Urteil des HessVGH vom 25.03.1997
VGH Kassel: wiederaufnahme des verfahrens, stillegung, widerruf, zustand, gefährdung, recht auf leben, stand der technik, gesundheit, gebietskörperschaft, gefahr
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
14. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
14 A 111/91
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 28 Abs 2 S 1 GG, Art
137 Verf HE, § 17 Abs 5
AtG
(Aufhebung einer atomrechtlichen Genehmigung - zum
Dritten iSd AtG § 17 Abs 5)
Tatbestand
Mit dem vorliegenden Klageverfahren begehrt der Kläger, eine kommunale
Gebietskörperschaft, auf deren Gebiet sich das Kernkraftwerk B. befindet, den
Beklagten zu verpflichten, die der als Betreiberin der Anlage zum Verfahren
beigeladenen RWE Energie AG erteilte atomrechtliche Genehmigung für das
Kernkraftwerk B. Block A (KWB A) zu widerrufen bzw. zurückzunehmen; des
Weiteren strebt er die Verpflichtung des Beklagten zur Anordnung der (endgültigen
oder vorläufigen) Stillegung des Betriebes von Block A an.
Nach einer Planungsphase von 1965 bis 1970 wurde mit Bescheid vom 31. Juli
1970 der Beigeladenen die 1. Teilerrichtungsgenehmigung für den Block A des
KWB erteilt. Die 6. Teilerrichtungsgenehmigung vom 14. Dezember 1973 schloß
die Errichtungsphase ab und nach Genehmigung einer Probebetriebsphase erhielt
die Beigeladene mit Bescheid vom 2. Juni 1975 als 8. Teilgenehmigung die
Erlaubnis für den Leistungsbetrieb (Dauerbetrieb) erteilt.
Am 16./17. Dezember 1987 kam es im KWB A zu einem Vorkommnis, das in den
Medien als Störfall bezeichnet wurde und bei dem eine kleinere Menge des
radioaktiven Kühlmittels über den Kamin in die Umgebung freigesetzt wurde. (Eine
ausführliche Schilderung des Ereignisablaufs findet sich in Anlage 2 des sog. Biblis
- Berichtes des Hess. Ministeriums für Umwelt und Reaktorsicherheit von 1989
wurde.)
Vom Beklagten wurden daraufhin verschiedene technische und organisatorische
Maßnahmen veranlaßt. Des Weiteren nahm die Behörde den Störfall zum Anlaß,
den TÜV Bayern und eine Gutachter - Arbeitsgemeinschaft mit der Erstellung einer
Sicherheitsanalyse zu beauftragen.
Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 3. September 1990 beantragte der
Kläger bei dem Beklagten den Widerruf bzw. die Rücknahme der
Betriebsgenehmigung für das KWB A und hilfsweise die einstweilige Einstellung des
Anlagenbetriebs.
Der Beklagte bestätigte mit Schreiben vom 31. Oktober 1990 den Eingang des
Antrags und führte weiterhin aus, bei der Antragsbegründung werde mehrfach
Bezug auf die von ihm beim TÜV Bayern in Auftrag gegebene Sicherheitsanalyse
für das KWB A genommen. Deren Endfassung liege ihm aber bisher noch nicht vor,
und er halte es für zweckdienlich, die Ergebnisse der Analyse bei der Bescheidung
des Antrags zu berücksichtigen. Dessen Bearbeitung werde daher noch einige Zeit
in Anspruch nehmen. Der Antrag blieb bislang unbeschieden.
Am 16. Januar 1991 erhob der Kläger beim erkennenden Gericht die vorliegende
Klage.
Im Februar 1991 schloß der TÜV Bayern seine "Schutzzielorientierte
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Im Februar 1991 schloß der TÜV Bayern seine "Schutzzielorientierte
Sicherheitsanalyse zur Neubewertung der Anlagensicherheit des Kernkraftwerks
B., Block A" (SIAN) mit einem fünfbändigen Bericht ab (Anlage zum Schriftsatz des
Beklagten vom 7. September 1993 im Verfahren 14 A 1019/91, Ordner 2, dessen
Akten vom Senat zu diesem Verfahren beigezogen wurden). Die Gutachter kamen
in dieser Sicherheitsanalyse zu folgendem Ergebnis (s. S. 86 f des Bd. 1,
Zusammenfassender Bericht):
Die schutzzielorientierte Untersuchung und Bewertung des KWB A hätten ergeben,
dass die sicherheitstechnisch relevanten Bauwerke, Systeme und Komponenten
bei einer realistischen Betrachtungsweise in der Lage seien, die übergeordneten
Schutzziele ( = sicheres Abschalten des Reaktors, Halten des Reaktors im
unterkritischen Zustand, Sicherstellung der Nachwärmeabfuhr aus dem Reaktor
und Einhaltung der Planungsrichtwerte der Strahlenschutzverordnung)
einzuhalten.
Bei Zugrundelegung der Annahmen der heute zur Schadensvorsorge
einzuhaltenden Auslegungserfordernisse ergäben sich jedoch eine Reihe von
Abweichungen. Dies habe zu entsprechenden Empfehlungen in Teilbereichen der
Anlage geführt.
Diese (im Anhang des Berichts aufgelisteten) Empfehlungen zielten im
wesentlichen auf eine Herabsetzung der Eintrittswahrscheinlichkeit von Störfällen
sowie auf eine Verbesserung der Maßnahmen und Einrichtungen zur Beherrschung
von Störfallfolgen; sie dienten daher der Heranführung der Anlagensicherheit an
die bei Neuanlagen vorzusehenden Sicherheitsreserven in der Auslegung und der
Schadensvorsorge.
Als Folge der Auswertung dieser Sicherheitsanalyse durch den Beklagten ergingen
an die Beigeladene am 27. März 1991 zwei (Auflagen-) Bescheide nach § 17 Abs. 1
S. 3 Atomgesetz. Diese sind Gegenstand des von der Beigeladenen anhängig
gemachten Anfechtungsklageverfahrens (14 A 1019/91) und des parallelen
Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO (14 R 2394/93); die betreffenden Akten der -
noch nicht entschiedenen - Verfahren sind vom Senat gleichfalls zum vorliegenden
Verfahren beigezogen worden.
In diesen Auflagenbescheiden stellte die Behörde darauf ab, dass die
Sicherheitsanalyse des Blocks A ergeben habe, die sicherheitstechnisch
relevanten Bauwerke, Systeme und Komponenten seien bei einer realistischen
Betrachtungsweise in der Lage, die übergeordneten Schutzziele einzuhalten.
Deshalb bestehe zunächst kein Anlaß, Sofortmaßnahmen nach § 19 Abs. 3
Atomgesetz zu ergreifen oder die Genehmigung zu widerrufen.
Bei Zugrundelegung der Annahmen der heute zur Schadensvorsorge
einzuhaltenden schutzzielorientierten Anforderungen hätten sich jedoch eine Reihe
von Abweichungen ergeben, die den Gutachter zu Empfehlungen der Kategorie 2
veranlaßt hätten. Es handele sich dabei um Mängel, infolge derer nach Auffassung
des TÜV Bayern schutzzielorientierte Anforderungen nicht oder nur teilweise erfüllt
würden, aufgrund deren geringer Risikorelevanz aber eine angemessene Frist zur
Beseitigung des Mangels akzeptiert werden könne (s. Anhang zum Bd. 1
Zusammenfassender Bericht, S. 2). Mängel mit Risikorelevanz seien bereits in der
Revision 1990 beseitigt werden.
Diese Empfehlungen des Gutachters seien geeignet und erforderlich, um im Wege
der Nachrüstung das in der Sicherheitsanalyse aufgedeckte Defizit zwischen dem
Ist-Zustand der Anlage und den heute üblicherweise erfüllten
Sicherheitsanforderungen auszugleichen. Die angeordneten Maßnahmen dienten
ausschließlich der Erhöhung des Sicherheitsniveaus der Anlage und seien zur
Erreichung des Schutzzweckes des Atomgesetzes erforderlich; sie bewegten sich
damit aber nicht in dem ausschließlich der weiteren Restrisikominimierung
dienenden Rahmen.
Hinsichtlich der zeitlichen Umsetzung der Auflagen ordnete die Behörde an, dass
die Maßnahmen spätestens bis Ende der 1993 beginnenden Revision realisiert sein
müssten. Diese Frist sei als angemessen anzusehen und aufgrund der
sicherheitstechnischen Bedeutung der Anordnungen auch erforderlich. Zur
Begründung verwies die Behörde auf die Aussage des Sachverständigen, der
Betrieb der Anlage sei ohne Umsetzung der Empfehlungen nur bis zu diesem
festgesetzten Zeitpunkt hinzunehmen. Gleichzeitig wurde die sofortige Vollziehung
der Bescheide angeordnet.
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Im Februar 1994 beabsichtigte der Beklagte nach Einholung eines Gutachtens der
Gutachtergemeinschaft Öko-Institut e.V. D. (Öko-Institut), das sich exemplarisch
mit einer Reihe von Auflagen der Bescheide vom 27. März 1991 beschäftigt hatte,
die vorläufige Stillegung von KWB A und hörte die Beigeladene dazu an. Zur
Begründung berief sich die Behörde auf das Vorliegen einer Gefahr, zumindest
aber eines Gefahrenverdachts bei einem Weiterbetrieb der Anlage. Im einzelnen
verwies sie auf die fehlende Redundanztrennung und die defizitären
Brandschutzmaßnahmen im Rangierverteiler, die zu einem Kernschmelzereignis
führen könnten. Letzteres könne auch aufgrund der ungenügenden
Erdbebenauslegung gegen das Bemessungserdbeben eintreten, da die
sekundärseitige Bespeisung der Dampferzeuger und damit eine ausreichende
Nachwärmeabfuhr nicht sichergestellt sei. Bei einem zu unterstellenden
Kühlmittelverluststörfall könne es angesichts fehlender Einrichtungen bzw. nicht
erbrachter Nachweise zu einem Brand oder einer Explosion aufgrund der
Wasserstoffbildung im Reaktorsicherheitsbehälter kommen.
Des Weiteren sei der Schutz der Anlage gegen Störmaßnahmen und sonstige
Einwirkungen Dritter ungenügend (Nichteinhaltung der sog. 30-Minuten-Regel). Im
übrigen sei eine ausreichende Deckungsvorsorge nicht nachgewiesen und auch
der Gesamtzustand der Anlage (Summe aller bisher festgestellten
Sicherheitsdefizite) stehe einem Weiterbetrieb der Anlage entgegen. Die vorläufige
Stillegung rechtfertige sich auch aus dem einer materiellen Überprüfung der
Wertigkeit unterzogenen Umstand der Nichterfüllung der Auflagen aus den
Bescheiden vom 27. März 1991; eine weitere Duldung sei deshalb nicht
verantwortbar.
Zum Erlass dieser Anordnung kam es nicht, da das Bundesministerium für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (im folgenden BMU) dies mit
bundesaufsichtlicher Weisung vom 11. März 1994 untersagte. Dieser Weisung lag
eine gutachterliche Stellungnahme der Gesellschaft für Anlagen- und
Reaktorsicherheit (GRS) vom 22. Februar 1994 und vom 10. März 1994 zugrunde.
Die GRS kam darin zu dem Ergebnis, dass die von ihr vorgenommene Überprüfung
unter Berücksichtigung inzwischen vorliegender Erkenntnisse zu keiner wesentlich
abweichenden Einschätzung der Risikorelevanz der in der Sicherheitsanalyse 1991
festgestellten Mängel geführt habe. Eine Gefahr für die Sicherheit der Anlage sei
durch die vom Beklagten benannten sicherheitstechnischen Sachverhalte nicht
gegeben. Dementsprechend sei ein angemessener Zeitraum zur Ertüchtigung der
Anlage weiterhin vertretbar (S. 42 der Stellungnahme).
Darauf gestützt erging die Weisung des BMU, die beabsichtigte einstweilige
Stillegungsanordnung nicht zu erlassen, auch keine andere aufsichtliche
Anordnung zum Zweck der einstweiligen Betriebseinstellung unter Berufung auf
einen oder mehrere der im Anordnungsentwurf angeführten Gründe zu erlassen
und dem Gericht mitzuteilen, dass die genannten Gründe nicht geeignet seien,
eine Gefahr oder einen Gefahrenverdacht zu begründen.
Mitte des Jahres 1995 beabsichtigte der Beklagte wiederum, aus Gründen der
Brandgefahr und auch aufgrund der Genehmigungslage die vorläufige
Betriebseinstellung des KWB A anzuordnen.
