Urteil des HessVGH vom 17.02.2004
VGH Kassel: aufschiebende wirkung, gericht erster instanz, aufenthaltserlaubnis, scheinehe, lebensgemeinschaft, verfügung, ausschluss, form, ausländerrecht, staatsangehörigkeit
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
9. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 TG 60/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 1 Abs 1 AufenthEWGG, §
72 Abs 1 AuslG 1990, § 12
Abs 9 AufenthEWGG, § 1
Abs 2 S 2 AufenthEWGG
(Aufschiebende Wirkung der Klage des Ehegatten einer EU-
Angehörigen trotz eventueller Scheinehe)
Leitsatz
Widerspruch und Klage des Ehegatten einer unter den Personenkreis des § 1 Abs. 1
Nrn. 1 bis 4 AufenthG/EWG fallenden EU-Angehörigen entfalten gemäß § 12 Abs. 9
AufenthG/EWG, der § 72 Abs. 1 AuslG für unanwendbar erklärt, aufschiebende Wirkung,
auch wenn der Verdacht besteht, dass die Ehe nur zum Schein zwecks Erlangung eines
Aufenthaltsrechts geschlossen wurde.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts
Gießen vom 5. Dezember 2003 (Az.: 7 G 1336/03) aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der unter dem Aktenzeichen VG Gießen 7 E 4928/02
geführten Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom
7. März 2003 aufschiebende Wirkung insoweit zukommt, als in diesem Bescheid
die vom Antragsteller beantragte Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis-EG
abgelehnt wurde.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für Verfahren erster Instanz wie für das
Beschwerdeverfahren auf jeweils 2000,-- € festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den im Tenor der vorliegenden Entscheidung
näher bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen ist zulässig und
begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht den Antrag des Antragstellers auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach
§ 80 Abs. 5 VwGO
abgelehnt.
Der Klage des Antragstellers gegen den vorliegend umstrittenen Bescheid des
Antragsgegners kommt in dem Umfang, wie er aus dem Tenor des vorliegenden
Beschlusses ersichtlich ist, die aufschiebende Wirkung des § 80 Abs. 1 VwGO zu.
Da der Antragsgegner - und ihm folgend das Gericht erster Instanz - dies anders
sieht und daher erkennbar nicht bereit ist, diese aufschiebende Wirkung zu
beachten, hat der vorliegend zur Entscheidung berufene Senat diese Rechtsfolge
durch Beschluss festzustellen.
Der Antragsteller, der die Staatsangehörigkeit von Bosnien-Herzegowina besitzt,
ist mit einer portugiesischen Staatsangehörigen verheiratet, die zu dem
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ist mit einer portugiesischen Staatsangehörigen verheiratet, die zu dem
Personenkreis nach § 1 Abs. 1 AufenthG/EWG zählt. Zwischen den Beteiligten ist
streitig, ob es sich bei dieser Ehe - wie auch das Verwaltungsgericht annimmt - um
eine bloße Scheinehe zur Erschleichung eines Aufenthaltsrechts des Antragstellers
in Deutschland handelt. Im September 2001 beantragte der Antragsteller die
Verlängerung der ihm im Jahre 1997 erteilten Aufenthaltserlaubnis-EG. Am 9.
Dezember 2002 erhob er gegen den Antragsgegner Untätigkeitsklage nach § 75
VwGO, die beim Verwaltungsgericht Gießen unter dem Aktenzeichen 7 E 4928/02
anhängig ist. Mit Bescheid vom 7. März 2003 lehnte der Antragsgegner die
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis-EG ab, da das Aufenthaltsgesetz/EWG auf
den Antragsteller wegen Vorliegens einer Scheinehe keine Anwendung finde.
Gleichzeitig nahm er die im Jahre 1997 erteilte Aufenthaltserlaubnis rückwirkend
zum Erteilungszeitpunkt zurück. Nach Erlass dieses Bescheids beantragte der
Antragsteller im Klageverfahren mit Schriftsatz vom 11. März 2003, unter
Aufhebung des Bescheids den Antragsgegner zu verpflichten, die ihm erteilte
Aufenthaltserlaubnis-EG zu verlängern. Am 14. April 2003 begehrte er beim
Verwaltungsgericht die Feststellung, dass seiner Klage gegen die vorgenannte
Verfügung aufschiebende Wirkung zukomme, hilfsweise die Anordnung der
aufschiebenden Wirkung.
