Urteil des HessVGH vom 13.11.1990

VGH Kassel: hauptwohnung, hmg, gericht erster instanz, daten, vergleich, verwaltungsakt, heimatort, vorverfahren, student, landrat

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
11. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
11 UE 4950/88
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 113 Abs 2 VwGO, § 1
MeldeG HE 1982, § 10
MeldeG HE 1982, § 16 Abs
2 S 1 MeldeG HE 1982
(Melderechtliche Hauptwohnung eines Studenten -
Bestimmung der Hauptwohnung durch feststellenden
Verwaltungsakt seitens der Meldebehörde)
Tatbestand
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Frage, ob sich die Hauptwohnung des
Klägers, eines Studenten der Philipps-Universität in Marburg, im melderechtlichen
Sinn an seinem Studienort Marburg oder seinem Heimatort Meschede befindet.
Die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgeblichen Bestimmungen des
Hessischen Meldegesetzes (HMG) vom 14. Juni 1982 (GVBl. I S. 126) lauten:
§ 1 Aufgaben der Meldebehörden
(1) Die Meldebehörden haben die in ihrem Zuständigkeitsbereich wohnhaften
Einwohner zu registrieren, um deren Identität und Wohnungen festzustellen und
nachweisen zu können.
(2) Zur Erfüllung ihrer Aufgaben führen die Meldebehörden Melderegister ...
§ 10 Berichtigung von Daten
Sind gespeicherte Daten unrichtig, hat die Meldebehörde die Daten von Amts
wegen oder auf Antrag des Betroffenen zu berichtigen. Von der Berichtigung sind
unverzüglich diejenigen Behörden und sonstigen öffentlichen Stellen zu
unterrichten, denen im Rahmen regelmäßiger Datenübermittlungen die
unrichtigen Daten übermittelt worden sind.
§ 16 Mehrere Wohnungen
(1) Hat ein Einwohner mehrere Wohnungen im Geltungsbereich des
Melderechtsrahmengesetzes, so ist eine dieser Wohnungen seine Hauptwohnung.
(2) Hauptwohnung ist die vorwiegend benutzte Wohnung des Einwohners.
Hauptwohnung eines verheirateten Einwohners, der nicht dauernd getrennt von
seiner Familie lebt, ist die vorwiegend benutzte Wohnung der Familie. In
Zweifelsfällen ist die vorwiegend benutzte Wohnung dort, wo der Schwerpunkt der
Lebensbeziehungen des Einwohners liegt.
(3) Nebenwohnung ist jede weitere Wohnung des Einwohners.
(4) Der Einwohner hat bei jeder An- oder Abmeldung mitzuteilen, welche weiteren
Wohnungen er hat und welche dieser Wohnungen seine Hauptwohnung ist ....
Der Kläger meldete bei dem Einwohnermeldeamt der Beklagten seine Wohnung in
Marburg als Nebenwohnung an und teilte mit, Hauptwohnung solle weiterhin die
elterliche Wohnung in Meschede bleiben. Zur Begründung führte der Kläger in
seiner Erklärung vom 7. Dezember 1986 aus, der Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen sei nach wie vor Meschede. In Marburg verfüge er nur über ein
provisorisches Bett (Matratzenlager). Während des Semesters sei er lediglich von
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provisorisches Bett (Matratzenlager). Während des Semesters sei er lediglich von
Montag bis Freitag in Marburg anwesend. Zwei- bis dreimal pro Monat fahre er
zusätzlich am Mittwoch nach Meschede, wo er sich auch in den Semesterferien
aufhalte. Mit formularmäßigem Bescheid vom 19. Dezember 1986, dem eine
Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war, teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß
seine Wohnung in Marburg seit dem 1. April 1986 als Hauptwohnung und seine
Wohnung in Meschede als Nebenwohnung registriert sei. In dem Vordruck ist als