Die beiden vom Beklagten an die Beigeladene zur Anhörung übersandten
Bescheidentwürfe nahm das BMU zum Anlaß, diesen zu insgesamt zwei
bundesaufsichtlichen Gesprächen zu laden, wobei in dem Gespräch am 18. Juli
1995 ausführlich die Brandschutzproblematik unter Hinzuziehung von
Sachverständigen erörtert wurde.
Der Beklagte blieb auch nach diesen Gesprächen bei seiner Auffassung und
übersandte mit Schreiben vom 20. Juli 1995 dem BMU drei Anordnungsentwürfe
vom Juli 1995:
Ziel der Anordnung war zum einen wiederum die einstweilige Stillegung des KWB A
aus Gründen des Brandschutzes. Der Beklagte blieb bei seiner Einschätzung, es
sei eine atomrechtliche Gefahr durch einen möglichen Brand im Rangierverteiler
unter der Warte anzunehmen. Er stützte sich dazu auf von ihm eingeholte
Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Brandsicherheit (AGB) und der Energie
Systeme Nord (ESN).
Eine Aufhebung der Anordnung wurde für den Fall zugesichert, dass die
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Eine Aufhebung der Anordnung wurde für den Fall zugesichert, dass die
Beigeladene den Nachweis führen könne, dass bei einem unterstellten Brand ein
Ausfall der Sicherheitssysteme und damit eine Nichteinhaltung der
übergeordneten Schutzziele ausgeschlossen werden könne.
Weiterhin sah der Beklagte eine einstweilige Einstellung des Betriebes und bedingt
die endgültige Stillegung aufgrund der Genehmigungslage als geboten an. Die
Behörde ging davon aus, dass Block A in sicherheitstechnisch wichtigen Bereichen
nicht dem Zustand entspreche, der durch die Errichtungsgenehmigungen
genehmigt worden sei. Die Abweichungen vom genehmigten Zustand seien zum
Teil erheblich. Des Weiteren sei die bestehende Löschanlage im Rangierverteiler
weder atomrechtlich noch baurechtlich genehmigt.
Eine Aufhebung der Anordnung werde zugesichert, wenn
a) für die ungenehmigten wesentlichen Änderungen von KWB A Genehmigungen
beantragt und erteilt worden seien,
b) die Vorkehrungen zur Verhinderung eines Brandes im Rangierverteiler (CO2-
Löschanlage) genehmigt und realisiert worden seien,
c) der Nachweis erbracht werde, dass sich das RS-System in einem von einer
Errichtungsgenehmigung zugelassenen Zustand befinde und dass auch dessen
Betrieb genehmigt worden sei.
Die endgültig Stillegung werde zum 31. Dezember 1995 für den Fall angeordnet,
dass für die bestehenden Genehmigungslücken bzw. die Nichterweisbarkeit des
genehmigten Zustandes nicht bis zum genannten Zeitpunkt Abhilfe geschaffen
werde.
Noch ein dritter Grund gebot nach Auffassung der Behörde eine einstweilige
Stillegung, nämlich der mangelnde Schutz der Anlage gegen Störmaßnahmen und
sonstige Einwirkungen Dritter. Für den Fall, dass ein gestattungsfähiges Konzept
zur vorläufigen Sicherung der Anlage vorgelegt werde und dies auch umgesetzt
worden sei, werde die Aufhebung der Anordnung zugesagt. Zugleich beabsichtigte
die Behörde den Widerruf der Betriebsgenehmigung zum 1. Januar 1996, wenn
nicht bis zum 31. Oktober 1995 ein Genehmigungsantrag gestellt werde, um den
Schutz vor Einwirkungen Dritter entsprechend den Auflagen des Bescheides vom
27. März 1991 zu gewährleisten.
Daraufhin erging am 20. Juli 1995 zunächst die verfahrensleitende
bundesaufsichtliche Weisung des BMU an den Beklagten, die beabsichtigten
Verfügungen an die Beigeladene und andere Verfügungen unter Berufung auf die
hierin genannten Gründe nicht ohne vorherige Zustimmung des BMU zu erlassen.
Mit seiner bundesaufsichtlichen Stellungnahme vom 15. Dezember 1995 lehnte
dann das BMU nach rechtlicher Würdigung der vom Beklagten vorgelegten
Verfügungsentwürfe eine Zustimmung zu deren Erlass nach § 17 Abs. 1 S. 3 u.
Abs. 3 sowie nach § 19 Abs.3 Atomgesetz wegen deren Rechtswidrigkeit ab. Weder
sei im Hinblick auf den überprüften tatsächlichen Zustand des KWB A eine
Gefahrenlage anzunehmen, noch widerspreche der Betrieb des Kernkraftwerks
oder dessen Genehmigungssituation dem Atomgesetz oder dem
Genehmigungsbescheid.
Das BMU behielt sich eine (weitere) bundesaufsichtliche Weisung vor.
Mit Schreiben vom 22. Januar 1996 gab der Beklagte eine ausführliche
Gegenäußerung zu dieser bundesaufsichtlichen Stellungnahme ab. Insbesondere
brachte die Behörde darin Einwände gegen das der Stellungnahme des BMU
zugrunde liegende Gutachten der GRS vom November 1995 vor. Dieses basiere
auf einer fehlerhaften Sicherheitsphilosophie, es seien von der GRS falsche
Tatsachen zugrundegelegt worden, konkrete gutachtliche
Untersuchungsergebnisse seien pauschal ignoriert worden, und es enthalte auch
rechtlich fehlerhafte Ansätze. Diesem Schreiben waren weitere Gutachten zur
Thematik "Brandschutz im Rangierverteiler" beigefügt, sowie ein Rechtsgutachten
zur Genehmigungssituation des KWB A von Prof. Roßnagel.
Am 14. August 1996 reagierte das BMU mit dem Erlass einer bundesaufsichtlichen
Weisung. Darin wurde der Beklagte angewiesen, die vorgelegten Bescheidentwürfe
(die die Betriebseinstellung wegen Brandschutzes, die Betriebseinstellung und den
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(die die Betriebseinstellung wegen Brandschutzes, die Betriebseinstellung und den
Genehmigungswiderruf wegen mangelnder Sicherung gegen Einwirkungen Dritter,
die Betriebseinstellung wegen formeller Rechtswidrigkeit und eine
Nachweisforderung in Bezug auf den Brandschutz zum Gegenstand hatten) oder
andere aufsichtliche Verfügungen, die auf die in den vorgenannten Bescheiden
angeführten Gründe gestützt werden, nicht zu erlassen.
Des Weiteren habe der Beklagte in Verwaltungsverfahren und
Verwaltungsstreitverfahren seinem Handeln folgendes zugrunde zu legen:
a) Im Hinblick auf die gegenwärtige Brandschutzsituation im Rangierverteiler des
KWB A sei die Einhaltung der übergeordneten Schutzziele im Sinne der
Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke durch die getroffenen
Schadensvorsorgemaßnahmen auch ohne Umsetzung der vorgesehenen
Nachrüstmaßnahmen sichergestellt, und es liege kein Zustand vor, aus dem sich
Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben könnten.
b) Es liege weder im Hinblick auf die noch nicht vollständige Erfüllung der Auflagen
aus dem Bescheid vom 27. März 1991 noch im Hinblick auf die Sicherung des KWB
A gegen Störmaßnahmen oder sonstige Einwirkungen einer zugangsberechtigten
Einzelperson ein Zustand vor, aus dem sich eine Gefahr ergeben könnte.
c) Der Betrieb des KWB A widerspreche weder im Hinblick auf den Brandschutz in
den Rangierverteilerräumen noch im Hinblick auf das
Dampferzeugerabschlämmsystem oder auf Änderungen in der Ausführung der
Anlage atomrechtlichen Vorschriften oder den Bestimmungen des Bescheides
über die Genehmigung.
d) Das Vorbringen des Beklagten zum Fehlen von Genehmigungsunterlagen auf
dem Betriebsgelände ergebe ebenfalls keinen Zustand, der atomrechtlichen
Vorschriften oder den Bestimmungen des Genehmigungsbescheides
widerspreche.
Weiterhin wurde der Beklagte angewiesen, in sämtlichen
Verwaltungsstreitverfahren zum KWB A, in denen die genannten Punkte schriftlich
oder mündlich erörtert würden, entsprechend vorzutragen.
Grundlage der Weisung waren fachliche Stellungnahmen der GRS und des iBMB
der TU Braunschweig (Prof. Hosser). Darin wird Stellung genommen zu den
sicherheitstechnischen Sachverhalten im Zusammenhang mit dem Brandschutz
im Rangierverteiler, die in der Gegenäußerung des Beklagten vom 22. Januar 1996
angesprochen worden waren. Des Weiteren enthalten sie eine Bewertung
möglicher Verläufe von Kabelbränden in den Rangierverteilerräumen des KWB A.
Im September 1996 berichtete der Beklagte dem BMU zum Stand der
Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren aufgrund der nachträglichen Auflagen in
den Bescheiden vom 27. März 1991 und wies zugleich darauf hin, dass nach einem
eingeholten Gutachten des Öko-Institutes vom 21. Juli 1996 und nach einem am 8.
Mai 1996 durchgeführten Fachgespräch davon auszugehen sei, dass die
Erdbebengefährdung am Standort Biblis bisher nicht entsprechend dem Stand von
Wissenschaft und Technik ermittelt worden sei. Wegen des fehlenden Nachweises
der Erdbebensicherheit sei die Erteilung davon betroffener Genehmigungen auf
unabsehbare Zeit ausgeschlossen.
Der Kläger wandte sich dann mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 28.
Oktober 1996 erneut an den Beklagten. Unter Hinweis auf seinen im September
1990 hilfsweise gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Betriebseinstellungsanordnung stellte er seinen Stillegungsantrag nunmehr
unbedingt.
In einem weiteren Bericht an das BMU zur sicherheitstechnischen und rechtlichen
Bewertung der Gesamtsituation in Bezug auf das KWB A vom 31. Oktober 1996
legte der Beklagte dar, dass seiner Auffassung nach der Widerruf der
Betriebsgenehmigung für das KWB A notwendig sei, weil der sicherheitstechnisch
mehr als bedenkliche Gesamtzustand der Anlage mittlerweile bereits für eine
längere Zeit hingenommen worden sei, als es auch nach Aussagen des BMU
verantwortbar gewesen wäre, und die Anlage in angemessener Zeit nicht
nachrüstbar sei. Die Untersuchungen im Rahmen der Sicherheitsanalyse hätten
erhebliche Sicherheitsdefizite offenbart, die zu einem erheblichen
Nachforderungsbedarf geführt hätten (das Schreiben enthält eine Auflistung der
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Nachforderungsbedarf geführt hätten (das Schreiben enthält eine Auflistung der
Sicherheitsmängel, die vom Beklagten als gravierend bewertet werden und die
bislang noch nicht behoben worden sind ). Eine Nachrüstung scheitere
u. a. daran, dass das Notstandssystem sich nicht wie vorgesehen verwirklichen
lasse, weil es die Erdbebenauslegung des Blockes B aufgrund von
Wechselwirkungen zwischen dem beantragten Gebäude und dem Block B bei
Erdbeben gefährde, und weiterhin daran, dass die Erdbebennachweise, die die
Beigeladene zum Nachweis ausreichender Schadensvorsorge beim Großteil der
Änderungsanträge vorgelegt habe, unbrauchbar seien, da sie auf einer
unzureichenden Datenbasis beruhten.
Nach einem Gutachten des Öko-Institutes vom 21. Juli 1996 müsse mittlerweile
mit der Möglichkeit höherer als der bisher zugrundegelegten Erdbebenlasten
gerechnet werden, da die bisherigen Sachverständigenaussagen zur
Erdbebengefährdung des KWB, einschließlich der im Rahmen der
Sicherheitsanalyse erstellten Stellungnahmen, nicht dem Stand von Wissenschaft
und Technik entsprächen. Die früher zugrundegelegten seismischen
Bemessungsgrößen könnten damit nicht zur Ermittlung der erforderlichen
Schadensvorsorge herangezogen werden (S. 22 und insbes. S. 25); die Ermittlung
neuer seismischer Kenngrößen erfordere aber einen erheblichen zeitlichen
Aufwand. Demzufolge könne die Beigeladene, die sich in den Verfahren zur
Beseitigung der Sicherheitsdefizite auf die veralteten Gutachten stütze, eine
ausreichende Schadensvorsorge zur Zeit nicht nachweisen.
