Urteil des HessVGH vom 16.09.1985

VGH Kassel: verrechnung, geldinstitut, auszahlung, geldleistung, schutzfunktion, aufrechnung, sozialleistung, sozialhilfe, kreditinstitut, existenzminimum

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
11. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
11 TG 1699/85
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 394 BGB, § 19 SGB 1, §
55 Abs 1 SGB 1, § 123
VwGO, § 12 PostgiroO
(Verrechnung einer Kontogutschrift über Sozialleistungen
wegen Überziehung des Postgirokontos)
Gründe
Auf die Beschwerde des Antragstellers ist der Beschluß des Verwaltungsgerichts,
in welchem der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurückgewiesen
wurde, abzuändern und eine einstweilige Anordnung mit dem aus dem Tenor
dieses Beschlusses ersichtlichen Inhalt zu erlassen. Eine solche Entscheidung
erweist sich als nötig, um wesentliche Nachteile im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 2
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vom Antragsteller abzuwenden. Diese, dem
Antragsteller bereits erwachsenen oder jedenfalls unmittelbar drohenden
Nachteile liegen zum einen darin, daß die Antragsgegnerin die dem Antragsteller
auf seinem Postgirokonto am 22. Juli 1985 gutgeschriebene
Arbeitslosenunterstützung in Höhe von 408,48 DM (272,23 DM Arbeitslosengeld
und 136,16 DM Arbeitslosenhilfe) mit einem zu jenem Zeitpunkt auf dem Konto
bestehendem Debetsaldo in Höhe von 638,10 DM verrechnet und somit die
Auszahlung der Arbeitslosenunterstützung an den Antragsteller verweigert hat,
sowie zum anderen darin, daß der Antragsteller befürchten muß, daß die
Antragsgegnerin - ausgehend von ihrer Rechtsauffassung auch eventuell noch
eingehende weitere Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz mit dem
derzeit noch immer bestehenden Schuldsaldo in Höhe von 230,92 DM verrechnen
wird. Da der Antragsteller in seiner Antragsschrift eidesstattlich versichert hat, er
stehe zur Zeit ohne Geldmittel da, und auch in seinem Antrag auf Bewilligung von
Prozeßkostenhilfe erklärt hat, er verfüge außer der Arbeitslosenunterstützung über
keine weiteren Einkünfte sowie über kein Grundvermögen oder Sparguthaben, hat
der Senat keinen Zweifel daran, daß das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
jedenfalls glaubhaft gemacht ist (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2
Zivilprozeßordnung - ZPO -). Auch daß durch Erlaß der vorliegend ergehenden
Entscheidung die Hauptsache des Verfahrens in einer Weise vorweggenommen
wird, wie es in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren üblicherweise nicht
angängig ist, muß ausnahmsweise hingenommen werden, da andernfalls dem
Antragsteller - wäre er mit seinem Begehren auf den Klageweg verwiesen -
voraussichtlich ein nicht mehr wiedergutzumachender und damit unzumutbarer
Nachteil entstünde. Der Antragsteller ist nämlich zum g e g e n w ä r t i g e
n Zeitpunkt auf die Arbeitslosenunterstützung angewiesen, eine Nachzahlung
nach möglicherweise mehreren Jahren im Falle eines für ihn günstigen Ausgangs
eines Klageverfahrens käme für ihn voraussichtlich zu spät. Da im übrigen ein
Erfolg des Antragstellers in einem Klageverfahren nach dem derzeitigen, im
Eilverfahren aufgrund einer zwangsläufig summarischen Überprüfung gewonnenen
Erkenntnisstand des Senats wahrscheinlich wäre, kann ausnahmsweise eine
einstweilige Anordnung ergehen, die die Hauptsache des Rechtsstreits
vorwegnimmt (vgl. die Nachweise bei Kopp, VwGO" 6. Aufl.. § 123 Rdnr. 13 f).