Begründung folgender Text vorgesehen: Der Kläger habe nicht widerlegen können,
daß sich seine Hauptwohnung in Marburg befinde. Beim Vergleich der
Vorlesungszeiten mit den vorlesungsfreien Zeiten halte er sich überwiegend in
Marburg auf. Die Heimfahrten an Wochenenden und Feiertagen während der
Vorlesungszeiten könnten dabei nicht berücksichtigt werden, da ihnen ein deutlich
geringeres Gewicht beizumessen sei. Am 21. Januar 1987 erhob der Kläger
hiergegen Widerspruch. Er wies ergänzend darauf hin, er halte sich weniger als
viereinhalb Monate im Jahr an seinem Studienort auf. Im Termin vor dem
Anhörungsausschuß legte der Kläger Kalenderblätter vor, in denen für die Zeit
vom 1. November 1986 bis 15. Oktober 1987 durch entsprechende Markierung für
jeden einzelnen Tag angegeben ist, ob er sich in Marburg oder Meschede
aufgehalten hat. Hiernach überstieg die Dauer seines Aufenthalts in Meschede
den in Marburg um mehr als das Doppelte. Mit Bescheid vom 7. März 1988 wies
der Landrat des Landkreises Marburg-Biedenkopf den Widerspruch mit der
Begründung zurück, die Feststellung der vorwiegenden Nutzung einer Wohnung
mache regelmäßig eine Prognose erforderlich, die sich auf den Zeitraum eines
Jahres erstrecke. Dabei sei allein die zeitliche Dauer der Wohnungsbenutzung von
Bedeutung. Bei diesem zeitlichen Nutzungsvergleich sei von einer vorwiegenden
Nutzung der Marburger Wohnung auszugehen. In Ermangelung
entgegenstehender Erkenntnisse habe auf die Erfahrungstatsache zurückgegriffen
werden müssen, die sich aus dem typischen Verhalten eines Studenten ergebe,
sich während der Vorlesungszeit vorwiegend am Studienort aufzuhalten. Das
Nutzungsverhältnis der Wohnungen entspreche daher einer zahlenmäßigen
Relation von sieben zu fünf Monaten. Die vom Kläger vorgelegte Jahresbilanz
werde den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht. Die Fahrten zum Heimatort
an Wochenenden und Feiertagen hätten im Vergleich zu den Studientagen im
Semester ein deutlich geringeres Gewicht., so daß sie aus dem
Vergleichszeitraum der Vorlesungszeiten nicht herausgerechnet werden dürften.
Da sich mithin die überwiegend benutzte Wohnung eindeutig und zweifelsfrei
feststellen lasse, komme es auf den Schwerpunkt der Lebensbeziehungen nicht
an.
Am 23. März 1988 erhob der Kläger die vorliegende Klage. Er vertrat die
Auffassung, der angefochtene Bescheid sei bereits deshalb rechtswidrig, weil es an
der erforderlichen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage fehle. Im übrigen habe
die Beklagte zu Unrecht Marburg als Hauptwohnung festgelegt. Vielmehr halte er
sich vorwiegend in der elterlichen Wohnung in Meschede auf. Bei einem zeitlichen
Vergleich der Benutzungszeiten beider Wohnungen ergebe sich dies eindeutig aus
der im Vorverfahren vorgelegten kalendermäßigen Aufstellung. Aber auch bei
einer auf Benutzungsphasen abstellenden Vergleichsberechnung lasse sich unter
Berücksichtigung der Semesterferien und der zusätzlichen Weihnachtsferien nicht
eindeutig feststellen, welche Wohnung vorwiegend benutzt werde, so daß gem. §
16 Abs. 2 Satz 3 HMG darauf abzustellen sei, wo der Schwerpunkt der
Lebensbeziehungen liege. Dies sei Meschede, wie er im Vorverfahren im Einzelnen
vorgetragen habe.
Der Kläger beantragte,
den Bescheid des Magistrats der Stadt Marburg vom 19. Dezember 1986 und
den Widerspruchsbescheid des Landrats des Landkreises Marburg-Biedenkopf vom
7. März 1988 aufzuheben und festzustellen, daß seine Hauptwohnung sich in
Meschede befinde.
Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung nahm sie Bezug auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Die vom Verwaltungsgericht mit Beschluß vom 8. September 1988 beigeladene
Stadt Meschede vertrat die Auffassung, die Hauptwohnung des Klägers befinde
sich in Meschede. Die melderechtliche Rechtslage in Nordrhein-Westfalen
entspreche der in Hessen. Es komme daher auf die tatsächlichen Verhältnisse des
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entspreche der in Hessen. Es komme daher auf die tatsächlichen Verhältnisse des
Einzelfalles an. Angesichts der unterschiedlichen Konzeptionen der verschiedenen
Studiengänge (Nutzung von Laborplätzen o. ä. bei naturwissenschaftlichen
Studiengängen einerseits und der Möglichkeit der Heimarbeit bei
geisteswissenschaftlichen Studiengängen andererseits) und der hieraus folgenden
unterschiedlichen Anwesenheitsdauer am Studienort sei es nicht möglich, in der
Weise zu typisieren, daß allein aus der Studenteneigenschaft auf einen
überwiegenden Aufenthalt am Studienort geschlossen werde. Dies sei aber
jedenfalls dann nicht zulässig, wenn - wie hier - im konkreten Fall Tatsachen
vorlägen, aufgrund deren sich eine überwiegende Nutzung der elterlichen
Wohnung feststellen lasse.
Das Verwaltungsgericht hat in der mündlichen Verhandlung am 22. November
1988 durch Vernehmung des Klägers als Beteiligten Beweis erhoben über seine
Behauptung, er halte sich überwiegend in Meschede auf. Der Kläger hat bei seiner
Vernehmung ausgeführt, er studiere in Marburg seit dem Wintersemester 1982
Sport und Chemie für das Lehramt. Er bewohne dort zusammen mit seinem
Bruder eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad. In seinem Zimmer befänden
sich ein Bett, eine Sitzgruppe, ein Schreibtisch ein Stuhl und die für sein Studium
erforderlichen Lehrmittel. Die Fahrtstrecke zwischen Marburg und Meschede
betrage 100 Kilometer. Er fahre Montag vormittags nach Marburg und kehre am
Freitag am frühen Nachmittag nach Meschede zurück. In Meschede wohne er
ebenso wie sein Bruder im elterlichen Haus. Dort stehe ihm ein Zimmer zur
Verfügung. Anfangs habe er mit seiner Freundin im Hause seiner Eltern gewohnt.
Diese Beziehung bestehe mittlerweile nicht mehr. Der Kläger hat ferner in der
mündlichen Verhandlung eine kalendermäßige Übersicht vorgelegt, aus dem sich
ergibt, an welchem Ort er sich jeweils in der Zeit vom 1. Januar 1988 bis 21.
November 1988 aufgehalten hat. Hiernach hat er von den 326 Tagen 241 Tage (=
74 %) in Meschede verbracht.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 22. November 1988 (NVwZ-RR 1989,
367) den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben und
festgestellt, daß die Hauptwohnung des Klägers im streitgegenständlichen
Zeitraum in Meschede gewesen sei. Zur Begründung hat es im wesentlichen
ausgeführt, der Widerspruchsbescheid sei bereits deshalb aufzuheben, weil der
Landrat des Landkreises Marburg-Biedenkopf für die Entscheidung über den
Widerspruch nicht zuständig gewesen sei. Nächsthöhere Behörde im Sinne des §
73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO sei im Verhältnis zu Gemeinden mit mehr als 50.000
Einwohnern, wenn sie auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr tätig würden, der
Regierungspräsident. Trotz der Aufhebung des Widerspruchsbescheides bedürfe es
einer Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde nicht, da der
Meldebehörde bei der nach § 16 HMG zu treffenden Entscheidung kein Ermessen
eingeräumt sei, so daß die Kammer selbst über die Rechtmäßigkeit des
Erstbescheides befinden könne. Der angegriffene Bescheid vom 19. Dezember
1986 sei eben falls rechtswidrig. Im vorliegenden Fall habe die Meldebehörde der
Sache nach das Melderegister gem. § 10 HMG von Amts wegen berichtigt, ohne
jedoch den erforderlichen Berichtigungsbescheid zu erlassen. Der angefochtene
Bescheid sei im übrigen aber auch deshalb fehlerhaft, weil sich die Hauptwohnung
des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum nicht in Marburg befunden habe.
