Urteil des HessVGH vom 18.11.1985

VGH Kassel: wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, rücknahme der klage, verfügung, aufschiebende wirkung, öffentliche sicherheit, vollziehung, grundstück, anfechtung, klagebefugnis

1
2
3
4
5
6
7
Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 TH 2072/85
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 80 Abs 2 Nr 4 VwGO, § 83
Abs 1 BauO HE
(Sofortige Vollziehung einer wiederholenden Verfügung)
Gründe
I.
Der Antragsteller ist Eigentümer des Anwesens H.-D.-Straße .. in Darmstadt-
Eberstadt. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplanes E 21 -
in Kraft getreten am 22.06.1979 - , der für diesen Bereich u. a. allgemeines
Wohngebiet ausweist. Im Jahre 1961 errichtete der Antragsteller im rückwärtigen
Bereich des Grundstücks außerhalb der Baugrenzen ein Stallgebäude und eine
Dunggrube und stellte am 27. 03. 1981 einen nachträglichen Bauantrag zur
Genehmigung durch die Antragsgegnerin. Mit Bescheid vom 12. 11. 1981 lehnte
die Antragsgegnerin den Bauantrag ab und erließ zugleich ein Nutzungsverbot,
das in seinem erkennenden Teil wie folgt lautete:
" ....
1.2 Gleichzeitig wird Ihnen die Haltung von Mastbullen und Mastschweinen auf o. a.
Grundstück untersagt.
1.3 Der unter Ziffer 1.3 angeordneten Nutzungsuntersagung ist innerhalb einer
Frist von acht Wochen nach Unanfechtbarkeit dieser Verfügung nachzukommen.
1.4 Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die unter Ziffer 1.2 angeordnete
Nutzungsuntersagung nach Ablauf der unter Ziffer 1.3 angeordneten Frist drohen
wir hiermit die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 1.000,-- DM an. .... "
Den Widerspruch des Antragstellers wies der Regierungspräsident in Darmstadt
mit Widerspruchsbescheid vom 26. 01. 1983 u. a. mit der Begründung zurück, das
Nutzungsverbot sei bereits aufgrund der formellen Illegalität der Errichtung oder
Ingebrauchnahme einer baulichen Anlage gerechtfertigt. Eine nachträgliche
Legalisierung der Anlagen für die Mastviehhaltung komme nicht mehr in Betracht.
Die wegen Erteilung einer Nachtragsbaugenehmigung und Aufhebung des
Nutzungsverbotes erhobene Klage vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt (Az.:
II/1 E 355/83) hat der Kläger mit Schriftsatz vom 16.12.1983 am 19.12.1983
zurückgenommen. Gegenüber der Antragsgegnerin hatte er mit am 16.12.1983
eingegangenen Schriftsatz seinen Bauantrag zurückgenommen und mitgeteilt, er
habe sich entschlossen, die seither betriebene Haltung von Bullen und Schweinen
bis auf die Haltung von zwei Schweinen für den Hausgebrauch zu reduzieren. Sie
würden im Stall der bestehenden alten Scheune untergebracht.
Die Antragsgegnerin stellte bei einer Ortsbesichtigung am 24. 05. 1984 fest, daß
Mastschweine und -bullen nicht mehr gehalten wurden. Bei einer Ortskontrolle
Anfang Juli 1985 wurde festgestellt, daß der Antragsteller zwei Mastschweine und
drei Mastbullen hielt.
Unter dem 01.08.1985 erging gegen den Antragsteller erneut eine Verfügung, die
in ihrem erkennenden Teil wie folgt lautet:
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
"...
1.1 Hiermit wird Ihnen die Haltung von Mastbullen und Mastschweinen
untersagt.
1.2. Der Anordnung unter I.1. ist innerhalb einer Frist von 1 Monat nach
Zustellung dieser Verfügung nachzukommen.
1.3. Sollte der Anordnung unter I.1. nicht innerhalb der unter Ziffer 1.2.
gesetzten Frist nachgekommen werden, wird hiermit die Festsetzung eines
Zwangsgeldes in Höhe von 1.000,-- DM angedroht.
1.4. Die sofortige Vollziehung dieser Verfügung wird angeordnet.
Sie begründete die Nutzungsuntersagung mit der formellen Illegalität der Nutzung.
Gegen die Verfügung vom 01.08.1985 hat der Antragsteller am 30. 08. 1985
Widerspruch eingelegt, über den noch nicht entschieden ist. Am 29.08.1985 hat
der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht die Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verfügung vom
01.08.1985 beantragt. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit Beschlug vom
25.09.1985 zurückgewiesen.
Gegen diesen dem Antragsteller am 27.09.1985 zugestellten Beschluß hat dieser
am 11.10.1985 Beschwerde eingelegt, der das Verwaltungsgericht nicht
abgeholfen hat.
Die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin sowie die Gerichtsakte des
Verwaltungsgerichts Darmstadt mit dem erstinstanzlichen Aktenzeichen - II/2 H
2372/83 - liegen vor und waren Gegenstand der Beratung; auf sie wird ergänzend
Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist auch begründet, weil der Antrag auf
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs zulässig und
begründet ist.
Die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes durch den Antragsteller ist nicht
deshalb ausgeschlossen, weil in
dem entsprechenden Hauptsacheverfahren für eine Anfechtung sowohl der
Grundverfügung wie der Zwangsmittelandrohung die Klagebefugnis und das
Rechtsschutzinteresse fehlen würden, obwohl ein Vollstreckungstitel, nämlich die
durch Rücknahme der Klage unanfechtbar gewordene Verfügung vom 12.11.1981
besteht. Diese Verfügung ist nicht aufgehoben und auch nicht erledigt, weil mit ihr
nicht lediglich die Räumung des Grundstücks von den zum Zeitpunkt der
Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers mit Widerspruchsbescheid
des Regierungspräsidenten in Darmstadt vom 26.01.1983 auf dem Grundstück
gehaltenen Mastbullen und Mastschweinen angeordnet wurde, sondern ein Verbot
der Nutzung des Grundstücks zum Zwecke der Haltung von Mastbullen und
Mastschweinen schlechthin. Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtung der
neuen Verfügung besteht insofern, als diese auf einen späteren Zeitpunkt abstellt.