Der Antragsteller hat auch Tatsachen glaubhaft gemacht, die einen
Anordnungsanspruch im Sinne der §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO
begründen.
Die Antragsgegnerin war nicht berechtigt, die auf dem Postgirokonto des
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Die Antragsgegnerin war nicht berechtigt, die auf dem Postgirokonto des
Antragstellers gutgeschriebene Arbeitslosenunterstützung, die zu dem im
Sozialgesetzbuch geregelten Geldleistungen gehört (§ 19 Sozialgesetzbuch
Allgemeiner Teil - ), mit dem im Zeitpunkt der Gutschrift bestehenden
Schuldsaldo zu verrechnen und damit die Arbeitslosenunterstützung
einzubehalten. Diesem Vorgehen der Antragsgegnerin stehen die Regelungen der
§§ 55 Abs. 1 SGB-AT, 394 BGB entgegen. Nach § 55 Abs. 1 SGB-AT ist in Fällen, in
denen eine unter die Vorschrift des Sozialgesetzbuches fallende Geldleistung auf
das Konto des Berechtigten bei einem Geldinstitut überwiesen wird, die durch die
Gutschrift entstehende Forderung des Berechtigten für die Dauer von sieben
Tagen seit der Gutschrift der Überweisung unpfändbar. Diese Regelung findet ihre
für den vorliegenden Rechtsstreit maßgebliche Ergänzung in § 394 BGB, wonach
eine Aufrechnung gegen eine Forderung nicht zulässig ist, soweit diese Forderung
der Pfändung nicht unterworfen ist. Damit ist aber von Gesetzes wegen
ausgeschlossen, daß die Antragsgegnerin innerhalb der in § 55 Abs. 1 SGB-AT
genannten Sieben-Tages-Frist erfolgreich die ihr gegen den Antragsteller
zustehende Geldforderung mit dessen durch die Gutschrift der Sozialleistung
entstehenden Forderung auf Auszahlung der Arbeitslosenunterstützung
verrechnet. Insoweit kann dahinstehen, ob in Ansehung des öffentlich-rechtlichen
Postgiroteilnehmerverhältnisses die von der Antragsgegnerin vorgenommene
Einbehaltung dieser Geldleistung als einseitige Aufrechnung im Sinne der §§ 387 ff
BGB zu werten ist oder als eine Verrechnung im Rahmen einer
Kontokorrentabrede. Selbst wenn man letzteres unterstellte, könnte der Senat
nicht der Auffassung folgen, wonach die Schutzfunktion der §§ 55 Abs. 1 SGB-AT,
394 BGB nur Wirkung gegen eine Aufrechnungserklärung im eigentlichen Sinne
äußerte, dagegen ein Geldinstitut nicht hindere, in Ausführung der für das
Kontokorrentverhältnis typischen Verrechnungsabrede die eingehende und unter §
55 SGB-AT fallende Geldleistung mit dem Debetsaldo des Kontos zu "verrechnen"
(so etwa Terpitz, BB 1969 S. 999 1000 f). Angesichts der unter wirtschaftlicher
Betrachtungsweise identischen Auswirkungen einer (einseitig erklärten)
Aufrechnung und einer (vertraglich vereinbarten) Verrechnung und im Hinblick
darauf, daß ein der Schutzvorschrift des § 55 SGB-AT unterfallender Kunde eines
Geldinstituts es ohnehin nicht in der Hand hätte, eine Verrechnungsabrede im
Rahmen des Kontokorrentverhältnisses auszuschließen, muß in jedem Falle -
unabhängig davon, ob die Maßnahme des Instituts als Aufrechnung oder bloße
"Verrechnung gewertet wird die soziale Schutzwirkung der §§ 55 Abs. 1 SGB-AT,
394 BGB mit der Folge eingreifen, daß das Geldinstitut Geldleistungen, die unter §
55 SGB-AT fallen, nicht mit einem Debetsaldo des Kontos verrechnen darf. Im
Grundsatz entspricht dies auch der herrschenden Auffassung im einschlägigen
Schrifttum (vgl. z.B. Burdenski/ v.Maydell/Schellhorn GK-SGB I, 2. Aufl., § 55 Rdnr.