Die von der Beklagten angewandte Berechnungsmethode, die auf einem Vergleich
der Benutzungszeiten während der Vorlesungszeiten einerseits und der
vorlesungsfreien Zeiten andererseits beruhe, könne im vorliegenden Fall zur
Feststellung der vorwiegend benutzten Wohnung im Sinne von § 16 Abs. 2 HMG
nicht zugrunde gelegt werden. Jedenfalls in den Fällen, in denen - wie hier - die
Studienplangestaltung und damit auch die Anwesenheitszeiten am Studienort
weitgehend dem jeweiligen Studenten überlassen sei, führe die von der Beklagten
vorgenommene Berechnungsmethode zu Ergebnissen, die mit den tatsächlichen
Gegebenheiten des konkreten Einzelfalles nicht in Einklang zu bringen seien. Die
der Entscheidung der Beklagten zugrundeliegende Regelvermutung, daß sich ein
Student während der siebenmonatigen Semesterzeit am Studienort aufhalte,
lasse sich weder dem Wortlaut des § 16 HMG entnehmen noch berücksichtige sie
die unterschiedlichen Lebensverhältnisse der Studenten und die Unterschiede in
den Studienbedingungen und Studienkonzeptionen innerhalb der einzelnen
Fachrichtungen. Der vom Gesetz geforderte zeitliche Vergleich der Nutzung beider
Wohnungen könne im Regelfall nur an Hand einer Gegenüberstellung der An- und
Abwesenheitstage des Studenten während des Prognosezeitraums erfolgen. Dabei
sei es erforderlich, aber auch ausreichend, daß die Meldebehörde bei der
Feststellung der Hauptwohnung des Meldepflichtigen eine Plausibilitätsprüfung
vornehme. Dabei seien etwa die Entfernung zwischen den beiden Wohnungen, die
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vornehme. Dabei seien etwa die Entfernung zwischen den beiden Wohnungen, die
Fahrzeit und die Häufigkeit der Heimfahrten zu berücksichtigen. Der Kläger habe
im Verwaltungsverfahren plausibel dargelegt, daß er seine Wohnung in Meschede
vorwiegend benutze, wie sich insbesondere aus der von ihm vorgelegten
kalendermäßigen Aufstellung ergebe. Berücksichtige man ferner die vom Kläger
geschilderten Wohnverhältnisse, die Art des von Ihm betriebenen Studiums, die
persönlichen Beziehungen in seiner Heimatstadt Meschede sowie die Entfernung
zwischen Marburg und Meschede von etwa 100 Kilometern, seien die von ihm
angegebenen Benutzungszeiten als glaubhaft anzusehen.
Gegen das ihr am 15. Dezember 1988 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22.
Dezember 1988 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie im wesentlichen
vor, die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig. Die Zuständigkeit des
Landrats zum Erlaß des Widerspruchsbescheides ergebe sich jedenfalls aus einer
aufgrund des § 41 1. HS HMG erlassenen Anweisung des Hessischen Ministers des
Innern. Auch der Bescheid vom 19. Dezember 1986 sei rechtmäßig. § 10 HMG
stelle eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den Erlaß des
streitgegenständlichen feststellenden Verwaltungsakts dar. Die Unrichtigkeit des
Melderegisters bestehe hier darin, daß die vom Meldepflichtigen vorwiegend
benutzte Wohnung nicht als Hauptwohnung registriert gewesen sei. In dem
Bescheid sei auch zutreffend festgestellt worden, daß Marburg als Hauptwohnung
des Klägers anzusehen sei, da von der Erfahrungstatsache auszugehen sei, daß
sich Studenten typischerweise während der Dauer der Vorlesungen vorwiegend am
Studienort aufhielten. Die vom Verwaltungsgericht geforderte Berücksichtigung
der Umstände des jeweiligen Einzelfalles sei der Meldebehörde angesichts der
Vielzahl von Meldevorgängen und der Notwendigkeit, sie mit vertretbarem
Verwaltungsaufwand zu bewältigen, nicht möglich, und sie sei mit dem
objektivierten Wohnungsbegriff des § 16 HMG auch nicht vereinbar. Eine reine
Plausibilitätsprüfung der Richtigkeit der Angaben des Meldepflichtigen scheide aus,
da diese Angaben möglicherweise unrichtig seien. Im Rahmen der von ihr
anzustellenden Prognose unter Zugrundelegung einer pauschalisierten
Betrachtungsweise sei es zulässig, die Vorlesungszeiten und die
Semesterferienzelten als Blöcke zu vergleichen und dabei einzelne An- und
Abwesenheitstage, aber auch Wochenendheimfahrten unberücksichtigt zu lassen.
