Urteil des HessVGH vom 26.03.1990
VGH Kassel: politische verfolgung, gerichtsakte, ausreise, asylverfahren, wahrscheinlichkeit, entführung, persönliche freiheit, beschneidung, bundesamt, religionsunterricht
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 2970/86
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16 Abs 2 S 2 GG, § 1
Abs 1 AsylVfG, § 4 Abs 1
AsylVfG
(Asylbegehren christlicher Türken syrisch-orthodoxen
Glaubens - Situation von christlichen jüngeren Frauen und
Minderjährigen)
Tatbestand
Die ... 1954 -- laut Paß und Nüfus in Bardakci, Bez. Midyat, Provinz Mardin, --
geborene Beigeladene zu 1) und der am 13. März 1960 -- laut Paß in Nusaybin,
Provinz Mardin, -- geborene A D haben 1978 kirchlich und im April 1979
standesamtlich geheiratet; der am 27. Juli 1979 -- laut Nüfus ebenfalls in Nusaybin
-- geborene Beigeladene zu 2) ist ihr gemeinsames Kind. Beide Beigeladenen sind
türkische Staatsangehörige syrisch-orthodoxen Glaubens. Sie reisten am 24.
Dezember 1979 -- mit dem Flugzeug aus Istanbul kommend -- über den Flughafen
Frankfurt am Main in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Beigeladene zu 1)
verfügte über einen am 5. September 1979 in Mardin ausgestellten und für zwei
Jahre gültigen Nationalpaß, in dem auch der Beigeladene zu 2) eingetragen war.
Nach der darin enthaltenen Nüfuseintragung sowie nach den Eintragungen in ihren
Nüfen sind die Beigeladenen in dem Dorf Kantar, Bez. Nusaybin, Provinz Mardin,
registriert. Die Beigeladene zu 1) ist im Besitz eines Fremdenpasses und -- seit
dem 23. September 1985 -- einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der
Familienzusammenführung.
Der Ehemann bzw. Vater A D der Beigeladenen war bereits am 17. März 1979 in
die Bundesrepublik Deutschland eingereist; er wurde rechtskräftig als
Asylberechtigter anerkannt (VG Wiesbaden I/1 E 5614/80). Aus der Ehe zwischen
der Beigeladenen zu 1) und A D sind -- abgesehen von dem Beigeladenen zu 2) --
die am 15. Januar 1981 geborene K, der am 20. Januar 1982 geborene M und der
am 16. März 1987 geborene T hervorgegangen. Der am 29. Juni 1980 ins
Bundesgebiet gekommene Schwieger- bzw. Großvater I D der Beigeladenen ist
ebenfalls rechtskräftig anerkannter Asylberechtigter (VG Wiesbaden IX/1 E
5653/83). Das Asylverfahren der Schwieger- bzw. Großmutter F D der
Beigeladenen, die am 11. Februar 1984 eingereist war, ist noch in zweiter Instanz
rechtshängig (Hess. VGH 12 UE 2702/86). Von den insgesamt acht Geschwistern
des Ehemannes der Beigeladenen zu 1) sind noch sechs am Leben. Die am 3.
Februar 1950 geborene M ist seit 1965 verheiratet und lebt in Schweden. Die am
1. Januar 1953 geborene K kam nach den Angaben mehrerer Familienangehöriger
in deren Asylverfahren im Alter von sieben oder acht Jahren durch einen Steinwurf
eines muslimischen Mädchens ums Leben. Der am 1. Januar 1956 geborene I und
seine Familie reisten zusammen mit der Schwieger- bzw. Großmutter der
Beigeladenen ein; ihr Asylverfahren ist noch in zweiter Instanz rechtshängig (Hess.
VGH 12 UE 2998/86). Die am 1. Januar 1958 geborene L war schon am 24.
Dezember 1979 ins Bundesgebiet gekommen; sie ist rechtskräftig anerkannte
Asylberechtigte (VG Wiesbaden X/2 E 5620/83). Der am 1. Januar 1961 geborene D
kam -- den Angaben mehrerer Familienangehöriger in deren Asylverfahren zufolge
-- gegen Anfang oder Mitte der 70er Jahre in der Türkei zu Tode. Der am 22. Juni
1966 geborene A reiste am 29. Juni 1980 zusammen mit dem Schwieger- bzw.
Großvater der Beigeladenen ins Bundesgebiet ein; auch sein Asylverfahren ist
noch in der Berufungsinstanz rechtshängig (Hess. VGH 12 UE 2997/86). Der am
18. April 1971 geborene A kam ebenfalls zusammen mit dem Schwieger- bzw.
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18. April 1971 geborene A kam ebenfalls zusammen mit dem Schwieger- bzw.
Großvater der Beigeladenen am 29. Juni 1980 in die Bundesrepublik Deutschland;
er hat kein Asylverfahren betrieben, ist aber im Besitz eines Fremdenpasses und --
seit dem 13. Mai 1987 -- einer Aufenthaltserlaubnis. Die -- laut Paß -- am 1.
Februar 1977 geborene H reiste zusammen mit der Schwieger- bzw. Großmutter
der Beigeladenen am 11. Februar 1984 ins Bundesgebiet ein; ihr Asylverfahren
schwebt noch in zweiter Instanz (Hess. VGH 12 UE 2702/86). Die Eltern M und M C
der Beigeladenen zu 1) sowie vier ihrer fünf Brüder und zwei ihrer drei Schwestern
leben in den Niederlanden, die beiden verbleibenden Geschwister befinden sich im
Bundesgebiet.
Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 30. August 1984 beantragte die
Beigeladene zu 1) ihre Anerkennung als Asylberechtigte mit folgender
Begründung: Zunächst werde auf den Asylantrag ihres Ehemannes Bezug
genommen. Sie selbst sei -- abweichend von den Eintragungen in ihren
Personalpapieren -- in dem Dorf Bate geboren; eine Schule habe sie nicht besucht.
Ihr Vater habe in einer Tonfabrik gearbeitet. Nach ihrer Heirat sei sie nach Odabasi
gezogen. Die Situation sei in beiden Dörfern vergleichbar gewesen: Mehr oder
weniger regelmäßig hätten Überfälle moslemischer Banden stattgefunden, denen
die christlichen Dorfbewohner schutzlos ausgeliefert gewesen seien. Auch in
Odabasi seien häufiger christliche Mädchen von jungen Moslems entführt worden,
ohne daß die Polizei etwas unternommen habe. Schließlich habe sie, die
Beigeladene zu 1), sich in der Türkei nicht mehr sicher gefühlt. Einen Asylantrag
stelle sie erst jetzt, weil der frühere Bevollmächtigte ihres Ehemannes dies
zunächst versäumt habe und weil sie den Ausgang des Asylverfahrens ihres
Ehemannes habe abwarten wollen.
Bei ihrer persönlichen Anhörung bei der Ausländerbehörde am 20. September
1984 gab die Beigeladene zu 1) als Geburtsort "Midyat", als Religion "syr.-orth."
und als letzte Anschrift im Heimat-/Herkunftsland "Odabasi" an; unter der Rubrik
Sprachkenntnisse wurde "aramäisch" eingetragen.
Anläßlich der Anhörung der Beigeladenen zu 1) im Rahmen der Vorprüfung durch
das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 21. Januar 1985
in Schwalbach wurde das Asylbegehren durch Ankreuzen auch auf den
Beigeladenen zu 2) und die im Bundesgebiet geborenen Kinder bzw. Geschwister K
und M der Beigeladenen erstreckt. Außerdem ergänzte die Beigeladene zu 1) ihre
Angaben bei der Ausländerbehörde wie folgt: Sie habe keine Schule besuchen
können, da christliche Mädchen von Moslems entführt worden seien. Nach ihrer
Eheschließung, als sie das elterliche Haus in Bardakci (Boteh) verlassen gehabt
habe, sei dieses überfallen und ausgeplündert worden; ihre Familie habe nur durch
Flucht der Ermordung entkommen können. Ihren Vater, der zunächst aus den
Niederlanden in die Türkei zurückgeschickt worden sei, habe man dort sofort
festgenommen; nur mit anwaltlicher Hilfe sei er freigekommen und habe erneut
ausreisen können. Sie selbst habe nach ihrer Eheschließung zusammen mit ihrem
Mann und nach dessen Ausreise bei ihrer Schwiegermutter in Odabasi gewohnt;
sie hätten von der Bewirtschaftung vom Staat gepachteter Baumwollfelder gelebt.
Nachts seien wiederholt Kurden auf den Hof gekommen und hätten ihre
Schwiegermutter, die -- anders als sie selbst -- auf den Hof hinausgegangen sei,
nach dem Aufenthalt ihres, der Beigeladenen zu 1), Ehemannes gefragt. Sie habe
nicht schon zusammen mit ihrem Ehemann ausreisen können, weil sie seinerzeit
schwanger gewesen sei. Ihr sei von dem früheren Bevollmächtigten ihres
Ehemannes und den Behörden zunächst erklärt worden, daß sie als Frau eines
Asylberechtigten ebenfalls anerkannt würde und daß es eigener Antragstellung
nicht bedürfe. Sie habe auch deshalb erst so spät Asyl beantragt, weil es bei
gemeinsamen Reisen Schwierigkeiten gebe, wenn sie lediglich eine
Aufenthaltserlaubnis besitze. Sie wolle, daß auch ihre in Deutschland geborenen
Kinder K und M obgleich diesen nichts in der Türkei widerfahren sei, anerkannt
würden.
Mit Bescheid vom 23. Mai 1986 -- dem Bundesbeauftragten für
Asylangelegenheiten zugestellt am 4. Juni 1986 -- entschied das Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, daß die Beigeladenen als
Asylberechtigte anerkannt, die Anträge ihrer in der Bundesrepublik geborenen
Kinder bzw. Geschwister K und M hingegen abgelehnt würden. Zur Begründung
wurde ausgeführt: Bezüglich der Beigeladenen seien die Voraussetzungen des Art.
16 Abs. 2 Satz 2 GG als erfüllt anzusehen; es sei nämlich kein Anhaltspunkt dafür
ersichtlich, daß die Kriterien, die zur Anerkennung des Ehemannes bzw. Vaters der
Beigeladenen geführt hätten, für sie nicht zutreffen könnten. Dagegen bedürften
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Beigeladenen geführt hätten, für sie nicht zutreffen könnten. Dagegen bedürften
die Kinder bzw. Geschwister K und M keines asylrechtlichen Schutzes, weil ihnen
als im Bundesgebiet geborenen Kindern asylberechtigter Eltern aus Art. 6 GG
bereits eine aufenthaltsrechtliche Stellung zustehe, die derjenigen von
gleichaltrigen Asylberechtigten entspreche, und weil -- abgesehen hiervon --
jedenfalls zur Zeit der Heimatstaat auch keinen Rückkehranspruch -- etwa zur
Ableistung des Wehrdienstes -- geltend mache, so daß nicht geklärt zu werden
brauche, ob die beiden Minderjährigen bei alleiniger Rückkehr asylrelevanten
Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wären.
Mit Schriftsatz vom 24. Juni 1986, der am 27. Juni 1986 einging, erhob der
Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hiergegen hinsichtlich der
Beigeladenen Klage.
Zur Begründung trug er vor: Die Anerkennung des Ehemannes bzw. Vaters der
Beigeladenen sei nach dem heutigen Erkenntnisstand nicht mehr haltbar, so daß
sich hieraus kein Asylanspruch der Beigeladenen ableiten lasse. Im übrigen fehle
es bei ihnen an einer persönlichen Betroffenheit durch Verfolgungsmaßnahmen.
Schließlich seien sie auch unglaubwürdig, was etwa die späte Antragstellung zeige,
die nicht auf ein Anwaltsverschulden zurückgeführt werden könne, sondern auf
dem Wunsch problemloserer gemeinsamer Reisen beruhe. Ferner widerspreche
die Behauptung, man habe keine Schule besuchen können, den Angaben des
Schwagers A D der Beigeladenen zu 1) in dessen Asylverfahren und der Tatsache,
daß sie in einem rein christlichen Dorf gewohnt hätten. Ergänzend sei die
Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative anzuführen.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beantragte sinngemäß,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 23. Mai 1986 hinsichtlich der Beigeladenen aufzuheben.
Die Beklagte stellte zu der Klage keinen Antrag.
Die Beigeladenen beantragten,
die Klage abzuweisen.
In der mündlichen Verhandlung am 20. August 1986 erklärte die Beigeladene zu
1): Sie habe aus Angst vor Mißhandlungen durch moslemische Mitschüler in der
Türkei keine Schule besucht. Da christliche Mädchen von Moslems entführt worden
seien, habe sie auch Angst gehabt, sich außerhalb des Dorfes aufzuhalten. Einmal
hätten Moslems ihr Elternhaus ausgeraubt und ihnen nur das gelassen, was sie
auf dem Leibe getragen hätten; sie und ihre Mutter hätten angesichts der
Drohungen der Moslems nichts weiter unternommen.
Das Verwaltungsgericht wies mit Urteil vom 20. August 1986 die Klage unter
Zulassung der Berufung ab und führte zur Begründung aus: Die Beigeladenen
seien als Asylberechtigte anzuerkennen, denn sie seien politisch Verfolgte i.S.d.
Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG. Politisch Verfolgter sei ein Ausländer, der in seiner
Person liegenden Eigenschaften wegen oder aufgrund seiner Überzeugungen
Verfolgungsmaßnahmen staatlicher Organe seines Heimat- oder Herkunftslandes
erlitten oder zu befürchten habe. Diese Voraussetzungen erfüllten die
Beigeladenen, da sie als syrisch-orthodoxe Christen einer Gruppe angehörten, die
in jüngster Zeit in asylrechtlich erheblicher Weise verfolgt worden sei. Es erscheine
allerdings zweifelhaft, ob von einer religiösen Gruppenverfolgung gesprochen
werden könne; die Situation stelle sich eher als eine Verfolgung wegen der
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe dar, nämlich einer durch das
gemeinsame Merkmal des christlichen Glaubens verbundenen Minderheit. Nach
1960 sei die syrisch-orthodoxe Minderheit zunehmend nicht mehr in der Lage
gewesen, sich gegen die vornehmlich aus Neid und Feindseligkeit erfolgten
Übergriffe türkischer Moslems zu wehren. Staatliche Hilfe hätten die Christen nur
in seltenen Fällen zu erlangen vermocht. Insofern treffe die Stellungnahme von
Monsignore Wilschowitz vom 9. April 1981 den Kern der Sache, wenn es sich
hierbei auch um eine vereinfachende Darstellung der Situation der Christen in der
Türkei handele. Die Beklagte habe die Lage der Christen in zahlreichen Bescheiden
(etwa vom 10. Dezember 1982 -- Tür-T-13538 --) ebenfalls zutreffend geschildert.
Da die Beigeladenen nach ihren glaubhaften Darlegungen in der Türkei mit
feindlich gesinnten Moslems in Berührung gekommen seien, könne auch nicht
davon ausgegangen werden, daß sie von der allgemein stattfindenden
Gruppenverfolgung der Christen in der Türkei ausgenommen gewesen seien.
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Gruppenverfolgung der Christen in der Türkei ausgenommen gewesen seien.
Zudem müßten sie bei einer Rückkehr in die Türkei befürchten, dort in asylrechtlich
erheblicher Weise verfolgt zu werden. Zwar habe sich insgesamt gesehen die
Sicherheitslage nach dem Militärputsch am 12. September 1980 deutlich
verbessert. Dies gelte jedoch -- bedingt durch zunehmende Abwanderung -- nicht
für die christlichen Minderheiten, so daß von einer weiterhin bestehenden
Gruppenverfolgung gesprochen werden müsse. Schließlich gebe es keine
Möglichkeit, der Gruppenverfolgung innerhalb der Türkei auszuweichen. Die als
inländische Fluchtalternative in Betracht kommenden Großstädte Istanbul und
Ankara seien nicht in der Lage, die große Zahl der abgewanderten Christen
aufzunehmen und ihnen das Existenzminimum zu gewährleisten. Die Rückkehr der
Christen würde deshalb voraussichtlich zu Spannungen führen, die sich zu
pogromartigen Übergriffen steigern könnten. Letzten Endes könne aber
dahinstehen, ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Minderheit der Christen in der
Türkei verfolgt werde; sie müsse hiermit jedenfalls in absehbarer Zukunft ernsthaft
rechnen; denn die weitere Entwicklung lasse sich vor dem Hintergrund der
wachsenden Islamisierungstendenzen nicht sicher abschätzen. Nach alledem sei
den Beigeladenen Asyl zu gewähren.
Gegen dieses ihm am 9. Oktober 1986 zugestellte Urteil hat der
Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten mit Schriftsatz vom 31. Oktober 1986
-- eingegangen am 3. November 1986 -- Berufung eingelegt.
Er macht geltend: In dem angefochtenen Urteil werde abweichend von der
ständigen Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und anderer
Obergerichte eine Gruppenverfolgung christlicher Minderheiten in der Türkei
angenommen. Auch das individuelle Schicksal der Beigeladenen weise keine
Anhaltspunkte für eine bereits erlittene oder künftig drohende asylrelevante
Verfolgung auf.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beantragt sinngemäß,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 23. Mai 1986 hinsichtlich der Beigeladenen und das Urteil des
Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 20. August 1986 aufzuheben.
Die Beklagte stellt zu der Berufung keinen Antrag.
Die Beigeladenen beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie beziehen sich auf das angefochtene Urteil und ihr bisheriges Vorbringen und
machen darüber hinaus geltend, daß eine Verweisung syrisch-orthodoxer Christen
auf Istanbul als inländische Fluchtalternative jedenfalls gegenwärtig nicht mehr
möglich sei, weil dort ihr religiöses Existenzminimum nicht gewährleistet wäre.
Der Senat hat aufgrund der Beschlüsse vom 29. November 1989 und vom 8. März
1990 Beweis erhoben über die Asylgründe der Beigeladenen und über die Frage
der Rückkehrbereitschaft der Beigeladenen zu 1) und ihres Ehemannes durch
Vernehmung der Beigeladenen zu 1) als Beteiligten und deren Ehemannes A D als
Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschriften
vom 23. Januar 1990 und vom 26. März 1990 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die von diesen eingereichten Schriftsätze, den einschlägigen
Vorgang des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge -- Gz.:
163/05900/84 -- und die über die Beigeladene zu 1) geführte
Ausländerbehördenakte des Landrats des Landkreises Offenbach -- Gz.: 5/28503 --
Bezug genommen, ferner auf die über den Ehemann bzw. Vater A D der
Beigeladenen (Bundesamt Tür-T-11815 u. VG Wiesbaden I/1 E 5614/80) sowie auf
die über dessen Eltern I (Bundesamt 163/73991/80 u. VG Wiesbaden IX/1 E
5653/83) und F D (Bundesamt 163/05174/84, VG Wiesbaden II E 5566/86 = Hess.
VGH 12 UE 2702/86 u. Landrat des Landkreises Offenbach 5/34735 <2 Hefter>)
und auf die über dessen Geschwister I D nebst Familie (Bundesamt 163/05175/84,
VG Wiesbaden II E 5475/86 = Hess. VGH 12 UE 2998/86 u. Landrat des
Landkreises Offenbach 5/34739 u. 5/34740 <3 Hefter>), L D (Bundesamt Tür-S-
31469, VG Wiesbaden X/2 E 5620/83 u. Landrat des Landkreises Offenbach
5/27885), A D (Bundesamt 163/05897/84, VG Wiesbaden II E 5438/86 = Hess. VGH
12 UE 2997/86 u. Landrat des Landkreises Offenbach 5/32389 <2 Hefter>) sowie
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12 UE 2997/86 u. Landrat des Landkreises Offenbach 5/32389 <2 Hefter>) sowie
H D geführten Bundesamts-, Gerichts- und Ausländerbehördenakten, schließlich
auf die über den Onkel G L des Ehemannes bzw. Vaters der Beigeladenen
(Bundesamt Tür-W-607 u. Landrat des Landkreises Offenbach 5/21749) und auf die
über die Ehefrau M des verstorbenen Cousins M D; der Mutter F D des Ehemannes
bzw. Vaters der Beigeladenen (Bundesamt Tür-S-25331) geführten Bundesamts-
und Ausländerbehördenakten. Diese sind ebenso Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen wie die nachfolgend aufgeführten Dokumente:
2. 11.04.1979
Auswärtiges Amt an Bay. VGH
3. Mai/Juni 1979 pogrom Nr. 64 (Yonan: "Die Lage der christlichen
Minderheiten in der Türkei" u.a.)
4. 07.08.1979
Dr. Harb-Anschütz an Bay. VGH
5. 12.11.1979
epd Dokumentation Nr. 49/79: "Christliche Minderheiten aus
der Türkei"
6. Nov. 1979
Ev. Akademie Bad Boll, Materialdienst 2/80: "Christen aus
der Türkei suchen Asyl"
7. Mai 1980
pogrom Nr. 72/73 (Yonan: "Der unbekannte Völkermord an den
Assyrern 1915 -- 1918" u.a.)
8. 20.05.1980
Patriarch Yakup III und Bischof Cicek vor dem VG
Gelsenkirchen
9. 15.10.1980
Carragher an Bay. VGH
10. 09.04.1981 Msgr. Wilschowitz: "Die Situation der christlichen
Minderheiten in der Türkei"
11. 29.04.1981 Reisebericht einer schwedisch-norwegischen Reisegruppe
12. 02.05.1981 Dr. Hofmann: "Zur Lage der Armenier in
Istanbul/Konstantinopel"
13. 12.06.1981 Prof. Dr. Kappert vor VG Hamburg
14. 06.07.1981 Staatssekretär von Staden (BT-Drs. 9/650)
15. 20.07.1981 IGFM an VG Wiesbaden
16. 22.07.1981 Vocke an VG Karlsruhe
17. 04.08.1981 Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden
18. 24.11.1981 RA Wiskandt an Bundesamt: "Situation der Christen in der
Türkei"
19. 21.01.1982 Schweiz. Ev. Pressedienst Nr. 3
20. 03.02.1982 Auswärtiges Amt an VG Minden
21. 26.03.1982 Auswärtiges Amt an VG Trier
22. 07.04.1982 Pfarrer Diestelmann: "Die Situation der syrisch-orthodoxen
Christen ..."
23. 19.04.1982 Carragher zum Gutachten Wiskandt
24. 28.04.1982 Dr. Hofmann zum Gutachten Wiskandt
25. 06.05.1982 Diakonisches Werk EKD zum Gutachten Wiskandt
26. 18.05.1982 Ev. Gemeinde dt. Sprache in der Türkei an EKD
27. 26.07.1982 Sürjanni Kadim an VG Minden
28. 17.08.1982 Dr. Harb-Anschütz an VG Minden
29. 1983
Kraft, in "Christ in der Gegenwart": "Fremde und
Außenseiter"
30. Mai 1983
Ev. Akademie Bad Boll, Protokolldienst 27/83:
"Studienfahrt in die Türkei"
31. 25.05.1984 Auswärtiges Amt an VG Karlsruhe
32. 12.06.1984 epd Dokumentation Nr. 26/84: "Die Lage der christlichen
Minderheiten in der Türkei ..."