27; Hauck/Haines, SGB-AT, § 55 Rdnr. 10; Heinze in Boch. Komm.; SGB-AT, § 55
Rdnr. 12; Wannagat, SGB-AT, § 55 Rdnr. 3; Liesecke, WM 1975, S. 314 <323>; v.
Maydell, FamRZ 1981 S. 497; Schmeling, BB 1976 S. 187 <191>). Wenn das
Oberverwaltungsgericht Münster demgegenüber in seinem Urteil vom 20. März
1984 - 13 A 2697/83 - (Arch.PF 1984 S. 386) unter Hervorhebung der Eigenart
eines Girokontos als sogenanntes Staffelkontokorrent darauf verweist, für den
Kontoinhaber entstehe "durch die Gutschrift" im Sinne des § 55 Abs. 1 SGB-AT
überhaupt keine Forderung gegen das Kreditinstitut, so daß er sich auch nicht
gegen eine von diesem innerhalb der Sieben-Tages-Frist vorgenommene
Verrechnung wenden könne, so ist dem nicht zu folgen. Diese Auffassung würde
nämlich so ausdrücklich auch das OVG finster - dazu führen, daß § 55 Abs. 1 SGB-
AT bei derartigen Konten ins Leere liefe, was offensichtlich mit der vom Gesetz
beabsichtigten Schutzfunktion dieser Vorschrift nicht vereinbar wäre.
Allerdings ist in Rechtsprechung und Schrifttum der Versuch unternommen
worden, die vorgenannte grundsätzliche Schutzwirkung des § 55 Abs. 1 SGB-AT in
der Weise einzuschränken, daß eine Aufrechnung bzw. Verrechnung der
eingehenden Sozialleistungen mit einem auf dem Konto bestehenden Debetsaldo
in Abweichung von der Regelung der §§ 55 Abs. 1 SGB-AT, 394 BGB zulässig sein
soll, wenn der Debetsaldo auf dem fraglichen Konto nur deshalb entstanden sei,
weil das Geldinstitut einen "Vorschuß" im Hinblick auf die Geldleistung gegeben
habe (vgl. so oder ähnlich Hauck/Haines, a.a.O.; Heinze, a.a.O.; Liesecke, a.a.O.;
OVG Lüneburg, Beschluß vom 22. Dezember 1983 -14 OVG B 52/83 -
1984 S. 388>; vgl. auch LG Stuttgart, Beschluß vom 18. April 1957- 1 T 121/75
); LG Aurich, Beschluß vom 22. August 1969 - 3 b T 121/69 -
).