Dem Kläger sei es nicht gelungen, die ihrer Prognose zugrundeliegende
Regelvermutung zu widerlegen, da er den erforderlichen Gegenbeweis nicht
geführt habe. An der Richtigkeit seiner Zeugenaussage bestünden Zweifel, so daß
das Verwaltungsgericht die Beweisaufnahme nicht auf die Parteivernehmung hätte
beschränken dürfen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 22. November 1988 -IV/2 E
480/88 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er beruft sich auf sein bisheriges Vorbringen und die seiner Meinung nach
zutreffenden Ausführungen in dem erstinstanzlichen Urteil. Darüberhinaus vertritt
er die Auffassung, § 16 HMG sei mit dem Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar, da der
Meldepflichtige in Zweifelsfällen sensible Daten aus dem Bereich seiner
persönlichen Lebensführung gegenüber der Meldebehörde preisgeben müsse, um
die von ihr zugrundegelegte Regelvermutung zu erschüttern.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird
auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Behördenvorgang der Beklagten (1
Heft) Bezug genommen. Er ist zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht
hat den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid zu Recht
aufgehoben und festgestellt, daß sich die Hauptwohnung des Klägers im
streitgegenständlichen Zeitraum in Meschede befunden hat.
Die Klage ist zulässig. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich des
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Die Klage ist zulässig. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich des
Feststellungsbegehrens. Das Gericht ist gemäß § 113 Abs. 2 VwGO auf Antrag
befugt, eine rechtswidrige Feststellung durch eine dem geltenden Recht
entsprechende Feststellung zu ersetzen (vgl. Kopp, VwGO, 7. Aufl. § 113 Rdnr. 66
m.w.N.). Denn bei dem angefochtenen Bescheid handelt es sich um einen
feststellenden Verwaltungsakt (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 20. März
1990, 11 UE 3768/88, S. 7 f. des Umdrucks; VGHBW Urteil vom 21. Juli 1986, NJW
1987, 209), der in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung und
gegebenenfalls Ersetzung unterliegt.
Die Klage ist auch begründet. Die in dem Bescheid der Beklagten vom 19.
Dezember 1986 getroffene Feststellung, die Wohnung des Klägers in Marburg
werde als Hauptwohnung geführt, ist rechtswidrig und verletzt ihn in seinen
Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, 125 Abs. 1 VwGO). Allerdings teilt der Senat nicht
die vom Verwaltungsgericht vertretene Auffassung, der angefochtene Bescheid sei
bereits in formeller Hinsicht rechtswidrig. Zunächst ist davon auszugehen, daß
feststellende Verwaltungsakte grundsätzlich einer gesetzlichen Grundlage
bedürfen. Der Senat folgt insoweit den Darlegungen des
Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 29. November 1985 (BVerwGE
72, 265 = NJW 1986, 1120).
Jedenfalls gilt dies dann, wenn sich die Feststellung der Meldebehörde für den
Betroffenen belastend auswirkt. Dies ist bereits dann der Fall, wenn von der
Behörde etwas als Rechtens festgestellt wird, was nach Meinung des Betroffenen
mit der geltenden Rechtslage nicht übereinstimmt.
Die hiernach für den Erlaß des angefochtenen Feststellungsbescheides
erforderliche Ermächtigungsgrundlage bildet § 10 HMG (ebenso für die
entsprechende Rechtslage in Baden-Württemberg VGH BW a.a.O. und in Bayern
BayVGH, Urteil vom 9. Dezember 1988 ). Es trifft zwar zu,
daß sich weder § 10 HMG noch dem Hessischen Meldegesetz im übrigen eine
ausdrückliche Regelung des Inhalts entnehmen läßt, die Meldebehörde sei bei
Unrichtigkeit des Melderegisters befugt, gegenüber dem Meldepflichtigen einen
feststellenden Verwaltungsakt zu erlassen. Nach Auffassung des Senats gebietet
der rechtstaatliche Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes jedoch nicht, in Fällen
der vorliegenden Art davon auszugehen, die Meldebehörde sei zwar befugt - und
verpflichtet - in Wahrnehmung ihrer Aufgaben (§ 1 HMG) das Melderegister gemäß
§ 10 Satz 1 HMG zu ändern und hiervon die Datenübermittlungsadressaten
gemäß § 10 Satz 2 HMG zu unterrichten, nicht jedoch, dem hiervon betroffenen
Meldepflichtigen davon Kenntnis zu geben. § 10 HMG ermächtigt vielmehr die
Meldebehörde nicht nur dazu, die gespeicherten Daten von Amts wegen oder auf
Antrag zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind, sondern auch, dem Meldepflichtigen
gegenüber einen entsprechenden feststellenden Verwaltungsakt zu erlassen.