Eine hinreichende Nachrüstung könne deshalb selbst unter optimistischen
Annahmen nicht vor dem Jahr 2005 erfolgen; das Notstandssystem könne unter
realistischen Annahmen erst um das Jahr 2010 verwirklicht sein. Bei einer
theoretischen Gesamtnutzungsdauer der Anlage von ca. 30 - 35 Jahren erweise
sich eine weitere Nachrüstung daher als obsolet.
Vom Beklagten wurden dem Gericht im Februar 1997 noch zwei weitere vom BMU
in Auftrag gegebene Stellungnahmen der GRS vom 24. Februar 1997 vorgelegt,
denen sich das BMU angeschlossen hat. In ihrer letzten Stellungnahme zu den
genannten sicherheitstechnischen Darstellungen des Beklagten kam die GRS zu
der Einschätzung, dass die vom Beklagten als gravierend bewerteten
Sicherheitsdefizite mit Ausnahme von zwei speziellen Sachverhalten nach wie vor
von geringer Risikorelevanz seien. In keinem Fall und auch nicht in den beiden
speziellen Sachverhalten sei aber eine Gefahrensituation und ein unmittelbarer
Handlungsbedarf beim derzeitigen Zustand des KWB A gegeben. Durch klar
eingrenzbare technische Maßnahmen, nämlich den Einbau bestimmter Armaturen
im VE-System im Hilfsanlagengebäude sowie die Ertüchtigung von Verankerungen,
Abstützungen und Halterungen bestimmter sicherheitstechnisch wichtiger
Komponenten hinsichtlich der Beanspruchungen bei Erdbeben, könne das
Sicherheitsniveau der Anlage im Bereich der Risikominderung deutlich angehoben
werden.
Hinsichtlich der seismischen Lastannahmen des Bemessungserdbebens für den
Standort Biblis sei nach Auswertung von Expertenmeinungen nicht in Frage
gestellt, dass die heutigen Lastannahmen (die in der SIAN neu festgelegt wurden)
in ausreichender Weise die beim Erdbeben möglichen Beanspruchungen
repräsentierten.
In Bezug auf den Bau des geplanten neuen Notstandssystems ergäben sich nach
neueren Untersuchungen zwar - entgegen der Annahme des Beklagten - keine
nachteiligen Auswirkungen durch Bauwerkswechselwirkungen bei Erdbeben für den
Block B. Es verbleibe für dieses Notstandssystem aber eine längere
Realisierungszeit. Eine Bewertung des derzeitigen Anlagenzustandes mit den
vorhandenen Notstandseinrichtungen zeige, dass die vom Beklagten angeführten
Schwachstellen dieser Notstandseinrichtungen keine wesentliche
sicherheitstechnische Bedeutung hätten, was auch darauf zurückzuführen sei,
dass seit der Planung des neuen Notstandssystems im Jahr 1989 schon
weitgehende Verbesserungen zur Gewährleistung von Sicherheitsfunktionen im
Notstandsfall durchgeführt worden seien. Im Vergleich zum beantragten neuen
Notstandssystem verbleibende Defizite könnten durch eine Ertüchtigung der
vorhandenen Einrichtungen in einer wesentlich kürzeren Zeit realisiert werden als
mit dem beantragten System. Da der dadurch erreichbare Sicherheitsgewinn
höher einzuschätzen sei, empfehle die GRS, die vorhandenen
Notstandseinrichtungen und die Leittechnik baldmöglichst zu verbessern.
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Am 3. März 1997 fand ein weiteres bundesaufsichtliches Gespräch statt, in dem
die Problematik der Entsorgungsvorsorge, die von dem Beklagten beabsichtigte
Genehmigungsaufhebung und Fragen zu den
Veränderungsgenehmigungsverfahren behandelt wurden.
Mit Schreiben vom 4. März 1997 legte der Beklagte dem BMU dann den Entwurf
eines Bescheides vor, mit dem er folgendes zu verfügen beabsichtigte:
1. den Widerruf aller Teilgenehmigungen einschließlich aller darauf bezogenen
Veränderungsgenehmigungen betreffend Block A des KWB.
2. die Rücknahme der Genehmigung vom 2. Juni 1975 insoweit, als sie zum
Leistungsbetrieb des Kraftwerks berechtigt,
3. die Anordnung, dass der Leistungsbetrieb von Block A einstweilen - und
nach Eintritt der Bestandskraft dieses Bescheides endgültig - einzustellen ist,
4. die Ablehnung aller von der Erdbebenproblematik betroffenen
Genehmigungsanträge der Beigeladenen zur Veränderung des Kraftwerks oder
seines Betriebs,
5. die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides.
Zur Begründung stellte die Behörde auf folgendes ab:
Eine erhebliche Gefährdung im Sinne des § 17 Abs. 5 Atomgesetz sei dann
anzunehmen, wenn ein erheblicher Schaden an Leib, Leben oder Gesundheit der
Beschäftigten oder Dritter oder die Zerstörung von für die Allgemeinheit
bedeutsamen Werten drohe, dessen Eintritt nicht mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden könne. Somit stelle das nach dem
Stand von Wissenschaft und Technik praktisch nicht ausgeschlossene Risiko einer
Kernschmelze oder einer Überschreitung der Störfallplanungswerte eine erhebliche
Gefährdung dar. Von einer Überschreitung der Störfallplanungswerte sei immer
dann auszugehen, wenn aufgrund nachgewiesener Sicherheitsdefizite oder
festgestellter, nicht unerheblicher Nachweislücken bei der erforderlichen
Schadensvorsorge die Besorgnis bestehe, dass ein Auslegungsstörfall nicht
beherrscht werde, (S. 43).
Vorliegend sei aufgrund zahlreicher Sicherheitsdefizite nicht gewährleistet, dass
das KWB A alle übergeordneten Schutzziele erfülle. Der anlagentechnische
Zustand verstoße gegen grundlegende Auslegungsanforderungen, die im
kerntechnischen Regelwerk als Stand der Technik, zum Teil auch als Stand von
Wissenschaft und Technik, konkretisiert seien. Es sei davon auszugehen, dass
Störfälle, gegen die die Anlage ausgelegt sein müsse, nicht zuverlässig beherrscht
würden. Bei Störfalleintritt könne nicht ausgeschlossen werden, dass die
Störfallplanungswerte zum Teil weit überschritten würden. Die Sicherheitsdefizite
bestünden zu einem erheblichen Teil darin, dass die erforderliche Sicherheit
hinsichtlich Funktion und Qualität der Komponenten insbesondere auch unter
Störfallbedingungen nicht nachgewiesen sei und die sich daraus ergebenden
Schadensszenarien aufgrund der Vielzahl der Nachweisdefizite unüberschaubar
seien.
Mittlerweile sei die Beseitigung der Sicherheitsmängel durch Nachrüstung auf
unabsehbare Zeit rechtlich und tatsächlich unmöglich geworden (S. 31 ff). Das
liege (u. a.) an der Verfahrensgestaltung durch die Beigeladene sowie daran, dass
diese die notwendigen Nachweise zur Erdbebensicherheit nicht habe erbringen
können.
Daraufhin erging am 7. März 1997 die bundesaufsichtliche Weisung an den
Beklagten, den vorgelegten Bescheid oder andere Verfügungen, die auf die in dem
Bescheidentwurf angeführten Gründe gestützt würden, nicht zu erlassen und in
Verwaltungs- und Verwaltungsstreitverfahren bestimmte, vom BMU vorgegebene,
rechtliche Bewertungen zugrunde zu legen.
Die rechtlichen Bewertungsvorgaben des BMU bezogen sich u. a. auch auf § 17
Abs. 5 Atomgesetz.
Eine erhebliche Gefährdung im Sinne dieser Vorschrift liege nicht bereits dann vor,
wenn insbesondere wegen des Fehlens von Nachweisen, wie sie in einem
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wenn insbesondere wegen des Fehlens von Nachweisen, wie sie in einem
Genehmigungsverfahren für eine Neuanlage gefordert würden, eine Besorgnis der
Behörde bestehe, dass Ereignisabläufe zur Überschreitung von
Störfallplanungswerten führen könnten. Vielmehr sei erforderlich, dass die Behörde
aufgrund ihrer Ermittlungen positiv davon überzeugt sei, dass die Sachlage bei
objektiv zu erwartendem Geschehensablauf unter Berücksichtigung des möglichen
Schadensausmaßes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für
die Schutzgüter des Atomgesetzes führe (Nr. 1a der Weisung).
Für die behördliche Bewertung einer erheblichen Gefährdung bestehe keine
Beschränkung auf die im kerntechnischen Regelwerk ausgeführten
Nachweismethoden. Nach dem Stand von Wissenschaft und Technik seien auch
andere Methoden, beispielsweise ingenieurtechnische Nachweise unter
Berücksichtigung der praktischen Erfahrung, zulässig (Nr. 1h).
Im Hinblick auf das KWB A liege kein Zustand vor, aus dem sich eine erhebliche
Gefährdung ergebe (Nr. 1i).
Eine Aufhebung der Genehmigungen für das KWB A sei auch bei Vorliegen der
tatbestandlichen Voraussetzungen jedenfalls unverhältnismäßig (1j).
Zur Begründung seiner mit der vorliegenden Klage geltend gemachten Ansprüche
auf Widerruf / Rücknahme der atomrechtlichen Genehmigung bzw. auf endgültige
oder vorläufige Stillegung des KWB A stellt der Kläger in weiten Teilen auf die vom
Beklagten in seinen Bescheidentwürfen bzw. in seinen Berichten an das BMU
angestellten Erwägungen ab.
Zentraler Punkt seiner Begründung ist zum einen der mangelhafte Brandschutz im
Rangierverteiler. Nach Auffassung des Klägers werden die Anforderungen des
kerntechnischen Regelwerkes in Bezug auf den Brandschutz im Bereich des
Rangierverteilers durchweg nicht erfüllt. Bautechnische Brandschutzvorkehrungen
zur gezielten Redundanztrennung des Reaktorschutzsystems - etwa durch
Brandabschnitte - seien nicht realisiert. Teilweise lägen auf einzelnen Kabeltrassen
Kabel aller Redundanzen und zwar nur jeweils 20 cm voneinander entfernt. Der
grundsätzlich erforderliche passive Brandschutz bestehe mithin nicht. Es könne zu
einem Stromausfall in der Warte kommen, mit der Folge, dass der Reaktor nicht
mehr gesteuert werden könne.
Der Nachweis, dass der vorhandene aktive Brandschutz (Feuerlöschsystem,
Feuerwehr) dieses Defizit kompensiere, sei bislang nicht geführt; nach dem
Regelwerk seien aktive Brandschutzmaßnahmen zusätzlich zu gewährleisten. Die
Folgen eines unmittelbaren Ausfalls eines aktiven Brandbekämpfungssystems
seien nicht geprüft. Die Folgen eines Brandes für das Reaktorschutzsystem -
insbesondere redundanzübergreifende Ausfälle - seien deshalb (auch unter
Berücksichtigung des Vorhandenseins der Systeme RX und RZ) ungeklärt.
Die vorhandene - ungenehmigte - CO2-Löschanlage könne aufgrund einer Vielzahl
von Defiziten die ihr zugedachte Sicherheitsfunktion nicht übernehmen. Die von
der GRS angenommene Zuverlässigkeit der beiden Systeme RX und RZ beruhe
auf Mutmaßungen; das RZ System sei nicht genehmigt und damit auch nicht
überprüft worden; gleiches gelte für das RX-System hinsichtlich seiner Tauglichkeit
für Block A.
Die Brandgefahr sei erheblich. Nach den Feststellungen in dem AGB-Gutachten
lägen im Rangierverteiler hohe Brandlasten vor. Brandereignisse hätten auch eine
hohe Eintrittswahrscheinlichkeit.
Ein weiterer Punkt der Klagebegründung ist die Erdbebensicherheit der Anlage:
Bei der Auslegung des KWB A sei - offenbar aufgrund mangelhafter
seismologischer Gutachten - übersehen worden, dass am Standort Biblis
wesentlich höhere Bodenbeschleunigungen auftreten könnten als solche von 1,5
bzw. 2 m/s2, da Biblis in einer Bruchzone der Erdkruste liege (Rhein - Riftzone).
Ausgehend von dem Baseler Erdbeben des Jahres 1356 als sog.
Bemessungserdbeben, das eine Intensität von 9 oder 10 aufgewiesen habe,
müsste nach der KTA - Regel 2201.1 ein Auslegungswert in Bezug auf eine
Bodenbeschleunigung von mindestens 3 bis 7 m/s2 erreicht werden; dies treffe für
das KWB A nicht zu. Da die damit verbundene erhebliche Gefährdung nicht durch
nachträgliche Auflagen beseitigt werden könne, sei das der Behörde eingeräumte
Ermessen auf die Rücknahme der Genehmigung reduziert.