Der Senat kann dahingestellt lassen, ob dieser Auffassung zuzustimmen ist, wenn
eine Fallgestaltung in der Weise vorliegt, daß ein Geldinstitut kraft ausdrücklicher
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eine Fallgestaltung in der Weise vorliegt, daß ein Geldinstitut kraft ausdrücklicher
Vereinbarung mit einem Kontoinhaber diesem in Erwartung einer demnächst
bevorstehenden, unter das Sozialgesetzbuch fallenden Geldleistung einen
Vorschuß einräumt. Hier könnte erwogen werden, ob es nicht rechtsmißbräuchlich
und mit allgemeinen Billigkeitsgrundsätzen unvereinbar wäre, wenn sich der
Hilfeempfänger sodann nach Gutschrift der bevorschußten Geldleistung auf die
Schutzvorschrift des § 55 Abs. 1 SGB-AT beriefe. Ein Fall dieser Art ist vorliegend
nicht gegeben. Offenbar geht die Auffassung der vorstehend zitierten
Rechtsprechung und Literatur auch über die vorgenannte (seltene) Fallgruppe
hinaus, indem sie die Schutzwirkung des § 55 SGB-AT auch dann ausschließen will,
wenn der Empfänger von Sozialleistungen vor deren Gutschrift sein Konto schlicht
"überzogen" hat, sei es durch Überweisungen an Dritte, sei es durch eigene
Barabhebungen. Durch, eine derartige Beschränkung der Schutzfunktion des § 55
Abs. 1 SGB-AT würde diese Vorschrift somit im Hinblick auf Forderungen des
kontoführenden Instituts weitgehend Leerlaufen, da sie diesem lediglich noch in
solchen Fällen Schranken auferlegte, in denen dem Institut eine Forderung
außerhalb des bestehenden Kontokorrentverhältnisses zugewachsen ist. Einer so
verstandenen Interpretation des § 55 Abs. 1 SGB-AT vermag sich der Senat nicht
anzuschließen, da sie im geltenden Recht angesichts der unmißverständlichen
Regelung der genannten Vorschrift keine Stütze findet.
Sie würde den Schutzgehalt dieser Vorschrift unter einseitiger Hervorhebung der
Interessen der Geldinstitute und zum Nachteil des Empfängers von unter das
Sozialgesetzbuch fallenden Geldleistungen weitgehend aushöhlen.
Nach § 55 Abs. 1 SGB-AT soll der Empfänger von unter das Gesetz fallenden
Geldleistungen innerhalb der gesetzlichen Sieben-Tages-Frist das unbehinderte
und volle Zugriffsrecht auf die ihm gewährten Sozialleistungen haben; die Absicht
des Gesetzes geht erkennbar dahin, dem Empfänger solcher Leistungen durch die
aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung notwendig gewordene Einführung des
bargeldlosen Zahlungsverkehrs keinen Nachteil zu bereiten. Auf Leistungen die -
wären sie in Form baren Geldes ausbezahlt worden - nicht oder nur unter
erschwerten Bedingungen dem Gläubigerzugriff ausgesetzt wären, soll nicht
deshalb vereinfacht zugegriffen werden können, weil der Leistungsempfänger
aufgrund von verwaltungstechnischen Rationalisierungsmaßnahmen gezwungen
ist, ein Girokonto zu eröffnen, auf welches ihm die Leistungen überwiesen werden.
Ist daher der Kontoinhaber innerhalb der Frist des § 55 Abs. 1 SGB-AT vor
Zugriffen seiner Gläubiger auf die dort genannten Geldleistungen geschützt, so ist
kein Grund ersichtlich, gerade dem kontoführenden Geldinstitut eine
Sonderstellung einzuräumen, die es berechtigen könnte, anders als alle anderen
Gläubiger des Leistungsempfängers unmittelbar Zugriff auf die Sozialleistung zu
nehmen. Die Tatsache der erfolgten "Überziehung" des Kontos ist rechtlich als
Einräumung eines Kredits anzusehen, die demzufolge die Pflicht des Kunden
begründet, die erhaltene Summe zurückzuzahlen. Insofern ist die Situation in
rechtlicher Hinsicht - was die Frage der Anwendung des § 55 Abs. 1 SGB-AT angeht
- nicht anders zu bewerten als in Fällen, in denen dem Kontoinhaber von dritter
Seite ein Kredit eingeräumt wird. Unterfällt die Realisierung eines derart
begründeten Rückzahlungsanspruchs der einschränkenden Regelung des § 55