Verfügt mithin der angefochtene Bescheid über die erforderliche
Ermächtigungsgrundlage, ergibt sich seine Rechtswidrigkeit jedoch daraus, daß die
Beklagte zu Unrecht zum maßgeblichen Zeitpunkt, dem Erlaß des
Widerspruchsbescheides, angenommen hat, die Hauptwohnung des Klägers
befinde sich seit dem 1. April 1986 in Marburg.
Hauptwohnung ist die vorwiegend benutzte Wohnung des Einwohners (§ 16 Abs. 2
Satz 1 HMG). Satz 3 dieser Bestimmung sieht vor, daß in Zweifelsfällen die
Hauptwohnung sich dort befindet., wo der Schwerpunkt der Lebensbeziehungen
des Einwohners liegt. Aus dem Wortlaut und der Systematik dieser beiden
Regelungen folge, daß die Bestimmung in Satz 3 den Maßstab für die Feststellung
der Hauptwohnung nur bilden kann, wenn ein Zweifelsfall vorliegt, d.h., wenn sich
nicht eindeutig feststellen läßt, welche von zwei Wohnungen vorwiegend benutzt
wird. Die Meldebehörde hat daher bei einer Erstanmeldung oder wenn sie das
Melderegister für unrichtig hält, zunächst zu prüfen, welche die vorwiegend
benutzte Wohnung ist. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Gesetzgeber einen
objektivierten Wohnungsbegriff verwendet, bei dem ausschließlich auf das
quantitative Element der Dauer der Wohnungsnutzung abzustellen ist (vgl. hierzu
VGH BW, a.a.O., S. 210; BayVGH, a.a.O., S. 366; Medert/Süßmuth, Melderecht des
Bundes und der Länder,- Bd. I, § 12 MRRG, Rdnr. 8). Hiernach ist diejenige
Wohnung die Hauptwohnung, die im zeitlichen Vergleich von dem Einwohner
häufiger benutzt wird als andere Wohnungen. Zu beachten ist ferner, daß die
Meldebehörde ihre Entscheidung auf eine Prognose über das künftige
Wohnverhalten des Einwohners zu stützen hat. Sie hat daher über einen künftigen
Zustand zu befinden, wobei das Kalenderjahr als Prognosezeitraum heranzuziehen
sein dürfte (ebenso BayVGH, a.a.O., S. 366). Der Prognosecharakter der zu
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sein dürfte (ebenso BayVGH, a.a.O., S. 366). Der Prognosecharakter der zu
treffenden Entscheidung sowie die Häufigkeit solcher Meldevorgänge und die
Notwendigkeit, den Verwaltungsaufwand in vertretbarem Verhältnis zu dem Anlaß
zu halten, bedingen, daß die Meldebehörde trotz ihrer grundsätzlichen Pflicht,
gemäß § 24 HVwVfG den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, berechtigt ist,
bei dem Vorliegen eines typischen Lebenssachverhaltes hieraus
Schlußfolgerungen zu ziehen. Sie kann daher beispielsweise bei der Gruppe der
Studenten ein Verhalten zugrundelegen, wie es üblicherweise nach allgemeiner
Lebenserfahrung in vergleichbaren Fällen anzutreffen ist (Regelvermutung). So
wird sie beispielsweise davon ausgehen können, daß jedenfalls diejenigen
Studenten, deren Heimatwohnort mehrere Fahrstunden vom Studienort entfernt
liegt, und die einen Studiengang gewählt haben, der zeitweise ihre Anwesenheit
auch in der vorlesungsfreien Zeit erfordert, sich angesichts der die Semesterferien
übersteigenden Vorlesungszeiten überwiegend am Studienort aufhalten.
