Urteil des HessVGH vom 24.06.1991

VGH Kassel: öffentliche sicherheit, aufschiebende wirkung, verfügung, gefahr, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, vollziehung, polizeiliche generalklausel, öffentliches interesse, behörde

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 TH 899/91
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 83 Abs 1 BauO HE, § 16
BauO HE, § 24 VwVfG HE, §
80 Abs 5 VwGO
(Gutachten über die Standsicherheit eines Gebäudes -
Maßnahme zur Förderung der Gefahrenabwehr -
Abgrenzung zum Gefahrerforschungseingriff)
Tatbestand
Der Antragsteller ist Eigentümer des in H-O gelegenen Grundstücks Kstraße ...
(Flur ..., Flurstück ...). Auf dem Grundstück befindet sich u. a. das streitbefangene,
im Jahre 1937/38 errichtete Fabrikgebäude "T".
Mit am 01.10.1990 zugestellter Verfügung vom 28.09.1990 gab der Antragsgegner
dem Antragsteller auf, innerhalb von 8 Wochen nach Erhalt der Verfügung für das
oberste Geschoß des Fabrikgebäudes "T" einen Standsicherheitsnachweis eines
staatlich anerkannten Gutachters der hiesigen Bauaufsichtsbehörde vorzulegen
(Ziffer 1 der Verfügung), drohte für den Fall der Nichtbefolgung die Erstellung des
Gutachtens durch Dritte im Wege der Ersatzvornahme, deren Kosten vorläufig mit
70.000,-- DM veranschlagt wurden, an (Ziffer 2 der Verfügung) und ordnete die
sofortige Vollziehung an (Ziffer 3 der Verfügung). Zugleich hob der Antragsgegner
seine früher gegen den Antragsteller ergangenen Verfügungen vom 13.08.1980,
12.01.1981 und 06.05.1986, die diesen jeweils zur Vornahme diverser
Sicherungsmaßnahmen aufforderten, ohne jedoch den Sofortvollzug hierfür
anzuordnen, aus Gründen der Rechtsklarheit auf (Ziffer 4 der Verfügung).
Zur Begründung der hinsichtlich Ziffer 1 auf § 83 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 HBO
gestützten Verfügung wurde zunächst auf die am 08.08.1990 und am 27.08.1990
durchgeführten Ortsbesichtigungen und dabei gefertigten Bilder Nr. 1 bis Nr. 13,
die Bestandteil der Verfügung sind, Bezug genommen. Im obersten Geschoß des
streitbefangenen Fabrikgebäudes seien erhebliche Mängel festgestellt worden. So
fehle z. B. in vielen Bereichen von Stahlbetonunterzügen, Stürzen und Stützen im
obersten Geschoß die notwendige Ummantelung (Betonüberdeckung) und seien
infolge Durchnässung und Frost in den Deckenbereichen die unteren und die
Stegteile der Bimskörper herausgefallen. Beim Verbundbaustoff Stahlbeton habe
der Beton wegen der großen Anfälligkeit des Stahls gegen Umwelteinwirkungen
auch die Aufgabe, diesen zu schützen. Es müsse davon ausgegangen werden, daß
weiterhin Betonteile herunterfielen und die Benutzer der angrenzenden Kstraße
gefährdeten. Der für das oberste Geschoß geforderte Standsicherheitsnachweis
sei das am geringsten in das Eigentumsrecht des Antragstellers eingreifende
Mittel, denn ein vollständiger Abbruch käme, so wie der Bautenbestand sich
darstelle, nicht in Betracht. Das Gutachten des öffentlich bestellten und
vereidigten Sachverständigen Dipl.-Ing. K. H. S vom 10.11.1980 könne wegen der
zeitbedingten Veränderungen der Bauteile den geforderten
Standsicherheitsnachweis nicht ersetzen. Gleiches gelte für die Ausführungen des
Antragstellers in dessen Schreiben vom 17.09.1990. Die zur Zeit bestehende
Gefahr könne aus Kostengründen nicht vernachlässigt werden. Zudem sei der
Antragsteller nicht bereit, etwaige Nutzungsmöglichkeiten des streitigen
Fabrikgebäudes im Rahmen einer formellen Bauvoranfrage klären zu lassen. Die
Voraussetzungen des § 74 HVwVG für die Androhung der Ersatzvornahme seien
gegeben, da die Vorlage eines Standsicherheitsnachweises eine vertretbare
Handlung sei. Der Sofortvollzug sei nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO anzuordnen
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Handlung sei. Der Sofortvollzug sei nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO anzuordnen
gewesen, da die Vollziehung dieser Verfügung bis zur Entscheidung über das
Rechtsmittel hinauszuschieben bedeuten würde, daß eine Gefährdung der
öffentlichen Sicherheit oder Ordnung unangemessen lange Zeit in Kauf
genommen werden müßte, weshalb bei Abwägung des öffentlichen Interesses mit
dem persönlichen Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung
eines evtl. Widerspruchs die Anordnung der sofortigen Vollziehung unumgänglich
sei.