Abs. 1 SGB-AT, so muß dies ebenso für den Rückzahlungsanspruch des
Kreditinstituts gelten. Der Senat vermag nicht einzusehen, weshalb es im übrigen
rechtspolitisch wünschenswert sein sollte, beispielweise einer dritten Person, die
einem Sozialhilfeempfänger ausdrücklich zur Überbrückung einer zeitweisen
Notlage ein - möglicherweise sogar zinsloses - Darlehen eingeräumt hat, die
Schutzvorschrift des § 55 SGB-AT entgegenzuhalten, wenn sie versuchen sollte,
ihren Rückzahlungsanspruch durch eine Kontenpfändung zu realisieren, während
dem kontoführenden Kreditinstitut, welches bei Einräumung eines begrenzten
Überziehungskredits nicht nur im Interesse des Kunden, sondern entscheidend
auch im eigenen wirtschaftlichen Interesse handelt, demgegenüber eine durch §
55 SGB-AT nicht eingeschränkte Zugriffsmöglichkeit erhalten bleiben soll. Ebenso
unbefriedigend wäre dieser Rechtszustand in Ansehung der strengen Auffassung
zu § 55 SGB-AT, wonach selbst Unterhaltsansprüche gegen den Hilfeempfänger
und Kontoinhaber nicht zu einer Pfändung innerhalb der Sieben-Tages-Frist führen
dürfen. Angesichts dieser strikten Gewährleistung des Schutzes des Empfängers
von Sozialleistungen zu Lasten gleichfalls erheblich schutzwürdiger Dritter, kann
eine einschränkende Interpretation des § 55 SGB-AT gerade zu Gunsten des
kontoführenden Geldinstituts nicht Platz greifen.
Auch die Besonderheiten des Postgirodienstes, die in § 12 Postgiroordnung zum
Ausdruck kommen, rechtfertigen kein anderes Ergebnis. Nach dieser Vorschrift
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Ausdruck kommen, rechtfertigen kein anderes Ergebnis. Nach dieser Vorschrift
werden Aufträge des Postgiroteilnehmers zu Lasten eines Postgirokontos
ausgeführt, wenn das verfügbare Guthaben ausreicht. Das Postgiroamt kann auch
Aufträge ausführen, wenn das Postgirokonto dadurch bis zu einem bestimmten
Betrag überzogen wird, wobei der Postgiroteilnehmer bei einer Überziehung
verpflichtet ist, das Konto unverzüglich auszugleichen. In dieser Regelung spiegelt
sich die besondere rechtliche Konstellation des Postgirodienstes wider, wonach die
Antragsgegnerin im Rahmen dieses Dienstes grundsätzlich nicht als
kreditgewährendes Geldinstitut tätig wird. Aus ihr können indes keine rechtlichen
Folgerungen im Hinblick auf die Frage abgeleitet werden, ob die Antragsgegnerin,
wenn sie dennoch in Einzelfällen und unter höhenmäßiger Beschränkung
Überziehungen zuläßt und insofern in begrenztem Umfang Kredit gewährt, ihren
Rückforderungsanspruch entgegen der Regelung der §§ 55 Abs. 1 SGB-AT, 394
BGB im Wege bloßer Aufrechnung bzw. Verrechnung durchsetzen kann.
Die vom Senat als weitgehend konturenlos und rechtlich wenig faßbar empfundene
Auffassung, eine Verrechnung gutgeschriebener Sozialleistungen mit einem auf
dem Postgirokonto bestehenden Debetsaldo sei entgegen der vorgenannten
Rechtsvorschriften dann zulässig, wenn der Debetsaldo als Folge einer schlichten
"Überziehung" des Kontos entstanden sei, würde auch in ihrer praktischen
Anwendung zu wenig befriedigenden Ergebnissen führen. Hätte beispielsweise ein
Empfänger von Sozialhilfe sein Konto durch eine Abhebung oder mehrere vom
Geldinstitut geduldete Abhebungen um einen größeren Betrag überzogen, der
seinen regelmäßigen Sozialhilfesatz überstiege, so ermöglichte es diese
Rechtsauffassung dem Kreditinstitut, nunmehr über vielleicht mehrere
Bezugszeiträume die unter § 55 Abs. 1 SGB-AT fallende Sozialhilfe im Wege der
Verrechnung mit dem jeweiligen Debetsaldo einzubehalten. Daß dies mit dem
Wesen der Sozialhilfe und ihrer Funktion, dem Begünstigten jedenfalls das
Existenzminimum zu sichern, unvereinbar wäre, bedarf keiner weiteren Vertiefung.
