Urteil des HessVGH vom 14.01.1997

VGH Kassel: rechtliches gehör, asylverfahren, beweisantrag, auskunft, asylbewerber, quelle, zivilprozessrecht, dokumentation, misshandlung, verwaltungsprozess

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UZ 388/95
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 103 Abs 1 GG, § 98
VwGO, § 97 S 2 VwGO, §
402 ZPO, § 397 ZPO
(Zulassung der Berufung im Asylverfahren wegen
(prozeßordnungswidriger) Ablehnung eines
Beweisantrages - Ladung von Sachverständigen zur
mündlichen Verhandlung auf Antrag der Beteiligten)
Gründe
Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist er fristgerecht eingelegt und begründet
worden (§ 78 Abs. 4, Sätze 1 bis 4 AsylVfG).
Der Antrag ist auch begründet; denn mit ihm ist zu Recht geltend gemacht, dass
die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG zuzulassen ist.
Zu Recht machen die Kläger eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
mit der Begründung geltend, das Verwaltungsgericht habe den Antrag auf Ladung
und Vernehmung der Sachverständigen O., R. und K. zur Erläuterung der
Gutachten vom 3. März 1993 (O.), vom 2. Juni 1993 an das OVG Schleswig-
Holstein, vom 20. September 1993 an das VG Aachen und vom 4. Mai 1994 an
das VG Koblenz (K.) und vom 15. September und 8. Oktober 1992 an das VG
Bremen (R.) unter Verstoß gegen Prozessrecht abgelehnt.
Aus der Vorschrift des Art. 103 Abs. 1 GG lassen sich unmittelbar keine
bestimmten Beweisregeln herleiten (BVerfG, 18.09.1952 - 1 BvR 612/52 -, BVerfGE
1, 418); sie gebietet aber in Verbindung mit den Grundsätzen der jeweiligen
Prozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge (BVerfG,
29.11.1983 - 1 BvR 1313/82 -, BVErfGE 65, 305) und verwehrt es dem Gericht,
einen als erheblich angesehenen Beweisantrag unter Verstoß gegen die jeweilige
Prozessordnung abzulehnen (BVerfG, 08.11.1978 - 1 BvR 108/78 -, BVerfGE 50,
32). Im Verwaltungsprozess ist die Einholung von Sachverständigengutachten
ebenso zulässig (§ 98 VwGO, §§ 402 bis 411 ZPO) wie die Heranziehung amtlicher
Auskünfte (§§ 87 Abs. 1 Nr. 3, 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Sachverständigengutachten und amtliche Auskünfte dürfen im Falle der
Beiziehung aus anderen Verfahren als Urkunden verwertet werden (BVerwG,
22.01.1985 - 9 C 52.83 -, EZAR 630 Nr. 15 = DVBl. 1985, 577; BVerwG, 31.07.1985
- 9 B 71.85 -, EZAR 630 Nr. 20; Hess. VGH, 14.02.1985 - X OE 589/82 -); die
Einholung weiterer Sachverständigengutachten und amtlicher Auskünfte steht
pflichtgemäßen Ermessen des Tatsachengerichts, wobei für die Entscheidung über
die Beweisanträge allgemein die Vorschrift des § 244 Abs. 3 StPO entsprechend
heranzuziehen ist (BVerwG, 08.02.1983 - 9 C 598.82 -, Buchholz 402.25 § 1
AsylVfG Nr. 2 = InfAuslR 1983, 185; Hess. VGH, 24.11.1986 - 10 TE 1404/86 -).
Demzufolge kann in der prozessordnungswidrigen Ablehnung eines erheblichen
Beweisantrags eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegen; an
Anträge auf Einholung einer amtlichen Auskunft oder eines Gutachtens im
Asylprozess sind aber ähnliche Anforderungen zu stellen wie an das Vorbringen
des Asylbewerbers, der aufgrund seiner Mitwirkungsverpflichtung Einzelheiten des
Verfolgungsschicksals substantiiert vorzutragen hat (Hess. VGH, 10.03.1989 - 12
TE 1580/88 -, InfAuslR 1989, 256). Liegen dem Gericht bereits
Sachverständigengutachten und Auskünfte über die tatsächliche Situation im
Heimatland eines Asylbewerbers vor und lehnt es daher die Einholung eines vom
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Heimatland eines Asylbewerbers vor und lehnt es daher die Einholung eines vom
Asylkläger beantragten erneuten Sachverständigengutachtens mit der
Begründung ab, die für die Notwendigkeit eines neuen Gutachtens benannten
Umstände ließen nicht erkennen, dass sich die tatsächliche Situation seit
Erstellung der früheren Gutachten und Auskünfte gerade zum Nachteil der Kläger
verändert habe, so liegt darin, auch wenn diese Würdigung im Einzelfall
unzutreffend sein sollte, jedenfalls keine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Hess.