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Die in der Sicherheitsanalyse 1991 vom TÜV in Bezug auf die Erdbebenauslegung
festgestellten Mängel bestünden größtenteils heute noch, denn die geforderten
Nachweise seien nur teilweise geführt. Die Sicherheitsdefizite hinsichtlich der
Bemessungserdbebenauslegung seien von der Behörde durch den
Auflagenbescheid vom 27. März 1991 auch nur für drei Jahre hingenommen
worden.
Das BMU hingegen verweise auf eine nachträgliche Überprüfung der
sicherheitstechnisch wichtigen Gebäude mittels dynamischer Rechnungen durch
den TÜV, die zu keinen Einschränkungen hinsichtlich der Standsicherheit der
Bauwerke geführt hätten und wonach unter Berücksichtigung der geringen
Eintrittswahrscheinlichkeit für das Bemessungserdbeben, der gegebenen
Bauausführung und der systemtechnischen Redundanzen die
sicherheitstechnische Bedeutung der Nachweisdefizite bzw. der noch nicht
realisierten Ertüchtigungen für gering gehalten werde. Diese Bewertung sei vom
Öko-Institut bemängelt worden. Auf die von der GRS angestellten probabilistischen
Abschätzungen könne es aber schon aus Rechtsgründen nicht ankommen, da es
sich bei einem Erdbeben um einen Auslegungsstörfall handele. Es fehle deshalb an
dem erforderlichen nachvollziehbaren Nachweis darüber, dass bei den
vorhandenen baulichen und technischen Gegebenheiten die Einhaltung der
übergeordneten Schutzziele gewährleistet sei.
Auch aufgrund neuerer Erkenntnisse des Beklagten sei davon auszugehen, dass
das KWB A bereits dem in der Sicherheitsanalyse neu festgelegten
Bemessungserdbeben nicht standhalte. Dies sei jedenfalls hinsichtlich des
Maschinenhauses und verschiedener für eine sichere Abschaltung und
ausreichende Nachkühlung des Reaktors notwendiger Systeme auch in Ansehung
von Reserven und Nachrüstungsmaßnahmen auf Dauer nicht der Fall.
Des Weiteren sei auch der Nachweis, dass bei einem Kühlmittelverluststörfall keine
Luft-Wasserstoff-Gemische mit lokal höherer Konzentration als 4 % aufträten,
bisher nicht erbracht.
Dieser sicherheitswidrige Zustand könne beseitigt werden, wenn eine bereits am
19. März 1987 erteilte Genehmigung für die Durchmischung des
Sicherheitsbehälters mit Helium umgesetzt werde; dies oder auch das Aufzeigen
anderer aktiver Maßnahmen zur Wasserstoffdurchmischung durch die Beigeladene
sei bislang nicht erfolgt. Zur Beseitigung der dadurch entstehenden
Gefahrensituation sei die einstweilige Betriebseinstellung nötig.
Der Hinweis des BMU auf die sehr geringe Eintrittswahrscheinlichkeit des
Ereignisses und den erst lange Zeit danach entstehenden Handlungsbedarf sei
bereits aus Rechtsgründen unzulässig, da das Regelwerk die Beherrschung des
Kühlmittelverluststörfalls infolge eines großen Leckes eindeutig vorschreibe.
Einen Anspruch auf Stillegung des KWB A leitet der Kläger aus
Genehmigungsmängeln her. Mit dem realisierten Anlagenzustand sei von dem in
den Teilerrichtungsgenehmigungen genehmigten Zustand in sicherheitstechnisch
erheblicher Weise abgewichen worden. Auch für die nachträglich eingebaute CO2-
Löschanlage, die wegen ihrer erheblichen sicherheitstechnischen Bedeutung
genehmigungspflichtig gewesen sei, sowie für die Hauptkühlmittelpumpe liege eine
Genehmigung nicht vor. Gleiches gelte für das RZ-System (Zusätzliches
Notspeisesystem) und - entgegen der vom BMU vertretenen Auffassung - auch für
das RX-System (Notstandssystem) und das Dampferzeugerabschlämmsystem
(RS-System). Des Weiteren fehlten zahlreiche Genehmigungsunterlagen auf dem
Betriebsgelände. Damit bestehe ein Zustand, der den Vorschriften des
Atomgesetzes widerspreche und auch ein Gefahrenverdacht.
Der Beklagte habe die Anordnung der vorläufigen Stillegung der Anlage als
geboten erachtet, um den fortgesetzten ungenehmigten Betrieb von KWB A zu
unterbinden. Dieser Auffassung schlösse er sich an.
Im übrigen weist der Kläger zur Begründung seiner Klage auf Punkte hin, die
teilweise schon Gegenstand des bereits abgeschlossenen Eilverfahrens mehrerer
Bürger aus dem Jahr 1988 (8 Q 2809/88) waren:
Bereits die in der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke Phase B ermittelte
Eintrittswahrscheinlichkeit von 0,12 % für einen schweren Unfall in der
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Eintrittswahrscheinlichkeit von 0,12 % für einen schweren Unfall in der
Lebensdauer des KWB begründe eine erhebliche Gefährdung.
Weiterhin sei die Reaktorkuppel von Block A nicht gegen Flugzeugabsturz
ausgelegt. Die im abgeschlossenen Biblis - Eilverfahren vom Gericht zum
Überflugverbot eingeholten Auskünfte seien überholt. Überflugbeschränkungen
bzw. Gebiete mit Flugbeschränkungen seien nach Auffassung des Bund/Länder -
Fachausschusses Luftverkehr (Sitzung vom November 1989) untauglich. Die
Eintrittswahrscheinlichkeit eines solchen Absturzes (10-6 pro Jahr und Anlage, Öko-
Institut, Risikountersuchungen ... Bd. II, 1983, S. 388) sei nicht "praktisch
ausgeschlossen". Die Zuweisung dieses Ereignisses in den Restrisikobereich durch
die Störfall - Leitlinien vom 18. Oktober 1983 stelle eine verfassungswidrige
Dezision dar. Da das KWB A in einer besonders gefährdeten Zone mit dichtem
Flugverkehr liege und nicht gegen einen Flugzeugabsturz ausgelegt sei, liege eine
erhebliche Gefährdung nach § 17 Abs. 5 Atomgesetz vor.
Es seien auch keine ausreichenden Wiederaufarbeitungskapazitäten in Bezug auf
abgebrannte Brennelemente vorhanden, womit deren Zwischenlagerung auf dem
Kraftwerksgelände notwendig werde, aus der eigenständige Gefahren resultierten;
diese Lage sei bislang vom Beklagten nicht ausreichend ermittelt und bewertet
worden. Es könne nicht länger verantwortet werden, dass in Kernkraftwerken
ständig weitere Brennelemente anfielen, die letztlich nicht entsorgt werden
könnten.
Das KWB A sei - neben dem Block B des KWB - das einzige Kernkraftwerk der
Bundesrepublik, das die RSK - Leitlinien nicht erfülle, nach denen ein unabhängiges
Notstandssystem vorhanden sein müsse. Letzteres umfasse ein räumlich
separiertes, gebunkertes Notstandsgebäude mit diversen Anlagen.
Nach dem Störfall im Dezember 1987 sei zwischen der Beigeladenen und dem
Beklagten die Errichtung eines solchen Notstandssystems ausgehandelt worden,
doch dessen Errichtung werde angesichts dessen Umfangs und der Kosten in
angemessener Zeit nicht verwirklicht werden können. Das vorhandene
Notstandssystem sei aber unzureichend und zudem als Notstandssystem für
Block A auch nicht genehmigt, so dass ein Widerruf der atomrechtlichen
Genehmigung nach § 17 Abs. 5 Atomgesetz auszusprechen sei.
Der Kläger beantragt,
1. den Beklagten zu verpflichten, die endgültige oder einstweilige Stillegung
des Kernkraftwerks B. Block A anzuordnen,
2. den Beklagten zu verpflichten, die der Beigeladenen erteilte atomrechtliche
Genehmigung für das Kernkraftwerk B. Block A aufzuheben, hilfsweise,
3. den Beklagten zu verpflichten, den Stillegungs- und den Aufhebungsantrag
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
1. den auf die endgültige Stillegung des Blocks A des Kernkraftwerks B.
bezogenen Antrag abzulehnen; hinsichtlich der vorläufigen Stillegung stellt er
keinen Antrag;
2. den Aufhebungsantrag abzulehnen.
3. Hinsichtlich des Hilfsantrags stellt er keinen Antrag.
Die Beigeladene beantragt,
alle Klageanträge abzuweisen.
Zur Begründung ihres Antrags trägt die Beigeladene im Wesentlichen vor, der
Antrag des Klägers sei bereits unzulässig, da er sich auf seine Planungshoheit und
das Eigentum an öffentlichen Einrichtungen berufe. Diese Positionen würden aber
von der dem Kläger allenfalls einen Anspruch auf Genehmigungsaufhebung
vermittelnden Vorschrift des § 17 Abs. 5 Atomgesetz, der auch für die beantragte
vorläufige Stillegung der Anlage maßgebliche Bedeutung erlange, von vornherein
nicht geschützt. Die Kommunen könnten auch nicht die von dieser Vorschrift
geschützten Rechtspositionen Leben und Gesundheit ihrer Einwohner oder ihrer
Mitarbeiter in den öffentlichen Einrichtungen klageweise geltend machen.
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Im übrigen habe der Kläger in Bezug auf die von ihm behaupteten
Sicherheitsdefizite das Vorliegen einer nicht behebbaren erheblichen Gefährdung
im Sinne von § 17 Abs. 5 Atomgesetz nicht hinreichend substantiiert dargelegt.
Aber auch bei unterstellter Zulässigkeit der Klage lägen die tatbestandlichen
Voraussetzungen für den geltend gemachten Aufhebungsanspruch bzw. für das
Stillegungsbegehren nicht vor.
Hinsichtlich der einzelnen, von dem Kläger vorgebrachten technischen
Sachverhalte, die auch den Bescheidentwürfen des Beklagten und den Weisungen
des BMU zugrunde liegen, gelangt die Beigeladene im Wesentlichen zu den
gleichen Wertungen, wie sie sich in den bundesaufsichtlichen Weisungen bzw.
Stellungnahmen finden. Zur Stützung ihres Vortrags bezieht sie sich weiterhin
auch auf die vom BMU in Bezug genommenen gutachtlichen Stellungnahmen der
GRS, des iBMB der TU Braunschweig (Prof. Hosser) und des TÜV Bayern in seiner
Sicherheitsanalyse von 1991.
Wegen der weiteren Einzelheiten des diesem Verfahren zugrundeliegenden
Sachverhaltes und des Vorbringens der Verfahrensbeteiligten wird zunächst auf
die zum vorliegenden verfahren eingereichten Schriftsätze der Parteien nebst
Anlagen sowie auf die vom Beklagten vorgelegten Behördenakten (2 Ordner:
Sicherheitsbericht Block A vom Mai 1969) Bezug genommen.
Ferner wird auf die Gerichtsakten und die Beiakten des gemeinsam verhandelten
Klageverfahrens der Kläger von Devivere u.a. (Az. 14 A 3083/89, 9 Ordner:
Genehmigungsbescheide und Gutachten für Block A und B; 2 Ordner:
Sicherheitsbericht Block B vom Februar 1971) und des parallelen Eilverfahrens
jener Kläger (14 Q 1326/94) verwiesen. In den Beiakten (7 Ordner) des
letztgenannten Eilverfahrens sind alle Anlagen enthalten, die von den
Verfahrensbeteiligten zu diesem Eilverfahren sowie auch gemeinsam für alle
verhandelten Verfahren eingereicht worden sind. Des Weiteren wird auf die
ebenfalls zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten des
Hess. VGH 14 A 1019/91 samt Beiakten (3 Ordner: Anlagen zu Schriftsätzen)
sowie 14 R 2394/93 (3 Ordner: Anlagen zu Schriftsätzen) Bezug genommen; diese
von der Beigeladenen anhängig gemachten Verfahren richten sich gegen die
beiden Auflagenbescheide des Beklagten vom 27. März 1991.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet.
Erfolglos bleibt der Kläger mit seinem auf Verpflichtung des Beklagten zur
Anordnung der endgültigen Stillegung des KWB A gerichteten Begehren sowie mit
seinem hilfsweise beantragten entsprechenden Bescheidungsbegehren (1).