Das Verwaltungsgericht lehnte im Verfahren zur Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes die vorgenannten Anträge ab. Der Antragsteller sei - so das
Gericht - die Ehe mit einer portugiesischen Staatsangehörigen nur zum Schein
eingegangen, um einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Er habe nie eine eheliche
Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau geführt. Er unterfalle daher auch nicht
dem Personenkreis nach § 1 Abs. 1 und 2 AufenthG/EWG. Seiner Klage komme
deshalb gemäß § 72 Abs. 1 AuslG keine aufschiebende Wirkung zu, da § 12 Abs. 9
AufenthG/EWG, der § 72 Abs. 1 AuslG für nicht anwendbar erkläre, nur für den
Personenkreis nach § 1 Abs. 1 und 2 AufenthG/EWG gelte. Der auf Feststellung der
aufschiebenden Wirkung gerichtete Hauptantrag des Antragstellers könne daher
keinen Erfolg haben. Gleiches gelte für den Hilfsantrag, mit dem der Antragsteller
die Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch das Gericht erstrebe. Die Klage
auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis-EG werde nämlich voraussichtlich
erfolglos bleiben, da der Antragsteller nur eine Scheinehe eingegangen sei und
daher nicht zu dem Kreis der nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG
Freizügigkeitsberechtigten gehöre.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen diesen Beschluss, die er mit den bereits
erstinstanzlich gestellten Anträgen verbindet und im Wesentlichen mit dem
Hinweis auf die nach seiner Ansicht kraft Gesetzes eingetretene aufschiebende
Wirkung begründet, hat Erfolg. Der Senat schließt sich der bereits vom
Verwaltungsgericht zitierten und vom Antragsteller aufgegriffenen Ansicht des
Oberverwaltungsgerichts Hamburg an (Beschluss vom 2. Dezember 1999 - 3 Bs
402/98 -, NVwZ 2000, 1446 = InfAuslR 2000, 168 = EzAR 622 Nr. 35 = AuAS 2000,
62), wonach es für das Eingreifen des § 12 Abs. 9 AufenthG/EWG und damit für den
Ausschluss des § 72 Abs. 1 AuslG ausreicht, dass es sich bei dem betreffenden
Ausländer um den Ehegatten eines freizügigkeitsberechtigten EU-Angehörigen
handelt, ohne dass es auf die Frage ankäme, ob die bestehende Ehe
möglicherweise nur zum Schein geschlossen wurde, um ein Aufenthaltsrecht zu
erschleichen (ebenso Kloesel/Christ, Ausländerrecht, Stand: Juli 2003,
AufenthG/EWG, § 12 Rdn. 42).
Dabei bedarf es aus Anlass des vorliegenden Eilverfahrens keiner abschließenden
Entscheidung, ob und unter welchen Voraussetzungen die materiell-rechtlichen
Vergünstigungen nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG trotz einer ordnungsgemäß
geschlossenen Ehe zwischen einem/einer EU-Angehörigen und einem/einer nicht
unter diesen Personenkreis fallenden Ausländer/in dann nicht zur Entfaltung
kommen, wenn die Ehe nie in Form einer ehetypischen Lebensgemeinschaft
gelebt und allein zum Zwecke der Erlangung eines ausländerrechtlichen
Aufenthaltstitels eingegangen wurde (vgl. dazu etwa Kloesel/Christ, a.a.O.; OVG
Hamburg, a.a.O., VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Januar 1995 - 11 S
3379/94 -, InfAuslR 1995, 97 = EzAR 028 Nr. 3, jeweils mit weiteren Nachweisen).