33. 26.06.1984 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
34. 11.09.1984 Auswärtiges Amt an Hess. VGH
35. 14.09.1984 Dr. Oehring an VG Minden
36. 09.11.1984 Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
37. 03.12.1984 RA Müller, RA Wiskandt, Dr. Oehring und Erzbischof Cicek
als sachverständige Zeugen vor dem Bay. VGH
38. 1985
Anschütz: "Die syrischen Christen vom Tur'Abdin"
39. 04.02.1985 Dr. Hofmann an VG Stuttgart
40. 17.03.1985 Prof. Dr. Wießner an VG Stuttgart
41. 07.05.1985 Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg
42. 30.05.1985 Dr. Oehring an VG Gelsenkirchen
43. 22.06.1985 RA Müller: "Reisebericht zur Lage der Christen in der
Türkei"
44. 07.10.1985 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
45. 01.07.1986 EKD an VG Hamburg
46. 14.10.1986 Prof. Dr. Wießner an VG Hamburg
47. 06.01.1987 Dr. Tasci vor VG Gelsenkirchen
48. 07.04.1987 Yonan: Gutachten
49. 23.04.1987 Yonan an Bundesamt; Stellungnahme
50. 01.06.1987 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
51. 30.06.1987 Ev. Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei an VGH
Baden-Württemberg
52. 06.07.1987 Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
53. 18.12.1987 Auswärtiges Amt an OVG Bremen
54. 15.01.1988 Dr. Oehring an VGH Baden-Württemberg
55. April 1988
Regine Erichsen: "Die Religionspolitik im türkischen
Erziehungswesen von der Atatürk-Ära bis heute" in:
Zeitschrift für Kulturaustausch 1988, S. 234 ff.
56. 15.05.1988 Taylan an VG Karlsruhe
57. 25.05.1988 Dr. Oehring an VG Düsseldorf
58. Juli 1988
Auswärtiges Amt -- Bericht zur "Lage der Christen in der
Türkei"
59. 11.07.1988 Dr. Oehring an VG Kassel
60. 02.09.1988 Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg
61. 24.09.1988 Dr. Binswanger an VG Karlsruhe
62. 02.11.1988 Taylan an Hess. VGH
63. Dez. 1988 Gesellschaft für bedrohte Völker -- Gutachten --
64. 09.12.1988 Pfarrer Klautke vor VG Köln
65. 08.01.1989 Wochenzeitschrift "Ikibine Dogru": "Die geheimen
Beschlüsse des islamischen internationalen Rates sind
enthüllt."
66. 12.01.1989 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
67. 17.01.1989 Auswärtiges Amt an Hess. VGH
68. 27.01.1989 Dr. Binswanger an Hess. VGH
69. März 1989 Gesellschaft für bedrohte Völker: "Wie einst die
Hugenotten -- Glaubensflüchtlinge heute" in: Vierte Welt
Aktuell Nr. 79
70. 20.03.1989 Dr. Oehring an VG Ansbach
71. 02.04.1989 Dr. Oehring an Hess. VGH
72. 09.06.1989 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
73. 01.07.1989 Sternberg-Spohr u.a. in terre des hommes
"Religionsverfolgte aus der Türkei -- politische Verfolgte
oder Scheinasylanten"
74. 04.09.1989 Taylan an OVG Koblenz
75. 18.10.1989 Auswärtiges Amt an OVG Münster
76. Nov. 1989 Weber/Günter/Reuter: "Zur Lage der Christen in der
Türkei", Bericht einer ökumenischen Besuchsreise vom
31.08. bis 11.09.1989 unter Leitung von Dr. Oehring
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77. 22.01.1990 Taylan vor Hess. VGH
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist frist- und
formgerecht eingelegt (§§ 124, 125 VwGO) und auch sonst zulässig; sie ist nämlich
vom Verwaltungsgericht zugelassen worden (§ 32 Abs. 1 AsylVfG).
II.
Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist aber nicht
begründet, denn das Verwaltungsgericht hat die sog. Beanstandungsklage des
Bundesbeauftragten jedenfalls nach der auch insoweit maßgeblichen Sach- und
Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz
(BVerwG 17.10.1989 -- 9 C 58.88 --, EZAR 631 Nr. 10; Hess. VGH, 24.03.1988 -- 10
UE 2520/85 --, 02.09.1988 -- 10 UE 2518/85 -- u. 24.02.1989 -- 10 UE 2013/85 --)
im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
Allerdings besteht an der Zulässigkeit der vom Bundesbeauftragten erhobenen
Anfechtungsklage kein Zweifel, denn dessen Klagebefugnis ergibt sich aus § 5 Abs.
2 Satz 3 AsylVfG, und die Klagefrist ist ebenfalls gewahrt (§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO
i.V.m. § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO u. § 12 Abs. 8 AsylVfG).
Jedoch ist die Klage des Bundesbeauftragten unbegründet, denn die Beigeladenen
haben nach der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt Anspruch auf
Anerkennung als Asylberechtigte, weil sie politisch verfolgt sind (§§ 1 Abs. 1, 4 Abs.
1 AsylVfG i.V.m. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG).
Asylrecht als politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genießt,
wer bei einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen
Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen
seiner persönlichen Freiheit zu erwarten hat (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80
u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Eine Verfolgung ist in Anlehnung an
den Flüchtlingsbegriff des Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GK als politisch im Sinne von Art.
16 Abs. 2 Satz 2 GG anzusehen, wenn sie auf die Rasse, Religion, Nationalität,
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die politische
Überzeugung des Betroffenen zielt (BVerfG, 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --,
BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 17.05.1983 -- 9 C 874.82 --,
BVerwGE 67, 195 = EZAR 201 Nr. 5, u. 26.06.1984 -- 9 C 185.83 --, BVerwGE 69,
320 = EZAR 201 Nr. 8). Diese spezifische Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen
Charakters der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den
subjektiven Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, 10.07.1989 -- 2 BvR
502/86 u.a. --, BVerfGE 79, 315 = EZAR 201 Nr. 20; zur Motivation vgl. BVerwG,
19.05.1987 -- 9 C 184.86 --, BVerwGE 77, 258 = EZAR 200 Nr. 19). Werden nicht
Leib, Leben oder physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie
etwa die Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so
sind allerdings nur solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und
Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die
Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein
hinzunehmen haben (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, a.a.O., u.
01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --, a.a.O.; BVerwG, 18.02.1986 -- 9 C 16.85 --,
BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7). Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist
gegeben, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände
seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei
die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der
letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren
Zeitraum ausgerichtet sein muß (BVerwG, 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, EZAR 202
Nr. 6 = NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch
verfolgt war, kann eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die
Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen ist (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, a.a.O.; BVerwG,
25.09.1984 -- 9 C 17.84 --, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12 m.w.N.). Der
Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht
gehalten, umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse zu schildern,
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gehalten, umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse zu schildern,
die seiner Auffassung zufolge geeignet sind, den Asylanspruch zu tragen (BVerwG,
08.05.1984 -- 9 C 141.83 --, EZAR 630 Nr. 13 = NVwZ 1985, 36, 12.11.1985 -- 9 C
27.85 --, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR 1986, 79, u. 23.02.1988 -- 9 C 32.87 --, EZAR
630 Nr. 25) und insbesondere auch den politischen Charakter der
Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG, 22.03.1983 -- 9 C 68.81 --,
Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG, u. 18.10.1983 -- 9 C 473.82 --, EZAR 630
Nr. 8 = ZfSH/SGB 1984, 281). Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im
Herkunftsland genügt es dagegen, daß die vorgetragenen Tatsachen die nicht
entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, 23.11.1982
-- 9 C 74.81 --, BVerwGE 66, 237 = EZAR 630 Nr. 1). Die Gefahr einer
asylrelevanten Verfolgung kann schließlich nur festgestellt werden, wenn sich das
Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem
Asylbewerber behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschafft, wobei
allerdings der sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im
Verfolgerstaat bei der Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des
Vortrags und der Beweise angemessen zu berücksichtigen ist (BVerwG,
12.11.1985, a.a.O.).
Der erkennende Senat ist nach diesen Grundsätzen aufgrund der eigenen
Angaben und Aussagen der Beigeladenen zu 1) und des vernommenen Zeugen,
der beigezogenen Akten und der in das Verfahren eingeführten Dokumente zu der
Überzeugung gelangt, daß die Beigeladenen zwar nicht kraft innerstaatlich
geltender völkerrechtlicher Vereinbarung als Asylberechtigte anzuerkennen sind
(1.) und sie auch vor ihrer Ausreise weder als Mitglieder der Gruppe der syrisch-
orthodoxen Christen politisch verfolgt (2.) noch persönlich von
Verfolgungsmaßnahmen betroffen (3.) waren und deshalb als unverfolgt
ausgereist anzusehen sind, ferner daß die Beigeladenen auch bei einer Rückkehr
in die Türkei keine Gruppenverfolgung zu befürchten haben (4.), daß sie dann aber
persönlich politischer Verfolgung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ausgesetzt
sein werden (5. u. 6.).
1. Die Beigeladenen, an deren syrisch-orthodoxer Glaubenszugehörigkeit der
Senat in Anbetracht der Angaben im Asylantrag vom 30. August 1984 und bei den
Anhörungen der Beigeladenen zu 1) bei der Ausländerbehörde und durch das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 20. September
1984 bzw. 21. Januar 1985 sowie der Eintragung "Hiristiyan" in ihren Nüfen und in
Kenntnis des Vorbringens der Verwandten bzw. Verschwägerten der Beigeladenen
in deren jeweiligen Asylverfahren keine Zweifel hegt, können ihre Anerkennung
nicht (schon) aufgrund des Abkommens über die Ausdehnung gewisser
Maßnahmen zugunsten russischer und armenischer Flüchtlinge auf andere
Kategorien von Flüchtlingen vom 30. Juni 1928 (abgedruckt in: Societe des
Nations, Recueil des Traites, Bd. 89 <1929>, S. 64) erreichen. Da die
Beigeladenen 1954 und 1979 geboren sind und erst 1979 die Türkei verlassen
haben, kann dieses Abkommen auf sie ohnehin nicht angewandt werden (ständige
und vom BVerwG durch Urteil vom 17.05.1985 -- 9 C 874.82 --, BVerwGE 67, 195
= EZAR 201 Nr. 5, bestätigte Rechtsprechung des Hess. VGH, vgl. z.B. 11.08.1981
-- X OE 649/81 --, ESVGH 31, 268, 07.08.1986 -- X OE 189/82 --, 01.02.1988 -- 12
OE 419/82 -- sowie 04.12.1989 -- 12 UE 2652/85 u. 12 UE 63/86 --). Der Senat
kann deshalb offenlassen, ob dem durch die genannte Vereinbarung geschützten
Personenkreis überhaupt noch ein Anspruch auf Asylanerkennung oder
Asylgewährung in anderer Form zusteht, nachdem § 39 Nr. 4 AsylVfG die bis dahin
in § 28 AuslG enthaltene Bezugnahme auf Art. 1 GK und die dort in Abschn. A Nr. 1
enthaltene Verweisung auf die erwähnte Vereinbarung ersatzlos beseitig hat und
eine Asylanerkennung nunmehr allein an die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 2
Satz 2 GG anknüpft (vgl. dazu auch Berberich, ZAR 1985, 30 ff., Köfner/Nicolaus,
ZAR 1986, 11, 15, und zu Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GK BVerwG, 25.10.1988 -- 9 C
76.87 --, EZAR 200 Nr. 22).
2. Der Senat hat auch nicht feststellen können, daß die Angehörigen der syrisch-
orthodoxen Minderheit in der Türkei bis zur Ausreise der Beigeladenen einer
unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt waren.
Asylerhebliche Bedeutung haben nicht nur unmittelbare Verfolgungsmaßnahmen
des Staats; dieser muß sich vielmehr auch Übergriffe nichtstaatlicher Personen
und Gruppen als mittelbare staatliche Verfolgungsmaßnahmen zurechnen lassen,
wenn er sie anregt, unterstützt, billigt oder tatenlos hinnimmt und damit den
Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR
147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Eine derartige staatliche
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147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Eine derartige staatliche
Verantwortlichkeit kommt aber nur in Betracht, wenn der Staat wegen fehlender
Schutzfähigkeit oder -willigkeit zum Schutz gegen Ausschreitungen oder Übergriffe
nicht in der Lage ist, wobei dem Staat für Schutzmaßnahmen besonders bei
spontanen und schwerwiegenden Ereignissen eine gewisse Zeitspanne zugebilligt
werden muß (BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --, BVerwGE 79, 79 = EZAR 202 Nr.
13). Asylrelevante politische Verfolgung -- und zwar sowohl unmittelbar staatlicher
als auch mittelbar staatlicher Art -- kann sich nicht nur gegen Einzelpersonen,
sondern auch gegen durch gemeinsame Merkmale verbundene Gruppen von
Menschen richten mit der regelmäßigen Folge, daß jedes Gruppenmitglied als von
dem Gruppenschicksal mitbetroffen anzusehen ist (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR
147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1, u. 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86
u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 599.81 --,
BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1, u. 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --, a.a.O.). Die
Annahme einer Gruppenverfolgung setzt eine Verfolgungsdichte voraus, die in
quantitativer Hinsicht die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen
aufweist, daß ohne weiteres von einer aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit jedes
Gruppenmitglieds gesprochen werden kann (BVerwG, 08.02.1989 -- 9 C 33.87 --,
EZAR 202 Nr. 15 = NVwZ-RR 1989, 502). Als nicht verfolgt ist nur derjenige
Gruppenangehörige anzusehen, für den die Verfolgungsvermutung widerlegt
werden kann; es kommt nicht darauf an, ob sich die Verfolgungsmaßnahmen
schon in seiner Person verwirklicht haben (BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --,
a.a.O.). Auch eine frühere Gruppenverfolgung führt für die Betroffenen zur
Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs hinsichtlich künftiger
Verfolgung (BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --, a.a.O.).
Der Senat legt seiner Beurteilung der Lage der Christen in der Türkei im
allgemeinen und der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft im besonderen
sowie des Verhältnisses dieser Christen zu anderen dort lebenden religiösen und
ethnischen Gruppen die nachfolgend anhand der vorliegenden schriftlichen
Unterlagen (im folgenden nur noch mit der entsprechenden Nr. der Liste von S. 9
ff. bezeichnet) auszugsweise dargestellte historische Entwicklung der christlichen
Siedlungsgemeinschaften im Nahen Osten zugrunde.
Die Anhänger der syrischen Kirchen siedelten ursprünglich im mesopotamischen
Raum, und zwar im Bergland des Tur'Abdin mit dem Zentrum Midyat, im weiter
östlich gelegenen Bergland von Bohtan, im alpenähnlichen Hochgebirge Hakkari
und weiter südlich in der Mosul-Ebene sowie in der Urmia-Ebene. Nachdem im 7.
Jahrhundert im Zuge der Arabisierung die Mehrheit dieser Christen zum Islam
übergetreten war und dann mongolische Eindringlinge Ende des 14. Jahrhunderts
die syrischen Kirchen bis auf wenige Überreste vernichtet hatten, erlebten sowohl
die syrisch-orthodoxen als auch die anderen im Osmanischen Reich lebenden
Christen vom Ende des 15. Jahrhunderts an eine vergleichsweise friedliche und
gesicherte Periode (38., S. 18), in der einigen der christlichen Kirchen -- allerdings
nicht der syrisch-orthodoxen (3., S. 46) -- der Status als "millat" zuerkannt wurde,
so daß sie ihr Personal- und Familienrecht nach eigenem Rechtsstatut regeln
konnten. Während der im 19. Jahrhundert zur Bewahrung des Osmanischen Reichs
eingeleiteten Reformbewegungen kam es sodann etwa nach der Seeschlacht von
Navarino 1827 zu einer Verfolgung der Armenier und 1843 zu einem Massaker der
Kurden unter den nestorianischen Bergstämmen im Hakkari. Die abseits in ihren
Siedlungsräumen in Ostanatolien lebenden syrischen Christen blieben von
derartigen Ereignissen weitgehend verschont. Sie waren ähnlich wie die ebenfalls in
dieser Region siedelnden Kurden stammesmäßig organisiert und erhielten sich
Unabhängigkeit und Schutz durch Selbstverteidigung und durch Tributzahlungen
an den Sultan. Nachdem seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine rege
Missionstätigkeit christlicher Religionsgesellschaften aus Amerika, England und
Frankreich dazu beigetragen hatte, die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung
der Christen im Nahen Osten zu heben und gleichzeitig deren politisches
Bewußtsein zu fördern, reagierte das Osmanische Reich im letzten Viertel des 19.
Jahrhunderts auf Unabhängigkeitsbestrebungen der Christen mit dem Einsatz
kurdischer Söldnertruppen, und dabei kam es dann häufig zu Morden,
Plünderungen und Hungersnöten (1., S. 17 ff.). Schließlich fanden während des
Ersten Weltkriegs unter den Christen zahlreiche Massaker statt, die insgesamt
über drei Millionen Tote gefordert haben sollen (1., S. 28; 5., S. 14; 7.; 24., S. 6;
38., S. 9 u. 18 f.; 48., S. 18); für sie werden zumindest auch die Allianz der Christen
mit England und Rußland und die Kriegserklärung des damaligen syrisch-
orthodoxen Patriarchen Benjamin XXI. an die Türkei im Mai 1915 verantwortlich
gemacht. So wurden etwa bis März 1915 im Urmia- und im Salamas-Gebiet über
70 Dörfer von türkischen Truppen und kurdischen Freiwilligen zerstört und
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70 Dörfer von türkischen Truppen und kurdischen Freiwilligen zerstört und
geplündert und die christliche Bevölkerung massakriert, und im selben Jahr folgten
weitere Massenmorde in der armenischen Stadt Van und im Bohtan-Gebiet (1., S.
29 f.). Bei der Flucht der Bergassyrer nach Salamas und der Urmia-Assyrer nach
Hamadan sollen jeweils mehr als 10.000 Menschen umgekommen sein (1., S. 30
ff.). Schließlich siedelten syrische Christen in den Jahren 1922 und 1924 in zwei
großen Fluchtbewegungen aus der Türkei in das benachbarte Syrien über (1., S.
110), und im Gefolge des Ersten Weltkriegs und des Friedensvertrags von
Lausanne vom 24. Juli 1923 verließen mehr als zwei Millionen Griechen die Türkei
(3., S. 41).
Es mag im einzelnen Streit darüber herrschen, welche Bedeutung das christliche
Bekenntnis der verschiedenen Gruppen der Christen für ihr jeweiliges Schicksal in
der Vergangenheit im einzelnen hatte, welche Rolle politische und militärische
Interessen fremder Großmächte gespielt haben und ob und in welchem Maße sich
etwa bei Armeniern, Griechen oder Assyrern ein eigenes Nationalbewußtsein
entwickeln konnte (vgl. dazu: 1., S. 12 ff.; 5., S. 1 ff.; 18., S. 6 ff.). Die Situation der
Christen in der Türkei ist jedenfalls seit langem geprägt von ihrer bis in die Anfänge
des Christentums zurückreichenden religiösen und kirchlichen Tradition, von den
ethnischen und sprachlichen Besonderheiten der einzelnen Gruppen und von
einem mehr und mehr hoffnungslos erscheinenden Überlebenskampf in einer
mehrheitlich türkischen/muslimischen Umwelt, der angesichts der leidvollen
historischen Erfahrungen als besonders bedrückend empfunden wird. Während die
Christen Ende des 19. Jahrhunderts noch etwa 30% der Untertanen des
Osmanischen Reichs ausmachten, stellen sie nunmehr in der Türkei mit
schätzungsweise kaum noch 100.000 Menschen nur eine äußerst kleine Minderheit
der Gesamtbevölkerung von 43 Millionen (zu den Zahlenangaben und im übrigen
vgl.: 2.; 5., S. 5; 6., S. 5; 7.; 18., S. 8; 40.). Außer den Armeniern und den Griechen
sind zahlenmäßig vor allem die Assyrer von Bedeutung, denen aber im
Unterschied zu den Armeniern, Griechen und Juden ein Schutz als
nichtmuslimische Minderheit aufgrund des Lausanner Vertrags von 1923 nicht
zugestanden wird (3., S. 46; 5., S. 6; 32., S. 17 u. 40.; 41., S. 2 f.; 60.; 63., S. 7;
68.). Die syrischen Christen gehören im wesentlichen vier Kirchen an, nämlich der
alten apostolischen Kirche des Ostens (oder nestorianischen), der syrisch-
orthodoxen (oder jakobitischen), der chaldäischen und der syrisch-katholischen
(1., S. 3; 6., S. 5 f. u. 16 f.; 38., S. 8 f.). Die alte apostolische Kirche, die die
diophysitische Lehre des Nestorius (Christ als Gott und Mensch zugleich sowie
Maria als Gebärerin Christi) vertritt, brach auf dem Konzil von Ephesus im Jahre
431 mit der römischen Kirche (vgl. 1., S. 12, u. 6., S. 15 f.). Das Konzil von
Chalkedon im Jahre 451 führte zur Abspaltung der syrisch-orthodoxen Kirche von
Rom, wobei wiederum eine abweichende -- diesmal extrem monophysitische --
Lehrmeinung über die Person Christi ausschlaggebend war (1., S. 12; 6., S. 5 f.);
ihr Patriarch von Antiochia und dem gesamten Osten, Mar Ignatius Yakup III., hat
seinen Sitz seit 1954 in Damaskus (5., S. 21; 8., S. 2; 9., S. 2). Nestorianer und
Syrisch-Orthodoxe bedienen sich bis heute einer altsyrischen Liturgiesprache (1.,
S. 12); die Syrisch-Orthodoxen heben sich außerdem durch verschiedene Dialekte
der neuaramäischen Umgangssprache (im Tur'Abdin: Turoyo) von den
muslimischen Türken und Kurden sowie von den Yeziden ab. Im 16. und 17.
Jahrhundert kamen Teile der nestorianischen Kirche infolge innerer Streitigkeiten
und auf Betreiben von Kapuzinermissionaren unter Beibehaltung ihres Ritus mit
der römischen Kirche zum Ausgleich; diese unierte nestorianische Kirche nennt
sich chaldäische Kirche; ihr Patriarch residiert (nach Vereinigung der früheren
Patriarchate von Babylon und Mosul) heute in Bagdad (1., S. 12; 3., S. 46; 5., S. 5;
6., S. 16; 29.; 38., S. 9). Im 18. oder 19. Jahrhundert kam es schließlich auch zu
einer Union eines Teils der syrisch-orthodoxen Kirche mit Rom, wobei gleichfalls
der syrische Ritus beibehalten wurde; hierbei handelt es sich um die sog. syrisch-
katholische Kirche (1., S. 3 u. 12; 3., S. 46; 5., S. 5; 6., S. 6 u. 16 f.; 38., S. 9).
Während bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Gebiet der heutigen Türkei noch
etwa eine Million Jakobiten und Nestorianer gelebt haben sollen und 1927
immerhin noch insgesamt 257.000 (1., S. 46 u. 110), beträgt die Zahl der Syrisch-
Orthodoxen in der Türkei neueren Schätzungen zufolge nur noch etwa 45.000 (1.,
S. 111; 5., S. 20), 35.000 (1., S. 46), 20.000 bis 25.000 bzw. 35.000 (6., S. 17; 58.,
S. 1), 20.000 (8., S. 2) oder sogar nur 10.000 bis 15.000 (2.). Im Gebiet des
Tur'Abdin (Berg der Gottesknechte), wo vor 25 Jahren noch 70.000 Syrisch-
Orthodoxe lebten, sollen es 1967/68 noch 20.000 gewesen sein (4., S. 2), 1980
noch ca. 13.000 (70., S. 7), 25.000 (5., S. 29) oder auch annähernd 40.000 (32., S.
17), 1987/1988 lediglich noch 5.000 bis 7.000 (48., S. 14; 63., S. 5; 70., S. 4 f., 7 u.
14) oder 12.000 (58., S. 2) und 1989 sogar nur noch ungefähr 4.000 (76., S. 13 u.
16), während ihre Zahl in Istanbul im selben Zeitraum von einigen Hundert auf
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16), während ihre Zahl in Istanbul im selben Zeitraum von einigen Hundert auf
15.000 oder gar auf 17.000 angestiegen sein soll (5., S. 46; 9., S. 7; 21.; 26.; 27.;
für die Zeit nach 1982 vgl. auch 35.; 37., S. 11; 58., S. 2; 63., S. 5; 70., S. 4);
derzeit dürften in Istanbul noch ungefähr 10.000 syrisch-orthodoxe Christen leben
(64., S. 3; 66., S. 1). In der Bezirksstadt Midyat sollen im Jahr 1978 von den
ursprünglich 3.000 syrischen Familien infolge einer seit 1960 anhaltenden starken
Abwanderung in türkische Großstädte und ins Ausland noch 1.000 Familien
gewohnt haben (1., S. 117).
Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Entwicklung kann nicht festgestellt
werden, daß die christliche Bevölkerung in der Türkei und insbesondere im Gebiet
des Tur'Abdin in dem hier maßgeblichen Zeitraum bis zur Ausreise der
Beigeladenen im Dezember 1979 unter einer an die Religion anknüpfenden
Gruppenverfolgung zu leiden hatte; dies gilt sowohl hinsichtlich einer unmittelbaren
staatlichen Verfolgung (a) als auch hinsichtlich einer vom türkischen Staat
gebilligten oder geduldeten Verfolgung durch andere Bevölkerungsgruppen (b)
(ebenso schon der früher für Asylverfahren allein zuständige 10. Senat des Hess.
VGH in st. Rspr., zuletzt 30.05.1985 -- 10 OE 35/83 --, und jetzt der 12. Senat,
22.02.1988 -- 12 UE 1071/84 --, NVwZ-RR 1988, 48, -- 12 UE 1587/84 u. 12 UE
2585/85 --, 30.05.1988 -- 12 UE 2514/85 --, 13.06.1988 -- 12 OE 94/83 --,
27.06.1988 -- 12 UE 2438/85 --, 04.07.1988 -- 12 UE 2573/85 u. 12 UE 25/86 --,
17.10.1988 -- 12 UE 2601/84, 12 UE 767/85, 12 UE 2497/85 u. 12 UE 2813/86 --,
05.12.1988 -- 12 UE 2487/85 u. 12 UE 2569/85 --, 06.02.1989 -- 12 UE 2580/85 u.
12 UE 2584/85, 27.02.1989 -- 12 UE 838/85 u. 12 UE 839/85 --, 20.03.1989 -- 12
UE 1705/85, 12 UE 2192/86 u. 12 UE 3003/86 --, InfAuslR 1989, 253, 29.05.1989 --
12 UE 2586/85 u. 12 UE 2643/85 --, 20.11.1989 -- 12 UE 2336/85, 12 UE 2437/85
u. 12 UE 2536/85 -- sowie 04.12.1989 -- 12 UE 2652/85 u. 12 UE 63/86 --; ähnlich
VGH Baden-Württemberg, 25.07.1985 -- A 12 S 573/81 --, u. OVG Lüneburg,
25.08.1986 -- 11 OVG A 263/85 --; a.A. Bay. VGH, 19.03.1981 -- 12.B/5074/79 --,
InfAuslR 1981, 219, VGH Baden-Württemberg, 09.02.1987 -- A 13 S 709/86 --, u.
OVG Nordrhein-Westfalen, 23.04.1985 -- 18 A 10237/84 --, sowie OVG Rheinland-
Pfalz, 10.12.1986 -- 11 A 131/86 --). Für die Frage nach dem Vorliegen einer an die
religiöse Grundentscheidung anknüpfenden Gruppenverfolgung ist allgemein zu
beachten, daß eine aus Gründen der Religion stattfindende Verfolgung nur dann
asylerheblich ist, wenn die Beeinträchtigungen der Freiheit der religiösen
Betätigung nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen (BVerfG,
02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 <357> = EZAR 200 Nr. 1). Es
muß sich um Maßnahmen handeln, die den Gläubigen als religiös geprägte
Persönlichkeit ähnlich schwer treffen wie bei Eingriffen in die körperliche
Unversehrtheit oder die physische Freiheit (BVerwG, 18.02.1986 -- 9 C 16.85 --,
BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7), indem sie ihn physisch vernichten, mit
vergleichbar schweren Sanktionen bedrohen, seiner religiösen Identität berauben
oder daran hindern, seinen Glauben im privaten Bereich und durch Gebet und
Gottesdienst zu bekennen (BVerfG, 01.07.1987 -- BvR 472/86 u.a. --, BVerfGE 76,
143 = EZAR 200 Nr. 20, u. 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, EZAR 203 Nr. 5 =
NVwZ 1990, 254).
a) Aus den in das Verfahren eingeführten Gutachten, Auskünften und anderen
Erkenntnisquellen ergeben sich insgesamt keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür,
daß der türkische Staat die syrisch-orthodoxen Christen in diesem Sinne in dem
hier maßgeblichen Zeitraum unmittelbar aus religiösen Gründen verfolgt hat.
Die syrisch-orthodoxen Christen waren -- und sind -- von Verfassungs wegen
ebenso wie die Angehörigen anderer muslimischer und nichtmuslimischer
Glaubensgemeinschaften gegen Eingriffe in die Religionsfreiheit und gegen
Diskriminierungen aus religiösen Gründen geschützt (Art. 19 d. türk. Verf. v. 1961,
Art. 24 Abs. 1 d. türk. Verf. vom 07.11.1982; 18., S. 23; 41., S. 3; 57., S. 17 f.). Sie
sind in den durch Art. 14 der Verfassung von 1982 gezogenen Grenzen frei,
Gottesdienste, religiöse Zeremonien und Feiern abzuhalten (Art. 24 Abs. 2 dieser
Verfassung). Sie werden jedoch seit jeher anders als die Armenier, Griechen und
Juden in der Staatspraxis nicht zu den nichtmuslimischen Minderheiten gerechnet,
denen aufgrund der Art. 38 ff. des Friedensvertrags von Lausanne vom 24. Juli
1923 besondere Minderheitenrechte gewährleistet sind, so u.a. gemäß Art. 40 das
Recht, auf eigene Kosten jegliche karitative, religiöse und soziale Institutionen,
Schulen und andere Einrichtungen für Lehre und Erziehung mit dem Recht auf
Gebrauch ihrer eigenen Sprache und freie Religionsausübung zu errichten, zu
betreiben und zu kontrollieren (1., S. 112; 3., S. 46; 5., S. 6 u. 57 f.; 8., S. 3 f.; 9., S.
15 f.; 13.; 32., S. 17 u. 40; 41., S. 2 f.; 60.; 68.). Während die in Istanbul lebenden
etwa 80.000 Armenier dazu imstande sind, ungefähr 30 bis 40 Kirchen und einige
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etwa 80.000 Armenier dazu imstande sind, ungefähr 30 bis 40 Kirchen und einige
Schulen, mindestens ein Krankenhaus und 12 Jugendclubs zu unterhalten (12.;
53.; 76., S. 3), verfügen die etwa 10.000 Syrisch-Orthodoxen in Istanbul lediglich
über ein eigenes Kirchenzentrum und sind in fünf bis sieben weiteren Kirchen zu
Gast (18., S. 49; 26.; 27.; 35., S. 6; 37., S. 3, 8 u. 13; 64., S. 9; 66.; 76., S. 4 f.), sie
dürfen aber keine Schulen und keine Sozialeinrichtungen betreiben (58., S. 4; 63.,
S. 7). Die syrisch-orthodoxen Christen werden allerdings ebensowenig wie andere
christliche Glaubensgemeinschaften staatlicherseits unmittelbar an der Ausübung
ihrer Religion gehindert. Sie können sowohl im Gebiet des Tur'Abdin als auch in
Istanbul in den ihnen verbliebenen Kirchen Gottesdienst nach ihrer Liturgie feiern
und ihren Glauben praktizieren. Insbesondere haben sie die Möglichkeit zum Gebet
und zum Gottesdienst im häuslich-privaten Bereich und in Gemeinschaft mit
anderen Gemeindemitgliedern.
Obwohl die Religionsausübung nach außen hin -- weder in der Vergangenheit noch
jetzt -- offen behindert oder gar untersagt (worden) ist, sind dennoch zahlreiche
administrative Schwierigkeiten festzustellen (58., S. 5), die die Syrisch-Orthodoxen
bei der Ausübung ihres Glaubens und der Pflege ihres Brauchtums empfindlich
stören und auf Dauer gesehen das kirchliche und religiöse Leben beeinträchtigen
und schließlich zum Erliegen bringen können. So ist beispielsweise die Ausbildung
der Priester zwar von Staats wegen nicht verboten und auch nicht erkennbar
restriktiv reglementiert. Tatsächlich gibt es aber seit geraumer Zeit in der Türkei
weder einen syrisch-orthodoxen Bischof noch Priesterseminare (8., S. 4; 19., S.
16), und deshalb können neue Priester, die die türkische Staatsangehörigkeit
besitzen müssen, nur im Ausland ausgebildet und geweiht werden (9., S. 5; 12., S.
5; 45., S. 6 f.; 46., S. 6; 48., S. 19; 60., S. 2). Die seelsorgerische Betreuung der
noch in den ehemals syrisch-orthodoxen Siedlungsgebieten verbliebenen
Gläubigen ist auch dadurch erschwert, daß viele Priester ihre Gemeinden gegen
den Willen der Kirchenleitung verlassen haben und im Zuge der Anwerbung von
Arbeitnehmern durch die Bundesrepublik Deutschland und andere westdeutsche
Staaten ins Ausland abgewandert sind (40., S. 3; 46., S. 3). Die ehemals
zahlreichen Klöster im Tur'Abdin sind jetzt nur noch von wenigen Mönchen oder
Nonnen bewohnt und im übrigen verlassen (5., S. 21). Die Klosterschule in Dair
Za'faran wurde zudem mehrmals zumindest zeitweilig geschlossen, weil der
türkische Staat das Schulprogramm mit syrisch-aramäischem Sprachunterricht
und christlichem Religionsunterricht für illegal erachtete (5., S. 28; 6., S. 18; 32., S.
18; 46., S. 5; 76., S. 15). Der Bau und die Errichtung von Kirchen sind, nachdem
das Eigentum an dem Besitz der "frommen Stiftungen" im Jahre 1965 auf den
Staat übertragen worden ist, nur noch mit vorheriger staatlicher Genehmigung
zulässig (9., S. 17). Die Tatsache, daß in den vergangenen Jahren keine neue
syrischorthodoxe Kirche gebaut worden ist, während in der ganzen Türkei
zahlreiche neue Moscheen entstanden sind (43., S. 3 f.; 45., S. 3; 46., S. 4), kann
allerdings darauf zurückzuführen sein, daß Geld für einen derartigen Kirchenbau
nicht vorhanden war (28.). Trotz dieser faktischen Behinderungen im
administrativen Bereich läßt sich daraus eine unmittelbare staatliche
Beeinträchtigung der Religionsfreiheit für die Zeit bis zur Ausreise der
Beigeladenen aus der Türkei nicht herleiten.
Ebenso verhält es sich im Ergebnis mit der Gestaltung des Religionsunterrichts an
den staatlichen Schulen (vgl. 55.). Insoweit ist allerdings zu beachten, daß die
Belastung nur eines bestimmten genau abgegrenzten Kreises von
Gruppenangehörigen -- hier: der eine Schule besuchenden und in der Regel
minderjährigen Personen -- nicht bereits eine Verfolgung der Religionsgruppe
insgesamt darstellt (BVerwG, 24.08.1989 -- 9 B 301.89 --, NVwZ 1990, 80 =
InfAuslR 1989, 348). Indessen kann eine asylrelevante Belastung der Angehörigen
einer solchen Untergruppe -- zumal ihr grundsätzlich jedes Mitglied der
Religionsgruppe im Verlaufe seines Lebens eine Zeitlang angehört -- ein gewisses
Indiz für eine Verfolgung aller Gruppenangehörigen sein. Wären nämlich
Angehörige weiterer Untergruppen -- etwa der Wehrpflichtigen, der Frauen
bestimmten Alters und/oder der minderjährigen Kinder -- ebenfalls asylrechtlich
erheblicher Verfolgung ausgesetzt, so könnte sich eine Verdichtung bis hin zur
Annahme einer Gruppenverfolgung aller Mitglieder der betreffenden
Religionsgruppe ergeben. Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen
hat, die Pflicht zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht stelle für sich
allein keine asylerhebliche Beeinträchtigung der Religionsausübung dar, da sie
nicht gleichgesetzt werden könne mit der Pflicht, sich zum Islam zu bekennen
(BVerwG, 14.05.1987 -- 9 B 149.87 --, EZAR 202 Nr. 9 = DVBl. 1987, 1113), neigt
der Senat zu einer grundsätzlich anderen Betrachtungsweise. Denn
Religionsunterricht, der gegen den Willen der Kinder oder der insoweit
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Religionsunterricht, der gegen den Willen der Kinder oder der insoweit
erziehungsberechtigten Eltern erteilt wird, kann den Beginn einer
Zwangsbekehrung bedeuten, stellt doch die religiöse Unterweisung von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen einen unverzichtbaren -- weil lebenswichtigen -- Teil
der Religionsfreiheit dar. Ohne die Weitergabe religiösen Wissens und religiöser
Überzeugungen vermag nämlich weder der einzelne Gläubige noch die
Glaubensgemeinschaft auf Dauer zu bestehen. Neben der Verkündigung des
Glaubens während des kirchlichen Gottesdienstes spielt hierbei vor allem der
Religionsunterricht für Kinder eine ausschlaggebende Rolle. In vorliegendem
Zusammenhang ist indessen von maßgeblicher Bedeutung, daß zur Zeit der
Ausreise der Beigeladenen im Dezember 1979 noch keine Pflicht zur Teilnahme
am islamischen Religionsunterricht bestanden hat. Zwar war 1950 für die vierte
und fünfte Grundschulklasse, 1956 für die sechste und siebte Klasse der
Mittelschule und 1967/68 auch für die erste und zweite Klasse des Gymnasiums
der Religionsunterricht auf freiwilliger Basis eingeführt und ab 1976 in allen Klassen
der Mittelschule und des Gymnasiums angeboten worden. Auch hatte man
1974/75 in den beiden letztgenannten Schulformen einen sog. Ethik- bzw.
Moralkundeunterricht als Pflichtfach eingeführt (55.; 63., S. 20). Dieser war aber
jedenfalls in den 70er Jahren weitgehend laizistisch und wertneutral; erst später
wurde er in der Praxis zu einem "Neben-Religionsunterricht" (35.) und schließlich
zwischen 1982 und 1985 mit dem Religionsunterricht zusammengelegt (55.). Für
die Zeit vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1982 und vor der
Machtübernahme durch das Militär im September 1980 besteht daher keine
Veranlassung zu der Annahme, der türkische Staat habe durch die Gestaltung des
Religionsunterrichts an staatlichen Schulen unmittelbar in einer Art und Weise in
die Freiheit der religiösen Betätigung der syrisch-orthodoxen Christen eingegriffen,
die die Menschenwürde und das sog. religiöse Existenzminimum antastete. Auch
wenn man berücksichtigt, daß ein christlicher Religionsunterricht an staatlichen
Schulen nicht angeboten wurde und es im Rahmen des Ethik- bzw.
Moralkundeunterrichts bei der praktischen Handhabung der Unterscheidung
zwischen ethischen und allgemein religiösen Lehrinhalten einerseits und
islamischen Glaubensinhalten andererseits zu Benachteiligungen und
Beeinträchtigungen der Glaubensüberzeugungen christlicher Schüler kommen
konnte, kann darin insgesamt ein asylrelevanter Eingriff nicht gesehen werden.
Denn abgesehen von der regelmäßig fehlenden Intensität mangelte es insoweit
jedenfalls an der asylrechtlichen Zurechenbarkeit, weil Anhaltspunkte dafür, daß
die verantwortlichen Stellen derartiges dienstliches Fehlverhalten von Lehrern
seinerzeit förderten oder zumindest duldeten, aus den dem Senat vorliegenden
Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen sind.
Schließlich können Anzeichen für eine gegen Christen gerichtete
Gruppenverfolgung zur Zeit der Ausreise der Beigeladenen auch nicht aus der Art
und Weise entnommen werden, wie christliche Wehrpflichtige damals in der
türkischen Armee behandelt worden sind. Eine Verfolgung der betreffenden
Religionsgruppe insgesamt könnte allein daraus ohnehin nicht entnommen werden
(vgl. BVerwG, 24.08.1989 -- 9 B 301.89 --, NVwZ 1990, 80 = InfAuslR 1989, 348).
Für den Senat steht aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen und der
Erkenntnisse aus den in letzter Zeit entschiedenen zahlreichen
Berufungsverfahren fest, daß es jedenfalls bis etwa zum Zeitpunkt des
Militärputsches im September 1980 nur in Einzelfällen zu ihrer Intensität nach als
Verfolgung zu qualifizierenden Übergriffen auf christliche Wehrpflichtige gekommen
ist. Bis dahin scheint die Führung der türkischen Streitkräfte, die sich als Hüter
laizistischer Prinzipien verstehen, mit Erfolg darauf geachtet zu haben, daß
religiöse Strömungen dort keinen nachhaltigen Widerhall finden konnten (vgl. 36.).
Demzufolge hatten christliche Wehrpflichtige in aller Regel weder seitens ihrer
Vorgesetzten noch seitens ihrer Kameraden mit schwerwiegenden
Diskriminierungen zu rechnen, wenn auch -- nach der Darstellung des Auswärtigen
Amtes -- Sticheleien und gelegentliche Übergriffe von Kameraden nicht
auszuschließen waren (33.; 36.) und es -- nach den Äußerungen anderer
Sachverständiger -- darüber hinaus vielfach zur Betrauung mit besonders
unangenehmen Aufgaben, zu verbalen Beleidigungen, zum Versuch der
Bekehrung zum Islam und zur Androhung der Zwangsbeschneidung sowie in
Einzelfällen auch zu schweren Körperverletzungen gekommen sein mag (39.; 40.;
42.) und christliche Wehrpflichtige mit Abitur meist -- anders als Muslime -- nicht
als Offiziersanwärter rekrutiert wurden (und werden) (41.). Die zwangsweise
Durchführung von Beschneidungen christlicher Wehrpflichtiger war in der Zeit bis
September 1980 offenbar nur in seltenen Einzelfällen festzustellen (42.). Diese
Einschätzung der damaligen Situation christlicher Wehrpflichtiger wird sowohl durch
die von dem erkennenden Senat in zahlreichen Berufungsverfahren gewonnenen
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die von dem erkennenden Senat in zahlreichen Berufungsverfahren gewonnenen
Erkenntnisse als auch durch die von dem Schwager bzw. Onkel A D der
Beigeladenen in dessen Asylverfahren vorgelegten Erklärungen und mitgeteilten
Angaben von türkischen Christen, die vor dem Militärputsch ihren Wehrdienst
abgeschlossen haben, bestätigt. Die vom Senat gehörten Christen haben
entweder selbst in dem Zeitraum zwischen 1953 und 1978 ihren Wehrdienst
abgeleistet oder aber von den Erfahrungen ihrer Brüder während deren damaliger
Dienstzeit berichtet. Während einige, obgleich sie vom Alter her Wehrdienst
geleistet haben müßten, diesen Punkt in ihren Asylverfahren überhaupt nicht
angesprochen haben, haben sich andere auf die Mitteilung der Dienstleistung als
solcher beschränkt und von irgendwelchen Benachteiligungen nichts erwähnt (vgl.
etwa Hess. VGH, 27.06.1988 -- 12 UE 2438/85 -- , 04.07.1988 --
12 UE 25/86 -- , 06.02.1989 -- 12 UE 2584/85 -- ,
29.05.1989 -- 12 UE 2586/85 -- ). Die übrigen haben von
einer übermäßigen Heranziehung zum Wachdienst und zu besonders schmutzigen
Arbeiten, von Beschimpfungen ihrer Person und ihrer Religion und von
wiederholten Schlägen berichtet, mit denen regelmäßig das Ziel verfolgt worden
sei, sie zum Übertritt zum Islam und zur Beschneidung zu bewegen; in allen Fällen
gelang es den Betroffenen jedoch, sowohl einer Zwangsbekehrung als auch einer
Zwangsbeschneidung letztlich zu entgehen, wobei es allerdings einmal zu einer
Brandverletzung am Geschlechtsteil kam und ein andermal erst im
Militärkrankenhaus der Arzt dazu bewegt werden konnte, von einer Beschneidung
Abstand zu nehmen (vgl. etwa Hess. VGH, 22.02.1988 -- 12 UE 1071/84 --
- 12 UE 2514/85 -- , 17.10.1988 -- 12 UE 2601/84 --
433/85 -- ), 20.03.1989 -- 12 UE 1705/85 --
ff.> u. -- 12 UE 2192/86 -- sowie 04.12.1989 -- 12 UE 2652/85 -
- ). Entsprechend stellen sich bei zusammenfassender
Betrachtung die von dem Schwager bzw. Onkel A D der Beigeladenen in sein
Verfahren eingeführten Angaben derjenigen knapp 20 Wehrpflichtigen dar, die vor
dem Militärputsch ihren Dienst geleistet haben; auch diese, deren Militärzeiten
sich über einen Zeitraum von 1958 bis 1980 erstreckt haben, machen
Benachteiligungen der genannten Art geltend, konnten aber jedenfalls eine
Beschneidung erfolgreich abwehren (vgl. Bl. 177 bis 185 u. 191 bis 200 der
Gerichtsakte 12 UE 2997/86). Danach kann schon nicht festgestellt werden, daß
seinerzeit praktisch jeder christliche Wehrpflichtige mit Rechtsverletzungen zu
rechnen hatte, die nicht nur als Beeinträchtigungen, sondern auch als ihn ihrer
Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzende Verfolgungsmaßnahmen zu qualifizieren sind (vgl. BVerfG,
10.07.1989 -- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 79, 315 = EZAR 201 Nr. 20). Schon
deshalb kann daraus für die Zeit vor dem Militärputsch nicht auf eine Verfolgung
des abgegrenzten Kreises der wehrpflichtigen Gruppenangehörigen und erst recht
nicht auf eine Gruppenverfolgung aller syrisch-orthodoxen Christen geschlossen
werden. Darüber hinaus fehlen für den betreffenden Zeitraum Anhaltspunkte
dafür, daß die militärische Führung Übergriffe, soweit sie vorkamen, geduldet oder
gar gefördert hat (vgl. 33.; 41.); mithin läßt sich für die damalige Zeit die
asylrechtliche Zurechenbarkeit, die auch für Zugriffe innerhalb der Armee
erforderlich ist, ebenfalls nicht annehmen, weil nicht festgestellt werden kann, daß
der türkische Staat seinerzeit an die Religion anknüpfenden Übergriffen auf
Wehrpflichtige nicht entgegengewirkt hätte, indem er beispielsweise präventive
Vorkehrungen unterlassen hätte, um weitere Übergriffe zu verhindern und, wenn
sie gleichwohl vorgekommen wären, weder den Opfern Schutz gewährt noch gegen
pflichtwidrig Handelnde Sanktionen verhängt hätte (vgl. BVerwG, 22.04.1986 -- 9 C
318.85 u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8).
b) Darüber hinaus waren die Christen in der Türkei, insbesondere in der
Südosttürkei, in dem hier maßgeblichen Zeitraum auch keiner mittelbaren
staatlichen Kollektivverfolgung in der Weise ausgesetzt, daß sie von anderen
Bevölkerungsgruppen ihrer Religion und ihres christlichen Bekenntnisses wegen
verfolgt wurden und hiergegen staatlichen Schutz nicht erhalten konnten.
In diesem Zusammenhang ist es nicht erforderlich, die Ursachen der oben (unter
II. 2.) dargestellten Abwanderungsbewegungen aus den ursprünglich ausschließlich
oder zumindest überwiegend christlichen Dörfern nach Mardin und Midyat und vor
allem nach Istanbul und von dort aus ins Ausland im einzelnen zu ermitteln.