Auch mit seinem Verpflichtungsantrag auf Aufhebung der der Beigeladenen für
diese Anlage erteilten atomrechtlichen Genehmigung dringt der Kläger nicht
durch; der Beklagte ist aber zur (erstmaligen) Bescheidung des Antrags des
Klägers auf Aufhebung der Genehmigung verpflichtet (2).
Ohne Erfolg bleibt weiterhin das auf vorläufige Stillegung des KWB A gerichtete
Verpflichtungsbegehren, während der Kläger aber auch hier mit seinem hilfsweise
gestellten entsprechenden Bescheidungsantrag durchdringt (3).
(1) Zunächst einmal bleibt dem vom Kläger erst im Laufe des Klageverfahrens
geltend gemachten zulässigen Begehren auf Verpflichtung des Beklagten zur
Anordnung der endgültigen Einstellung des Betriebes von Block A des KWB bzw.
seinem entsprechenden Bescheidungsbegehren der Erfolg versagt.
Dieser mit Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 28. Oktober 1996 (Bl. 384
GA) erstmals gestellte Verpflichtungsantrag auf endgültige Einstellung des
Anlagenbetriebs stellt sich als Klageerweiterung dar; bislang war neben der
Aufhebung der Genehmigung lediglich die vorläufige Stillegung der Anlage
beantragt worden.
Diese Erweiterung der Klage ist schon aus Gründen der Sachdienlichkeit zulässig
(§§ 44, 91 Abs. 1 VwGO). Mit der Einbeziehung dieses Begehrens in die Klage kann
ein dem bereits eingeleiteten Verwaltungsverfahren möglicherweise nachfolgendes
weiteres Verwaltungsstreitverfahren vermieden werden. Mit seinem Antrag vom
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weiteres Verwaltungsstreitverfahren vermieden werden. Mit seinem Antrag vom
28. Oktober 1996 (Anlage K 17 zum Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten im
vorliegenden Verfahren vom 28. Oktober 1996, Aktentasche Bd. II der GA) hat der
Kläger bei dem Beklagten unter Bezugnahme auf die abschließende
Stellungnahme im Klageverfahren vom selben Tage auch die endgültige Stillegung
des KWB A beantragt. Trotz des insoweit möglicherweise mißverständlichen
Wortlautes seines Antrag an die Behörde wird dieses Begehren durch die
Bezugnahme im Antragsschreiben auf den im Klageverfahren eingereichten
Schriftsatz vom selben Tage deutlich. In diesem wird nämlich (u.a.) auch das
Fehlen einer ausreichenden Genehmigung für das KWB A gerügt und damit eine
für eine endgültige Stillegung der Anlage grundsätzlich erforderliche
Voraussetzung dargelegt; im übrigen stellt der Kläger darin ausdrücklich klar, dass
er mit seinem Schreiben an die Behörde vom selben Tage auch die endgültige
Stillegung der Anlage beantragt hat.
Wegen des engen sachlichen Zusammenhangs mit den übrigen mit der
vorliegenden Klage verfolgten Begehren ist, da auch ausreichend Gelegenheit zu
einer Stellungnahme für die übrigen Verfahrensbeteiligten bestand, eine
Einbeziehung dieses Begehrens in das vorliegende Klageverfahren sachdienlich.
Dieses Klagebegehren stellt sich zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als
nach § 75 VwGO zulässige Untätigkeitsklage dar, in Bezug auf die dem Kläger auch
eine Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO zuzusprechen ist.
Nach seinem Sachvortrag erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass
für die hier in Rede stehende Anlage im Sinne von § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 des
Atomgesetzes vom 15. Juli 1985 (BGBl. I S. 1565), zuletzt geändert durch das 7.
Änderungsgesetz erforderliche Genehmigung nicht erteilt ist u. im unterbliebenen
Genehmigungsverfahren über eine Frage mit Auswirkungen auf seine im
Genehmigungsverfahren zu berücksichtigenden materiellrechtlichen Positionen
(Planungshoheit, ordnungsgemäßer Betrieb der öffentlicher Einrichtungen des
Klägers, Eigentumsrecht) zu entscheiden wäre.
Nach der genannten Vorschrift kann eine endgültige Stillegung der Anlage
angeordnet werden, wenn (u.a.) "eine erforderliche Genehmigung nicht erteilt" ist.
Eine Berufung auf die genannte Vorschrift ist nach dem Sachvortrag des Kläger
auch nicht von vornherein ausgeschlossen, denn ihr kommt nach - vom
erkennenden Senat geteilter - Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil
vom 7.6.1991, - BVerwG 7 C 43.90 - , BVerwGE 88, 286 und NVwZ 1993, S. 177)
insoweit drittschützender Charakter zu, als diejenigen einen ungenehmigten
Betrieb nicht dulden müssen, deren Schutz gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG durch das
- unterbliebene - Genehmigungsverfahren zu gewährleisten ist. Der Anspruch auf
ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein aufsichtliches Einschreiten wegen
eines unterlassenen oder unvollständigen Genehmigungsverfahrens ist -
gleichsam spiegelbildlich zum Recht auf Verfahrensbeteiligung - Ausfluß der
materiell-rechtlichen Rechtsposition (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG), um derer willen das
Gesetz dem Dritten die Möglichkeit gibt, sich am Genehmigungsverfahren zu
beteiligen. Der Schutz, den § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtG beim Fehlen einer
Genehmigung vermittelt, reicht daher ebenso weit wie der Schutz, den § 7 Abs. 2
Nr. 3 AtG selbst durch das Erfordernis eines Genehmigungsverfahrens vermittelt
(BVerwG, Urt. vom 7.6.1991, a.a.O.).
Da der Kläger, auf dessen Gebiet sich das KWB befindet, nach Auffassung des
Senats auch im Genehmigungsverfahren als Nachbar der Anlage zu betrachten
wäre, der sich darauf berufen könnte, es sei nicht die nach dem Stand von
Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die
Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen worden, ist er damit auch für das
Stillegungsbegehren klagebefugt.
Die Klage ist aber nicht begründet (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte die endgültige
Stillegung des KWB A anordnet oder seinen bei der Behörde gestellten
entsprechenden Antrag bescheidet, weil bereits die tatbestandlichen
Voraussetzungen für die von ihm angestrebte aufsichtliche Maßnahme nicht
vorliegen.
Als Rechtsgrundlage für dieses Begehren kommt allein § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtG
in Betracht. Danach kann die Behörde als aufsichtliche Maßnahme eine endgültige
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in Betracht. Danach kann die Behörde als aufsichtliche Maßnahme eine endgültige
Einstellung des Anlagenbetriebes anordnen, wenn eine erforderliche Genehmigung
nicht erteilt (1. Fallgestaltung) oder rechtskräftig widerrufen ist (2. Fallgestaltung).
In beiden genannten Fallkonstellationen besteht stets ein Anlagenzustand, der
dem Atomgesetz widerspricht (§ 19 Abs. 3 S. 1 <1. Alt.> AtG), denn dieses
begründet in § 7 Abs. 1 eine Genehmigungspflicht für die Errichtung und den
Betrieb einer Kernanlage. Auf eine Genehmigung kann aber ein Betreiber dann
nicht bzw. nicht mehr verweisen, wenn sie nicht erteilt oder bestandskräftig wieder
beseitigt worden ist.
Eine endgültige Einstellung des Anlagenbetriebes durch die Behörde setzt also die
dargestellte formelle Illegalität des Betriebes voraus und zwar völlig unabhängig
davon, ob (gleichzeitig) eine Gefahrensituation gegeben ist. Das Vorliegen einer
Gefahr führt bereits nach dem Wortlaut des § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtG, aber auch
nach dem Sinn und Zweck der einschlägigen Rechtsvorschriften nicht zu einem
Anspruch auf eine endgültige Einstellung des Betriebes der Anlage. Wegen der
Gestattungswirkung einer (im Regelfall) erteilten atomrechtlichen Genehmigung ist
die Behörde zunächst gehalten, die Genehmigung nach § 17 Abs. 5 AtG zu
widerrufen.
Das Instrument der aufsichtlichen Anordnung in Form der endgültigen Stillegung
des Betriebes eines Kernkraftwerkes dient von seiner Zweckrichtung her in erster
Linie der Durchsetzung einer vorab ergangenen bestandskräftigen Entscheidung
der Behörde nach § 17 Abs. 2 bis Abs. 5 AtG; es ist nicht dazu bestimmt, an die
Stelle eines Widerrufs bzw. einer Rücknahme einer atomrechtlichen Genehmigung
zu treten. (s. Haedrich, Atomgesetz, 1986, § 19 Rdnr. 7; vgl. auch Sellner
"Nachträgliche Auflagen und Widerruf der Genehmigung bei Kernenergieanlagen",
in Festschrift für Sendler, 1991, S.339 <350>; und Schmitt. "Bestandsschutz für
Kernenergieanlagen" in 8. Deutsches Atomrechts-Symposium, 1989, S.81 <91>).
Dieses Normverständnis bringt auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem
Beschluss vom 5. April 1989 (BVerwG 7 B 47.89, NJW 1989, S. 1170) zum
Ausdruck, indem dort die (endgültige) Stillegung als behördliche Maßnahme im
Gefolge eines vorangegangenen Widerrufs der Genehmigung bezeichnet wird.
Erst nach Eintritt der Bestandskraft einer solchen Aufhebungsentscheidung kommt
also eine endgültige Stillegungsanordnung in Betracht. Da das Gesetz
ausdrücklich die "Rechtskraft" der Beseitigung der Genehmigung verlangt, kann
daher ein Anspruch auf endgültige Stillegung weder unmittelbar aus einem
Aufhebungsanspruch nach § 17 Abs. 2 -5 AtG hergeleitet werden, noch kann ein
solches Begehren auch bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen für eine
Aufhebung zulässigerweise (im Wege der Stufenklage) gemeinsam mit dem
Aufhebungsbegehren verfolgt werden.
Allein maßgeblich für eine endgültige Einstellung des Anlagenbetriebes ist nach
dem Gesagten also die Genehmigungslage.
Danach scheitert das endgültige Stillegungsbegehren und auch das
entsprechende Bescheidungsbegehren des Klägers vorliegend bereits daran, dass
die Beigeladene als Betreiberin des KWB A über eine mit Bescheid vom 2. Juni
1975 abschließend erteilte Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb ihrer
kerntechnischen Anlage verfügt, die auch unstreitig (bislang) nicht bestandskräftig
widerrufen worden ist. Die mit dieser Genehmigung verbundene
Gestattungswirkung hebt das formelle Verbot des Atomgesetzes auf, diese
Tätigkeit ohne eine Genehmigung auszuüben.
Bei formell erteilter Genehmigung ist nach Auffassung des Senats im Sinne der
Bestimmung des § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtG "eine erforderliche Genehmigung" nur
dann als "nicht erteilt" zu betrachten, wenn der konkrete Anlagenzustand oder
auch der konkrete Anlagenbetrieb von der erteilten atomrechtlichen Genehmigung
offensichtlich so sehr abweicht, dass eine Zurechnung zu dieser nicht mehr
möglich ist, mit anderen Worten also nicht mehr davon gesprochen werden kann,
dass der Betreiber von der Gestattungswirkung seiner Genehmigung überhaupt
noch Gebrauch macht. Als Faustformel für diese beschriebene Abweichung von
dem Genehmigungsumfang kann nach Meinung des Senats darauf abgestellt
werden, ob genehmigter und konkreter Anlagenzustand bzw. -betrieb offensichtlich
in einem "aliud"- Verhältnis zueinander stehen. Nur wenn dies zu bejahen ist, kann
die Aufsichtsbehörde gegen den Betreiber unmittelbar mit einer endgültigen
Stillegungsanordnung vorgehen, weil eine vorab zu beseitigende Genehmigung
mangels Zurechenbarkeit zum konkreten Anlagenzustand /-betrieb dann nicht
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mangels Zurechenbarkeit zum konkreten Anlagenzustand /-betrieb dann nicht
vorliegt, wenn eine Genehmigung zwar formell erteilt, diese aber rechtlich
betrachtet gar nicht ausgenutzt wird.
Dass nicht jede Abweichung des Anlagenzustandes bzw. -betriebes von der
erteilten Genehmigung eine formelle Illegalität herbeiführt mit der Folge einer
möglichen endgültigen Stillegung der Anlage, läßt sich wiederum der oben bereits
angesprochenen gesetzlichen Systematik der einschlägigen atomrechtlichen
Vorschriften entnehmen.