Einem Ausschluss der materiell-rechtlichen Gewährleistungen des
Aufenthaltsgesetzes/EWG in Fällen dieser Art könnte möglicherweise entgegen
stehen, dass § 1 Abs. 2 Satz 2 AufenthG/EWG - anders als dies für Vorschriften
anerkannt ist, in denen das Ausländergesetz bestimmte Rechtsfolgen an das
Bestehen einer Ehe knüpft, - allein auf das Vorliegen der Ehegatteneigenschaft
abstellt und der Bestand einer ordnungsgemäß geschlossenen Ehe auch in Fällen
einer bloßen Scheinehe nicht in Frage gestellt ist, sondern nur in Form einer
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einer bloßen Scheinehe nicht in Frage gestellt ist, sondern nur in Form einer
Auflösung durch die hierfür zuständige staatliche Stelle beendet werden kann (vgl.
VGH Baden-Württemberg, a.a.O.).
Jedenfalls hält es der Senat aber für zwingend und sachgerecht, die von dieser
materiell-rechtlichen Problematik unabhängige prozessuale Frage, ob dem
Rechtsbehelf des Ehegatten eines unter § 1 Abs. 1 AufenthG/EWG fallenden EU-
Angehörigen gegen eine ausländerbehördliche Entscheidung aufschiebende
Wirkung zukommt, nicht mit einer - evtl. umfangreichen und möglicherweise sogar
eine Beweiserhebung erforderlich machenden - Überprüfung der Modalitäten der
Eheschließung und der Art und Weise des ehelichen Zusammenlebens zu
befrachten, sondern insoweit in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des § 1 Abs. 2
Satz 2 AufenthG/EWG allein auf das formale Bestehen der Ehegatteneigenschaft
abzustellen. Die weitreichenden Konsequenzen, die aus dem Vorhandensein bzw.
aus dem Fehlen der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gerade im
Ausländerrecht resultieren, lassen einen Zustand der Rechtsunsicherheit nicht zu,
wie er entstünde, wenn man diese Frage nur nach eingehenden Erörterungen
beantworten könnte, wie sie gerade im vorliegend angefochtenen erstinstanzlichen
Beschluss deutlich zum Ausdruck kommen.
Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO muss es dem Verwaltungsgericht
grundsätzlich auch unbenommen bleiben, die endgültige Ermittlung materiell-
rechtlich relevanter Tatbestände, wie etwa des Vorliegens einer ehelichen
Lebensgemeinschaft, in das Hauptsachverfahren zu verlagern und die
Entscheidung über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund einer
summarischen Prüfung bzw. einer Abwägung der sich gegenüberstehenden
Interessen zu treffen. Hiermit wäre unvereinbar, wenn das Gericht gehalten wäre,
entsprechende abschließende Ermittlungen schon im prozessualen Vorfeld seiner
Entscheidung, nämlich bei Klärung des Problems, ob der Eintritt der
aufschiebenden Wirkung kraft Gesetzes ausgeschlossen ist oder nicht, zu treffen.
Da der Antragsteller Ehemann einer dem Personenkreis des § 1 Abs. 1
AufenthG/EWG zugehörigen portugiesischen Staatsangehörigen ist, wirkt sich § 12
Abs. 9 AufenthG/EWG prozessual zu seinen Gunsten mit der Folge aus, dass § 72
Abs. 1 AuslG keine Anwendung findet und seiner Klage daher im tenorierten
Umfang die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO zukommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts folgt aus §§ 14 Abs. 1, 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG. Der Antragsteller hat
im Klageverfahren VG Gießen 7 E 4928/02 ausweislich seines Antrags vom 11.
März 2003 Klage gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 7. März 2003 nur
insoweit erhoben, als darin eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis-EG
abgelehnt wurde, nicht jedoch soweit die ihm im Jahre 1997 erteilte
Aufenthaltserlaubnis zurückgenommen wurde. Dies begrenzt - entgegen der
Ansicht des Verwaltungsgerichts in der Begründung seiner den Streitwert auf
4.000 € festsetzenden Entscheidung - auch den Streitgegenstand des
vorliegenden, die aufschiebende Wirkung der vorgenannten Klage betreffenden
Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO. Zur Abänderung der Streitwertentscheidung
des Verwaltungsgerichts ist der Senat nach § 25Abs. 2 Satz 2 GKG berechtigt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.