Tatsächlich sind die Christen den Anwerbeaktionen der westeuropäischen
Wirtschaft seit Beginn der 60er Jahre wohl dank ihrer besseren Ausbildung und
ihrer größeren Flexibilität eher gefolgt als die in der Südosttürkei lebenden Kurden
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ihrer größeren Flexibilität eher gefolgt als die in der Südosttürkei lebenden Kurden
und haben dann nach und nach ihre Familien in die Bundesrepublik Deutschland
und in andere westeuropäische Länder nachgeholt. Eine gewisse Rolle mag
anfangs auch die allgemein in der Türkei zu beobachtende Landflucht gespielt
haben, die die Einwohnerzahl von Istanbul auf jetzt 8 bis 10 Millionen hat
anwachsen lassen (1., S. 111; 18., S. 20). Wie bereits oben (unter II. 2. a)
festgestellt, haben zudem viele Priester im Zuge der Gastarbeiterwanderung ihre
syrisch-orthodoxen Gemeinden im Tur'Abdin verlassen und sind gegen den Willen
der Kirchenleitung nach Europa und nach Übersee ausgewandert (40., S. 3; 45., S.
3), was zusätzlich zu einer Destabilisierung der gewachsenen Siedlungsstrukturen
der Christen in der Südosttürkei beigetragen hat. Schließlich haben auch die
Ereignisse um Zypern, im Libanon und im Iran sowie allenthalben feststellbare
Islamisierungstendenzen zu einer Verhärtung des Verhältnisses zwischen Christen
und muslimischen Kurden im Tur'Abdin beigetragen. Ungeachtet der im einzelnen
maßgeblichen Gründe für die Bevölkerungsbewegungen, die durchaus umstritten
sein mögen, wurde aber seit Mitte der 70er Jahre aus dem Gebiet um Midyat über
eine auffällige Zunahme schwerer Übergriffe der muslimischen Mehrheit (meist
Kurden) gegen Christen berichtet, und zwar über Morde, Mordversuche,
Entführungen, Zwangsbeschneidungen, Viehdiebstähle, Landwegnahmen,
Sachbeschädigungen und Plünderungen (vgl. dazu etwa: 1., S. 112 f. u. 115 f.; 3.,
S. 46 ff.; 5., S. 32 ff. u. 106 ff.; 11., S. 5 ff.; 14.; 16.; 32., S. 17 ff.). Gleichzeitig
wurde allgemein beanstandet, daß staatliche Stellen, wenn sie um Hilfe
angegangen wurden, entweder überhaupt nicht tätig geworden sind oder aber
sogar offen zum Ausdruck gebracht haben, sie lehnten es ab, Christen Schutz zu
gewähren (vgl. etwa: 4., S. 3 u. 5; 5., S. 34; 15.). Außerdem wurde betont, ähnliche
Gewalttaten Syrisch-Orthodoxer seien, wenn sie vereinzelt vorgekommen seien,
auch verfolgt worden (9., S. 21).
Bei der Frage nach den Ursachen für die danach seit Mitte der 70er Jahre vermehrt
feststellbaren Beeinträchtigungen der Christen durch die muslimische Bevölkerung
im Tur'Abdin werden teils die Auswirkungen der Verfolgung weniger schwerwiegend
dargestellt, teils eine Anknüpfung an die Religionszugehörigkeit seitens der
Verfolger bezweifelt und teils die Einstellung der staatlichen Stellen zu diesen
Maßnahmen der andersgläubigen Mitbürger nicht so gewertet und eingeschätzt,
daß den Christen der erforderliche staatliche Schutz gegen private Übergriffe ihrer
Religion wegen verwehrt wurde. So bestätigen etwa auch andere als die bereits
erwähnten Quellen gewalttätige Auseinandersetzungen und existenzbedrohende
Übergriffe im Südosten der Türkei (2., S. 2; 17.) und die Gefahr administrativer
Schikanen sowie die Schutzlosigkeit gegenüber gesetzlosen Zuständen vor der
Machtübernahme durch das Militär im September 1980 (15.). Andererseits wird
aber darauf hingewiesen, daß unter schwierigen Lebensverhältnissen und der
gesetzlosen Lage vor September 1980 auch die übrige Bevölkerung zu leiden
gehabt habe, die Abwanderung aus dem Tur'Abdin vorwiegend wirtschaftliche und
soziale Gründe habe und die Wanderungsbewegung bei den Christen nicht stärker
sei als bei der übrigen Bevölkerung (vgl. vor allem 18., S. 23 ff. u. 31 ff.). Während
das Auswärtige Amt als Ursachen für die Abwanderung neben religiösen
Spannungen sowohl wirtschaftliche Schwierigkeiten als auch die in
Gewalttätigkeiten ausufernden Streitigkeiten aus sprachlichen, sozialen und
ethnischen Motiven nennt, räumt es doch gleichzeitig ein, Christen hätten teilweise
existenzbedrohende Benachteiligungen erlitten und seien gewalttätigen
Übergriffen ausgesetzt gewesen, gegen die ausreichender staatlicher Schutz
besonders in schwer zugänglichen ländlichen Gebieten häufig nicht habe gewährt
werden können, so daß praktisch die christliche Minderheit oftmals gewalttätigen
Übergriffen schutzlos preisgegeben gewesen sei (2., S. 2). Wenn Wiskandt
bezweifelt, daß Christen aus dem Tur'Abdin in wesentlich größerem Ausmaß als
Kurden abgewandert sind (18., S. 23 ff., besonders S. 28), so fällt auf, daß er die
Anzahl der in der Provinz Mardin lebenden Syrisch-Orthodoxen aus einer offiziellen
Einwohnerstatistik und eigenen Berechnungen ableitet, während die oben (unter II.
2.) erwähnten Zahlenangaben anderer Autoren zwar vorwiegend auf Schätzungen
beruhen, aber insgesamt zutreffender erscheinen, weil dort der
Bevölkerungsrückgang bei den Christen zum größten Teil durch die Nennung von
Ortsnamen und exakten Einwohnerzahlen belegt ist. Es mag zutreffen, daß die
historischen Fakten in den epd-Dokumentationen (5. u. 32.) nicht immer neutral
dargestellt sind und die religiösen Bezüge dort ebenso einseitig in den
Vordergrund gestellt werden wie von Yonan (1.) der Prozeß der Entwicklung einer
assyrischen Nation. Abgesehen aber davon, daß Wiskandt seine Befragungen
offenbar ohne die in solchen Situationen wichtige Vertrauensbasis zu den
befragten Personen ohne Bekanntgabe seines Auftrags durchgeführt hat, ist in
seinem Gutachten an zahlreichen Stellen nachzuweisen, daß seine Ausführungen
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seinem Gutachten an zahlreichen Stellen nachzuweisen, daß seine Ausführungen
nicht völlig frei sind von Vorverständnissen und festliegenden persönlichen
Positionen, die die Beantwortung der ihm gestellten Fragen teilweise beeinflußt
haben könnten (vgl. dazu im einzelnen 23., 24., 25.). So wirft er der ersten epd-
Dokumentation offen bewußte Zahlenmanipulation vor (S. 27, 29), polemisiert
gegen die "hiesige Lobby der Sürjannis" (S. 65) und beschreibt die "Erfolge" der
Militärregierung ohne jede Einschränkung (S. 20 ff.), obwohl Vorbehalte gegen die
Politik der Militärregierung angesichts zahlreicher Proteste gegen
Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zumindest erwähnenswert gewesen
wären.
Nach alledem vermag der Senat nicht festzustellen, daß die Christen in der Türkei
-- und zwar auch im Tur'Abdin -- in ihrer Gesamtheit in der Zeit bis zur
Machtübernahme der Militärs im September 1980 in der Weise mittelbar aus
religiösen Gründen verfolgt worden sind, daß sie als Angehörige der christlichen
Minderheit gewalttätigen Übergriffen mit Gefahren für Leib und Leben und die
persönliche Freiheit durch die muslimische Bevölkerung ausgesetzt waren und der
türkische Staat diese Verfolgungsmaßnahmen entweder gebilligt oder zumindest
tatenlos hingenommen und damit den Christen den erforderlichen staatlichen
Schutz versagt hat. Die dargelegten Verhältnisse stellen sich allerdings so dar,
daß in zahlreichen Einzelfällen tatsächlich syrisch-orthodoxe Bewohner des
Tur'Abdin von muslimischen Mitbürgern umgebracht, verletzt, entführt oder
beraubt worden sind, ohne daß die zuständigen staatlichen Behörden hiergegen
eingeschritten sind, obwohl ihnen dies möglich gewesen wäre.
Wenn das Verwaltungsgericht demgegenüber in dem angegriffenen Urteil
angenommen hat, die Beigeladenen seien von einer mittelbaren
Gruppenverfolgung aller Syrisch-Orthodoxen in der Türkei betroffen worden, die
allerdings nach dem Militärputsch vom September 1980 nicht mehr andauere,
dann beruht dies auf einer nicht gerechtfertigten Auswertung des Inhalts der in
diesem Urteil zitierten Gerichtsentscheidungen und Erkenntnisquellen. So beruft
sich das Verwaltungsgericht zu Unrecht zum Nachweis dafür, daß die Syrisch-
Orthodoxen zumindest vor September 1980 im Tur'Abdin wegen ihres Glaubens
verfolgt worden seien u.a. auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2.
August 1983 -- 9 C 599.81 -- (BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1). In dieser
Entscheidung mußte das Bundesverwaltungsgericht -- wie auch in anderen
Verfahren -- aufgrund seiner Bindung an Tatsachenfeststellungen in dem
zugrundeliegenden Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. § 137
Abs. 2 VwGO) davon ausgehen, daß existenzbedrohende Benachteiligungen und
gewalttätige Übergriffe um das Jahr 1976 so zugenommen hatten, daß die
Auswanderung der Christen aus dieser Region zunehmend Fluchtcharakter
annahm und ihre Zahl von ursprünglich 70.000 auf einen Bruchteil dessen absank
und daß die Sachwalter des türkischen Staats das Vorgehen der Muslime aufgrund
der weitgehend von feudalen Stammes- und Religionsführern bestimmten
Machtstrukturen in der Region nicht oder völlig unzureichend ahndeten. Wenn das
Revisionsgericht daraufhin ausgeführt hat, das Berufungsgericht habe diesen
Sachverhalt zu Recht dahin gewürdigt, daß zu der im dortigen Verfahren
maßgeblichen Zeit die syrisch-orthodoxen Christen in einer dem türkischen Staat
zuzurechnenden Weise als Gruppe asylrechtlich verfolgt worden sind, dann
bedeutet dies nicht, daß diese Frage seitdem letztverbindlich entschieden war.
Deshalb blieb auch die Revision eines syrisch-orthodoxen Christen erfolglos, in
dessen Verfahren der 10. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs eine
dem türkischen Staat zurechenbare allgemeine Gruppenverfolgung syrisch-
orthodoxer Christen im Tur'Abdin verneint hatte (27.05.1982 -- X OE 727/81 --);
das Bundesverwaltungsgericht hat dazu ausdrücklich ausgeführt, ein Asylbewerber
könne tatsächliche Feststellungen der Tatsachengerichte zur Gruppenverfolgung
im Revisionsverfahren nicht erfolgreich damit angreifen, daß andere
Tatsachengerichte dieselbe Situation anders beurteilten (BVerwG, 08.05.1984 -- 9
C 141.83 --, EZAR 630 Nr. 13 = NVwZ 1985, 36). Hinsichtlich der tatsächlichen
Feststellungen des Verwaltungsgerichts über eine Fortdauer der landesweiten
Gruppenverfolgung Syrisch-Orthodoxer in der Türkei fällt auf, daß diese nahezu
ausschließlich auf die Stellungnahme von Monsignore Wilschowitz vom 9. April
1981 (10.) gestützt sind, obwohl die Beteiligten mit der Ladung zu dem Termin
vom 20. August 1986 auf mehr als 70 Dokumente über die Lage der Christen in
der Türkei hingewiesen worden waren, daß die Äußerungen von Monsignore
Wilschowitz in dem angegriffenen Urteil nur teilweise zitiert sind, ohne daß Gründe
für die Auswahl der entsprechenden Passagen genannt sind, und daß die
Bekundungen von Monsignore Wilschowitz den vom Verwaltungsgericht hieraus
gezogenen Schlußfolgerungen widersprechen. Monsignore Wilschowitz hat in dem
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gezogenen Schlußfolgerungen widersprechen. Monsignore Wilschowitz hat in dem
Anschreiben vom 9. April 1981 nämlich zusammenfassend u.a. ausgeführt: "Von
einer generellen Christenverfolgung in der Türkei zu sprechen, ohne differenziert
auf die allgemeine Benachteiligung aller Minderheiten in der Türkei und
insbesondere im Osten dieses Landes hinzuweisen, ist unseriös." In der
Stellungnahme selbst heißt es u.a.: "Als Minderheiten in der Osttürkei werden die
Christen benachteiligt, sie werden bedrängt, und je schwächer sie werden um so
mehr. Die christlichen Dörfer werden immer kleiner, die Kirchen immer leerer.
Übergriffe und Diskriminierungen sind an der Tagesordnung. Dazu kommt, daß
eine allgemeine religiöse Besinnung und islamische Neuorientierung (als Reaktion
auf die atatürkischen Reformen!) schon seit Jahren im Osten zu verzeichnen ist.
Aber jetzt von den Betroffenen und von den sie vertretenden deutschen Anwälten,
die in Normalzeiten sich selten mit dem europäischen Christentum, geschweige
denn mit dem Christentum östlicher Prägung befaßt hätten, Druck auf die
öffentliche Meinung in der Bundesrepublik auszuüben mit dem schrecklichen Wort
'Christenverfolgung!', halte ich für schlechthin unredlich."
3. Es kann auch nicht festgestellt werden, daß die Beigeladenen persönlich bereits
vor ihrer Ausreise aus der Türkei in Bardakci (a), in Gündükhanna (b) oder in
Gündükschükrü (c) von asylerheblichen Übergriffen muslimischer Mitbürger
betroffen waren und dagegen staatlichen Schutz nicht in Anspruch nehmen
konnten. Ebensowenig kann angenommen werden, daß die Beigeladenen damals
schon in ihrer persönlichen Freiheit, in ihrer körperlichen Unversehrtheit oder in
ihrer Religionsfreiheit beeinträchtigt oder bereits so konkret bedroht waren, daß ein
asylrelevanter Eingriff unmittelbar bevorstand, und sie deswegen als vorverfolgt
anzusehen sind. Die Angaben der Beigeladenen zu 1) zum Lebensschicksal der
Beigeladenen und zu den Gründen und Umständen ihrer Ausreise aus der Türkei
sind allerdings im wesentlichen glaubhaft. Allein aus der über vier Jahre nach der
Einreise erfolgten Asylantragstellung kann -- entgegen der Auffassung des
Bundesbeauftragten -- nicht auf mangelnde Glaubwürdigkeit geschlossen werden,
zumal für den späten Zeitpunkt der Antragstellung eine plausible Erklärung
gegeben worden ist.
Danach steht fest, daß die Beigeladene zu 1) in dem neun Kilometer nordöstlich
von Midyat gelegenen Dorf Bardakci (vgl. zu weiteren Ortsnamen 38., S. 72 f.)
geboren ist und dort bis zu ihrer kirchlichen Heirat im Jahre 1978 gelebt hat, daß
sie anschließend zu ihrem Ehemann in den gut 30 Kilometer östlich von Nusaybin
in der Ebene gelegenen Ort Gündükhanna (vgl. zu weiteren Bezeichnungen 1., S.
117, u. 38., S. 102) gezogen ist und daß sie mit dessen Familie um die Osterzeit
des Jahres 1978 erneut umgezogen ist, und zwar in das eine halbe Stunde
Fußmarsch von Gündükhanna und ca. 35 Kilometer von Nusaybin entfernte
Gündükschükrü (= Odabasi; vgl. zu weiteren Bezeichnungen 1., S. 118 u. 38., S.
80), wo der Beigeladene zu 2) geboren sein dürfte und wo die Beigeladenen auch
nach der Ausreise ihres Ehemannes bzw. Vaters im Hause der Schwieger- bzw.
Großmutter und des Schwagers bzw. Onkels I D Aufnahme fanden. All dies ergibt
sich -- ungeachtet teilweise abweichender Angaben in früheren Verfahrensstadien
und der abweichenden Eintragung im Nüfus des Beigeladenen zu 2) -- aus einer
zusammenfassenden Würdigung sämtlicher Bekundungen der Beigeladenen zu 1)
sowie ihres Ehemannes, dessen Eltern und einiger von dessen Geschwistern in
deren Asylverfahren (vgl. etwa Bl. 21 u. 30 der Bundesamtsakte 163/73991/80, Bl.
22, 28 u. 32 f. der Bundesamtsakte 163/05175/84 u. Bl. 15 der Bundesamtsakte
163/05897/84 sowie Bl. 163 f. der Gerichtsakte 12 UE 2702/86 u. Bl. 207 u. Bl. 214
der Gerichtsakte 12 UE 2998/86). Der Senat geht desweiteren davon aus, daß
Bardakci ursprünglich ein bis auf wenige Familien christliches Dorf war, 1978 dort
aber lediglich noch 55 und 1980 sogar nur noch 25 christliche Familien lebten,
während zur Zeit, als die Beigeladene zu 1) dort wohnte, die Bevölkerung zwar
gemischt, jedoch mehrheitlich christlich war. Demgegenüber ist anzunehmen, daß
Gündükhanna zunächst verlassen war, dann von Muslimen neu besiedelt wurde
und daß die Schwieger- bzw. Großeltern der Beigeladenen als erste christliche
Familie dorthin gezogen waren, daß zeitweise bis zu 150 christliche Familien in
Gündükhanna lebten, jedoch alsbald wieder abwanderten und daß die Familie des
Ehemannes bzw. Vaters der Beigeladenen als letzte das zwischenzeitlich
überwiegend von Muslimen besiedelte Dorf verließ, und schließlich, daß es in
Gündükhanna nur eine Kirchenruine aus früherer Zeit gab und die Christen
deshalb den Gottesdienst in Marbab (= Günyurdu, vgl. zu weiteren Bezeichnungen
38., S. 79, und zu den dortigen Gegebenheiten ferner 1., S. 118; 70., S. 62, u.
Hess. VGH, 29.07.1982 -- X OE 1184/81 -- ) oder den Gottesdienst
in Gündükschükrü besuchen mußten. Hinsichtlich des Ortes Gündükschükrü nimmt
der Senat an, daß es sich hierbei um ein ursprünglich rein christliches Dorf
52
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der Senat an, daß es sich hierbei um ein ursprünglich rein christliches Dorf
handelt, in dem Mitte der 70er Jahre bis zu 200 Familien lebten, von denen sich
allerdings Mitte der 80er Jahre nur noch höchstens 35 und 1989 lediglich noch 15
dort aufhielten, daß mittlerweile einige muslimische Familien hinzugezogen sind
und schließlich, daß der Gottesdienst in der Dorfkirche "Mar Abraham" damals von
Priester H C gehalten wurde und daß mindestens zeitweise auch christlicher
Religions- und aramäischer Sprachunterricht von seiten der Kirche erteilt wurde.
Diese Feststellungen beruhen auf einer Gesamtschau der Angaben der
Beigeladenen zu 1), ihres Ehemannes und dessen Verwandten (vgl. Bl. 134 d.A.,
Bl. 21 der Bundesamtsakte Tür-S-31469, Bl. 6 u. 21 der Bundesamtsakte
163/73991/80, Bl. 23 f., 28 f. u. 32 ff. der Bundesamtsakte 163/05175/84, Bl. 15 u.
17 der Bundesamtsakte 163/05897/84, Bl. 35 der Bundesamtsakte 163/05900/84,
Bl. 260 f. der Gerichtsakte VG Wiesbaden I/1 E 5614/80, Bl. 60 ff. der Gerichtsakte
VG Wiesbaden IX/1 E 5653/83 sowie Bl. 163 f. der Gerichtsakte 12 UE 2702/86, Bl.
136 f. der Gerichtsakte 12 UE 2997/86 u. Bl. 207 u. 212 der Gerichtsakte 12 UE
2998/86) und auf Erkenntnissen, die aus den in das vorliegende Verfahren
eingeführten Dokumenten (1., S. 117 f.; 38., S. 72 f., 80 u. 102; 70., S. 62 f.; 76., S.
14) sowie aus einem früheren Berufungsverfahren herrühren (vgl. Hess. VGH,
13.05.1982 -- X OE 1131/81 -- ). Außerdem hat der Senat
aufgrund der Beweisnahmen in den Berufungsverfahren der Schwieger- bzw.
Großmutter und des Schwagers bzw. Onkels I D der Beigeladenen die
Überzeugung gewonnen, daß der Schwieger- bzw. Großvater der Beigeladenen
zunächst in Gündükhanna auf eigenem Land Baumwolle anpflanzte, daß er nach
dem Umzug nach Gündükschükrü dort 40 Dönüm Land erwarb, daß weitere 130
bis 150 Dönüm hinzugepachtet wurden und daß darauf vor allem Baumwolle, aber
auch Weizen unter Einsatz eines Traktors angebaut wurde, und schließlich, daß die
Familie des Ehemannes bzw. Vaters der Beigeladenen zeitweise auch einige Stück
Vieh besaß (vgl. Bl. 163 bis 166 der Gerichtsakte 12 UE 2702/86 u. Bl. 207 ff. der
Gerichtsakte 12 UE 2998/86).
Der Senat konnte indessen nicht die Überzeugung gewinnen, daß die Beigeladene
zu 1) in Bardakci, Gündükhanna oder Gündüschükrü und/oder der Beigeladene zu
2) in Gündükschükrü politische Verfolgung erlitten haben. Die Gründe, warum die
Beigeladene zu 1), ihre Verwandten und zahlreiche Christen Bardakci, warum alle
Christen Gündükhanna und warum die Beigeladenen, die Familie ihres Ehemannes
bzw. Vaters und viele weitere christliche Familien schließlich auch Gündükschükrü
verlassen haben, erscheinen vielgestaltig, rechtfertigen aber nicht die Annahme
einer dortigen Verfolgung in asylrechtlich erheblicher Weise.
a) Soweit die Beigeladene zu 1) angegeben hat, sie habe aus Angst vor
Entführung die Schule in Bardakci nicht besuchen können, fehlen ausreichend
konkrete Anhaltspunkte dafür, daß für sie die Gefahr einer Entführung damals
tatsächlich unmittelbar bevorstand, obwohl es in der Zeit, als sie noch in Bardakci
lebte, dort ihren Bekundungen bei ihrer Vernehmung am 23. Januar 1990 zufolge
nicht zu Entführungen von jungen Mädchen oder Frauen gekommen ist und obwohl
sie selbst -- insbesondere da sie von der Schule wegblieb -- den umfassenden
Schutz ihres elterlichen Familienverbandes genoß. Soweit die Beigeladene zu 1)
weiter geltend macht, sie sei beim Viehhüten und anderswo häufig von Muslimen
beleidigt, beschimpft und belästigt worden und sie habe auch sonst Angst vor
Mißhandlungen durch Muslime gehabt, ist damit eine erlittene oder unmittelbar
drohende politische Verfolgung nicht schlüssig dargetan, weil es an hinreichend
substantiierten Angaben hinsichtlich Ort, Zeit, Art und Intensität der fraglichen
Übergriffe und hinsichtlich einer versuchten Inanspruchnahme staatlichen
Schutzes fehlt. Soweit die Beigeladene zu 1) angeführt hat, daß ihr Elternhaus
ausgeraubt worden sei, gehen ihre Angaben in den verschiedenen
Verfahrensstadien in bezug auf den Zeitpunkt und die Einzelumstände erkennbar
auseinander; ungeachtet dessen kann diesem Vorbringen asylrechtliche Relevanz
schon deshalb nicht beigemessen werden, weil weder eine dadurch eingetretene
Existenzgefährdung der Familie dargetan noch Anhaltspunkte für eine Anknüpfung
an die Religionszugehörigkeit und für einen erfolglosen Versuch ersichtlich sind,
polizeiliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Was schließlich den Umstand angeht,
daß dem Vater der Beigeladenen zu 1) ihren Bekundungen zufolge zu Unrecht
eine von ihm nicht begangene Straftat angelastet und er außerdem erpreßt
worden sein soll, kann die Beigeladene zu 1) daraus keinen eigenen Asylanspruch
herleiten, denn es ist nicht ersichtlich, daß ihr etwa ein ähnliches Schicksal
unmittelbar gedroht hätte oder daß ihre wirtschaftliche Existenz durch die Zahlung
der erpreßten Geldbeträge ernstlich in Frage gestellt gewesen wäre.
b) Soweit die Beigeladene zu 1) hinsichtlich ihres kurzen Aufenthalts in
54 b) Soweit die Beigeladene zu 1) hinsichtlich ihres kurzen Aufenthalts in
Gündükhanna erstmals bei ihrer Vernehmung am 23. Januar 1990 angegeben hat,
ihr Schwiegervater bzw. ihre Schwiegermutter seien insgesamt zweimal entführt
worden, um Geld von der Familie ihres Ehemannes zu erpressen (Bl. 135 d.A.),
stimmen diese Bekundungen nicht mit denen der Schwiegereltern und der
Geschwister des Ehemannes in deren Asylverfahren überein (vgl. insoweit Bl. 21
der Bundesamtsakte Tür-S-31469 u. Bl. 16 der Bundesamtsakte 163/05897/84
sowie Bl. 61 f. der Gerichtsakte VG Wiesbaden IX/1 E 5653/83, Bl. 166 f. der
Gerichtsakte 12 UE 2702/86, Bl. 137 der Gerichtsakte 12 UE 2997/86 u. Bl. 210 u.