VGH, 07.02.1991 - 13 TE 2034/90 -; zum Zeugenbeweis vgl. Hess. VGH,
31.05.1990 - 12 TE 2512/89 -, 28.02.1990 - 12 TE 902/89 -, 09.01.1990 - 12 TE
493/89 - und 11.12.1989 - 12 TE 1652/88 -; zur Wahrunterstellung vgl. Hess. VGH,
24.11.1986 - 10 TE 1404/86 -, InfAuslR 1987, 130 m. Anm. Ventzke = NVwZ 1987,
825; betr. fehlerhafte Ablehnung einer amtlichen Auskunft vgl. aber Hess. VGH,
05.05.1993 - 12 UZ 790/93 -). Der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs
kann die Beteiligten nämlich nicht vor jeder sachlich unrichtigen Behandlung eines
Beweisantrags schützen (BVerwG, 07.10.1987 - 9 C 20.87 - NJW 1988, 722).
Auch im Verwaltungsrechtsstreit ist das Tatsachengericht verpflichtet, das
Erscheinen des gerichtlich bestellten Sachverständigen zur Erläuterung seines
schriftlichen Gutachtens anzuordnen, wenn eine Partei diese Anordnung
beantragt, weil sie dem Sachverständigen Fragen stellen will (§ 98 VwGO i.V.m. §§
402, 397 ZPO; vgl. auch § 97 Satz 2 VwGO). Dabei muss dem Antrag lediglich
entnommen werden, in welcher allgemeinen Richtung eine weitere Aufklärung
herbeigeführt werden soll; von der Partei kann dagegen nicht verlangt werden,
dass sie die Fragen, die sie an den Sachverständigen richten will, im voraus im
einzelnen formuliert (BVerwG, 09.03.1984 - 8 C 97.83 -, NJW 1984, 2645). Das
Recht der Beteiligten, die Ladung von Sachverständigen zur mündlichen
Erläuterung ihres Gutachtens zu beantragen, gilt auch dann, wenn die Gutachten
in einem anderen Verfahren erstattet und zu dem anhängigen Verfahren
beigezogen worden sind (BVerwG, 31.07.1985 - 9 B 71.85 -, EZAR 630 Nr. 20 =
NJW 1986, 3221). Das Verwaltungsgericht hat den Klägern rechtliches Gehör
dadurch versagt, dass es den im einzelnen begründeten Antrag auf Ladung des
Sachverständigen K. und Erläuterung seiner oben angeführten Gutachten und zur
Befragung der in diesen Gutachten genannten Fällen von Folter und Misshandlung
zurückkehrender kurdischer Asylbewerber und deren Belegung mit der
Begründung abgelehnt hat, es sei nicht dargelegt worden, welche zusätzlichen
Angaben der Zeuge zu den Ausführungen in den jeweiligen Gutachten machen
könne und werde, so dass es sich insoweit um einen Ausforschungsbeweis
handele. Damit hat das Verwaltungsgericht die Bedeutung der Vorschriften über
die mündliche Erläuterung von Sachverständigengutachten verkannt und
grundsätzlich falsch angewandt. Denn indem der Sachverständige die in seinen
Gutachten angeführten Fälle konkret belegen soll, haben die Kläger ausreichend
dargetan, inwieweit sie die Gutachten für erläuterungsbedürftig halten (vgl. dazu
schon Hess. VGH, 01.03.1996 - 12 UZ 3248/94 -).
Es kann den Klägern nicht entgegengehalten werden, sie hätten es versäumt, sich
durch Wahrnehmung gegebener prozessualer und faktischer Möglichkeiten Gehör
zu verschaffen (vgl. BVerwG, 16.10.1984 - 9 C 67.83 -, EZAR 610 Nr. 25 = NVwZ
1985, 337; Hess. VGH, 31.10.1986 - 10 TE 2382/86 -). Zwar kannten die Kläger die
vom Verwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung gegebene Begründung für
die Ablehnung dieses Beweisantrages; ihr Beweisantrag entsprach aber den oben
dargestellten Anforderungen auf die Erläuterung eines
Sachverständigengutachtens, so dass eine ergänzende Begründung und
Erläuterung dieses Beweisantrages, mit der der - prozessordnungswidrigen -
Ablehnung durch das Verwaltungsgericht Rechnung getragen werden konnte, nicht
möglich war.
Die Berufung ist wegen dieser Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
zuzulassen, weil das Verwaltungsgericht die betroffenen Tatsachen als rechtlich
beachtlich seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. So hat es im
Zusammenhang mit der Überprüfung der Situation am Ort der inländischen
Fluchtalternative und bei der Rückkehr in die Türkei die genannten Gutachten
verwertet.
Das Verfahren wird gemäß § 78 Abs. 5 Satz 3 AsylVfG als Berufungsverfahren
fortgesetzt, ohne dass es der Einlegung einer Berufung bedarf.
Die Entscheidung über die Kosten des Antragsverfahrens folgt der künftigen
Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.
10 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.