Dagegen legte der Antragsteller mit Schreiben vom 24.10.1990 Widerspruch ein,
über den bislang noch nicht entschieden wurde.
Mit Schriftsatz vom 31.10.1990 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht
Frankfurt am Main um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung
führt er im wesentlichen aus, daß trotz der Betonabplatzungen die Standsicherheit
des Obergeschosses des streitbefangenen Fabrikgebäudes insbesondere aufgrund
der an dem Gebäude vorfindlichen überdimensionierten Armierung und
Betonierung, nicht in Frage stehe. In der streitgegenständlichen Verfügung seien
die angeblichen Mängel unsubstantiiert dargestellt. Ferner lägen ihm, dem
Antragsteller, die für die geforderte Begutachtung notwendigen statischen
Unterlagen nach wie vor nicht vor, weshalb der angeordnete
Standsicherheitsnachweis unverhältnismäßig hohe Kosten verursache. Er sei
grundsätzlich zur vollständigen Sanierung des Gebäudes bereit; solange jedoch
keine grundsätzliche Klärung außerhalb einer formellen Bauvoranfrage erfolgt sei,
seien die Kosten für das Gutachten über die Standsicherheit unverhältnismäßig.
Der Antragsteller hat sinngemäß beantragt,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 24. Oktober 1990 gegen
die Verfügung des Antragsgegners vom 28. September 1990 wiederherzustellen
bzw. anzuordnen.
Der Antragsgegner hat beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Das Verwaltungsgericht hat mit dem Antragsteller am 15.02.1991 zugestelltem
Beschluß vom 01.02.1991 den Antrag abgelehnt.
Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, daß die auf § 83 Abs. 1 Satz 1
und 2 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 HBO gestützte Verfügung offensichtlich rechtmäßig
sei. Vom streitbefangenen Fabrikgebäude gehe, verursacht durch die in der
streitgegenständlichen Verfügung aufgezeigten baulichen Mängel, bereits wegen
seit 1980 ständig herabstürzender Betonteile eine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit aus, denn den Benutzern der unmittelbar an dem Fabrikgebäude
vorbeiführenden Kstraße drohten Gesundheitsgefahren. Die ausweislich des
vorgenannten Sachverständigengutachtens vom 10.11.1980 bereits seit 1980
bestehenden Zweifel an der Standsicherheit hätten sich aufgrund der ungeschützt
einwirkenden Witterungseinflüsse und der Untätigkeit des Antragstellers verstärkt.
Der Standsicherheitsnachweis sei geeignet, erforderlich und verhältnismäßig. Bei
zweifelhafter Standsicherheit liege die Anordnung des Sofortvollzugs im
öffentlichen Interesse. Die Verpflichtung zur Gefahrenabwehr dürfe nicht aus
Kostengründen vernachlässigt werden. Die Androhung der Ersatzvornahme sei
rechtlich nicht zu beanstanden, da die Anfertigung des
Standsicherheitsnachweises eine vertretbare Handlung sei.
Der Antragsteller hat am 28.02.1991 Beschwerde eingelegt, der das
Verwaltungsgericht nicht abgeholfen hat.