Demgegenüber läßt sich eine allgemeine Vermutung des überwiegenden
Aufenthalts am Studienort nicht allein darauf stützen, daß die Dauer der
Vorlesungszeiten die der vorlesungsfreien Zeiten übersteigt. Hierbei würden
wesentliche sachliche Gesichtspunkte, insbesondere die Entfernung des
Heimatwohnortes zum Studienort oder die Art des gewählten Studienganges,
außer Betracht bleiben, die bei regelmäßigen Wochenendheimfahrten und dem
Aufenthalt am Heimatwohnort in den Weihnachts- und den Semesterferien dazu
führen können, daß sich ein Student überwiegend am Heimatwohnort aufhält.
Liegen die tatsächlichen Voraussetzungen für eine derartige Regelvermutung vor,
braucht die Meldebehörde weitere Ermittlungen nicht anzustellen, solange ihr
entgegenstehende Tatsachen nicht bekannt und vom Meldepflichtigen nicht
vorgetragen worden sind. Liegt hingegen ein typischer Sachverhalt, der die
Regelvermutung begründet, nicht vor, oder wird er durch substantiiertes
Vorbringen des Meldepflichtigen in Frage gestellt, kommt es auf die konkreten
Umstände des Einzelfalles an, die von der Meldebehörde in diesem Fall zu
ermitteln sind. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß der Meldepflichtige kraft
Gesetzes gehalten ist, der Meldebehörde auf Verlangen die zur ordnungsgemäßen
Führung des Melderegisters erforderlichen Auskünfte zu erteilen (§ 19 HMG). Im
Falle des § 16 Abs. 2 HMG bedeutet dies, daß die Meldebehörde bei dieser
Fallgestaltung aufgrund ihrer Pflicht, für die Richtigkeit des Melderegisters Sorge zu
tragen (§ 10 HMG), anhand eines zeitlichen Vergleichs der konkreten
Aufenthaltszeiten des Meldepflichtigen in den in Rede stehenden Wohnungen
konkret festzustellen hat, welche Wohnung er tatsächlich vorwiegend benutzt.
Gegen das Erfordernis der Einzelfallprüfung zur Feststellung des tatsächlichen
zeitlichen Überwiegens der Nutzung einer Wohnung im Sinne des § 16 Abs. 2 HMG
kann nicht eingewandt werden, dieses Vorgehen sei angesichts der Menge der
Meldevorgänge mit vertretbarem Verwaltungsaufwand unmöglich. Denn es
genügt, wenn die Meldebehörde die Angaben des Meldepflichtigen einer
Plausibilitätskontrolle unterzieht, d.h. sich auf die Prüfung beschränkt, ob seine
tatsächlichen Angaben generell geeignet sind, den behaupteten Status der
Wohnung objektiv zutreffend darzustellen, (vgl. hierzu VG Freiburg, Urteil vom 4.
Februar 1987, NVwZ 1987, 1017 f.; Medert/Süßmuth, a.a.O., Rdnr. 19 bis 21).
Ergeben sich insoweit begründete Zweifel, hat die Meldebehörde den
Meldepflichtigen zunächst anzuhören und ihn sodann gegebenenfalls aufzufordern,
gemäß § 19 HMG die erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Darüber hinausgehende
eigene Ermittlungen der Meldebehörde zur Feststellung der Hauptwohnung finden
im übrigen ihre Grenze an dem Recht des Meldepflichtigen auf Schutz seiner
Privatsphäre. Es wäre mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar,
wenn es der Meldebehörde gestattet wäre, unbeschränkt sensible Daten aus dem
Bereich der engeren Persönlichkeitsphäre des Meldepflichtigen mit dem Ziel zu
ermitteln festzustellen, wo sich seine Hauptwohnung befindet.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ergibt sich für den vorliegenden Fall, daß die
Beklagte zu Unrecht bestimmt hat, die Wohnung des Klägers in Marburg sei seine
Hauptwohnung. Die von der Beklagten ihrer Entscheidung zugrundegelegte
allgemeine Regelvermutung, ein Student benutze wegen der die Zeit der
Semesterferien übersteigenden Vorlesungszeiten generell die Wohnung am
Studienort häufiger als die Wohnung am Heimatort, läßt sich in dieser
Allgemeinheit nicht aufstellen. Aber auch wenn die Beklagte in der gebotenen
Weise die Umstände des Falles, insbesondere die Entfernung zwischen Heimat-
und Studienort und den gewählten Studiengang, berücksichtigt hätte, hätte sie zu
dem Ergebnis kommen müssen, daß die tatsächlichen Voraussetzungen für das