214 der Gerichtsakte 12 UE 2998/86). Abgesehen davon wurde dadurch
offensichtlich die wirtschaftliche Existenz der Beigeladenen zu 1) und der Familie
ihres Ehemannes nicht gefährdet, da es anderenfalls nicht gelungen wäre, in der
Folgezeit in Gündükschükrü einen gut funktionierenden landwirtschaftlichen Betrieb
aufzubauen und diesen bis Februar 1984 zu betreiben, und außerdem dürften für
die Täter eher wirtschaftliche als religiöse Gesichtspunkte bestimmend gewesen
sein und fehlt es auch an hinreichenden Anhaltspunkten für eine asylrechtliche
Zurechnung. Soweit die Beigeladene zu 1) sich auf das Asylbegehren ihres
Ehemannes berufen und dieser seinerseits den Tod seines Bruders D gegen
Anfang oder Mitter der 70er Jahre angeführt hat, kann die Beigeladene zu 1)
daraus selbst keinen Asylanspruch herleiten. Zwar mag den Verwandten und
Verschwägerten der Beigeladenen zu 1) im Hinblick auf die dem Senat aus seiner
Praxis bekannten unsicheren Gepflogenheiten der türkischen
Personenstandsbehörden geglaubt werden können, daß der Bruder D des
Ehemannes der Beigeladenen zu 1) tatsächlich nicht mehr am Leben ist, obgleich
der in der über den Schwager A der Beigeladenen zu 1) geführten
Ausländerbehördenakte befindliche Auszug aus dem Personenstandsregister vom
27. März 1980 ihn noch als lebend ausweist (vgl. dort Bl. 12 bis 14). Indessen sind
die Umstände des Todes von D weitgehend ungeklärt geblieben, so daß nicht
festgestellt werden kann, ob hierbei seine Religion überhaupt eine Rolle gespielt
hat; vielmehr könnte -- wie der Schwiegervater der Beigeladenen zu 1) oder der
Schwager I D im Rahmen ihrer Vorprüfungsanhörungen angegeben haben -- auch
nur das Verhalten D bei der einige Zeit zuvor erfolgten Entführung der Schwester
des Schwiegervaters oder ein Streit um das der Familie des Ehemannes der
Beigeladenen zu 1) zustehende Wasser für die Baumwollfelder die wohl unbekannt
gebliebenen Täter veranlaßt haben, D zu erwürgen bzw. zu ertränken. Abgesehen
davon fehlt es an der asylrechtlichen Zurechenbarkeit, da die Gendarmerie
offenbar weitere Ermittlungen nur deshalb unterlassen hat, weil in Ermangelung
von Zeugen keine geeigneten Anhaltspunkte gegeben waren. Den insgesamt in
Einzelheiten widersprüchlichen Angaben des Ehemannes der Beigeladenen zu 1),
dessen Eltern und Geschwistern zum Tode D (vgl. insbesondere Bl. 24 der
Bundesamtsakte Tür-T-11815, Bl. 21 der Bundesamtsakte Tür-S-31469, Bl. 6, 22
u. 30 der Bundesamtsakte 163/73991/80, Bl. 28 der Bundesamtsakte
163/05175/84 u. Bl. 17 der Bundesamtsakte 163/05897/84 sowie Bl. 34 der
Gerichtsakte VG Wiesbaden I/1 E 5614/80 u. Bl. 89 der Gerichtsakte VG Wiesbaden
X/2 E 5620/83, ferner Bl. 163 der Gerichtsakte 12 UE 2702/86 u. Bl. 209 der
Gerichtsakte 12 UE 2998/86) brauchte überdies schon deshalb nicht
nachgegangen zu werden, weil die Beigeladene zu 1) keinerlei Anhaltspunkte dafür
dargetan hat, daß ihr -- die damals noch gar nicht in Gündükhanna gelebt hat --
etwa ein ähnliches Schicksal wie dem Bruder ihres Ehemannes drohte.
Entsprechendes gilt, soweit der Ehemann der Beigeladenen zu 1) in seinem
Asylverfahren von dem Cousin M D seiner Mutter berichtet hat, der im Jahre 1978
bei einer Fahrt mit seinem Jeep-Taxi, in dem er mehrere Christen beförderte, in der
Nähe des Dorfes Dibak von Muslimen beschossen und tödlich verletzt worden ist.
Zwar sind auch insoweit die Angaben des Ehemannes der Beigeladenen zu 1) und
seiner Familienangehörigen hinsichtlich der Einzelheiten der Tatumstände in
vielerlei Hinsicht widersprüchlich (vgl. insbesondere Bl. 24 der Bundesamtsakte
Tür-T-11815, Bl. 25 der Bundesamtsakte Tür-S-25331, Bl. 21 der Bundesamtsakte
Tür-S-31469 u. Bl. 31 der Bundesamtsakte 163/05175/84, ferner Bl. 33 f. der
Gerichtsakte VG Wiesbaden I/1 E 5614/80 sowie Bl. 39 u. 164 f. der Gerichtsakte 12
UE 2702/86 u. Bl. 211 der Gerichtsakte 12 UE 2998/86). Gleichwohl kann aufgrund
der Feststellungen, die der damals für Asylsachen allein zuständige 10. Senat des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in früheren Berufungsverfahren der Tochter F
und des Schwiegersohnes S B des Getöteten getroffen hat (13.05.1982 -- X OE
1131/81 -- u. 09.09.1982 -- X OE 1076/81 --), angenommen werden, daß der Mord
an die Religionszugehörigkeit angeknüpft hat und aufgrund des Verhaltens der
Gendarmerie, die nichts zur Überführung und Bestrafung des Täters
unternommen hat, dem türkischen Staat auch asylrechtlich zurechenbar ist.
Daraus kann indessen die Beigeladene zu 1) keine ihr seinerzeit unmittelbar
drohende Furcht vor einem ähnlichen Übergriff herleiten, zumal sie mit dem
55
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drohende Furcht vor einem ähnlichen Übergriff herleiten, zumal sie mit dem
Ermordeten nur entfernt verschwägert und ihre Person offenbar weder für die Täter
noch für andere Muslime von vergleichbarem Interesse war. Soweit der Ehemann
der Beigeladenen zu 1) in seinem Asylverfahren weiter angegeben hat, Muslime
hätten ihnen oft wochenlang das Wasser für die Baumwollfelder abgestellt, reichen
diese Angaben auch unter Einbeziehung der insoweit einschlägigen Bekundungen
seiner Verwandten schon nicht aus, um einen asylerheblichen Eingriff
festzustellen. Denn die wirtschaftliche Existenz des Ehemannes der Beigeladenen
zu 1) war durch die betreffenden Maßnahmen offensichtlich ebensowenig ernstlich
gefährdet wie diejenige seiner Familie.
c) Auch für die Zeit nach dem Umzug der Beigeladenen zu 1) und ihres
Ehemannes sowie dessen Familie nach Gündükschükrü, wo der Beigeladene zu 2)
am 27. Juli 1979 geboren sein dürfte, bis zur Ausreise der beiden Beigeladenen am
24. Dezember 1979 vermag der Senat eine Vorverfolgung nicht zu bejahen.
Soweit die Beigeladene zu 1) in ihrem anwaltlichen Asylantrag vom 30. August
1984 geltend gemacht hatte, in Gündükschükrü seien häufiger christliche Mädchen
von Muslimen entführt worden, ohne daß die Polizei etwas unternommen habe,
hat die Beigeladene zu 1) diesen Vortrag bei ihrer Vernehmung am 23. Januar
1990 nicht aufrechterhalten und nunmehr bekundet, während ihres Aufenthalts in
Gündükschükrü sei es nicht zu Entführungen gekommen und ihr sei auch nichts
von früheren dortigen Entführungen erzählt worden. Unter diesen Umständen
kann nicht angenommen werden, daß für die Beigeladene zu 1) seinerzeit die
Gefahr einer Entführung unmittelbar bevorstand, zumal sie aufgrund ihrer
Einbindung in den Familienverband ihres Ehemannes auch nach dessen Ausreise
umfassenden Schutz genoß; damals befanden sich nämlich ihr Schwiegervater
und ihr Schwager I noch als schutzfähige und offenbar auch schutzwillige Personen
in Gündükschükrü. Soweit die Beigeladene zu 1) sich anläßlich der
Vorprüfungsanhörung darauf berufen hat, daß nach der Ausreise ihres Ehemannes
nachts wiederholt Kurden gekommen seien und nach dessen Aufenthaltsort
gefragt hätten, ist eine gerade der Beigeladenen zu 1) unmittelbar drohende
Verfolgungsgefahr ebenfalls nicht dargetan, zumal sie ihren eigenen Angaben
zufolge selbst keinerlei Kontakt mit den betreffenden Personen hatte, sondern
diese lediglich mit ihrer Schwiegermutter gesprochen haben sollen; abgesehen
davon fällt auf, daß die Beigeladene zu 1) hierauf in der mündlichen Verhandlung
vor dem Verwaltungsgericht und bei ihrer Vernehmung durch den Berichterstatter
des Senats nicht mehr zu sprechen gekommen ist und daß die Schwiegermutter
der Beigeladenen zu 1) hiervon in ihrem Asylverfahren nichts berichtet hat. Was
schließlich diejenigen Übergriffe auf Verwandte angeht, die die Beigeladenen und
ihr Ehemann bzw. Vater, auf dessen Asylvorbringen sie sich ausdrücklich bezogen
haben, geltend gemacht haben, die aber nach ihrer eigenen Ausreise stattfanden,
wie etwa Erpressungen der Schwieger- bzw. Großeltern und des Schwagers bzw.
Onkels I D (Bl. 262 der Gerichtsakte VG Wiesbaden I/1 E 5614/80) sowie ein
Überfall auf den letztgenannten, bei dem dieser mit einem Messer an der Nase
verletzt worden sein soll (Bl. 135 d.A.), so kann daraus eine Vorverfolgung der
Beigeladenen selbst keinesfalls hergeleitet werden.
4. Sind demnach die Beigeladenen unverfolgt ausgereist und legt man demzufolge
den "normalen" Wahrscheinlichkeitsmaßstab an (vgl. BVerwG, 31.03.1981 -- 9 C
286.80 --, EZAR 200 Nr. 3 = DVBl. 181, 1096, 25.09.1984 -- 9 C 17.84 --, BVerwGE
70, 169 = EZAR 200 Nr. 12, u. 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ
1986, 760), so kann auch nicht festgestellt werden, daß den Beigeladenen bei
einer Rückkehr in die Türkei im jetzigen Zeitpunkt als Angehörigen einer kollektiv
verfolgten Gruppe politische Verfolgungsmaßnahmen drohen. Zwar hat sich die
Rechts- und Tatsachenlage seit der Ausreise der Beigeladenen im Dezember 1979
in mehrfacher Hinsicht verändert; hieraus kann aber auf eine gegenwärtige
Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Christen nicht geschlossen werden.
Was die Gestaltung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen angeht, so
sehen die Vorschriften des Art. 24 der 1982 in Kraft getretenen neuen türkischen
Verfassung vor, daß niemand gezwungen werden darf, an Gottesdiensten,
religiösen Zeremonien und Feiern teilzunehmen oder seine religiöse Anschauung
und seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren (Abs. 3) und daß die Religions-
und Sittenerziehung und -lehre unter der Aufsicht und Kontrolle des Staates
durchgeführt werden und religiöse Kultur und Sittenlehre in den Grund- und
Mittelschulen zu den Pflichtfächern gehören (Abs. 4). Auf der Grundlage der
letztgenannten Verfassungsbestimmung ist in den Jahren 1982 bis 1985 der
bisherige Moralkundeunterricht mit dem Religionsunterricht zusammengelegt und
als Pflichtfach eingeführt worden (46., S. 5; 55.; 57., S. 9 ff.; 58., S. 5; 63., S. 20;
58
als Pflichtfach eingeführt worden (46., S. 5; 55.; 57., S. 9 ff.; 58., S. 5; 63., S. 20;
64, S. 5; 69.). Mit Beschluß vom 3. Oktober 1986, Nr. 28, des Erziehungs- und
Ausbildungsausschusses, der im Mitteilungsblatt des Ministeriums für nationale
Erziehung, Jugend und Sport vom 20. Oktober 1986, Nr. 2219, veröffentlich wurde
(Anlage zu 50.; 57., S. 21 ff.), wurden "allgemeine Prinzipien der Religionslehre und
des Ethikunterrichts" festgelegt und ein Ausbildungsprogramm für diese Fächer
verabschiedet. Danach ist der Grundsatz des Laizismus immer zu beachten und
zu schützen und darf niemand zu religiösen Handlungen gezwungen werden;
außerdem ist bestimmt, daß, wenn den Kindern die "nationale Moral gelehrt wird",
unter den Religionen nicht unterschieden wird, um den Kindern später die
Anpassung an die Gesellschaft zu erleichtern. Insgesamt kommt in dem
Ausbildungsprogramm zwar deutlich zum Ausdruck, daß der Islam die Religion der
Türkei und Mohammed ein Vorbild für die Türken sein soll (57., S. 28 ff.). Die nach
dem Verfassungsgrundsatz des Laizismus gebotene Distanz des türkischen
Staats gegenüber der islamischen Religion äußert sich aber darin, daß türkische
Schüler christlichen Glaubens das islamische Glaubensbekenntnis, die islamische
Einleitungsformel, die Glaubensformel Amentü, die Koranverse und das islamische
Ritualgebet Namaz nicht zu lernen und keine Kenntnisse über Namaz, Ramadan,
die Regeln über die islamischen Jahresspenden und das Pilgern nach Mekka zu
erwerben brauchen (vgl. Nr. 4 der Anlage zu 50. u. Nr. 4 in 57., S. 23). Durch
ergänzenden Beschluß vom 29. Januar 1987, Nr. 23, veröffentlich im
Mitteilungsblatt vom 9. Februar 1987, Nr. 2227, wurde zudem klargestellt, daß
christliche Schüler während der Behandlung der betreffenden Lehrinhalte nicht in
der Klasse anwesend sein müssen (57., S. 31 ff.). Nach alledem bieten die
gesetzlichen und die verwaltungsinternen Vorschriften, die auch Gegenstand eines
beim Höchsten Gerichtshof anhängigen Prozesses sind (63., S. 24 ff.), keine
Veranlassung für die Annahme, der türkische Staat greife zum jetzigen Zeitpunkt
unmittelbar in die Freiheit der religiösen Betätigung der Syrisch-Orthodoxen in
einer Weise ein, die die Menschenwürde oder das religiöse Existenzminimum
antastet. Davon abgesehen verfolgte die Einführung des staatlichen
Pflichtunterrichts in Ethik und Religion das Ziel einer Eindämmung der privaten
Koranschulen (20.; 57., S. 1) und läßt deshalb für sich keinen Rückschluß auf eine
damals und noch jetzt vorhandene Neigung staatlicher Stellen zur gezielten
Beeinträchtigung nichtmuslimischer Religionen zu. Auch eine mittelbare staatliche
Gruppenverfolgung läßt sich im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht nicht
feststellen. Zwar mag in einigen Fällen von den Lehrkräften gegen die oben
behandelten Vorschriften verstoßen werden und es zu Diskriminierungen von
christlichen Schülern kommen mit der Folge, daß diese lieber an den islamischen
Gebeten teilnehmen (vgl. 34.; 45., S. 3; 50.; 57., S. 26 ff., 35 ff. u. 47 ff; 58., S. 5;
63. S. 20 f.; 64., S. 5 ff.; 69.; 75.; 76., S. 5). Abgesehen von der insoweit meist
fehlenden Intensität der einzelnen Maßnahmen sind die gelegentlichen Übergriffe
von Lehrkräften dem türkischen Staat asylrechtlich nicht zuzurechnen, weil auch
gegenwärtig Anhaltspunkte dafür, daß die Verantwortlichen an höherer Stelle
derartige dienstliche Verfehlungen fördern oder zumindest dulden, nicht
festgestellt werden können (vgl. 58., S. 5).
Die Behandlung christlicher Wehrpflichtiger in der türkischen Armee hat sich nach
den Erkenntnissen des Senats seit der Machtübernahme durch das Militär im
September 1980 merklich verschlimmert. Die vorliegenden Auskünfte und
Stellungnahmen gehen nach wie vor überwiegend dahin, daß Drangsalierungen
durch Verbalinjurien und Schläge weiterhin vorkämen, daß aber Fälle von
Zwangsbeschneidungen und -bekehrungen nicht oder nur selten bekannt
geworden seien (53.; 56.; 61., S. 6; 63., S. 15; 64., S. 9; 66., S. 2 f.; 74., S. 4 f.; 77.,
S. 4). Demgegenüber hat ein Zeuge in einem Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nähere Angaben über einzelne Fälle von
Zwangsbeschneidungen gemacht (47.). Dieser ist 16 Monate lang bis Juli 1985
Militärarzt in Agri in der Osttürkei gewesen und hat während seiner Dienstzeit etwa
90 christliche Rekruten kennengelernt. Seinen Angaben zufolge kann er zwar nicht
als Augenzeuge bestätigen, daß jemand beim Militär einer mit körperlicher Gewalt
durchgeführten Zwangsbeschneidung unterzogen worden ist. Er hat allerdings
glaubhaft bezeugt, daß man auf andere Weise Personen dazu gezwungen hat, sich
beschneiden zu lassen. Er selbst habe die Beschneidung einiger Soldaten, die zu
ihm zur Zwangsbeschneidung geschickt worden seien, zwar abgelehnt. Er habe
aber mit eigenen Augen gesehen, daß man im Militärkrankenhaus von Agri einen
christlichen Soldaten beschnitten habe, der bei einem späteren Gespräch
offenbart habe, daß er nur unter Zwang die Beschneidung habe vornehmen
lassen; der Soldat sei nämlich nach seiner anfänglichen Weigerung "vom
Schreibdienst zum Toilettenplatz degradiert" und dann auch noch wiederholt
geschlagen worden. Der Zeuge gab ferner an, er wisse, daß 30 bis 40 Soldaten der
geschlagen worden. Der Zeuge gab ferner an, er wisse, daß 30 bis 40 Soldaten der
Beschneidung im Krankenhaus unterzogen worden seien; er habe diese Soldaten
aus den üblichen Generaluntersuchungen, die alle drei Monate stattfänden,
gekannt, und alle hätten ihm unter vier Augen bedeutet, sie seien auf keinen Fall
zur Beschneidung bereit gewesen. Die im Berufungsverfahren des Schwagers bzw.
Onkels A D der Beigeladenen am 22. März 1990 vernommenen sechs Zeugen
haben ähnliches bekundet. Sie haben in dem Zeitraum zwischen Juli 1980 und
Dezember 1986 jeweils unabhängig voneinander ihren Militärdienst abgeleistet
und sind allesamt Christen entweder -- in einem Fall -- armenisch-katholischer
oder arabisch- bzw. rum-orthodoxer Religionszugehörigkeit. Ihre mindestens drei
Monate lange Grundausbildung absolvierten drei von ihnen in Sivas und die
übrigen in Amazya, und ihren anschließenden Dienst versahen sie in Samsun,
Konya, Istanbul, Van, Agri und Sarikamis. Alle sechs Zeugen haben glaubhaft
bekundet, daß sie während ihrer Militärzeit beschnitten worden sind, und zwar mit
einer Ausnahme im Verlaufe der Grundausbildung. Der Zeuge, der sich der
Beschneidung in der Grundausbildung noch entziehen konnte, hat dies
nachvollziehbar auf ein gewisses Wohlwollen seines Vorgesetzten zurückgeführt,
das er durch die Reparatur von dessen Fernsehapparat erlangt gehabt habe;
dieser Zeuge wurde dann an seinem neuen Standort Sarikamis beschnitten (Bl.
257 f. der Gerichtsakte 12 UE 2997/86). Die Zeugen sind ihren in sich stimmigen
und von den übrigen Verfahrensbeteiligten nicht in Zweifel gezogenen Angaben
zufolge jeweils im örtlichen Militärkrankenhaus beschnitten worden. Einem wurde
vorgetäuscht, daß er lediglich untersucht werde; er wurde sodann in Vollnarkose
versetzt und beschnitten (Bl. 247 der Gerichtsakte 12 UE 2997/86). Den anderen
war klar oder wurde spätestens von den Militärärzten eröffnet, daß sie beschnitten
werden sollten. Hiervon ließen sich die Ärzte auch nicht abbringen, obwohl drei der
Zeugen ihnen gegenüber äußerten, daß sie eine Beschneidung ablehnten; die
Ärzte verwiesen entweder auf einen ihnen erteilten Befehl oder auf die Regeln des
Islam (Bl. 249, 251, 253 der Gerichtsakte 12 UE 2997/86). Einer der Zeugen gab
an, er habe sich angesichts eines vorausgegangenen Befehls des obersten
Vorgesetzten am Standort und anwesender Wachen nicht getraut, dem Arzt
gegenüber eine Beschneidung zu verweigern (Bl. 258 der Gerichtsakte 12 UE
2997/86). Und nur ein einziger der sechs Zeugen hat ausgesagt, daß er sich nicht
auf Befehl, sondern auf den Rat des Arztes hin habe beschneiden lassen, weil er
keinen anderen Ausweg gesehen habe, wenn er nicht jeden Tag Prügel habe
beziehen wollen (Bl. 255 der Gerichtsakte 12 UE 2997/86). Des weiteren haben
fünf der Zeugen nicht nur von ihrer eigenen Beschneidung, sondern darüber
hinaus davon berichtet, daß die übrigen ihnen bekannten christlichen Rekruten, die
zum selben Zeitpunkt einberufen worden waren oder in derselben Einheit
Wehrdienst leisteten, nahezu ausnahmslos während der Grundausbildung gegen
ihren Willen beschnitten worden seien; insoweit wurden für Sivas von einem
Zeugen für seine Dienstzeit zehn armenische Christen (Bl. 247 der Gerichtsakte
12 UE 2997/86) und von einem anderen für seine Dienstzeit insgesamt ca. 30
Christen (Bl. 253 der Gerichtsakte 12 UE 2997/86) und für Amazya von drei
Zeugen jeweils für die eigene Dienstzeit ca. 35 bzw. 45 bzw. 30 christliche
Rekruten genannt (Bl. 248 f., 252 u. 256 f. der Gerichtsakte 12 UE 2997/86). Einer
der Zeugen hat ferner bekundet, daß er sich nicht nur bei seinem Kompaniechef,
sondern -- zusammen mit anderen zwangsbeschnittenen Christen -- sogar bei
dem ranghöchsten Offizier in Sivas über den Eingriff erfolglos beschwert habe (Bl.