Ist aufgrund der Abweichung ein Zustand gegeben, der dem Atomrecht oder den
Bestimmungen des Genehmigungsbescheides widerspricht, so ist die Behörde
nach § 19 Abs. 3 S. 1 <1. Alt.> AtG lediglich zur Anordnung von vorläufigen
aufsichtlichen Maßnahmen berechtigt, um diesen Zustand wieder zu beseitigen.
Beruht dagegen die Abweichung von der erteilten Genehmigung auf einem
Verstoß des Anlagenbetreibers gegen atomrechtliche Vorschriften, gegen hierauf
beruhende Anordnungen oder Verfügungen der Aufsichtsbehörde oder gegen die
Bestimmungen des Genehmigungsbescheides, so ist, wenn nicht in
angemessener Zeit Abhilfe geschaffen werden kann, von der Behörde zunächst
der Widerruf der atomrechtlichen Genehmigung gemäß § 17 Abs. 3 Nr. 3 AtG in
Betracht zu ziehen. Die genannte Vorschrift verlangt - anders als § 19 Abs. 3 S. 1
AtG, der auf den einer atomrechtlichen Vorschrift oder einem Bescheid der
Atombehörde widersprechenden Anlagenzustand abstellt und damit allein an
objektive Umstände anknüpft, ohne dass es auf eine Verantwortlichkeit des
Betreibers ankommt - , ein bestimmtes, gesetzlich nicht hinnehmbares Verhalten
("Verstoß") des Anlagenbetreibers und führt damit ein subjektives Element ein.
Daher muss nach Auffassung des Gerichts dem Widerruf wegen eines Verstosses
im Sinne der genannten Bestimmung stets eine Abmahnung durch die Behörde
mit Fristsetzung vorausgehen (so bereits Schneider in: Schneider/Steinberg,
Schadensvorsorge im Atomrecht zwischen Genehmigung, Bestandsschutz und
staatlicher Aufsicht, 1. Aufl., 1991, S. 178); d.h. also vor dem Widerruf der
Genehmigung muss dem Betreiber noch die Möglichkeit eingeräumt werden, den
Verstoß abzustellen, etwa durch Rückbau der Anlage, die Einholung von
Genehmigungen, das Erbringen von notwendigen Nachweisen o. ä. Führt damit
aber selbst ein Verstoß des Anlagenbetreibers gegen atomrechtliche Vorschriften
oder die Bestimmungen des Genehmigungsbescheides "nur" dazu, dass der
Behörde die Möglichkeit eröffnet wird, einen Widerruf der Genehmigung
auszusprechen, so bedeutet dies nach der gesetzlichen Systematik zugleich, dass
das in § 17 Abs. 3 Nr. 3 AtG angesprochene, nicht hinzunehmende Verhalten des
Anlagenbetreibers aber immer noch ein - wenn auch rechtswidriges - Ausnutzen
der erteilten Genehmigung darstellt. Nur in dem oben beschriebenen, als
Ausnahme zu betrachtenden extremen Fall, dass der Anlagenbetreiber den
Rahmen der Genehmigung praktisch verlassen hat und dies auch offensichtlich
wird, so dass eine Zurechnung zu der erteilten Genehmigung nicht mehr möglich
ist, besteht also - wie bereits ausgeführt - eine unmittelbare Durchgriffsmöglichkeit
für die Behörde nach § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtG.
Eine solche Fallgestaltung ist nach Auffassung des erkennenden Senats vorliegend
allerdings nicht gegeben.
Zwar geht mit dem Kläger auch der Beklagte (zuletzt in seinem Entwurf einer
Widerrufsverfügung vom 4. März 1997) davon aus, dass von der Beigeladenen
während der Errichtungsphase des KWB A ungenehmigte Veränderungen
gegenüber den Teilerrichtungsgenehmigungen Nr. 1 bis 6 vorgenommen worden
sind und dass die CO2-Löschanlage im Rangierverteiler, das RS-System und das
Schwungrad der Hauptkühlmittelpumpe ohne erforderliche Genehmigung errichtet
worden sind und betrieben werden.
Auch wenn man von dem Vorliegen des dieser behördlichen Wertung
zugrundeliegenden Sachverhaltes ausgeht, so kann darin aber nach Auffassung
des Gerichts nicht eine Abweichung des Anlagenzustandes bzw. -betriebes des
KWB A in dem oben beschriebenen Sinne gesehen werden, dass eine Zurechnung
dieses Zustandes / Betriebes zu der erteilten Genehmigung offensichtlich nicht
mehr möglich ist und von der Beigeladenen damit praktisch eine gänzlich andere
Anlage als die genehmigte errichtet worden ist und betrieben wird.
Ihre Bestätigung findet diese gerichtliche Wertung in dem Umstand, dass
behördenintern der Beklagte einerseits und das im Rahmen der Bundesaufsicht
tätig gewordene BMU andererseits zu einer völlig unterschiedlichen Einschätzung
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tätig gewordene BMU andererseits zu einer völlig unterschiedlichen Einschätzung
der Genehmigungslage gekommen sind.
Während der Beklagte - wie schon dargestellt - ungenehmigte Veränderungen an
der Anlage und einen ungenehmigten Betrieb von Teilen der Anlage zugrundelegt,
geht das BMU in seinen bundesaufsichtlichen Weisungen davon aus, dass der
Betrieb des KWB A weder im Hinblick auf den Brandschutz in den
Rangierverteilerräumen noch im Hinblick auf das
Dampferzeugerabschlämmsystem oder hinsichtlich Änderungen in der Ausführung
der Anlage, die sich aus den im Betriebsgutachten des TÜV Bayern vom 27. März
1974 zitierten Systemschaltplänen und -beschreibungen ergeben, den
atomrechtlichen Vorschriften oder den Bestimmungen des Bescheides über die
Genehmigung widerspricht; gleiches soll nach Auffassung des BMU auch in Bezug
auf das Schwungrad der Hauptkühlmittelpumpe, das System RX und die
Kerneinbauten gelten. Keine der beiden gegensätzlichen - bislang behördenintern
gebliebenen - Bewertungen aber erscheint dem Senat als willkürlich. Von einem
offensichtlichen Verlassen des Rahmens der erteilten Genehmigung durch die
Beigeladene kann in einer solchen Fallkonstellation dann aber nicht gesprochen
werden.
Auch wenn daher möglicherweise Zweifel daran erhoben werden könnten, ob die
Anlage genehmigungskonform errichtet wurde, der Betrieb aller Systeme den
atomrechtlichen Vorschriften entspricht und auch alle nachträglichen Auflagen
eingehalten worden sind, so berechtigte dies - wie ausgeführt - allein zu einem
Vorgehen der Behörde nach § 17 Abs. 3 Nr. 3 AtG. Zu Recht hat deshalb der
Beklagte in dem letzten Verfügungsentwurf vom 4. März 1997 diesen Sachverhalt
dem Anwendungsbereich der Vorschrift des § 17 Abs. 3 Nr. 3 AtG zugeordnet; ein
Anspruch auf endgültige Stillegung nach § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtG bzw. auf
entsprechende Bescheidung läßt sich daraus aber nicht herleiten.
(2) Auch mit seinem Begehren auf Verpflichtung des Beklagten zur Aufhebung der
der Beigeladenen als Betreiberin des KWB A erteilten atomrechtlichen (Voll-)
Genehmigung nach § 17 AtG kann der Kläger nicht durchdringen, wohl aber ist der
Beklagte zu einer Bescheidung des entsprechenden Antrag des Klägers unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet.
Klarstellend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf entsprechende
gerichtliche Empfehlung seinen Antrag nicht mehr allein auf den Widerruf, sondern
nunmehr auf die Aufhebung der Genehmigung gerichtet, denn in der
Klagebegründung hat er Umstände vorgetragen, die entweder eine Rücknahme
oder aber einen Widerruf der Genehmigung nach § 17 AtG zur Folge haben
können. Die Aufhebung stellt den Oberbegriff der in § 17 Abs. 2 bis 5 AtG
geregelten Formen der nachträglichen Beseitigung einer bestandskräftigen
Genehmigung durch die Atombehörde dar. Zwischen Rücknahme, obligatorischem
und fakultativem Widerruf einer Genehmigung besteht Gesetzeskonkurrenz (s.
dazu Schneider in: Schneider / Steinberg, a.a.O., S. 195), wobei es dann Aufgabe
des Gerichts ist, zu prüfen, auf welche materielle Rechtsgrundlage das Vorbringen
des Klägers zu seinem Aufhebungsbegehren jeweils gestützt werden kann.
Zutreffend ist vom Kläger gleichfalls auf entsprechende Empfehlung des Gerichts
in der mündlichen Verhandlung als Gegenstand seines Aufhebungsbegehrens die
der Beigeladenen für das KWB A erteilte atomrechtliche (Voll-) Genehmigung
bezeichnet worden.
Dies entspricht seinem eigentlichen Klagebegehren.
Der Kläger hatte zunächst in seinem Antrag an die Verwaltung und auch später in
seinem Klageantrag als Gegenstand des Aufhebungsbegehrens die
Betriebsgenehmigung benannt.
Der Kläger ist nach Auffassung des Senats aus Gründen der Bestimmtheit des
Klageantrags aber nicht darauf zu verweisen, die einzelne(n) Teilgenehmigung(en)
zu benennen, auf deren Regelungsgegenstand er mit seinen Einwendungen
abzielt.
Anders als im Verfahren der Anfechtung einer einzelnen, noch nicht in
Bestandskraft erwachsenen Teilgenehmigung, in dem nach § 7 b AtG Dritte mit
Einwendungen ausgeschlossen sind, die sie gegen eine vorangegangene
unanfechtbar gewordene Teilgenehmigung vorgebracht haben oder hätten
vorbringen können, ist Gegenstand des Verfahrens nach § 17 Abs. 2 bis 5 AtG
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vorbringen können, ist Gegenstand des Verfahrens nach § 17 Abs. 2 bis 5 AtG
allein die nach bestandskräftigem Abschluß des gestuften
Genehmigungsverfahrens dem Anlagenbetreiber erteilte atomrechtliche (Voll-)
Genehmigung (zum Begriff s. BVerwGE 80, 207 <223>).
Im übrigen wäre es auch Drittbetroffenen bereits mangels Überschaubarkeit der
komplexen technischen Funktionszusammenhänge in einem Kernkraftwerk
regelmäßig nicht möglich - und damit auch nicht zumutbar - anzugeben, welche
oder wie viele der einzelnen Teilgenehmigungen in ihrem Regelungsgehalt berührt
werden.
Dieses Klagebegehren stellt sich auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung als nach § 75 VwGO zulässige Untätigkeitsklage dar, in Bezug auf die
dem Kläger auch eine Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO zuzusprechen ist,
denn es erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Kläger sich auf
eine auch seine Rechte schützende Aufhebungsregelung des § 17 AtG stützen
kann.
Die Klage ist aber nur insoweit begründet (§ 113 Abs. 5 VwGO), als der Kläger -
hilfsweise - eine Bescheidung seines bei der Behörde gestellten
Aufhebungsantrags unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts begehrt;
ein Anspruch auf Aufhebung der Genehmigung steht ihm nicht zu.
Zunächst kann sich der Kläger für sein Aufhebungs- als auch für sein
entsprechendes Bescheidungsbegehren nicht auf die obligatorische
Widerrufsvorschrift des § 17 Abs. 5 AtG stützen.
Zwar stehen der Durchsetzung dieses Aufhebungsbegehrens nicht schon
verfahrensrechtliche Grundsätze entgegen. Der behördlichen Entscheidung über
einen Widerruf oder eine Rücknahme geht als verfahrensrechtlicher Schritt die
Entscheidung darüber voraus, ob eine neue Sachprüfung, die in einen sog.
Zweitbescheid mündet, überhaupt stattzufinden hat.
Nach Auffassung des Senats stellen die auf eine Aufhebung atomrechtlicher
Genehmigungen abzielenden Bestimmungen in § 17 Abs. 2 bis 5 AtG eine
umfassende und spezielle Regelung für den Fall sich nach Genehmigungserteilung
verändernder Verhältnisse dar (so auch v. Mutius / Schoch, Die atomrechtliche
Konzeptgenehmigung, DVBl. 1983, S. 159). Damit kommt zum einen ein Rückgriff
auf die verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 48, 49 VwVfG nicht in
Betracht; dies entspricht auch allgemeiner Auffassung.
Vor allem aber ist eine abschließende Regelung auch in Bezug auf den von § 51
VwVfG erfaßten Regelungsbereich (Wiederaufgreifen eines abgeschlossenen
Verwaltungsverfahrens) anzunehmen (so auch v. Mutius / Schoch, a.a.O.).