Eingreifen der Vermutung des überwiegenden Aufhaltens am Studienort nicht
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Eingreifen der Vermutung des überwiegenden Aufhaltens am Studienort nicht
vorliegen. Selbst wenn man aber von dem Eingreifen der Regelvermutung
ausgehen wollte, war die Beklagte im Streitfall jedenfalls aufgrund des
substantiierten Vorbringens des Klägers in seinem Schreiben vom 7. Dezember
1986 und insbesondere der im Widerspruchsverfahren und hier vor allem vor dem
Anhörungsausschuß vorgetragenen Tatsachen, namentlich des vorgelegten
Einzelnachweises durch entsprechend gekennzeichnete Kalenderblätter, gehalten,
in einem konkreten zeitlichen Vergleich die Frage der überwiegenden Nutzung
einer der beiden Wohnungen festzustellen. Nur so konnte sie ihrer Pflicht gerecht
werden, für die Richtigkeit des Melderegisters Sorge zu tragen. Demgegenüber hat
sich die Beklagte ungeachtet der detaillierten tatsächlichen Angaben des Klägers
zu dem zeitlichen Überwiegen seines Aufenthalts in Meschede, denen die Beklagte
im gesamten Vorverfahren und gerichtlichen Verfahren in tatsächlicher Einsicht
nichts entgegenzusetzen hatte, darauf beschränkt, sich auf das Eingreifen einer
Regelvermutung des überwiegenden Aufenthalts eines Studenten am Studienort
zu berufen. Sie hat das detaillierte Tatsachenvorbringen des Klägers nicht einmal
zur Kenntnis genommen, obwohl die vom Kläger vorgetragene Tatsache der
regelmäßigen Wochenendheimfahrten durch die relativ geringe Entfernung
zwischen Studienort und Heimatwohnort (100 km) jedenfalls plausibel erscheint.
Bei dieser Sachlage bestand entgegen der Rüge der Beklagten auch für das
Gericht erster Instanz keine Veranlassung, nach der Vernehmung des Klägers als
Beteiligten weitere Beweise zu erheben. Denn der Kläger hat in seiner
Vernehmung in überzeugender Weise sein bisheriges tatsächliches Vorbringen
bestätigt, ohne daß die Beklagte diese Angaben auch nur ansatzweise hätte
erschüttern können.
Steht somit fest, daß zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses, des
Widerspruchsbescheides aufgrund der anzustellenden Prognose die Wohnung in
Marburg von dem Kläger weniger häufig benutzt wurde als die in Meschede, ist die
Feststellung der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid vom 19. Dezember
1986 rechtswidrig. Sie wäre es im übrigen auch dann, wenn man hier von einem
Zweifelsfalle im Sinne des § 16 Abs. 2 Satz 3 HMG ausgehen und auf den
Schwerpunkt der Lebensbeziehungen abstellen würde. Dieser lag zum
maßgeblichen Zeitpunkt im Falle des Klägers ersichtlich in Meschede.
Der Widerspruchsbescheid ist nicht nur aufgrund der vorstehenden Erwägungen
sondern auch deshalb rechtswidrig, weil er von einer unzuständigen Behörde
erlassen worden ist. Für den Erlaß des Widerspruchsbescheides im Falle eines auf
das Hessische Meldegesetz gestützten Bescheides einer kreisangehörigen
Gemeinde mit mehr als 50.000 Einwohnern ist nicht der Landrat sondern der
Regierungspräsident als nächsthöhere Behörde im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 2
Nr. 1 VwGO zuständig. Dies folgt aus dessen fachaufsichtlicher Zuständigkeit im
Bereich der Wahrnehmung von Aufgaben der Gefahrenabwehr (§ 56 Abs. 2 HSOG,
§ 136 Abs. 2 HGO), wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 30. Oktober 1990,
11 UE 3005/89, entschieden hat.
Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte als unterlegene Partei zu
tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO). Ausgenommen hiervon sind die außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen, die diese selbst zu tragen hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §
708 Nr. 10, § 711 ZPO. Die Revision gegen diese Entscheidung ist nicht
zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind
(§132 Abs. 2 VwGO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.