247 der Gerichtsakte 12 UE 2997/86); ein anderer Zeuge hat angegeben, daß er
sich bei seinem direkten Vorgesetzten ohne Erfolg zum Zwecke einer Beschwerde
bei dem nächsthöheren Vorgesetzten angemeldet habe (Bl. 249 der Gerichtsakte
12 UE 2997/86), und ein dritter, daß er wegen Beleidigung seines direkten
Vorgesetzten Disziplinararrest erhalten habe, als er sich über diesen beim
nächsthöheren Vorgesetzten beschwert habe (Bl. 255 der Gerichtsakte 12 UE
2997/86). Wenn nach alledem nunmehr davon auszugehen ist, daß es nicht nur in
Agri, sondern auch in Sivas, Amazya und Sarikamis zu Zwangsbeschneidungen
von christlichen Wehrpflichtigen gekommen ist, und zwar nicht lediglich von
einzelnen Personen, sondern seit dem Militärputsch offenbar von nahezu allen zu
einem bestimmten Dienstantrittstermin einberufenen Rekruten, so vermag der
Senat jedenfalls in bezug auf diese Standorte und auch für die Zukunft eine
beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür nicht (mehr) zu verneinen, daß -- soweit eine
Beschneidung nicht sogar ausdrücklich befohlen wird -- christliche Wehrpflichtige
von Kameraden und insbesondere auch von Vorgesetzten mindestens derart
unter Druck gesetzt werden, daß sie einer Beschneidung regelmäßig nicht
ausweichen können. Mit physischer oder psychischer Gewalt durchgeführte
Beschneidungen liegen als Eingriffe in die körperliche Integrität, die regelmäßig mit
einem stationären Aufenthalt im Militärkrankenhaus verbunden sind, und als
Maßnahmen, die die Opfer unter Mißachtung ihres religiösen und personalen
Maßnahmen, die die Opfer unter Mißachtung ihres religiösen und personalen
Selbstbestimmungsrechts zum bloßen Objekt erniedrigen und deshalb das
religiöse Existenzminimum berühren, über der Schwelle dessen, was -- auch mit
Blick auf die allgemein rauhen Umgangsformen innerhalb der türkischen Armee
(39., S. 5; 41., S. 5 f.; 77., S. 2 u. 5) -- noch als hinnehmbar angesehen werden
kann (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, 15.02.1990 -- 14 A 10082/87 --).
Derartige Beschneidungen knüpfen überdies erkennbar an die
Religionszugehörigkeit der Betroffenen an. Denn sie stellen nach ihrem inhaltlichen
Charakter objektiv und nicht nur aus der Sicht derjenigen, die sie anordnen oder
veranlassen, und derjenigen, die sie durchführen, einen ersten und
unabänderlichen äußeren Schritt zur zwangsweisen Bekehrung der Opfer zum
Islam dar; den Betroffenen wird damit nämlich die symbolhafte Aufnahme in die
islamische Gemeinschaft aufgenötigt, mag deren innere religiöse Einstellung allein
dadurch auch noch unberührt bleiben können (vgl. 39., S. 5). Der Senat ist darüber
hinaus aufgrund der ihm nunmehr vorliegenden Erkenntnisse auch zu der
Überzeugung gelangt, daß die betreffenden Verfolgungsmaßnahmen dem
türkischen Staat zuzurechnen sind (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, 15.02.1990
-- 14 A 10082/87 --). Eine zurechenbare Verfolgung liegt nämlich schon dann vor,
wenn der Staat in der Armee auftretenden asylrelevanten Übergriffen auf
Wehrpflichtige nicht entgegenwirkt, in dem er beispielsweise präventive
Vorkehrungen trifft, um Übergriffe zu verhindern, und indem er, wenn solche
Übergriffe gleichwohl vorkommen, den Opfern Schutz gewährt und gegen
pflichtwidrig Handelnde Sanktionen verhängt (BVerwG, 22.04.1986 -- 9 C 318.85
u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8). Die Vielzahl der jetzt bekannt
gewordenen Fälle von Zwangsbeschneidungen christlicher Wehrpflichtiger während
ihres Militärdienstes kann der militärischen Führung nicht verborgen geblieben
sein. Gleichwohl hat sie keinerlei Vorkehrungen dafür getroffen, daß derartige
Übergriffe in Zukunft unterbleiben, sondern sie bietet hierzu offenbar weiterhin
Gelegenheit in mehreren Militärkrankenhäusern, in denen Beschneidungen ohne
weiteres und gegen den Willen der Betroffenen vorgenommen werden.
Ebensowenig kann nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vom 22. März 1990
und den sonst vorliegenden Erkenntnisquellen noch festgestellt werden, daß den
Betroffenen wenigstens im nachhinein Schutz gewährt wird und daß diejenigen, die
Beschneidungen anordnen, veranlassen oder durchführen, prinzipiell zur
Rechenschaft gezogen werden. Schon bisher ist der Senat davon ausgegangen,
daß die Beschwerden von Soldaten in den unteren Rängen häufig nicht akzeptiert
werden und die Folgen einer Beschwerdeeinlegung für sie eher negativ seien, so
daß sie aus Angst oder wegen des sozialen Drucks in ihrer Einheit in der Praxis von
der Beschreitung des Beschwerdewegs meist absehen (41., S. 6; 56.; 57.; 61.; 77.,
S. 4). Diese Einschätzung haben einige der Zeugen bestätigt und dabei
insbesondere auch darauf hingewiesen, daß sie keine Chance für eine erfolgreiche
Beschwerde an höherer Stelle gesehen hätten, weil jeweils der Beschwerdeweg
über den direkten Vorgesetzten einzuhalten sei (Bl. 249 f., 251, 254 der
Gerichtsakte 12 UE 2997/86), und daß wegen der Kontrolle der Post auch die
Einschaltung politischer Stellen nicht angezeigt gewesen sei (Bl. 247 f. der
Gerichtsakte 12 UE 2997/86). Darüber hinaus hat einer der Zeugen glaubhaft
bekundet, daß selbst der ranghöchste Vorgesetzte am Standort Sivas auf seine
Beschwerde hin nicht tätig geworden sei (Bl. 247 der Gerichtsakte 12 UE 2997/86);
andere haben angegeben, daß ihre Beschneidung nicht irgendein militärischer
Unterführer, sondern der jeweilige Kapitän (Hauptmann) ihrer Einheit selbst
befohlen habe (Bl. 251, 257 f. der Gerichtsakte 12 UE 2997/86). Wenn schließlich
der ranghöchste Vorgesetzte in Sivas auf eine Beschwerde hin geäußert hat, es
sei beschlossene Sache, in der Türkei einen islamischen Einheitsstaat zu schaffen
(Bl. 247 der Gerichtsakte 12 UE 2997/86), so bestätigt dies hinreichend deutlich,
daß die Militärführung offenbar dem Laizismus nicht mehr hinreichend Geltung
verschafft und vor dem Hintergrund der in der Türkei spürbaren Rückbesinnung auf
islamische Werte Übergriffe gegenüber christlichen Wehrpflichtigen nicht mehr
energisch genug unterbindet (56.; 61.; 74. S. 4; 77., S. 5). Nimmt man noch hinzu,
daß der Generalstab im Ramadan 1984 kollektiv gefastet hat und daß in letzter
Zeit Offiziere zum gemeinsamen Freitagsgebet aufgefordert haben (77., S. 5),
ferner daß der Staatsminister für das Amt für religiöse Angelegenheiten am 10.
November 1989 geäußert haben soll, es sei jetzt notwendig, die Christen zu
islamisieren (76., S. 18; vgl. dazu auch 61., S. 6), so liegen nunmehr die -- vom
Senat bisher vermißten (vgl. zuletzt vor allem Hess. VGH, 27.02.1989 -- 12 UE
839/85 --, 20.11.1989 -- 12 UE 2336/85 -- u. 04.12.1989 -- 12 UE 2652/85 u. 12 UE
63/86 --) -- verwertbaren Tatsachen vor, die auf eine Förderung oder zumindest
Duldung von Zwangsbeschneidungen gegenüber christlichen Wehrpflichtigen
hindeuten. Denn einmal sind jetzt konkrete Fälle bekannt, in denen Beschwerden
eingereicht und bei höherer Stelle erfolglos geblieben sind, und zum anderen
59
eingereicht und bei höherer Stelle erfolglos geblieben sind, und zum anderen
finden sich Äußerungen verantwortlicher Personen in der Öffentlichkeit oder
gegenüber Betroffenen, die -- im Einklang mit entsprechenden Beschlüssen des
"Islamischen Rates" aus dem Jahr 1984 (vgl. 65.) -- den generellen Schluß auf eine
staatliche Politik zulassen, die den Umstand mindestens mit Wohlwollen sieht --
wenn nicht sogar gezielt herbeiführt --, daß sich Christen durch Drangsalierungen
auf verschiedensten Ebenen -- nicht nur beim Militär -- zur Ausreise veranlaßt
sehen (56.; 77., S. 4; vgl. auch 43., S. 7, u. 45, S. 4). Bei alledem bedarf es --
zumal keiner der Beteiligten das vorliegende Tatsachenmaterial angezweifelt oder
die Einholung weiterer Auskünfte oder gutachtlicher Stellungnahmen substantiiert
beantragt hat -- derzeit keiner diesbezüglichen weiteren Ermittlungen; denn
bereits auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen steht
fest, daß gegenwärtig nicht (mehr) davon die Rede sein kann, daß der türkische
Staat im großen und ganzen erfolgreich das pflichtwidrige Handeln von
Militärangehörigen bekämpft und daß deshalb -- trotz Mißlingens einer lückenlosen
Verhinderung und Ahndung aller in seinem Machtbereich auftretenden Vorfälle --
seine asylrechtliche Verantwortlichkeit entfällt. Indessen reichen die vorliegenden
Feststellungen nicht für die Annahme aus, daß christliche Wehrpflichtige allgemein
mit einer Zwangsbeschneidung im Militär in dem Sinne zu rechnen haben, daß
daraus auf eine politische Kollektivverfolgung aller Christen oder zumindest des
abgrenzten Kreises aller wehrpflichtigen Gruppenangehörigen geschlossen werden
könnte. Denn die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt eine Verfolgungsdichte
voraus, die in quantitativer Hinsicht die Gefahr einer so großen Vielzahl von
Eingriffshandlungen aufweist, daß dabei nicht mehr nur von -- möglicherweise
zahlreichen -- individuellen Übergriffen gesprochen werden kann, sondern von
einer ohne weiteres bestehenden aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit jedes
Gruppenmitglieds (BVerwG, 08.02.1989 -- 9 C 33.87 --, EZAR 202 Nr. 15 = NVwZ-
RR 1989, 502). Dafür genügen die bisher lediglich für vier Standorte festgestellten
Zwangsbeschneidungen von christlichen Wehrpflichtigen für sich allein noch nicht,
zumal aus einer politischen Verfolgung der wehrpflichtigen Gruppenangehörigen
nicht ohne weiteres eine Kollektivverfolgung der Syrisch-Orthodoxen insgesamt
entnommen werden könnte (BVerwG, 24.08.1989 -- 9 B 301.89 --, NVwZ 1990, 80
= InfAuslR 1989, 348).
Den Beigeladenen droht im Rückkehrfalle auch keine mittelbare staatliche
Gruppenverfolgung im Hinblick auf mögliche Übergriffe muslimischer Eiferer
außerhalb des Militärdienstes. Wie oben (unter II. 2. b) ausgeführt, hatten die
syrisch-orthodoxen Christen bis zur Ausreise der Beigeladenen aus der Türkei
allgemein und insbesondere in Istanbul eine derartige politische Verfolgung nicht
zu befürchten. Inzwischen hat sich die Sicherheitslage nach der Machtübernahme
durch die Militärs im September 1980 allgemein erheblich verbessert, und dies hat
sich nach allgemeiner Einschätzung auch zugunsten der syrisch-orthodoxen
Christen in Istanbul wie in anderen Landesteilen ausgewirkt (vgl. dazu etwa: 18., S.
34; 21.; 26.; 27.; 28.; 33.; 35.; 37.). Das Auswärtige Amt hat dazu nach
eingehenden Gesprächen mit syrisch-orthodoxen Geistlichen unter Bezugnahme
auf einen deutschsprachigen Bericht in dem Organ der Erzdiözese der syrisch-
orthodoxen Kirche von Antiochien in Europa vom Dezember 1982/Januar 1983
einen zunehmenden staatlichen Schutz für die syrisch-orthodoxen Christen nach
der Machtübernahme durch die Militärs festgestellt (33.). Die Evangelische
Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei berichtet davon, daß von der
Geistlichkeit und von einzelnen Gemeindemitgliedern immer wieder festgestellt
werde, daß sich die Verhältnisse nach dem 12. September 1980 gebessert hätten
(26.). Die Sürjanni Kadim berichtet, ihre Mitglieder befänden sich wie jeder andere
türkische Bürger nach dem 12. September 1980 "in Ruhe und in Sicherheit" (27.).
Nach Auskunft der Sachverständigen Dr. Harb-Anschütz hat sich nach dem 12.
September 1980 auch in Istanbul der Lage der syrisch-orthodoxen Christen
wesentlich verbessert (28.). Zu demselben Ergebnis gelangten die Teilnehmer
einer von der Evangelischen Akademie Bad Boll im Mai 1983 veranstalteten
Studienfahrt in die Türkei (30., S. 7 u. 18). Soweit eine Verbesserung der
Sicherheitslage mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Situation der
Syrisch-Orthodoxen in Istanbul bezweifelt wird (32., S. 17 ff.), fehlt es an konkreten
Hinweisen darauf, daß sich tatsächlich entgegen der allgemeinen Lebenserfahrung
die in der Türkei in den letzten Jahren zu beobachtende Verbesserung der
Sicherheitslage nicht auch zugunsten der christlichen Bevölkerung ausgewirkt
haben könnte. Auch bei Berücksichtigung neuerer Erkenntnisquellen hält der
Senat an dieser Einschätzung fest. Insbesondere läßt die insgesamt vorsichtig
gehaltene und nach Straftaten differenzierende Stellungnahme des
Sachverständigen Oehring an das Verwaltungsgericht Kassel vom 11. Juli 1988
(59.) nicht die Annahme zu, daß türkische Staatsbürger christlichen Glaubens
60
61
62
(59.) nicht die Annahme zu, daß türkische Staatsbürger christlichen Glaubens
generell gegenüber Straftaten muslimischer Staatsbürger strafrechtlichen Schutz
nicht erhielten; entsprechend ist das Gutachten der Gesellschaft für bedrohte
Völker vom Dezember 1988 (63., S. 13 f.) zu würdigen. Denn nach einer aktuellen
Auskunft des Auswärtigen Amts (72.) sind keine Fälle bekannt geworden, in denen
christlichen Türken behördlicher Schutz durch Abweisung ihrer Strafanzeigen
versagt worden ist (im Ergebnis ebenso Bay. VGH, 29.11.1985 -- 11 B 85 C 35 --;
VGH Baden-Württemberg, 20.06.1985 -- A 13 S 221/84 -- u. 09.02.1987 -- A 13 S
709/86 --; OVG Bremen, 14.04.1987 -- 2 BA 28/85 u. 32/85 --; OVG Hamburg,
10.06.1987 -- Bf V 21/86 --; OVG Nordrhein-Westfalen, 19.02.1987 -- 18 A
10315/86 --; Hess. VGH, 30.08.1984 -- X OE 306/82 --, 22.02.1988 -- 12 UE
1071/84 --, NVwZ-RR 1988, 48, -- 12 UE 1587/84 u. 12 UE 2585/85 --, 16.05.1988 -
- 12 UE 2571/88 --, 30.05.1988 -- 12 UE 2514/85 --, 13.06.1988 -- 12 OE 94/83 --,
27.06.1988 -- 12 UE 2438/85 --, 04.07.1988 -- 12 UE 2573/85 u. 12 UE 25/86 --,
17.10.1988 -- 12 UE 2601/84, 12 UE 767/86, 12 UE 2497/85 u. 12 UE 2813/86 --,
05.12.1988 -- 12 UE 2487/85 u. 12 UE 2569/85 --, 06.02.1989 -- 12 UE 2580/85 u.
12 UE 2584/85 --, 27.02.1989 -- 12 UE 838/85 u. 12 UE 839/85 --, 20.03.1989 -- 12
UE 1705/85, 12 UE 2192/86 u. 12 UE 3003/86 --, InfAuslR 1989, 253, 29.05.1989 --
12 UE 2586/85 u. 12 UE 2643/85 --, 20.11.1989 -- 12 UE 2336/85, 12 UE 2437/85
u. 12 UE 2536/85 -- sowie 04.12.1989 -- 12 UE 2652/85 u. 12 UE 63/86 --).
5. Der Beigeladenen zu 1) droht indessen zur Überzeugung des Senats mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Einzelverfolgung in Form ihrer
Entführung und anschließenden Zwangsbekehrung zum Islam (vgl. Hess. VGH,
23.08.1984 -- X OE 609/82 --, 17.10.1988 -- 12 UE 2601/84 u. 12 UE 767/85 --,
05.12.1988 -- 12 UE 2487/85 u. 12 UE 2569/85 --, 06.02.1989 -- 12 UE 2580/85 --,
27.02.1989 -- 12 UE 838/85 --, 20.03.1989 -- 12 UE 1705/85, 12 UE 2192/86 u. 12
UE 3003/86 --, InfAuslR 1989, 253, 29.05.1989 -- 12 UE 2586/85 u. 12 UE 2643/85 -
-, 20.11.1989 -- 12 UE 2536/85 -- u. 04.12.1989 -- 12 UE 63/86 --; a.A. OVG
Rheinland-Pfalz, 06.09.1989 -- 13 A 118/89 -- u. OVG Nordrhein-Westfalen,
19.10.1989 -- 14 A 10258/87 -- sowie 07.12.1989 -- 14 A 10144/87 u. 14 A
10250/87 --, ferner -- jedoch ohne Auseinandersetzung mit den einschlägigen
Erkenntnisquellen -- Bay. VGH, 21.08.1989 -- 11 B 89.31003 --), wenn sie in
Bardakci, in Gündükschükrü, in Istanbul oder anderswo in der Türkei zu leben
versuchte. Bei dieser Prognose läßt sich der Senat nicht etwa von rein
quantitativen oder statistischen Erwägungen leiten; sie ist vielmehr das Ergebnis
einer zusammenfassenden Bewertung des relevanten Sachverhalts, wobei vor
allem auch der Schwere des drohenden Eingriffs erhebliche Bedeutung
zuzumessen ist, so daß im Ergebnis die für eine Verfolgung sprechenden
Umstände größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden (vgl. zum
Prognosemaßstab insbesondere BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 32.87 --, EZAR 630 Nr.
25).
Für die hinsichtlich des Rückkehrfalles anzustellende Prognose ist davon
auszugehen, daß die Beigeladene zu 1) allein in die Türkei zurückkehren wird. Zwar
lassen Familienmitglieder nach der Lebenserfahrung einander in Notsituationen
nicht mutwillig im Stich und geben einander nicht einem unsicheren Schicksal
preis, dessen erkennbar bedrohliche Folgen sie ohne eigene Gefährdung oder
übermäßige Anstrengung abwenden können, und deshalb spricht eine tatsächliche
Vermutung dafür, daß der Ehemann und Vater einer mit ihrem Asylbegehren
erfolglos gebliebenen Familie diese heimbegleitet, wenn sie ohne ihn einer
Existenzgefährdung ausgesetzt wäre (BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C
15.89 --). Die genannte Vermutung gilt aber nur für das Verhältnis von Eltern zu
ihren noch sorgebedürftigen Kindern und von Eheleuten untereinander und
überdies nur dann, wenn nicht ihr entgegenstehende Tatsachen festgestellt sind
wie etwa die Anerkennung des Familienvaters als politisch Verfolgter oder dessen
erklärte Absicht, auf keinen Fall in das Herkunftsland zurückzukehren (BVerwG,
06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --). In bezug auf die Beigeladene zu 1) greift
die vorgenannte Vermutung schon deshalb nicht ein, weil ihr Ehemann
rechtskräftig als Asylberechtigter anerkannt ist und außerdem bei seiner
zeugenschaftlichen Vernehmung am 26. März 1990 (Bl. 170 d.A.) eindeutig und
glaubhaft erklärt hat, daß eine Rückkehr für ihn keinesfalls in Betracht komme.
Die Verfolgungsprognose ist für das gesamte Territorium des Heimatstaats
anzustellen; eine Beschränkung auf etwa den Geburts- oder den letzten
Herkunftsort ist nicht statthaft. Wer nämlich von nur regionaler politischer
Verfolgung betroffen ist, ist erst dann politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16 Abs.
2 Satz 2 GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird,
wenn er also in anderen Teilen seines Heimatstaats eine zumutbare Zuflucht nicht
63
64
65
wenn er also in anderen Teilen seines Heimatstaats eine zumutbare Zuflucht nicht
finden kann (sog. inländische Fluchtalternative); dies setzt freilich voraus, daß der
Betroffene in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung
hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und
Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen
Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese
existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, 10.07.1989 -
- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 79, 315 = EZAR 201 Nr. 20, u. 10.11.1989 -- 2 BvR
403/84 u.a. --, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254). Ist jemand vor einer
regionalen, an seine Religionszugehörigkeit anknüpfenden politischen Verfolgung
geflohen, so ist er am Ort einer in Betracht kommenden Fluchtalternative auch
dann nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung, wenn der Staat ihn durch
eigene Maßnahmen daran hindert, das religiöse Existenzminimum zu wahren;
entsprechendes gilt, wenn die dort ansässige Bevölkerung die Wahrung des
religiösen Existenzminimums durch aktives, mit dem für alle geltenden Recht
unvereinbares Handeln unmöglich macht, ohne daß der Staat die nach seiner
Rechtsordnung hiergegen allgemein in Betracht kommenden Maßnahmen ergreift
(BVerfG, 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, a.a.O.).
Für die Beigeladene zu 1) wird in erster Linie eine Rückkehrmöglichkeit nach
Bardakci, wo sie geboren und aufgewachsen ist, und nach Gündükschükrü zu
prüfen sein, wo sie zuletzt vor ihrer Ausreise bei Familienangehörigen ihres
Ehemannes gelebt hat. Indessen hat die Beigeladene zu 1) an beiden Orten mit
asylrelevanten Übergriffen muslimischer Türken zu rechnen, gegen die sie
staatlichen Schutz nicht wirksam wird in Anspruch nehmen können, und ein
anderer Ort innerhalb ihres Heimatstaats, an dem sie vor politischer Verfolgung
hinreichend sicher und auch sonst nicht existentiell gefährdet wäre, ist nicht
ersichtlich.
In ihrem Geburtsort Bardakci kann sich die Beigeladene zu 1) im Rückkehrfalle
nicht niederlassen, weil sich dort den Feststellungen des Senats zufolge (vgl. oben
unter II. 3.) nur noch wenige christliche Familien und keine näheren Verwandten
der Beigeladenen mehr befinden, nachdem ihre Eltern und sämtliche Geschwister
sich in Westeuropa aufhalten. Gleiches gilt für das Dorf Gündükschükrü, in dem
allenfalls noch 15 christliche Familien leben (vgl. oben unter II. 3.), jedoch keine
Verwandten der Beigeladenen zu 1) oder ihres Ehemannes mehr, seit dessen
Mutter und die beiden Geschwister I und H D im Februar 1984 als letzte Mitglieder
dieser Familie ins Bundesgebiet gekommen sind, nachdem zuvor die verkäuflichen
Teile des Hausrats und der Traktor veräußert worden waren. Es erscheint deshalb
für die Beigeladene zu 1) von vornherein als aussichtslos, in Bardakci oder
Gündükschükrü etwa den früheren -- zwischenzeitlich höchstwahrscheinlich von
Muslimen übernommenen -- Familienbesitz wieder in Anspruch nehmen und von
den dortigen Erträgnissen leben zu wollen.