Dem Hilfeempfänger kann auch nicht unter Hinweis darauf, er habe das Konto
überzogen, obgleich er gewußt habe, daß er es nicht mehr ausgleichen könne, das
Existenzminimum mit dem Hinweis vorbehalten werden, sein Verhalten sei
rechtsmißbräuchlich. Dieser Einwand muß dort seine Grenzen finden, wo er die
Vorenthaltung lebensnotwendiger Geldmittel rechtfertigen soll.
Zu Unsicherheiten müßte die vom Senat abgelehnte Auffassung - um nur ein
weiteres Beispiel zu nennen - auch in solchen Fällen führen, in denen die
Überziehung eines Kontos auf eine Zeit zurückgeht, in der der Kontoinhaber noch
keine unter das Sozialgesetzbuch fallenden Leistungen bezogen hatte, aber auch
noch zu einer Zeit fortbesteht, in der Leistungen dieser Art auf dem fraglichen
Konto eingehen. Hier träte erhebliche Unklarheit bei Beurteilung der Frage auf, ob
und in welcher Höhe der vorhandene Debetsaldo nun als "Vorschuß" auf diese
Geldleistung zu werten ist. Beispiele dieser Art verdeutlichen, daß das schlichte
"Überziehen" eines Kontos und damit die Einräumung eines begrenzten Kredits
durch das Geldinstitut nicht mit Hilfe einer auf den "Vorschuß"-Gesichtspunkt
abstellenden Konstruktion dazu führen kann, die Schutzwirkung des § 55 Abs. 1
SGB-AT aus den Angeln zu heben. Diese Schutzfunktion verlangt vielmehr, daß
der Hilfeempfänger zum Zeitpunkt der Auszahlung der Geldleistung auf diese
zugreifen kann. Die Tatsache, daß ihm zu einem früheren Zeitpunkt Kredit seitens
des Geldinstituts eingeräumt wurde, berechtigt dieses nicht zu einer späteren
Verrechnung unter Einbehaltung der Sozialleistung, da in diesem Falle der mit der
Hilfeleistung verfolgte Zweck, den sicherzustellen § 55 SGB-AT im Auge hat, nicht
mehr erfüllt würde. Dieser Gesichtspunkt verdeutlicht auch, daß ein von der hier
vertretenen Auffassung abweichendes Ergebnis auch nicht auf die Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofes gestützt werden kann, wie sie beispielsweise in BGHZ 13,
360 (367) und BGHZ 59, 109 (115) zum Ausdruck kommt (so aber beispielsweise
Hauck/Haines, a.a.O.; Liesecke, a.a.O.; vgl. auch LG Stuttgart, a.a.O.; LG Aurich,
a.a.O.; Jene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist maßgeblich von dem
Gedanken getragen, daß unpfändbare und damit im Grundsatz auch nicht
abtretbare (§ 400 BGB) Forderungen dennoch zulässigerweise abgetreten werden
könnten, wenn der Abtretende nichtschutzbedürftig sei, weil er nämlich für die
Abtretung einen vollen Gegenwert erhalten habe und diesen auch behalte. Bereits
diese auf die Entbehrlichkeit der Schutzfunktion des § 400 BGB in Ausnahmefällen
abstellende Erwägung macht den Unterschied zwischen den vom
Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen und denen der vorliegenden Art deutlich,
in denen der Hilfeempfänger und Kontoinhaber für die vom Geldinstitut im Wege
der Verrechnung einbehaltene Sozialleistung zwar einen der Höhe dieser Leistung
entsprechenden Gegenwert als Folge einer früher erfolgten Überziehung erhalten
hatte. Da diese Überziehung aber möglicherweise Monate zurückliegen kann,
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hatte. Da diese Überziehung aber möglicherweise Monate zurückliegen kann,
hätte der Hilfeempfänger im Zeitpunkt der Verrechnung durch das Geldinstitut
keinen finanziellen Ausgleich mehr für den im Wege der Verrechnung
einbehaltenen Betrag. Der Schutzfunktion des § 55 SGB-AT, die auch dahin geht,
dem Hilfeempfänger die ihm zustehenden Leistungen zum jeweils maßgeblichen
Zahlungszeitpunkt zu verschaffen wäre damit nicht mehr entsprochen.
