Urteil des HessVGH vom 29.07.2005

VGH Kassel: aufschiebende wirkung, europäisches recht, öffentliche sicherheit, abschiebung, vollzug, ausweisung, gefahr, gewährleistung, glaubhaftmachung, rechtsschutzinteresse

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 TG 1987/05
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 6 EWGAssRBes 1/80,
Art 7 EWGAssRBes 1/80, §
51 Abs 1 Nr 1 VwVfG HE, §
51 Abs 2 VwVfG HE, § 51
Abs 3 VwVfG HE
(Türke; Assoziationsberechtigter; Wiederaufgreifen eines
Ausweisungsverfahrens)
Leitsatz
1. Es spricht einiges dafür, dass im Rahmen eines Anspruchs auf Wiederaufgreifen des
Verfahrens grundsätzlich ein Anspruch auf Überprüfung besteht, ob der Vollzug einer
bestandskräftigen Ausweisungsverfügung mit den aktuellen Anforderungen für die
Ausweisung assoziationsberechtiger türkischer Staatsangehöriger vereinbar ist.
2. Zur Glaubhaftmachung eines dahingehenden gerichtlichen Anordnungsanspruchs
genügt nicht die Darlegung, dass sich die rechtlichen Anforderungen geändert haben
und nunmehr eine aktuelle Gefahrenprognose erforderlich ist. Vielmehr muss darüber
hinaus für den Einzelfall glaubhaft gemacht werden, dass zumindest konkrete
Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer Abänderung der bestandskräftigen
Entscheidung bestehen.
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts
Kassel vom 21. Juli 2005 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Der
Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- € festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde, über die nach dem ausdrücklichen Begehren des Antragstellers
im Hinblick auf seine demnächst geplante Abschiebung zur Gewährleistung
effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) sofort zu entscheiden ist, weil die
Beschwerdeeinlegung keine aufschiebende Wirkung entfaltet (§ 149 Abs. 1 VwGO),
ist zulässig (§§ 146 Abs. 1, 4; 147 VwGO), aber nicht begründet.
Aufgrund der gegen den verwaltungsgerichtlichen Beschluss vom 21. Juli 2005
vorgebrachten Beschwerdegründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) kann nicht
festgestellt werden, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, dem Antragsgegner vorläufig die
Abschiebung des Antragstellers zu untersagen, im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt
hat.
Der Senat sieht aus verfahrensökonomischen Gründen und wegen der
Eilbedürftigkeit davon ab, noch im Stadium des Beschwerdeverfahrens
festzustellen, dass dem Antragsteller nach seinem eigenen Vorbringen im
einstweiligen Rechtsschutzverfahren das Rechtsschutzinteresse für ein
gerichtliches Vorgehen zur Verfolgung seines Begehrens fehlt, weil er offenbar den
Antragsgegner noch gar nicht mit seinem Antrag auf Nachholung von (aktuellen)
Ermessenserwägungen befasst hat. Denn die Beschwerde kann jedenfalls in der
Sache nicht zum Erfolg des Antrags führen.
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Auch das Beschwerdegericht hat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach §
123 VwGO hier darüber zu befinden, ob eine einstweilige Anordnung zu treffen ist,
weil die Gefahr besteht, dass "durch eine Veränderung des bestehenden Zustands
die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich
erschwert werden könnte" (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO), und der Antragsteller hat
hiernach einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft zu
machen.
Es kann vorliegend offen bleiben, ob aufgrund der Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2004 (C-482/01 und C-493/01 -, InfAuslR
2004, 268) und des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. August 2004 (1 C 29.02 -,
InfAuslR 2005, 26) vor Vollzug einer Abschiebung ein Anspruch auf
Wiederaufgreifen von bestandskräftig abgeschlossenen Ausweisungsverfahren
türkischer Staatsangehöriger, die eine aufenthaltsrechtliche Position nach Art. 6
oder 7 ARB 1/80 inne haben, gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 und Abs. 3
HVwVfG geltend gemacht werden kann, weil sich insoweit die allgemeine
Rechtsauffassung (siehe Kopp/Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl., § 51 VwVfG Rdnr. 30) im
Hinblick auf die Notwendigkeit einer spezialpräventiv begründeten
Gefahrenprognose und im Hinblick auf die Berücksichtigung nach Abschluss des
Verwaltungsverfahrens eingetretener Entwicklungen geändert hat. Denn es spricht
einiges dafür, dass zur Vermeidung eines gegen europäisches Recht verstoßenden
Vollzug einer Ausweisungsverfügung zumindest im Rahmen eines Anspruchs auf
Wiederaufgreifen eines Verfahrens im weiteren Sinne (siehe dazu Sachs in:
Stelkens u.a. VwVfG, 6. Aufl., § 51 Rdnr. 13 ff, 104 und 111; Meyer in: Knack u.a.,
VwVfG, 8. Aufl., § 51 Rdnr. 15; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 8. Aufl., § 51 Rdnr. 30)
grundsätzlich ein Anspruch auf Überprüfung dahin besteht, ob der Vollzug einer
älteren bestandskräftigen Ausweisungsverfügung mit den heutigen Anforderungen
aus Art. 14 ARB 1/80 vereinbar ist. Aber auch dies zugrundegelegt kann die
Beschwerde des Antragstellers keinen Erfolg haben.