Dagegen leben in Istanbul trotz der seit der Ausreise der Beigeladenen zu 1) aus
der Türkei fortgeschrittenen Abwanderung weiterhin syrisch-orthodoxe Christen in
größerer Anzahl. Wie bereits oben (unter II. 4.) ausgeführt, hat sich die
Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im September 1980
landesweit und damit auch zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul
erheblich verbessert. Der Senat teilt insoweit nicht die Auffassung des
Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (10.10.1986 -- 11 A 131/86 --,
aufgehoben durch BVerwG, 06.10.1987 -- 9 C 13.87 --, EZAR 203 Nr. 4 = InfAuslR
1988, 57), daß Asylbewerbern, die in der Osttürkei von einer Gruppenverfolgung
betroffen worden seien und sich nicht länger in Istanbul aufgehalten hätten, dort
allgemein keine zumutbare Fluchtalternative zur Verfügung stehe, weil auch dort
gewaltsame Übergriffe gegenüber Christen nicht ausgeschlossen werden könnten
(vgl. dazu Hess. VGH, 30.05.1988 -- 12 UE 2514/88 --). Für den erkennenden
Senat steht jedoch nach Auswertung der ihm vorliegenden Berichte und
Gutachten (insbesondere 4.; 5., S. 23 ff. u. 43 ff.; 14.; 15.; 16.; 35.; 45., S. 5 f.; 66.;
70., S. 54 ff.; 76., S. 5 f.) über die Lage der Christen in Istanbul fest, daß
diejenigen, die in diese Stadt zuziehen, ohne dort auf die Unterstützung von
Verwandten oder Bekannten rechnen zu können, schon allgemein auf erhebliche
Schwierigkeiten bei der Sicherung ihrer wirtschaftlichen und religiösen Existenz
stoßen. Dabei wird es nach Überzeugung des Senats alleinstehenden Frauen noch
weitaus schwerer als etwa einem jüngeren Mann fallen, einen Arbeitsplatz und eine
Wohnung zu finden (48., S. 19; 64., S. 11; 70., S. 57). Die Bemühungen der
christlichen Kirchen, neu zuziehende Christen aufzunehmen und mit dem
Notwendigsten zu versorgen, sind begrenzt und im übrigen in den letzten Jahren
durch die große Zahl der christlichen Zuwanderer übermäßig in Anspruch
66
durch die große Zahl der christlichen Zuwanderer übermäßig in Anspruch
genommen worden (63., S. 30; 66.; 70., S. 52 f.; 76., S. 5).
Wenn eine aus dem Ausland zurückkehrende Christin jüngeren oder mittleren
Alters danach weder in ihrem Geburts- oder letzten Wohnort in der Südosttürkei
noch in Istanbul oder anderswo in der Türkei eine ausreichende materielle
Lebensgrundlage zu erreichen vermag, so wächst zugleich die Gefahr, Opfer von
Übergriffen Andersgläubiger, und zwar insbesondere von Entführungen durch
muslimische Männer, zu werden. Hiergegen können sich solche Christinnen, die
nicht in materiell gesicherten Verhältnissen leben und über keine
verwandtschaftlichen oder sonstigen gesellschaftlichen Anknüpfungspunkte
verfügen, regelmäßig nicht wirksam schützen. Sie sind nämlich, da der Sozialhilfe
vergleichbare staatliche Leistungen in der Türkei nicht gewährt werden (62.; 67.;
68.; 71.), darauf angewiesen, sich nach ihrer Rückkehr allein -- also ohne den
Schutz eines männlichen Begleiters -- in der Türkei zu bewegen, um
möglicherweise eine Unterkunft und eine Arbeitsstelle zu erlangen und die sonst
anfallenden lebensnotwendigen Besorgungen zu erledigen (vgl. zu den
besonderen Problemen der Flüchtlingsfrauen auch den Beschluß Nr. 39
des Exekutiv-Komitees für das Programm des UNHCR von 1985 und Gebauer, ZAR
1988, 120). Ohne Kontaktaufnahme mit anderen Menschen werden
entsprechende Bemühungen selbstverständlich keinen Erfolg haben, und dabei
wird an der Sprache, spätestens aber bei der Nennung des Namens und bei der
Vorlage der Personalpapiere wegen des daraus ersichtlichen Geburtsorts die
christliche Religionszugehörigkeit deutlich, die im Nüfus zudem ausdrücklich
eingetragen ist. Bei der Vielzahl von Versuchen, die allein und ohne
verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt zurückkehrende Christinnen
erfahrungsgemäß unternehmen müssen, bis sie eine Unterkunft und einen
Arbeitsplatz gefunden haben, wird zwangsläufig eine größere Anzahl Personen von
ihrer Religion und ihrer persönlichen Situation Kenntnis erhalten. Regelmäßig
werden sie nur dort unterkommen können, wo bereits andere Zuwanderer aus der
Osttürkei leben. Dies alles schafft für sie eine besondere Gefahrenlage, zumal das
Risiko für potentielle Entführer deshalb gering ist, weil es mangels Verwandter des
Opfers an Personen fehlt, die ihre Tat überhaupt zur Anzeige bringen könnten.
Wenn Christinnen danach auch nicht als solche auf der Straße zu erkennen sein
mögen, so droht ihnen doch aufgrund der zuvor dargelegten Umstände, sofern sie
zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage und ihrer gesellschaftlichen
Stellung nicht ausnahmsweise aus anderen Gründen imstande sind, mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit Entführung durch muslimische Männer. Die
vorliegenden Berichte über Entführungen von Mädchen und Frauen (5., S. 33 ff. u.
47 ff.; 11., S. 4 f., 7 u. 9; 22., S. 9; 35., S. 20; 64., S. 11) und die Erkenntnisse, die
der Senat aus in jüngerer Zeit entschiedenen Berufungsverfahren erlangt hat,
belegen überzeugend die nach wie vor und auch in Istanbul bestehende hohe
Entführungsgefahr. So ist eine in Istanbul lebende Christin von einem Muslimen,
der von Arbeitskolleginnen ihre Anschrift erfahren hatte, in der elterlichen
Wohnung aufgesucht und gewaltsam zum Mitkommen gezwungen worden; auf der
Straße gelang ihr dann allerdings die Flucht (Hess. VGH. 05.12.1988 -- 12 UE
2487/85 -- ). Eine andere Christin, die morgens in Istanbul von
ihrem Onkel zur Arbeitsstelle begleitet wurde, wurde bei dieser Gelegenheit von
Muslimen entführt (Hess. VGH, 06.02.1989 -- 12 UE 2584/85 -- ).
Schließlich kam es zur Entführung einer Christin, die mit einer Freundin in Istanbul
auf den Prinzeninseln spazierenging (Hess. VGH, 17.10.1988 -- 12 UE 2601/84 --
schutzbereiten Personen -- insbesondere eingebunden in ihre Familie -- in Istanbul
leben, so zwingt dies unter den in der Türkei insgesamt obwaltenden
Lebensumständen nach Überzeugung des Senats zu der Schlußfolgerung, daß
wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich ungesicherten alleinstehenden
Christinnen in weit höherem Maße, nämlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit,
Entführung droht. Daß über Entführungen solcher Frauen verhältnismäßig wenig
Tatsachenmaterial vorliegt, erklärt sich daraus, daß es alleinlebende Frauen
jüngeren oder mittleren Alters in der Türkei aufgrund der dort herrschenden
traditionellen Familienstrukturen (vgl. 70., S. 50 f.) tatsächlich selten geben dürfte
und Entführungsfälle der Öffentlichkeit kaum bekannt werden. Von einer solchen --
an sich wenig realistischen -- Situation muß hier aber aus den oben aufgezeigten
rechtlichen Gründen prognostisch ausgegangen werden. Der beachtlich
wahrscheinlichen Entführung folgt mit derselben Wahrscheinlichkeit regelmäßig die
Aufnahme in den Haushalt des Entführers und/oder die Heirat mit ihm, und damit
ist notwendig der Wechsel der Religionszugehörigkeit für die nichtmuslimische Frau
verbunden. Dem wird sich die betroffene Christin auch in großstädtischen
Verhältnissen grundsätzlich nicht entziehen können, weil der Entführer sie, um ihre
67
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Verhältnissen grundsätzlich nicht entziehen können, weil der Entführer sie, um ihre
Flucht zu verhindern, jedenfalls zunächst in seinem Haus festhalten und ihr keine
Möglichkeit eröffnen wird, Kontakt nach außen aufzunehmen.
Die Entführung und der ihr zwangsläufig nachfolgende aufgenötigte Übertritt zum
Islam sind ihrer Intensität nach als Verfolgung zu qualifizieren. Dadurch wird nicht
nur die persönliche Freiheit des Opfers beschränkt, sondern zugleich -- in ähnlich
schwerer Weise -- in dessen sexuelles und religiöses Selbstbestimmungsrecht
eingegriffen; denn infolge der auf zwangsweise Bekehrung gerichteten
Einwirkungen kann die betroffene Frau ein an ihrer Religion ausgerichtetes Leben
nicht mehr führen und ist ihr ein vom Glauben geprägtes "Personsein" nicht einmal
mehr im Sinne eines religiösen Existenzminimums gestattet, weil sie ihren
Glauben im privaten oder im nachbarlich-kommunikativen Bereich nicht bekennen
darf und tragende Inhalte ihrer Glaubensüberzeugung verleugnen oder gar
preisgeben muß (BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 --). Übergriffe der
vorgenannten Art knüpfen auch erkennbar an die Religionszugehörigkeit des
Opfers an, denn sie führen nach ihrem inhaltlichen Charakter objektiv und nicht nur
aus der subjektiven Sicht derjenigen, die sie vornehmen, zur Aufgabe des eigenen
christlichen Glaubens und zur zwangsweisen Übernahme des islamischen. Dem
steht nicht entgegen, daß Frauen muslimischen Glaubens ebenfalls entführt
werden, weil die Täter -- auf die von diesen objektiv verfolgte Zielrichtung und nicht
auf die Position des türkischen Staats kommt es insoweit an (BVerwG, 14.03.1984
-- 9 B 412.83 --, Buchholz 402.25 Nr. 20 zu § 1 AsylVfG) -- bei der Entführung einer
christlichen Frau bewußt deren Schutzlosigkeit als einer alleinstehenden
Angehörigen einer religiösen Minderheit ausnutzen und deshalb den Übertritt zum
Islam zumindest auch in Anknüpfung an deren religiöse Grundentscheidung
betreiben (vgl. BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 --).
Der türkische Staat muß sich die alleinstehenden Christinnen drohenden
Übergriffe unter Berücksichtigung der dem Senat vorliegenden Unterlagen (vgl.
etwa 5., S. 33 ff. u. 47 ff.; 11., S. 4 f., 7 u. 9; 22., S. 9; 35., S. 20; 64., S. 11) als
mittelbare staatliche Verfolgung asylrechtlich zurechnen lassen. Allerdings ist eine
Verantwortlichkeit des Staats für Verfolgungsmaßnahmen Dritter nur dann
anzunehmen, wenn diese auf eine Anregung des Staats zurückgehen oder doch
dessen Unterstützung oder Billigung genießen oder wenn er sie tatenlos hinnimmt
(BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1;
BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 818.81 --, BVerwGE 67, 317 = EZAR 202 Nr. 1). Danach
genügt der Staat zwar den asylrechtlich an ihn zu stellenden Anforderungen, wenn
er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln im großen und ganzen Schutz
gewährt, auch wenn dieser Schutz nicht lückenlos ist, weil seine Bemühungen mit
unterschiedlicher Effektivität greifen; Übergriffe sind dem Staat jedoch
asylrechtlich zurechenbar, wenn er ihnen nicht entgegenwirkt, indem er präventive
Vorkehrungen unterläßt, um sie zu verhindern, und indem er, wenn sie gleichwohl
vorkommen, weder den Opfern Schutz gewährt noch gegen die Täter Sanktionen
verhängt (vgl. BVerwG, 22.04.1986 -- 9 C 318.85 u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR
202 Nr. 8, u. 02.07.1986 -- 9 C 2.85 --, Buchholz 402.25 Nr. 49 zu § 1 AsylVfG).
Diese asylrechtlichen Anforderungen an die staatliche Sicherheitspolitik folgen
unmittelbar aus der staatlichen Schutzverpflichtung gegenüber den eigenen
Staatsangehörigen. Danach kann der Senat aufgrund der ihm vorliegenden
Erkenntnisse auch unter Berücksichtigung der neuesten einschlägigen
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (06.03.1990 -- 9 C 14.89 --) eine
asylrechtliche Verantwortlichkeit des türkischen Staats für die alleinstehenden
Christinnen im Falle ihrer jetzigen Rückkehr drohende Entführung und für den
dieser zwangsläufig nachfolgenden aufgenötigten Übertritt zum Islam nicht
verneinen. Insbesondere kann auch auf der Grundlage der im vorangegangenen
Absatz und eingangs dieses Absatzes getroffenen Feststellungen nicht darauf
abgestellt werden, daß es sich bei den alleinstehenden Christinnen, denen es nicht
gelingt, Wohnung, Arbeit und ein sie sicherndes gesellschaftliches Umfeld zu
finden, und die deshalb besonderes gefährdet sind, nur um Einzelfälle handele, in
denen der Staat keinen Schutz gewähren müsse (so BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C
14.89 --, allerdings auf einer "schmaleren" und nur bis Januar 1988 reichenden
tatsächlichen Erkenntnislage). Denn allein in ihr Heimatland zurückkehrende
Christinnen ohne dortigen persönlichen Anknüpfungspunkt befinden sich -- wie
oben dargelegt -- typischerweise in der Situation, daß sie weder Unterkunft noch
Arbeit noch soziale Kontakte haben; sie sind demzufolge regelmäßig der Gefahr
einer Entführung mit den beschriebenen Konsequenzen ausgesetzt, und unter
diesen Umständen würde es die Ausgrenzung einer ganzen Untergruppe aus der
Verantwortlichkeit des Staates bedeuten, wollte man ihn insoweit von seiner
Schutzpflicht freistellen. Im Hinblick darauf, daß effektiver Schutz im nachhinein
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Schutzpflicht freistellen. Im Hinblick darauf, daß effektiver Schutz im nachhinein
praktisch kaum möglich ist, weil erfolgte Entführungen von allein und in
wirtschaftlicher Not in der Türkei lebenden Christinnen in der Regel gar nicht zur
Kenntnis staatlicher Stellen gelangen werden, da dem Opfer verbundene
Angehörige, die Anzeige erstatten könnten, ja gerade nicht vorhanden sind,
müssen dem türkischen Staat in besonderem Maße präventive Vorkehrungen
abverlangt werden, bevor er von seiner diesbezüglichen Verantwortlichkeit
entlastet werden kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß gerade infolge der
allenthalben zunehmenden Islamisierung bei staatlichen Stellen die Neigung
abzunehmen scheint, der mit dem islamischen Religionsverständnis eher als mit
dem christlichen vereinbaren Entführungspraxis konsequent entgegenzuwirken.
Zwar werden Entführungen allgemein tatsächlich nur schwer zu verhindern sein,
soweit nicht ausnahmsweise und rein zufällig Organe der Polizei oder anderer
staatlicher Stellen Zeugen sind. Indessen könnte der Staat etwa z.B. dadurch
präventiv tätig werden, daß er alleinstehenden Christinnen das zum Leben
Notwendige zur Verfügung stellt und damit ihre besondere Gefährdungslage auf
das allgemeine Maß herabmindert. Derartige Vorkehrungen sind den vorliegenden
Erkenntnisquellen indessen nicht zu entnehmen; vielmehr werden in der Türkei der
Sozialhilfe vergleichbare Leistungen gerade nicht bzw. in der Weise gewährt, daß
die hier betroffene Bevölkerungsgruppe nicht davon profitieren kann (62.; 67.; 68.;
71.). Nach alledem genügt der türkische Staat insgesamt mit seinem staatlichen
Sicherheits- und Schutzsystem hinsichtlich der besonders gefährdeten
Untergruppe allein zurückkehrender Christinnen ohne verwandtschaftlichen
Anknüpfungspunkt den ihm obliegenden -- insbesondere präventiven --
Verpflichtungen nicht, so daß ihm Übergriffe auf derartige Personen grundsätzlich
zuzurechnen sind. Diese Auffassung des erkennenden Senats hat im Ergebnis
schon der früher für Asylsachen allein zuständige 10. Senat des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs (23.08.1984 -- X OE 609/82 --) vertreten, und sie ist
seither weder von der Beklagten noch vom Bundesbeauftragten für
Asylangelegenheiten in tatsächlicher Hinsicht substantiiert angegriffen worden, so
daß insoweit keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen besteht. Die
Einschätzung widerspricht auch nicht den oben (unter II. 4.) getroffenen
Feststellungen, daß sich die Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die
Militärs im September 1980 allgemein erheblich verbessert und daß sich dies auch
zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul und in anderen Landesteilen
ausgewirkt habe. Denn die Situation, in der sich allein zurückkehrende Christinnen
ohne verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt in der Türkei befinden,
unterscheidet sich von der Lage aller übrigen türkischen Staatsangehörigen
christlichen Glaubens in den bereits angesprochenen Punkten erheblich, und
deshalb ist trotz der allgemein verbesserten Sicherheitslage ihre Situation
praktisch unverändert geblieben. Nach alledem hängt die Möglichkeit eines
verfolgungsfreien Lebens für allein zurückkehrende Christinnen jüngeren und
mittleren Alters entscheidend von ihrem wirtschaftlichen und sozialen Status und
von sonstigen persönlichen Voraussetzungen -- etwa von Schul- und beruflicher
Bildung, von Sprachkenntnissen und von ihrer Arbeitsfähigkeit -- ab.
Angesichts dieser allgemein christlichen Frauen, die allein und ohne gesicherte
wirtschaftliche Lebensgrundlage in die Türkei zurückkehren, drohenden
Gefährdung ist festzustellen, daß der Beigeladenen zu 1) unter Berücksichtigung
ihrer persönlichen Verhältnisse, Kenntnisse und Beziehungen ein verfolgungsfreies
Leben in der, Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird. Sie
verfügt dort über keinen verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt mehr, nachdem
ihre Eltern und Geschwister sowie ihr Ehemann und dessen nähere Verwandte
allesamt ausgereist sind. Es ist von der Beklagten oder dem Bundesbeauftragten
auch nicht dargetan oder aus dem Vorbringen der Beigeladenen zu 1) sonst
ersichtlich, daß sie über andere konkrete Beziehungen zu in der Türkei lebenden
Christen verfügt, die ihr den Aufbau einer Existenz und damit ein verfolgungsfreies
Leben ermöglichen oder in anderer Weise dazu beitragen könnten, daß die
Beigeladene zu 1) unbehelligt an irgendeinem Ort in der Türkei leben kann. Die
Beigeladene zu 1) verfügt lediglich über aramäische Sprachkenntnisse; sie hat
ihren glaubhaften Angaben zufolge weder eine Schule besucht noch eine
Berufsausbildung erhalten, sondern war Zeit ihres Lebens in der Türkei lediglich
unterstützend in der Landwirtschaft und im Haushalt tätig; in Istanbul oder einer
anderen westtürkischen Großstadt hat sie sich lediglich auf der Durchreise kurz
aufgehalten, dort aber nicht für längere Zeit gelebt. Die Beigeladene zu 1), die sich
bei ihren Vernehmungen am 23. Januar und am 26. März 1990 weder ihres Alters
noch ihrer derzeitigen Wohnanschrift sicher war, ist deshalb aufgrund ihrer
Persönlichkeit und ihres Bildungsstandes -- selbst wenn ihr Ehemann oder andere
Verwandte dazu bereit und in der Lage sein sollten, zu ihrer Unterstützung gewisse
70
Verwandte dazu bereit und in der Lage sein sollten, zu ihrer Unterstützung gewisse
Geldbeträge in die Türkei zu überweisen -- nicht in der Lage, sich im Rückkehrfalle
allein eine Existenz irgendwo in der Türkei aufzubauen und infolgedessen mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Entführung durch muslimische
Türken mit anschließender Zwangsbekehrung ausgesetzt. Daß sie mittlerweile 36
Jahre alt sein dürfte und verheiratet ist, ändert an dieser Einschätzung nichts.
Denn angesichts der vom Islam erlaubten Polygynie sind Muslime nicht nur an der
Entführung junger Mädchen, sondern auch an Frauen mittleren Alters interessiert,
um diese alsdann etwa Haushalts- und sonstige anfallende Arbeiten verrichten zu
lassen (vgl. 22., S. 9).
Im Hinblick darauf, daß die Beigeladene zu 1) unverfolgt ausgereist ist und sich die
ihr im Rückkehrfalle drohende Verfolgung mithin als sog. Nachfluchttatbestand
darstellt, weist der erkennende Senat auf folgendes hin: Nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts (26.11.1986 -- 2 BvR 1058/85 --, BVerfGE 72, 51 =
EZAR 200 Nr. 18, 17.11.1988 -- 2 BvR 442/88 --, InfAuslR 1989, 31, u. 08.03.1989 -
- 2 BvR 627/87 --, Bay.VBl. 1989, 561) setzt das Asylgrundrecht des Art. 16 Abs. 2
Satz 2 GG von seinem Tatbestand her grundsätzlich den Zusammenhang
zwischen Verfolgung und Flucht voraus und kann deshalb grundsätzlich nicht auf
sog. subjektive Nachtfluchttatbestände erstreckt werden, die der Asylbewerber
risikolos vom gesicherten Ort aus durch eigenes Tun geschaffen hat; etwas
anderes gelte -- als allgemeine Leitlinie -- nur dann, wenn die selbstgeschaffenen
Nachfluchttatbestände sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des
Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung
darstellten. Diese Rechtsprechung ist im Schrifttum zwar vorwiegend auf Kritik
gestoßen (vgl. u.a. Brunn, NVwZ 1987, 301; J. Hofmann, ZAR 1987, 115; J.
Hofmann, DÖV 1987, 491; R. Hofmann, NVwZ 1987, 295; Huber, NVwZ 1987, 391;
Kimminich, JZ 1987, 194; Wolff, InfAuslR 1987, 60; Wollenschläger/Becker, ZAR
1987, 51, 54 f.). Dennoch hat sich das Bundesverwaltungsgericht ihr
zwischenzeitlich unter Hinweis auf die seiner Ansicht nach insoweit bestehende
Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG angeschlossen und ausgeführt, seine
frühere Rechtsprechung zu den subjektiven Nachfluchttatbeständen sei überholt
und die Vorschrift des § la AsylVfG laufe für solche Nachfluchttatbestände leer, die
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon vom
Anwendungsbereich des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ausgeschlossen seien, und
regele für die beachtlichen Nachtfluchttatbestände darüber hinaus, daß
bestimmte, ihre Herbeiführung betreffende Umstände bei der Asylentscheidung
außer Betracht zu bleiben hätten (BVerwG, 19.05.1987 -- 9 C 184.86 --, BVerwGE
77, 258 = EZAR 200 Nr. 19, 20.10.1987 -- 9 C 147.86 --, 20.10.1987 -- 9 C 42.87 --
, InfAuslR 1988, 22, 22.06.1988 -- 9 B 65.88 --, InfAuslR 1988, 255, 22.06.1988 -- 9
B 189.88 --, InfAuslR 1988, 254, u. 06.12.1988 -- 9 C 91.87 --, InfAuslR 1989, 135).