Das vorliegend für zutreffend gehaltene Ergebnis findet letztlich auch eine Stütze
in der Heranziehung der Materialien zu einer der Vorläufernormen des § 55 SGB-
AT. Eine dieser Vorschrift entsprechende Regelung traf vor Inkrafttreten des
Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuchs § 149 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz
(AFG). Diese Bestimmung ist auf Vorschlag des Ausschusses für Arbeit in das
Gesetz aufgenommen worden, wobei der Ausschuß in seinem Schriftlichen Bericht
zu § 147 a Abs. 2 (dem späteren § 149) ausdrücklich auch die Fälle erfaßt wissen
wollte, in denen das Konto einen Debetsaldo ausweist (Deutscher Bundestag, zu
Drucksache V/4110, S. 23). Da ein solcher Debetsaldo im Regelfall durch
"Überziehung" des Kontos, also durch einen "Vorschuß" des Geldinstituts im Sinne
der hier abgelehnten Rechtsansicht, entsteht, kann unterstellt werden, daß
jedenfalls nach Auffassung des zuständigen Ausschusses die schlichte
Überziehung" eines Kontos nicht unter Heranziehung eines rechtlich unscharf
konturierten "Vorschuß"-Begriffs zur Zulässigkeit einer Verrechnung durch das
Geldinstitut führen dürfe. Wenn der Gesetzgeber des Sozialgesetzbuchs diese
Regelung, wie sie zuvor im Arbeitsförderungsgesetz enthalten war, wörtlich und
ohne Einschränkungen übernimmt, wobei unterstellt werden kann, daß ihm die
Stellungnahme des Ausschusses für Arbeit zu § 149 AFG bekannt war, so spricht
auch dies für die vom Senat befürwortete und dem Schutzzweck des § 55 Abs. 1
SGB-AT voll zum Durchbruch verhelfende Auffassung.
Insoweit verkennt der Senat auch keineswegs, daß dieses Ergebnis in
verwaltungsmäßiger Hinsicht Belastungen für die betroffenen Geldinstitute mit sich
bringt, da sie Gefahr laufen, bei Überziehung eines Kontos durch einen Empfänger
von Hilfeleistungen, die unter das Sozialgesetzbuch fallen, den entsprechenden
Ausgleich nicht mehr durch bloße Verrechnung herbeiführen zu können. Indes
erweist es sich organisatorisch keineswegs als unzumutbar oder gar als unmöglich
- die Antragsgegnerin hat dies auch nicht behauptet -, in dieser Art Vorsorge zu
treffen und eine Überziehung des fraglichen Kontos auszuschließen. Jedenfalls
können Belastungen dieser Art, die mit der Regelung des § 55 Abs. 1 SGB-AT
zwangsläufig einhergehen, nicht dazu führen, den eindeutigen Gesetzeswillen zu
umgehen.