Ein Anordnungsanspruch könnte nämlich nur dann bejaht werden, wenn der
Antragsteller mit seinem Vortrag nicht nur abstrakt darlegt, dass sich nach
neuerer Rechtserkenntnis die assoziationsrechtlichen Anforderungen an eine
Ausweisungsverfügung geändert haben, sondern darüber hinaus auch glaubhaft
macht, dass sich hieraus Auswirkungen auf seinen Fall ergeben können. Es muss
also glaubhaft gemacht werden, dass bei Zugrundelegung der neuen
Rechtserkenntnis zumindest konkrete Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer
Abänderung der bestandskräftigen Entscheidung bestehen.
Hieran lässt es der Antragsteller fehlen. In der bestandskräftigen
Ausweisungsverfügung vom 13. Juli 2001 wird die Ausweisung nämlich bereits auch
unter dem Blickwinkel von Art. 14 ARB 1/80 gesehen und ausdrücklich mit einer
Gefahrenprognose nach dem Maßstab, der für freizügigkeitsberechtigte
Angehörige der EG-Mitgliedsstaaten gilt, für gerechtfertigt gehalten. Somit kann
der Antragsteller jetzt lediglich noch geltend machen, dass die Antragsgegnerin
die zwischenzeitlich geänderte Rechtsanschauung zum maßgeblichen Zeitpunkt
für die Beurteilung der Ausweisung eines Assoziationsberechtigten nicht
berücksichtigt habe und ihn allein aufgrund der damaligen Gefahrenprognose ohne
"Aktualisierung" dieser Einschätzung nunmehr abschieben wolle. Insoweit lässt es
der Antragsteller aber an substantiiertem Vortrag fehlen, der es als möglich
erscheinen ließe, dass die Gefahrenprognose zum heutigen Zeitpunkt anders
auszusehen hätte. Er trägt lediglich vor, er habe in der JVA inzwischen eine
Ausbildung absolviert und nehme seit dem Jahre 2003 auch an psychologischen
Einzelgesprächen teil, um eventuell vorhandene Persönlichkeits- und/oder
Entwicklungsdefizite aufzuarbeiten.
Unter diesen Umständen erscheint es zumutbar, dass der Antragsteller sein
mögliches Recht auf Aktualisierung der Gefahrenprognose von der Türkei aus
verfolgt. Er ist anwaltlich vertreten und in einem neuen Verwaltungsverfahren kann
etwa der Inhalt seiner Gefangenenpersonalakte zur Gefahrenbeurteilung
beigezogen werden. Der Antragsteller ist ferner ledig und würde ohne die
Abschiebung aller Voraussicht nach noch eine längere Haftstrafe verbüßen
müssen, so dass er von einem eventuellen Freizügigkeitsrecht in absehbarer Zeit
ohnehin keinen Gebrauch würde machen können. Neben einem
Wiederaufgreifensverfahren kann der Antragsteller im Übrigen auch ein Verfahren
gerichtet auf Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung
betreiben, über das im Grundsatz nach den selben Maßstäben, nämlich vor allem
unter Berücksichtigung der Fragestellung, ob vom Antragsteller auch in Zukunft
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unter Berücksichtigung der Fragestellung, ob vom Antragsteller auch in Zukunft
Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, zu entscheiden sein
würde.
Die Entscheidungen über die Kosten und den Streitwert des Beschwerdeverfahrens
ergeben sich aus § 154 Abs. 2 VwGO und §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 GKG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3
Satz 3 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.