Außerdem hat das Bundesverwaltungsgericht die vom Bundesverfassungsgericht
aufgestellten Grundsätze im Hinblick auf weitere Fallgruppen selbstgeschaffener
Nachfluchttatbestände präzisiert -- etwa bezüglich der Asylantragstellung
(30.08.1988 -- 9 C 80.87 --, InfAuslR 1988, 337, 30.08.1988 -- 9 C 20.88 --, InfAuslR
1989, 32, 25.10.1988 -- 9 C 50.87 --, InfAuslR 1989, 173, 17.01.1989 -- 9 C 56.88 --
, BVerwGE 81, 170 = EZAR 200 Nr. 23, u. 11.04.1989 -- 9 C 53.88 --) sowie
bezüglich sog. aktiver oder passiver Republikflucht (vgl. einerseits 06.12.1988 -- 9
C 22.88 --, InfAuslR 1989, 169, andererseits 21.06.1988 -- 9 C 5.88 --, EZAR 201
Nr. 14 = NVwZ 1989, 68) -- und dabei entschieden, daß auch eine wegen dieser
Verhaltensweisen im Rückkehrfalle drohende politische Verfolgung wie ein
selbstgeschaffener Nachfluchtgrund zu behandeln und deshalb asylrechtlich
unbeachtlich sei, wenn der Ausländer sich nicht bereits im Zeitpunkt seines
diesbezüglichen Verhaltens in einer politisch bedingten Zwangslage befunden hat,
als deren Erscheinungsform sich eine "latente Gefährdungslage" darstelle, in der
keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung bestehe. Der Senat hat zur Frage der
Asylerheblichkeit selbstgeschaffener Nachfluchttatbestände ebenso wie zu der
einer möglichen Bindung an die betreffende Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (kritisch hierzu VGH Baden-Württemberg, 19.11.1987 -
- A 12 S 761/86 --, NVwZ-RR 1989, 46) bisher noch nicht grundsätzlich Stellung
genommen. Der vorliegende Fall bietet ebenfalls keine Veranlassung für eine
diesbezügliche Grundsatzentscheidung. Denn es fehlt schon an der vom
Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegten Ausgangssituation, daß der
Asylbewerber den Nachfluchttatbestand risikolos vom gesicherten Ort aus durch
eigenes Tun geschaffen hat; die den Asylanspruch der Beigeladenen zu 1)
begründenden Umstände sind nämlich nicht von ihr selbst -- etwa durch ihre
Ausreise -- herbeigeführt worden, sondern allein dadurch entstanden, daß auch
ihre übrigen Verwandten bzw. diejenigen ihres Ehemannes, die zur Zeit ihrer
eigenen Ausreise noch in der Türkei lebten und sie im Rückkehrfalle hätten
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eigenen Ausreise noch in der Türkei lebten und sie im Rückkehrfalle hätten
aufnehmen können, zwischenzeitlich ebenfalls die Türkei verlassen haben und daß
insbesondere ihr jetzt als asylberechtigt anerkannter Ehemann zu einer Rückkehr
zusammen mit der Beigeladenen zu 1) nicht bereit ist (dahin tendierend auch
BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 --). Selbst wenn man gleichwohl die für subjektive
Nachfluchttatbestände entwickelten Maßstäbe anwenden wollte, stünde dies im
vorliegenden Fall einer Asylanerkennung der Beigeladenen zu 1) nicht entgegen,
weil sie sich schon vor ihrer Ausreise, also erst recht im insoweit maßgeblichen
Zeitpunkt des Entstehens des "Nachfluchtgrundes", in der Türkei zur Überzeugung
des Senats in einer latenten Gefährdungslage befunden hat. Hierbei ist zu
bedenken, daß sich die persönliche Situation der Beigeladenen zu 1) (nur) insofern
verändert darstellt, als sie vor ihrer Ausreise den Schutz des Familienverbandes
ihres Ehemannes genoß, mithin weder für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen
mußte noch ohne männliche Begleitung die Wohnung zu verlassen brauchte,
während sie im Falle ihrer -- prognostisch zugrundezulegenden -- jetzigen
alleinigen Rückkehr den vorgenannten Schutz entbehren müßte. Dies führt auch
für die Beigeladene zu 1) zu der vom Senat -- übrigens ebenso in den anderen
bisher entschiedenen und oben (S. 50) angeführten vergleichbaren Fällen, soweit
dort nicht sogar Vorverfolgung gegeben war -- vertretenen Einschätzung, daß
schon vor der Ausreise eine latente Gefährdungslage gegeben war, in der zwar
keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung, aber auch keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit für eine solche Verfolgung bestand, und daß deshalb keine
Vorverfolgung anzunehmen ist, daß aber infolge der veränderten tatsächlichen
objektiven Situation bei der jetzt anzustellenden Prognose für den Rückkehrfall von
der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer der Beigeladenen zu 1) drohenden
Entführung und anschließenden Zwangsbekehrung zum Islam ausgegangen
werden muß.
6. Dem Beigeladenen zu 2) droht bei einer Rückkehr in die Türkei nach
Überzeugung des Senats ebenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
asylrelevante Verfolgung.
Auch bei ihm ist hinsichtlich der Verfolgungsprognose davon auszugehen, daß er
allein in die Türkei zurückkehren wird. Die an sich bestehende tatsächliche
Vermutung, daß der Ehemann und Vater einer mit ihrem Asylbegehren erfolglos
gebliebenen Familie diese heimbegleitet, wenn sie ohne ihn einer
Existenzgefährdung ausgesetzt wäre (vgl. oben II. 5), greift schon deshalb nicht
ein, weil der Vater des Beigeladenen zu 2) rechtskräftig als Asylberechtigter
anerkannt ist und weil seine Mutter, die Beigeladene zu 1), -- wie im
vorausgegangenen Abschnitt dargelegt -- ebenfalls Asylrecht genießt. Selbst wenn
die der Beigeladenen zu 1) Asylrecht zusprechende Entscheidung nicht
rechtskräftig würde, träfe sie übrigens keine Ausreisepflicht, weil sie seit dem 23.
September 1985 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der
Familienzusammenführung ist. Darüber hinaus haben die Eltern des Beigeladenen
zu 2) bei ihrer diesbezüglichen Vernehmung am 26. März 1990 (Bl. 169 f. d.A.)
eindeutig erklärt, daß eine Rückkehr für sie keinesfalls in Betracht komme, und
deshalb kann auch nicht angenommen werden, daß der Beigeladene zu 2)
wenigstens zusammen mit seiner Mutter als "Rumpffamilie" in die Türkei
zurückkehren wird (vgl. hierzu BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --).
Für die hier zu treffende Verfolgungsprognose ist das Alter des Beigeladenen zu 2)
insofern von Bedeutung, als die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung für einen
absehbaren Zeitraum nach dem jetzigen Zeitpunkt beurteilt werden muß. Insofern
kann davon ausgegangen werden, daß der zehn Jahre alte Beigeladene zu 2) auch
in der Türkei noch schulpflichtig ist. Wie oben (unter II. 2. a u. 4.) im einzelnen
ausgeführt, kann indessen die Pflicht zur Teilnahme am islamischen
Religionsunterricht nicht als asylrelevante Verfolgung christlicher Schüler
angesehen werden. Da jedoch im vorliegenden Fall davon auszugehen ist, daß der
Beigeladene zu 2) weder im Heimatdorf noch sonstwo in der Türkei über
aufnahmebereite Verwandte verfügt (vgl. oben unter II. 5.), ist mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß ihm wegen der ihm unter diesen
Umständen im Rückkehrfalle notwendigerweise bevorstehenden Aufnahme in
einem staatlichen türkischen Waisenhaus die zwangsweise Aufgabe seines
christlichen Glaubens droht (vgl. Hess. VGH, 23.08.1984 -- X OE 609/82 --,
30.05.1988 -- 12 UE 2514/85 --, 06.02.1989 -- 12 UE 2580/85 --, 20.03.1989 -- 12
UE 1705/85 --, 29.05.1989 -- 12 UE 2586/85 u. 12 UE 2643/85 --; OVG Nordrhein-
Westfalen, 23.04.1985 -- 18 A 10237/84 --; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen,
07.12.1989 -- 14 A 10144/87 u. 14 A 10250/87 --).
74
75
Wenn ein syrisch-orthodoxes minderjähriges Kind allein in die Türkei zurückkehrt
und sich seine Eltern und Verwandten allesamt im Ausland befinden, werden
Versuche der syrisch-orthodoxen Kirche, es in einer christlichen Familie oder in
einem Kloster unterzubringen, aufgrund der gegenüber nicht verwandten Personen
nur sehr eingeschränkten Aufnahmebereitschaft und aufgrund der -- infolge der
fortlaufenden Abwanderung -- stark begrenzten Kapazitäten regelmäßig erfolglos
bleiben (vgl. 51.; 52.; 54., S. 1 ff.; 60., S. 5; 64., S. 11; 66., S. 2; 70., S. 51 f., 57 u.
60; 76., S. 5). In eigene Sozialeinrichtungen, insbesondere Waisenhäuser, kann die
syrisch-orthodoxe Kirche alleinstehende Minderjährige nicht aufnehmen, da sie
solche Einrichtungen in der Türkei nicht betreiben darf (58., S. 4; 60., S. 5; 63., S.
7). Die entsprechenden Einrichtungen anderer christlicher Konfessionen in der
Türkei sind auf die Fürsorge für eigene Kirchenmitglieder beschränkt, und deshalb
ist ihnen die Aufnahme syrisch-orthodoxer Kinder legal nicht möglich (51.; 52.; 54.,
S. 8; 60., S. 6). Danach müssen alleinstehende syrisch-orthodoxe Minderjährige,
sofern nicht ausnahmsweise von Gerichts wegen eine Privatperson -- dann aber
regelmäßig muslimischen Glaubens -- zum Vormund bestellt wird (60., S. 7), mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, in ein staatliches türkisches
Waisenhaus eingewiesen zu werden (54., S. 5). Die Verhältnisse in solchen
Waisenhäusern entsprechen nicht unseren Standards (31.). Zwar sind die Erzieher
auf die kemalistisch-laizistische Staatsideologie verpflichtet, andererseits aber
auch von den islamischen Vorstellungen der Bevölkerungsmehrheit geprägt (51.;
52.; 54., S. 5 f. u. 8 f.). Wenn auch Kontakte des Kindes zur syrisch-orthodoxen
Kirche nicht gewaltsam unterbunden werden dürften (51.; 52.), so führen der in der
Einrichtung herrschende Druck und die Angst vor Benachteiligungen letztlich doch
dazu, daß das Kind selbst von einer solchen Kontaktaufnahme Abstand nehmen
wird (54., S. 9; vgl. auch 60., S. 6). Auf keinen Fall ist gewährleistet, daß syrisch-
orthodoxe Kinder in staatlichen türkischen Waisenhäusern im christlichen Sinne
erzogen werden (31.; 54., S. 5 u. 7); insbesondere können sie nicht an einer
Unterweisung durch syrisch-orthodoxe Religionslehrer oder an syrisch-orthodoxen
Gottesdiensten teilnehmen (54., S. 7; 60., S. 7); die Erhaltung ihrer religiösen
Identität ist somit nicht möglich (60., S. 6). Inwieweit Repressalien, Schläge und
Ehrverletzungen durch muslimische Altersgenossen von den Aufsichtspersonen
unterbunden oder geahndet werden, hängt weitgehend von deren persönlicher
Einstellung und Durchsetzungskraft ab (52.; 54., S. 11 f.; vgl. auch 60., S. 6).
Die Aufnahme in ein staatliches türkisches Waisenhaus führt demnach für ein
syrisch-orthodoxes Kinder zwangsläufig zum Verlust seines christlichen Glaubens
(vgl. zu den besonderen Problemen der Flüchtlingskinder auch den Beschluß Nr.
47 des Exekutiv-Komitees für das Programm des UNHCR von 1987).
Dies ist rechtlich als asylrelevanter Eingriff in die Religionsfreiheit zu qualifizieren,
und zwar unabhängig davon, ob ein Vorteil für das Kind darin zu erblicken sein
mag, daß durch die Waisenhausunterbringung wenigstens sein Lebensunterhalt
sichergestellt ist und es nicht gleichsam "auf der Straße" leben muß (vgl. hierzu
BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --). Gleichwohl wird nämlich bei
einem Kind, das -- wie der zehnjährige Beigeladene zu 2) -- bisher in einem
christlichen Familienverband aufgewachsen ist und deshalb zweifellos eine eigene,
ihm bewußte religiöse Identität besitzt, durch die ihm in einem staatlichen
türkischen Waisenhaus widerfahrende Behandlung in das religiöse
Existenzminimum eingegriffen. Dieses umfaßt die Religionsausübung im häuslich-
privaten Bereich, wie etwa den häuslichen Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit
zum Reden über den eigenen Glauben und zum religiösen Bekenntnis im
nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, ferner das Gebet und den
Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen
Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf
(BVerfG, 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20,
u. 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254). Es mag
dahinstehen, ob ein syrisch-orthodoxes Kind in einem staatlichen türkischen
Waisenhaus Gelegenheit zum privaten Gebet findet; jedenfalls ist ihm von dort aus
nach den im vorstehenden Absatz getroffenen Feststellungen eine Teilnahme an
einem syrisch-orthodoxen Gottesdienst nicht möglich, und mindestens deshalb ist
sein religiöses Existenzminimum im Waisenhaus nicht gewährleistet. Der Senat
verkennt nicht, daß die Intensität des Eingriffs je nach dem Alter der betroffenen
Minderjährigen unterschiedlich sein wird. So dürften ältere Kinder durch die ihnen
in einem staatlichen türkischen Waisenhaus auferlegten Einschränkungen insofern
stärker betroffen werden, als sie diese infolge ihrer längeren christlichen Erziehung
subjektiv als einschneidender empfinden; andererseits werden sie aufgrund ihrer
meist ausgeprägteren religiösen Überzeugung eher in der Lage sein, trotzdem
innerlich an ihrem Glauben festzuhalten. Demgegenüber werden jüngere Kinder
innerlich an ihrem Glauben festzuhalten. Demgegenüber werden jüngere Kinder
zwar mehr unbewußt, dafür aber auch ohne effektive Abwehrmöglichkeit den
Verlust ihrer christlichen Erziehung ertragen müssen. Das religiöse
Existenzminimum wird zur Überzeugung des Senats freilich in allen diesen Fällen
angetastet. Dieser Umstand ist auch nicht -- wie das Bundesverwaltungsgericht
auf einer "schmaleren" und nur bis Anfang 1988 reichenden tatsächlichen
Erkenntnislage angenommen hat (06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --) --
lediglich die Konsequenz eines asylrechtlich irrelevanten Anpassungsprozesses,
dem ein zielgerichtetes Verhalten nicht zu entnehmen sei. Allerdings schützt das
Asylrecht nicht vor einer Entwicklung, die sich für den einzelnen als Folge einer sich
verändernden Situation seiner Umwelt und seiner Lebensbedingungen in seinem
Heimatland ergibt (BVerwG, 15.02.1984 -- 9 CB 191.83 --, EZAR 203 Nr. 2 =
Buchholz 402.25 Nr. 18 zu § 1 AsylVfG, u. 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --).
Indessen kommt auch einem derartigen Anpassungsdruck Verfolgungscharakter
zu, wenn der Betroffene in bezug auf seine religiöse Überzeugung und Betätigung
mit einer zwangsweisen Umerziehung, mit Zwangsassimilation oder mit einer auf
Unterwerfung ausgerichteten gezielten Disziplinierung zu rechnen hat (BVerwG,
31.03.1981 -- 9 C 6.80 --, BVerwGE 62, 123 = EZAR 200 Nr. 6, u. 06.03.1990 -- 9 C
14.89 u. 9 C 15/89 --). So aber stellt sich die Situation in staatlichen türkischen
Waisenhäusern für syrisch-orthodoxe Kinder nach den dem Senat derzeit
vorliegenden Erkenntnisquellen dar. Zunächst ist zu berücksichtigen, daß im Falle
alleiniger Rückkehr die Aufnahme in das Waisenhaus und demzufolge auch die dort
stattfindende Behandlung gegen den Willen des Kindes und seiner Eltern erfolgen,
da ihnen aufgrund der gegebenen tatsächlichen Verhältnisse insoweit keine Wahl
bleibt. Die im Waisenhaus demnach erfolgende zwangsweise Erziehung stellt sich
auch als "Umerziehung" dar, weil christliche Kinder dort nach den Erkenntnissen
des Senats und nach der Lebenserfahrung gleichsam "rund um die Uhr" unter
indoktrinierender islamischer Bevormundung stehen (54., S. 7; 60., S. 6),
demzufolge die elementaren Möglichkeiten christlicher Religionsausübung nicht
haben und deshalb notwendigerweise ihren christlichen Glauben verlieren werden
(dahin neigend auch OVG Nordrhein-Westfalen, 19.10.1989 -- 14 A 10258/87 --).
Mit der -- asylrechtlich irrelevanten -- Situation christlicher Schüler während des
islamischen Religionsunterrichts (vgl. oben unter II. 2. a u. 4.) ist die Lage der in
Waisenhäusern untergebrachten christlichen Minderjährigen schon hinsichtlich des
zeitlichen Umfangs nicht vergleichbar, denn für letztere besteht überhaupt keine
Möglichkeit mehr -- auch nicht in der Familie und außerhalb des Schulunterrichts --
, im christlichen Glauben erzogen zu werden und aufzuwachsen. Erst recht haben
christliche Kinder dort, eben weil sogleich mit der Waisenhausaufnahme ihr
religiöses Existenzminimum angetastet wird, mehr zu ertragen als muslimische
Kinder, die ebenfalls ohne elterliche Betreuung in einem staatlichen türkischen
Waisenhaus großgezogen werden. Christliche Kinder werden in diesem Falle in
ähnlich einschneidender Weise betroffen, wie dies der früher für Asylsachen allein
zuständige 10. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs für afghanische
Kinder im Falle einer ihnen aufgezwungenen atheistischen und kommunistischen
Erziehung und Ausbildung in der Sowjetunion angenommen hat (Hess. VGH,
19.12.1985 -- 10 UE 1647/84 -- u. 03.06.1986 -- 10 OE 40/83 --; offengelassen von
BVerwG, 27.02.1987 -- 9 C 264.86 --). Der hiernach mit der Aufnahme in ein
staatliches türkisches Waisenhaus für syrisch-orthodoxe Kinder verbundene Eingriff
in die Religionsfreiheit ist dem türkischen Staat auch zuzurechnen. Zwar mag
dieser asylrechtlich nicht gehalten sein, die Einweisung christlicher Kinder in die
bestehenden Einrichtungen zu verhindern oder gar christliche Waisenhäuser zu
errichten; auch wird der türkische Staat nicht ohne weiteres in der Lage sein,
muslimisches Eiferertum und daraus resultierende Übergriffe gegenüber
Christenkindern lückenlos abzustellen (vgl. hierzu BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89
u. 9 C 15.89 --). Eingriffe in das religiöse Existenzminimum, seien sie nun
unmittelbar oder nur mittelbar staatlicher Art, sind dem türkischen Staat aber
auch dann zurechenbar, wenn er ihnen nicht entgegenwirkt, indem er
beispielsweise präventive Vorkehrungen trifft, um Übergriffe zu verhindern, und
indem er, wenn solche Übergriffe gleichwohl vorkommen, den Opfern Schutz
gewährt und gegen pflichtwidrig Handelnde Sanktionen verhängt (vgl. BVerwG,
22.04.1986 -- 9 C 318.85 u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8; ferner
BVerfG, 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254). Im
Hinblick darauf, daß -- ähnlich wie bei allein in die Türkei zurückkehrenden
christlichen Frauen ohne verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt (vgl. oben unter
II. 5.) -- effektiver Schutz im nachhinein praktisch kaum möglich ist, weil nach im
Waisenhaus erfolgter zwangsweiser Aufgabe des Glaubens das Kind selbst keine
Beschwerde führen wird und hierzu bereite Angehörige sich gerade nicht in der
Türkei befinden, muß der türkische Staat in besonderem Maße präventiv tätig
werden. Dies könnte dadurch geschehen, daß er durch Rechts- und/oder
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werden. Dies könnte dadurch geschehen, daß er durch Rechts- und/oder
Verwaltungsvorschriften -- etwa vergleichbar den zum Religionsunterricht
ergangenen (vgl. oben II. 4.) -- sicherstellt, daß christliche Kinder, die in staatliche
türkische Waisenhäuser eingewiesen sind, dort von allen religiösen Übungen und
Handlungen islamischer Art freigestellt werden und ausreichenden Freiraum zum
Gebet und zum Gespräch mit Glaubensgenossen haben und daß sie insbesondere
ohne Angst vor gravierenden Nachteilen Kontakt zur syrisch-orthodoxen Kirche
halten und an kirchlichen Gottesdiensten in persönlicher Gemeinschaft mit
anderen Gläubigen ihrer Konfession teilnehmen können. Derartige Vorkehrungen
hat der türkische Staat ausweislich der dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen
bisher nicht getroffen; vielmehr nimmt er die christlichen Kinder in den von ihm
betriebenen Waisenhäusern widerfahrende Behandlung mindestens billigend in
Kauf. Dies im Rückkehrfall bis zum Eintritt seiner Volljährigkeit zu erdulden, kann
dem Beigeladenen zu 2) nicht abverlangt werden.
Auch wenn der Beigeladene zu 2) unverfolgt ausgereist ist und sich die ihm im
Rückkehrfalle drohende Verfolgung mithin (ebenfalls) als sog.
Nachfluchttatbestand darstellt (vgl. dazu schon oben unter II. 5.), scheitert hieran
nicht sein Asylanspruch. Denn die diesen begründenden Umstände sind nicht von
ihm selbst -- etwa durch seine Ausreise -- herbeigeführt worden, sondern allein
dadurch entstanden, daß auch seine Mutter und seine übrigen Verwandten, die zur
Zeit seiner Ausreise noch in der Türkei lebten und ihn im Rückkehrfalle hätten
aufnehmen können, zwischenzeitlich die Türkei verlassen haben und daß
insbesondere seine jetzt als asylberechtigt anerkannten Eltern zu einer Rückkehr
zusammen mit ihm nicht bereit sind (dahin tendierend auch BVerwG, 06.03.1990 -
- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --). Selbst wenn man gleichwohl die für subjektive
Nachtfluchttatbestände entwickelten Maßstäbe anwenden wollte, stünde dies im
vorliegenden Fall einer Asylanerkennung des Beigeladenen zu 2) nicht entgegen,
weil er sich schon vor seiner Ausreise, aber erst recht im insoweit maßgeblichen
Zeitpunkt des Entstehens des "Nachfluchtgrundes", in der Türkei zur Überzeugung
des Senats in einer latenten Gefährdungslage befunden hat. Hierbei ist zu
bedenken, daß sich seine persönliche Situation (nur) insofern verändert darstellt,
als er vor seiner Ausreise über aufnahmebereite Familienangehörigen verfügte,
während es im Falle seiner -- prognostisch zugrundezulegenden -- jetzigen
alleinigen Rückkehr hieran fehlen würde und er deshalb mit der Einweisung in ein
staatliches türkisches Waisenhaus zu rechnen hätte. Dies führt zu der
Einschätzung, daß schon vor der Ausreise eine latente -- nämlich hinsichtlich ihres
Eintritts nur vom Verbleib seiner Mutter und der übrigen Familienangehörigen
abhängige -- Gefährdungslage gegeben war, in der zwar keine hinreichende
Sicherheit vor Verfolgung, aber auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine
solche Verfolgung bestand, und daß deshalb keine Vorverfolgung anzunehmen ist,
daß aber infolge der veränderten tatsächlichen objektiven Situation bei der jetzt
anzustellenden Prognose für den Rückkehrfall von der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit einer dem Beigeladenen zu 2) drohenden Aufnahme in ein
staatliches türkisches Waisenhaus und damit notwendigerweise der zwangsweisen
Aufgabe seines christlichen Glaubens ausgegangen werden muß.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.