Entsprechend der (materiell-rechtlichen) Differenzierung in § 17 AtG zwischen
fakultativen und obligatorischen Aufhebungstatbeständen geht der Senat auch
hinsichtlich des (verfahrensrechtlichen) Anspruchs auf eine neue
Sachentscheidung davon aus, dass ein solcher in Bezug auf die Vorschrift des § 17
Abs. 5 AtG nach Maßgabe der auch in § 51 Abs. 1 VwVfG festgeschriebenen
allgemeinen Grundsätze über das Wiederaufgreifen eines Verwaltungsverfahrens,
also etwa bei Vorliegen einer geänderten Sach- oder Rechtslage zugunsten des
Klägers oder bei Vorliegen neuer Beweismittel, anzuerkennen ist.
Da der Kläger seinen an die Behörde gerichteten Aufhebungsantrag auf neue, d. h.
nach Genehmigungserteilung eingetretene, für ihn günstige und auch im Hinblick
auf sein Aufhebungsbegehren rechtlich erhebliche Umstände gestützt hat, indem
er auf die durch die Sicherheitsanalyse 1991 bekannt gewordenen
Sicherheitsmängel hingewiesen hat, hat er damit nach allgemeinen Grundsätzen
zulässige Gründe für eine Wiederaufnahme des Verfahrens (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 1
VwVfG) geltend gemacht.
Der Senat hat deshalb an einem der materiellen Prüfung der Behörde
vorgeschalteten Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens unter dem
Gesichtspunkt einer Überprüfung der Genehmigung nach Maßgabe des § 17 Abs.
5 AtG keine Zweifel.
Allerdings vermag die Vorschrift des § 17 Abs. 5 AtG dem Kläger als kommunaler
Gebietskörperschaft keinen Widerrufsanspruch zu vermitteln, da sie ihm
gegenüber keine drittschützende Wirkung entfaltet.
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Einer Vorschrift kommt drittschützender Charakter dann zu, wenn sie nicht nur
öffentlichen Interessen, sondern auch Individualinteressen Dritter zu dienen
bestimmt ist und sich aus den Tatbestandsmerkmalen der anzuwendenden Norm
ein Personenkreis bestimmen läßt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet
(vgl. BVerwGE 94, 151 <158>).
§ 17 Abs. 5 AtG ist nach Auffassung des Senats von seiner Zielsetzung her nicht
dazu bestimmt (auch) den schutzwürdigen Interessen des Klägers als kommunaler
Gebietskörperschaft zu dienen.
Soweit in § 17 Abs. 5 AtG der Schutz der Allgemeinheit angesprochen wird, der von
der Behörde bei Anwendung der Vorschrift selbstverständlich zu beachten ist,
kommt der Vorschrift bereits nach ihrem Wortlaut gemäß der oben dargelegten
Definition eine drittschützende Wirkung nicht zu, da Dritter nur derjenige sein kann,
der sich schon nach den Tatbestandsmerkmalen der Vorschrift gerade von der
Allgemeinheit unterscheiden läßt.
Der Vorschrift kommt zwar nach wohl unbestrittener Auffassung (grundsätzlich)
drittschützender Charakter zu, soweit sie den Schutz von "Beschäftigten" und
"Dritten" zum Gegenstand hat. Die Aufzählung der "Dritten" neben den
"Beschäftigten", mit Letzteren sind zweifelsohne die in der Anlage beruflich tätigen
Personen gemeint, und der "Allgemeinheit" in der hier in Rede stehenden
Vorschrift läßt nach Auffassung des Senats aber schon nach dem Sprachgebrauch
nur die Deutung zu, dass damit allein die Gefährdung von Menschen, also von
natürlichen Personen, angesprochen ist. Damit fallen Sachgüter, aber auch die
Rechtspositionen, auf die nur juristische Personen sich berufen können, aus dem
Schutzbereich der Norm (vgl. dazu Schmitt, a.a.O., S. 92; und auch Schneider in:
Schneider / Steinberg, a.a.O., S. 173 mit Hinweis auf die zuvor zitierte Meinung).
"Dritte" im Sinne dieser Vorschrift sind deshalb nur natürliche Personen, denen das
(höchstpersönliche) Recht auf Leben und Gesundheit als eigene Rechtsposition
zusteht.
Auf die von dieser Vorschrift geschützten Rechtsgüter Leben und Gesundheit von
Menschen kann sich der Kläger als kommunale Gebietskörperschaft nicht berufen,
da ihm diese nicht als eigene Rechtspositionen zustehen.
Die Rechtspositionen, auf die sich der Kläger zulässigerweise stützen kann, werden
durch die Verfassungsordnung vorgegeben. Dazu zählt in erster Linie das durch
Artikel 28 Abs. 2 S. 1 GG und Artikel 137 der Verfassung des Landes Hessen
geschützte Recht der Gemeinden, Städte und Landkreise auf Selbstverwaltung
ihrer Angelegenheiten (kommunale Selbstverwaltungsgarantie).
Eine Ausgestaltung dieses Rechtes ist die kommunale Planungshoheit sowie auch
der Bestand, die Funktionsfähigkeit und der ordnungsgemäße Betrieb von
öffentlichen Einrichtungen, mit denen die Gebietskörperschaft öffentliche Aufgaben
wahrnimmt (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 3. Juni 1986, UPR 1986, S. 396; der 8.
Senat des Hess. VGH hat in einem Urteil vom 1. November 1989 - 8 A 2902/88 -
<"Alkem"> den Schutz des Betriebes einer öffentlichen Einrichtung aus der
kommunalen Planungshoheit abgeleitet).
Desgleichen kann sich eine Gebietskörperschaft auf ihr Eigentumsrecht in Bezug
auf körperschaftseigene Grundstücke berufen, auch wenn ihr in diesem
Zusammenhang kein Grundrechtsschutz aus Art. 14 GG zusteht.
Nicht dagegen kann der Kläger den Schutz von Leben und Gesundheit seiner
Einwohner als eigene Rechtsposition geltend machen; denn diese Aufgabe rechnet
nicht zu den Selbstverwaltungsangelegenheiten, sondern ist Teil der allgemeinen
Schutzpflicht des Staates für sein Staatsgebiet und die darin lebenden Menschen
(vgl. OVG Koblenz, a.a.O.; Sellner, Immissionsschutzrecht und Industrieanlagen,
Anm. 356; Jarass, BImschG, § 6 Rdnr. 39 m. w. N.); diese Rechtsauffassung hat der
erkennende Senat auch bereits seiner Entscheidung betreffend das Kohlekraftwerk
Staudinger (Urteil vom 29. Oktober 1991 - 14 A 2767/90 -, UPR 1992, S. 319)
zugrundegelegt.
Auch das Bundesverwaltungsgericht vertritt in Bezug auf die gemeindliche
Klagebefugnis die Auffassung, dass den Gemeinden nicht deshalb "wehrfähige"
Rechte zukommen, weil der Allgemeinheit oder einzelnen Privatpersonen - die ihre
Rechte selbst geltend zu machen haben - ein Schaden droht (s. Beschluss vom
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Rechte selbst geltend zu machen haben - ein Schaden droht (s. Beschluss vom
30. Dezember 1996 -BVerwG 11 VR 24.95 mit weiteren Nachweisen aus seiner
Rechtsprechung zum Fachplanungsrecht; Urteil vom 15. Dezember 1989 -BVerwG
4 C 36.86 - zum Immissionsschutzrecht). Das den Gemeinden grundgesetzlich
verbürgte Selbstverwaltungsrecht begründet also keine Rechtsposition, aufgrund
derer sie gleichsam im Wege einer kommunalen Prozeßstandschaft eine
Gefährdung höchstpersönlicher Rechte ihrer Bürger geltend machen können.
Soweit sich eine Gebietskörperschaft auf den Schutz von Leben und Gesundheit
der Mitarbeiter und der Benutzer ihrer kommunalen Einrichtungen beruft, kann sie
damit zulässigerweise allein den Schutz des ordnungsgemäßen Betriebes ihrer
öffentlichen Einrichtung als eigene Rechtsposition geltend machen. In Bezug auf
die genannten höchstpersönlichen Rechtsgüter macht sie sich nach dem oben
Gesagten insoweit zum Sachwalter allgemeiner staatlicher Interessen. Dies reicht
für die Begründung einer Klagebefugnis im Rahmen des vorliegenden
Klageverfahrens nicht aus.
Selbst wenn man aber zu Gunsten des Klägers annimmt, dass dieser als Dritter im
Sinne von § 17 Abs. 5 AtG zu betrachten ist, - etwa unter dem Gesichtspunkt, dass
aufgrund des großen Schadenspotentials eines Kernkraftwerkes dieser in seiner
Existenz als kommunale Gebietskörperschaft bedroht sein könnte, zumindest aber
der Bestand oder die Funktionsfähigkeit seiner öffentlichen Einrichtungen -, wäre
die Klage nicht begründet, denn dem Kläger steht auch dann ein Anspruch auf
Widerruf der der Beigeladenen erteilten atomrechtlichen Genehmigung nicht zu.
Nach der Auffassung des Senats in dem parallelen, gemeinsam verhandelten und
am selben Tage entschiedenen Klageverfahren (Aktenzeichen 14 A 3083/89)
mehrerer in der Nähe des KWB A wohnhafter Bürger, die von demselben
Bevollmächtigten vertreten wurden, ist auf der Grundlage aller bis zur gerichtlichen
Entscheidung vorgetragenen Gründe für die Annahme einer Gefahr für das Leben
und die Gesundheit dieser Bürger eine entsprechende Reduktion des der Behörde
diesbezüglich eingeräumten Beurteilungsspielraums auf eine solche Annahme
nicht gegeben. Entsprechendes muss dann auch für eine Gefährdung des Klägers
in Bezug auf die vorstehend beschriebenen, ihm zustehenden Rechtspositionen
gelten.
Der Kläger kann die begehrte Aufhebung der atomrechtlichen Genehmigung auch
nicht aus den fakultativen Aufhebungsregelungen des § 17 Abs. 2 und Abs. 3 AtG
herleiten.
Zwar hat der Senat in dem zitierten Klageverfahren mehrerer in der Nähe des KWB
A wohnhafter Bürger (Aktenzeichen 14 A 3083/89) entschieden, dass den
genannten Vorschriften insoweit eine drittschützende Funktion zukommt, als eine
Aufhebung wegen der Nichteinhaltung drittschützender
Genehmigungsvoraussetzungen verlangt wird, also eine drittschützende Wirkung
quasi spiegelbildlich zu dem im Genehmigungsverfahren anzuerkennenden
Drittschutz anzunehmen ist. Nach den obigen Ausführungen zu (1) kann sich
daher auch der Kläger als kommunale Gebietskörperschaft auf diese Regelungen
berufen.
Ein Anspruch auf Verpflichtung der Behörde zur Aufhebung der atomrechtlichen
Genehmigung unter Zugrundelegung der die Rücknahme bzw. den Widerruf in das
behördliche Ermessen stellenden und dem Kläger auch Drittschutz vermittelnden
Vorschriften des § 17 Abs. 2 und Abs. 3 AtG scheitert aber bereits daran, dass ein
(verfahrensrechtlicher) Anspruch des Klägers auf eine neue Sachentscheidung
durch die Behörde insoweit nicht gegeben ist. Hinsichtlich der fakultativen
Aufhebungsvorschriften besteht nach Auffassung des Senats - wie in Bezug auf die
§§ 48, 49 VwVfG anerkanntermaßen auch - lediglich ein Anspruch auf
ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfahrens in
Form einer erneuten Sachentscheidung (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne;
vgl. dazu Sachs in Stelkens / Bonk, Kommentar zum VwVfG, § 51, Rdnr. 9 ff).
Gesichtspunkte, die zu einer Reduzierung dieses Ermessens auf Null führen, sind
aber nicht vorgetragen und auch nicht erkennbar.