Nach alledem war dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung im
wesentlichen stattzugeben. Die Antragsgegnerin ist zur Auszahlung der
einbehaltenen Arbeitslosenunterstützung verpflichtet, da der Antragsteller
unstreitig innerhalb der Sieben-Tages-Frist des § 55 Abs. 1 SGB-AT seine
Forderung geltend gemacht hat. Insoweit vermag der Senat auch nicht der
Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts Münster im bereits erwähnten
Urteil vom 20. März 1984 a.a.O.; zu folgen, wonach - selbst wenn eine
Verrechnung innerhalb der Sieben-Tages-Frist unzulässig wäre - diese zunächst
nur schwebend unwirksame Maßnahme nach Fristablauf wirksam werde, soweit die
Auszahlungsforderung - aus welchen Gründen auch immer, also auch infolge
bloßer Verweigerung der Auszahlung durch das Geldinstitut - noch nicht erfüllt sei.
Diese Auffassung erweist sich nach Ansicht des Senats schon deswegen als
unzutreffend, weil nach ihr das Geldinstitut durch bloße Verweigerung der
Auszahlung innerhalb der Sieben-Tages-Frist stets die Schutzfunktion des § 55
Abs. 1 SGB-AT unterlaufen könnte.
Soweit der Antragsteller mit seinem Antrag nicht nur die Auszahlung des
einbehaltenen Betrages in Höhe von 408,48 DM begehrt, sondern auch die
Auszahlung künftig eingehender Sozialleistungen innerhalb der Sieben-Tages-Frist
an ihn verlangt, ist dem Antrag in der Weise stattzugeben, daß der
Antragsgegnerin untersagt wird, eventuell künftig noch eingehende, dem
Sozialgesetzbuch unterfallende Geldleistungen mit dem derzeit noch bestehenden
Schuldsaldo zu verrechnen, den die Antragsgegnerin auf 230,92 DM beziffert. Für
eine weitergehende Anordnung ist derzeit ein Anordnungsgrund nicht ersichtlich,
da nicht absehbar ist, ob es über den derzeit bestehenden Debetsaldo hinaus zu
weiteren Kontoüberziehungen kommen wird.
Nicht entsprochen hat der Senat auch dem Antrag des Antragstellers der
Antragsgegnerin für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die von ihm beantragte
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Antragsgegnerin für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die von ihm beantragte
Anordnung Zwangsmaßnahmen anzudrohen. Insoweit folgt der Senat der
Rechtsauffassung des 9. Senats des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl.
Beschluß vom 28. August 1985 - 9 TG 2605/84 -) wonach von Anstalten und
Körperschaften des öffentlichen Rechts angesichts ihrer verfassungsmäßig
verankerten festen Bindung an Recht und Gesetz die Respektierung von
gerichtlichen Entscheidungen auch ohne dahinterstehenden Vollstreckungsdruck
erwarten werden dürfe, so daß ein berechtigtes Interesse daran, daß die
Antragsgegnerin durch die Androhung von Maßnahmen der Zwangsvollstreckung
zum Vollzug der ihr aufgegebenen Verpflichtung angehalten wird, nicht gegeben
ist. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß die Antragsgegnerin der ihr im
Wege der einstweiligen Anordnung aufgelegten Verpflichtung nicht nachkommen
wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Antragsteller ist mit
seinem Antrag nur zu einem geringen Teil unterlegen, so daß seine Belastung mit
Kosten nicht gerechtfertigt ist (§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO).
Da dem Antragsteller für das vorläufige Rechtsschutzverfahren somit Kosten nicht
erwachsen sind, ist sein Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe und die
gegen die ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts insoweit eingelegte
Beschwerde gegenstandslos.
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren folgt aus einer
entsprechenden Anwendung des § 14 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) in
Verbindung mit §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG. Zur Begründung nimmt der Senat
Bezug auf die Begründung der Streitwertentscheidung erster Instanz, wobei sich
die Differenz hinsichtlich des Betrages daraus ergibt, daß die Antragsgegnerin den
auf dem Konto des Klägers noch bestehenden Schuldsaldo im
Beschwerdeverfahren mit 230,02 DM angegeben hat, während das
Verwaltungsgericht insoweit von einem Betrag in Höhe von 229,60 DM ausging.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 2 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.