle Wartezeiten um zum Ort des internen Schutzes gelangen zu können,
wird er daher in Armenien überbrücken können, wo ihn aufgrund seiner
armenischen Volkszugehörigkeit auch keine sonstigen Benachteiligungen
erwarten. Dass die Lebensbedingungen in Berg-Karabach schwierig sind, könnte
der Annahme entgegenstehen, dass von dem Antragsteller vernünftigerweise
erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält. Hierbei ist auch zu
berücksichtigen, dass, wie sich aus den eingeholten Auskünften ergibt, für
Außenstehende, d. h. nicht aus Berg-Karabach stammende Personen, keine
Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und die Ansiedlung dort eigene Mittel
voraussetzt, um etwa eine kleine Landwirtschaft oder ähnliches zu erwerben und
davon zu existieren. Wie sich aus dem gesamten Regelungsgefüge der
Qualifikationsrichtlinie ergibt, muss es sich jedoch bei den Gefahren, die zur
Anerkennung internationalen Schutzes führen, um verfolgungsbedingte Gefahren
handeln. Soweit wirtschaftliche Nachteile, die am Ort der Verfolgung ebenso oder
noch stärker bestehen als am Ort des internen Schutzes, nicht verfolgungsbedingt
sind, sind sie bei der Frage, ob von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet
werden kann, sich am Ort des internen Schutzes aufzuhalten, nicht zu
berücksichtigen. Im Übrigen verfügt der Kläger, wie bereits oben ausgeführt, über
Bezugspunkte in Nagorny-Karabach, da seine Ehefrau aus Martakert stammt und
er daher dort einen familiären Anknüpfungspunkt hat.
Dem Kläger steht schließlich auch nicht der in erster Instanz hilfsweise geltend
gemachte Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von
Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG (§ 53 AuslG) zu,
über den infolge der Abweisung des Hauptantrags in der Berufungsinstanz zu
entscheiden ist. Es ist nicht erkennbar, dass für den Kläger in Aserbaidschan, dort
in der Enklave Berg-Karabach, die Gefahr der Folter bzw. die Gefahr der
Todesstrafe besteht (§ 60 Abs. 2 und 3 AufenthG). Ebenso wenig sind die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Hinblick auf die
Enklave Berg-Karabach gegeben. Diese Bestimmung setzt das Vorliegen einer
individuellen konkreten Gefahr voraus, unmenschlich oder erniedrigend behandelt
zu werden. Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG sind nicht
gegeben. Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in
einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine
erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Für eine solche
konkret individuelle Gefährdung des Klägers gibt es keine Anhaltspunkte. Gefahren
in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der
Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind – also hier die Rückkehrgefährdung
armenischer Volkszugehöriger in die Enklave Berg-Karabach ohne persönlichen
Bezug hierzu – werden bei der Entscheidung nach § 60 a AufenthG berücksichtigt
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Bezug hierzu – werden bei der Entscheidung nach § 60 a AufenthG berücksichtigt
(§ 60 Abs. 7 AufenthG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
zu den §§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG, die auf die Rechtslage des
Aufenthaltsgesetzes zu übertragen ist und der der Senat folgt, ist dies bei
allgemeinen Gefahrenlagen auch ohne Vorliegen einer Entscheidung nach § 60 a
AufenthG der Fall, sofern eine solche allgemeine Gefahrenlage eine extreme
Zuspitzung erfahren hat, sodass ein abzuschiebender Ausländer "gleichsam
sehenden Auges" dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt
wäre. Denn für diesen Fall gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2
Satz 1 GG in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG
die Gewährung von Abschiebungsschutz (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 – 9 C
9.95 – BVerwGE 99, 324). Eine derart extrem zugespitzte Gefahrenlage ist von
dem Kläger weder vorgetragen, noch aufgrund der von dem Senat eingeholten
Erkenntnismittel für diesen ersichtlich.
Hierbei ist die Benennung von Aserbaidschan als Zielstaat der Abschiebung ohne
Einschränkung auf einen sicheren Gebietsteil nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichtes auch dann nicht zu beanstanden, wenn der Kläger
außerhalb der Enklave Berg-Karabach materiell politische Verfolgung zu
befürchten hätte und nur in der Enklave Berg-Karabach hinreichend sicher sein
sollte. § 59 Abs. 2 AufenthG gebietet weder in den Fällen regionaler (oder örtlich
begrenzter) politischer Verfolgung noch bei nicht landesweit bestehenden
Abschiebungshindernissen im Sinne des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG die
Abschiebungsandrohung auf das sichere Teilgebiet des Abschiebezielstaats zu
beschränken (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.1999 – 9 C 4/99 –, juris, Online
Datenbanken, Asylis zu der Vorgängervorschrift des § 50 Abs. 2 AuslG). Nach § 59
Abs. 2 AufenthG soll in der Abschiebungsandrohung der Staat bezeichnet werden,
in den der Ausländer abgeschoben werden soll und der Ausländer darauf
hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden
kann, in den er ausreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist.
Hat der Ausländer in seinem Heimatstaat politische Verfolgung zu befürchten oder
bestehen dort Abschiebungshindernisse, scheidet dieser als Zielstaat einer
Abschiebung nur dann aus, wenn ihm die Gefahren landesweit drohen oder er das
sichere Gebiet im Heimatstaat nicht erreichen kann (vgl. BVerwG, a. a. O. unter
Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 – 2 BvR 502 u. a./86 – BVerfGE 80,
315 <342 ff.>; BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 – BVerwGE 99, 324
<330>; Urteil vom 08.12.1998 – 9 C 17.98 –). Ist dies nicht der Fall, kann dem
Ausländer grundsätzlich trotz regionaler Verfolgung oder in Gebietsteilen
drohender Gefahren die Abschiebung in diesen Staat angedroht werden. Hiervon
geht auch § 59 Abs. 2 AufenthG aus, ohne eine Differenzierung zwischen sicheren
und gefährlichen Landesteilen vorzusehen. Gleichwohl wäre es nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, unzulässig,
den Ausländer in eine Region des Zielstaates abzuschieben, in dem ihm politische
Verfolgung oder Gefahren drohen, die ein Abschiebungshindernis begründen. Es
ist Sache der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde sicherzustellen,
dass der Ausländer nicht in die Arme von Verfolgern oder in gefährliche Gebiete
abgeschoben wird. Um dies zu vermeiden, hat die Ausländerbehörde vor der
Abschiebung eines erfolglosen Asylbewerbers die Ergebnisse des abgeschlossenen
Asylanerkennungsverfahrens sorgfältig daraufhin zur Kenntnis zu nehmen, ob dem
ausreisepflichtigen Ausländer regionale Verfolgung oder sonst erhebliche Gefahren
in Teilen des Abschiebezielstaates drohen und er deshalb möglicherweise nur in
bestimmten Gebieten sicher ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.1999, a. a. O.). Die
Beklagte war daher nicht verpflichtet, in der Abschiebungsandrohung die
Abschiebung dahingehend zu beschränken, dass ausschließlich eine Abschiebung
in die Enklave Berg-Karabach als zulässig angesehen wird.
Die Berufung ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO
zurückzuweisen. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylVfG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.
10, 711 Satz 1 ZPO i.V.m. § 167 VwGO.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben (§ 132 Abs. 2 VwGO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.
die obersten Bundesgerichte erfolgt.