Insbesondere ist der von dem Kläger in den Vordergrund seiner Argumentation
gerückte Umstand, dass gegenüber der Beigeladenen bereits im März 1991 zwei
Auflagenbescheide ergangen sind, nicht geeignet, das behördliche Ermessen
einzuschränken unter dem Gesichtspunkt, dass mit diesen Bescheiden von der
Behörde bereits die Bestandskraft der erteilten Genehmigung in Frage gestellt
worden wäre. Die Behörde hat im Hinblick darauf, dass sie aufgrund des
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worden wäre. Die Behörde hat im Hinblick darauf, dass sie aufgrund des
Ergebnisses der Sicherheitsanalyse des TÜV Bayern den Erlass nachträglicher
Auflagen für ausreichend aber auch für geboten hielt, zunächst gerade keinen
Anlaß gesehen, die Genehmigung durch einen Widerruf zu beseitigen, sondern sie
hat diese nur ergänzt. Sie hat also nicht die Genehmigung als solche und damit
die ihr zukommende Gestattungswirkung in Frage gestellt, sondern unter
Aufrechterhaltung der Genehmigung ausschließlich eine ausreichende
Schadensvorsorge durch den Erlass nachträglicher Auflagen gewährleisten wollen.
Damit führt dieser Gesichtspunkt nach Meinung des Senats nicht zu einer
Reduzierung des behördlichen Wiederaufgreifensermessens.
Der Kläger hat aber einen Anspruch darauf, dass die Behörde ermessensfehlerfrei
zunächst darüber befindet, ob sie unter Durchbrechung der Bestandskraft der der
Beigeladenen erteilten atomrechtlichen Genehmigung für das KWB A in eine
Sachprüfung eintreten und in Bezug auf den Aufhebungsantrag des Klägers eine
neue Sachentscheidung unter Zugrundelegung der fakultativen
Aufhebungsvorschriften treffen will, denn bislang ist eine Bescheidung des
entsprechenden Klägerantrags nicht erfolgt.
Für diese Entscheidung erlangt die von § 51 Abs. 3 VwVfG für das
Wiederaufnahmeverfahren vorgesehene Frist von drei Monaten ab
Kenntniserlangung von den die Aufhebung der Genehmigung ermöglichenden
Umständen keine Bedeutung. Der VGH Baden-Württemberg hat in einer
Entscheidung vom 28. November 1989 (NVwZ 1990, S.985<988>) erwogen, dass
diese Fristvorschrift zugunsten eines Drittbegünstigten, der durch eine
unanfechtbare Genehmigung eine gesicherte Rechtsposition erlangt hat, eine
ähnliche Schutzfunktion erfüllen könnte wie die Widerspruchsfrist des § 70 Abs. 1
VwGO, mit der Folge, dass über einen in diesem Sinne verspäteten
Wiederaufgreifensantrag nicht zu Lasten Dritter sachlich entschieden werden darf.
Da nach Auffassung des Senats das Wiederaufgreifen des Verfahrens mit dem Ziel
der Aufhebung einer atomrechtlichen Genehmigung abschließend in § 17 Abs. 2
bis 5 AtG geregelt ist und in diesen Regelungen eine Ausschlußfrist für
Drittbetroffene nicht vorgesehen ist, kann nicht - auch nicht analog - auf die strikte
Präklusionsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG zurückgegriffen werden.
Zulässig ist es dagegen, dass die Behörde in diesem mehrpoligen
Rechtsverhältnis bei ihrer Ermessensentscheidung den Gesichtspunkt einer
möglichen Verwirkung des Wiederaufnahmebegehrens berücksichtigt. Dies setzt
allerdings neben der längeren Kenntnis von den eine Aufhebung der Genehmigung
ermöglichenden veränderten Umständen als weiteres Element voraus, dass die
Behörde berechtigt darauf vertrauen durfte, der Kläger würde von einem Antrag
auf Wiederaufnahme des Verfahrens absehen. Für beide Aspekte einer möglichen
Verwirkung sind aber vorliegend Anhaltspunkte nicht gegeben.
(3) Der Kläger bleibt auch mit seinem weiteren Begehren auf Verpflichtung des
Beklagten zur vorläufigen Stillegung der Anlage ohne Erfolg; der Beklagte ist aber
auch insoweit verpflichtet, den entsprechenden Antrag des Klägers (erstmals) zu
bescheiden.
Rechtliche Grundlage für diesen geltend gemachten Anspruch ist § 19 Abs. 3 AtG.
Dessen Satz 1 ermächtigt die atomrechtliche Aufsichtsbehörde zu Maßnahmen
zur Beseitigung eines im weitesten Sinne atomrechtswidrigen Zustandes (1.
Alternative) oder eines Zustandes, aus dem sich Gefahren für Leben, Gesundheit
oder Sachgüter ergeben können (2. Alternative). Die genannte Vorschrift gibt nach
Auffassung des Senats der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde ein eigenständiges
Instrumentarium zur Gefahrenabwehr und - da bereits nach dem eindeutigen
Wortlaut der Vorschrift auch ein Gefahrenverdacht zum behördlichen Tätigwerden
berechtigt - auch zur Gefahrerforschung an die Hand. Sie ermächtigt die Behörde
aber regelmäßig nur zu vorläufigen Maßnahmen, die die Genehmigung als solche
unberührt lassen (ausführlich dazu Hartung, Sven, Die Atomaufsicht: Zur
staatlichen Aufsicht nach § 19 des Atomgesetzes, 1. Aufl. 1992, S. 95 - 97). Dieses
Normverständnis kongruiert mit dem allgemeinen polizeirechtlichen Grundsatz,
wonach ein Gefahrenverdacht aufgrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips
regelmäßig allein vorläufige Eingriffsmaßnahmen rechtfertigt (vgl. dazu auch
Roller, Der Gefahrenbegriff im atomrechtlichen Aufsichtsverfahren, DVBl 1993, S.
20, 21 und Di Fabio, Vorläufiger Verwaltungsakt bei ungewissem Sachverhalt, DÖV
1991, S. 629, 633).
Als schärfste vorläufige Maßnahme stellt sich, wie auch die in Satz 2 der Vorschrift
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Als schärfste vorläufige Maßnahme stellt sich, wie auch die in Satz 2 der Vorschrift
enthaltene Palette möglicher aufsichtlicher Maßnahmen verdeutlicht, die
einstweilige Einstellung der genehmigten Tätigkeit dar (s. auch Hartung, a.a.O., S.
161, 164).
Auch wenn dem aufsichtlichen Tätigwerden oftmals eine Hilfs- und
Vorbereitungsfunktion in Bezug auf die von der atomrechtlichen
Genehmigungsbehörde zu treffenden Entscheidungen nach § 17 AtG zukommt,
erschöpft sich die Funktion der Regelung des § 19 Abs. 3 AtG aus den dargelegten
Gründen nicht darin. Deshalb bedeutet auch die Vorläufigkeit der nach dieser
Vorschrift regelmäßig in Betracht kommenden Maßnahmen nicht, dass eine solche
von einem Dritten angestrebte behördliche Anordnung von diesem
zulässigerweise nur im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO
verfolgt werden könnte; das Merkmal der Vorläufigkeit gebietet lediglich, dass die
Behörde mit Anordnung der Maßnahme auch gleichzeitig deren
"Beendigungstatbestand" bestimmt.
Damit bestehen diesbezüglich keine rechtlichen Bedenken dagegen, dass der
Kläger die Anordnung der vorläufigen Stillegung der Anlage im Wege der
vorliegenden Verpflichtungsklage verfolgt.
Dieses Klagebegehren stellt sich zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als
nach § 75 VwGO zulässige Untätigkeitsklage dar, da über den entsprechenden
Antrag vom 3. September 1990 bislang - ohne dass ein zureichender Grund im
Sinne von § 75 S. 1 VwGO dafür festgestellt werden kann - in angemessener Frist
nicht entschieden worden ist.
Für diesen Antrag ist dem Kläger auch eine Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO
zuzusprechen, denn es erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ihm
ein Anspruch auf die begehrte Anordnung nach § 19 Abs. 3 AtG zusteht.
Die Klage ist aber allein hinsichtlich des - hilfsweise beantragten -
Bescheidungsbegehrens begründet (§ 113 Abs. 5 VwGO); einen Anspruch auf die
begehrte, im Ermessen der Behörde stehende vorläufige Anordnung hat der
Kläger nicht.
Der erkennende Senat hält - in Weiterentwicklung der bereits in dem Beschluss
des 8. Senats des Hess. Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Juni 1989 (Az: 8 Q
2809/88) dargelegten Rechtsauffassung - eine Reduzierung des in § 19 Abs. 3 S. 1
AtG eingeräumten aufsichtsbehördlichen Ermessens auf die schärfste Form
möglicher vorläufiger Maßnahmen, nämlich auf die Anordnung der einstweiligen
Einstellung des Betriebes der Anlage, allein dann für gegeben, wenn eine Gefahr
für Leben oder Gesundheit von Menschen im Sinne der Vorschrift des § 17 Abs. 5
AtG anzunehmen ist. Da - wie oben unter (2) dargelegt - der Kläger sich auf diese
nur natürlichen Personen zustehenden Rechtspositionen nicht stützen kann,
scheidet ein entsprechender Anspruch für ihn bereits deswegen aus.
Aber selbst wenn man annimmt, eine Ermessensreduzierung auf Null komme
bereits auch hinsichtlich der dem Kläger zustehenden Rechtspositionen in
Betracht, vermag der Kläger mit seinem Begehren nicht durchzudringen. Denn wie
in der schon zuvor zitierten parallelen Entscheidung des erkennenden Senats vom
selben Tage (14 A 3083/89) dargelegt wird, setzt die Zuerkennung eines
Rechtsanspruchs auf die begehrte vorläufige Einstellung des Anlagenbetriebs
voraus, dass die der Exekutive eingeräumte Einschätzungsprärogative hinsichtlich
des Vorliegens einer Gefahr auf Null reduziert ist, weil sich die Annahme einer
Gefahrenlage derart zwingend aufdrängt, dass jede andere Bewertung grob
willkürlich und schlechthin unvertretbar wäre. Gleiches gilt auch hinsichtlich der
Annahme eines Gefahrenverdachtes. Beides hat der Senat in dem
Parallelverfahren als nicht gegeben erachtet und Entsprechendes muss daher
auch in Bezug auf das vorliegende Verfahren und die hier maßgeblichen
Rechtspositionen des Klägers gelten.
Hinsichtlich des Antrags des Klägers vom 3. September 1990 auf Anordnung einer
vorläufigen Betriebsstillegung nach § 19 Abs. 3 AtG ist der Beklagte aber zu einer
(erstmaligen) Bescheidung unter Zugrundelegung der aktuellen Sachlage
verpflichtet.
Der Beklagte wird bei seiner Entscheidung die zuvor dargestellte Rechtsauffassung
des Gerichts zu berücksichtigen haben, dass es dem Kläger verwehrt ist, sich auf
die Rechtsgüter Leben und Gesundheit seiner Einwohner zu berufen. In Bezug auf
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die Rechtsgüter Leben und Gesundheit seiner Einwohner zu berufen. In Bezug auf
den Kläger ist die Prüfung der Behörde daher auf das Vorliegen der 1. Alternative
(atomrechtswidriger Zustand im weitesten Sinne) sowie der 2. Alternative
hinsichtlich einer Gefährdung der geschützten Rechtspositionen des Klägers
(Planungshoheit, ordnungsgemäßer Betrieb seiner öffentlichen Einrichtungen,
Eigentumsrecht) beschränkt.
Der Senat läßt gegen dieses Urteil die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO
zu.
Grundsätzliche Bedeutung kommt der Rechtssache hier deswegen zu, weil die
Frage des Anwendungsbereichs der 1. Fallgestaltung des endgültigen
Stillegungstatbestandes des § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtG höchstrichterlich noch nicht
geklärt ist.
Hinsichtlich der Vorschrift des § 17 Abs. 5 AtG und im Zusammenhang damit auch
hinsichtlich des § 19 Abs. 3 S. 1 AtG ist eine Klärung der Reichweite der
drittschützenden Wirkung dieser Regelungen insbesondere in Bezug auf
kommunale Gebietskörperschaften durch das Bundesverwaltungsgericht für eine
einheitliche Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften erforderlich. Des
Weiteren ist die Frage der drittschützenden Wirkung des § 17 Abs. 2 und 3 AtG und
auch die Anwendbarkeit der Regelungen über das Wiederaufgreifen eines
Verfahrens (§ 51 VwVfG) im Atomrecht höchstrichterlich noch nicht geklärt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 3, 155 Abs. 1 S. 1, 162 Abs. 3
VwGO; sie berücksichtigt, dass der Kläger nur zu einem geringen Teil mit seiner
Klage durchdringen konnte; dieses Teilobsiegen hat der Senat mit einem Anteil
von 1/10 bewertet, der vom Beklagten und der Beigeladenen je zur Hälfte zu
tragen ist. Die Beigeladene war mit ihren außergerichtlichen Kosten in die
Kostenverteilung mit einzubeziehen, da sie die Abweisung der Klage beantragt und
sich damit einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.