Sie hat daher trotz gleichem Ziel wie die Verfügung von 1981 eine weiterreichende
rechtliche Bedeutung für den Antragsteller und beschwert ihn in diesem Umfang
mindestens formell (vgl. zur Klagebefugnis und zum allgemeinen
Rechtsschutzinteresse für die Anfechtung einer weiteren Verfügung, die ein
dasselbe Objekt betreffendes Abbruchgebot enthält, wie eine frühere durch
Klagerücknahme bestandskräftig gewordene Verfügung Hess. VGH, U. v.
13.04.1984 - IV OE 119/81 ESVGH 35, 79 (L)).
Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs gegen einen für sofort vollziehbar erklärten Verwaltungsakt auf
Antrag des Betroffenen wiederherstellen. Ein solcher Antrag ist nicht begründet,
wenn das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen
Verwaltungsaktes dem privaten Interesse des Betroffenen, die Vollziehung bis zur
Entscheidung über seinen Rechtsbehelf aufzuschieben, vorgeht (§ 80 Abs. 2 Nr. 4
VwGO). Ein solcher Antrag ist begründet, wenn das öffentliche Interesse an der
sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegenüber dem privaten Interesse
20
21
22
23
24
sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegenüber dem privaten Interesse
des Antragstellers nicht überwiegt . Das ist hier der Fall, weil die von der
Antragsgegnerin getroffene Entscheidung rechtswidrig ist, nicht aus der durch
Rücknahme der Klage unanfechtbar gewordenen Verfügung vom 12.11.1981 zu
vollstrecken, sondern eine die frühere Entscheidung bestätigende und inhaltlich
mit ihr übereinstimmende neue Sachentscheidung zu treffen.
Die Bauaufsichtsbehörde ist gemäß § 83 der Hessischen Bauordnung - HBO -
zuständig und berufen, für die Einhaltung der baurechtlichen Vorschriften zu
sorgen. Sie ist berechtigt und verpflichtet, nach pflichtgemäßem Ermessen
einzuschreiten, um Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung
abzuwehren, die u. a. durch bauliche Anlagen oder deren Nutzung hervorgerufen
werden.
Die von der Antragsgegnerin in ihrem Bescheid vom 01.08.1985 getroffene
Entscheidung ist fehlerhaft, weil sie nicht erkennen läßt, warum die
Antragsgegnerin eine wiederholende Sachentscheidung getroffen hat, anstatt aus
der bestandskräftigen Verfügung vom 12.11.1981 zu vollstrecken. Sollte die
Antragsgegnerin davon ausgegangen sein, daß die Verfügung vom 12.11.1981
nicht mehr vollstreckt werden könne, weil bei einer Ortskontrolle am 24.05.1984
auf dem Grundstück keine Viehhaltung mehr festgestellt wurde - dafür spricht der
Vermerk vom 18.07.1985 in den Behördenakten (B1. 163 R) - so ist die Verfügung
vom 01.08.1985 wegen Ermessensunterschreitung fehlerhaft. In diesem Fall hätte
die Antragsgegnerin das ihr in § 83 HBO eingeräumte Entschließungsermessen
nicht ausgeübt, weil sie das in ihrer Verfügung vom 12.11.1981 angeordnete
Nutzungsverbot in Verkennung der Rechtslage mit einem Räumungsgebot
gleichgesetzt hätte und zu Unrecht davon ausgegangen wäre, daß eine
Vollstreckung aus der Verfügung vom 12.11.1981 rechtlich nicht (mehr) zulässig
sei. Andernfalls fehlt es an einer Begründung dafür, warum die Antragsgegnerin
nicht aus der bestandskräftigen Verfügung vom 12.11.1981 vollstreckt hat,
sondern eine wiederholende Sachentscheidung getroffen hat. Der Senat verkennt
nicht, daß es auch im Falle des Vorliegens eines Vollstreckungstitels Gründe für
eine die frühere bestätigende und inhaltlich mit ihr übereinstimmende
Sachentscheidung, einen Zweitbescheid, geben kann, die dem Betroffenen erneut
die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung eröffnet. Die Verfügung vom
01.08.1985 enthält jedoch keinerlei Begründung dafür, was die Behörde zum Erlaß
eines Zweitbescheides veranlaßt haben könnte. Wegen fehlender ausreichender
Begründung der Grundverfügung wäre eine Ermessensentscheidung - sollte sie
getroffen sein - fehlerhaft (§ 39 Abs. 1 des Hessischen
Verwaltungsverfahrensgesetzes - HVwVfG - ). Der dem Antragsteller gegenüber
angeordnete Sofortvollzug der Verfügung ist nach alledem in jedem Fall
aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 in entsprechender
Anwendung, 20 Abs. 3, 25 Abs. 1 Gerichtskostengesetz - GKG - . Das Interesse
des Antragstellers ist mit 1/3 des Hilfsstreitwertes (§ 13 Abs. 1, Satz 2 GKG)
angemessen bewertet. Die Befugnis des Beschwerdegerichts zur Änderung des
Streitwertes für die erste Instanz beruht auf § 25 Abs. 1 Satz 3 GKG.
Hinweis: Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 Satz 1, 25 Abs. 2 Satz 2
GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.