Zur Begründung führt der Antragsteller im wesentlichen aus, daß keine "derart
wesentlichen Änderungen" gegenüber dem vorgenannten
Sachverständigengutachten vom 10.11.1980 eingetreten seien, daß die
Voraussetzungen für den darin bedingt ausgesprochenen Sicherheitsnachweis
entfallen seien. Zum anderen habe er "durchaus Sicherungsmaßnahmen
durchgeführt".
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 24. Oktober 1990 gegen
die Verfügung des Antragsgegners vom 28. September 1990 wiederherzustellen
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die Verfügung des Antragsgegners vom 28. September 1990 wiederherzustellen
bzw. anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt unter Bezugnahme auf die Gründe des
angefochtenen Beschlusses,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage wird Bezug genommen
auf den Inhalt der Gerichtsakte, 1 Hefter mit Behördenvorgängen des
Antragsgegners sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte des Verwaltungsgerichts
Frankfurt am Main -- IV/2 H 1852/86 --.
Entscheidungsgründe
Die nach §§ 146 ff. VwGO zulässige Beschwerde mit dem Antrag nach § 80 Abs. 5
VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des
Antragstellers vom 24.10.1990 gegen die Verfügung des Antragsgegners vom
28.09.1990 bezüglich der mit Sofortvollzug angeordneten Erstellung eines
Standsicherheitsnachweises und auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung
bezüglich der Androhung der Ersatzvornahme kann keinen Erfolg haben, da -- wie
das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend festgestellt hat -- die
streitgegenständliche Verfügung vom 28.09.1990 offensichtlich rechtmäßig ist.
Widerspruch und Anfechtungsklage haben regelmäßig aufschiebende Wirkung (§
80 Abs. 1 VwGO). Ausnahmsweise kann die Behörde jedoch die aufschiebende
Wirkung des Widerspruchs dadurch beseitigen, daß sie nach § 80 Abs. 2 Nr. 4
VwGO die sofortige Vollziehung dieser Verfügung anordnet. Sie ist zu einer solcher
Anordnung aber nur berechtigt, wenn die sofortige Vollziehung der Verfügung im
öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten geboten
erscheint. Vor Erlaß der Anordnung muß die Behörde einerseits die Interessen der
Öffentlichkeit und eines etwaigen Beteiligten an einer sofortigen Durchführung der
Maßnahme sowie andererseits die entgegenstehenden Interessen des Betroffenen
an dem Bestand der aufschiebenden Wirkung des eingelegten Widerspruchs
gegeneinander abwägen. Eine ähnliche Prüfung hat das Gericht anzustellen, wenn
es gemäß § 80 Abs. 5 VwGO mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen
die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes befaßt wird.
Dem sogenannten Stoppantrag ist stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt, gegen
den Widerspruch erhoben ist, offensichtlich rechtswidrig ist. In diesem Fall kann
kein öffentliches Interesse an einer sofortigen Vollziehung bestehen. Umgekehrt
ist der Rechtsschutzantrag abzulehnen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt
offensichtlich rechtmäßig, seine Anfechtung auch nicht etwa wegen eigenen
Ermessens der Widerspruchsbehörde aussichtsreich und seine Vollziehung
eilbedürftig ist, wofür sich je nach Sachgebiet, so auch im Baurecht, bestimmte
Falltypen herausbilden können. In allen anderen Fällen entscheidet bei
summarischer Beurteilung des Sachverhalts eine reine Abwägung der beteiligten
öffentlichen und privaten Interessen, die für oder gegen die Dringlichkeit der
Vollziehung sprechen, über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Auf die
Eilbedürftigkeit der Vollziehung wegen der besonderen Wichtigkeit und Dringlichkeit
einer sofortigen Vollziehung, die auch falltypisch gegeben sein kann, kann nicht
allein wegen der Belange des Betroffenen, sondern schon wegen der Wahrung des
Regel-Ausnahme-Verhältnisses der Absätze 1 und 2 des § 80 VwGO nicht
verzichtet werden. Die Regel bleibt, daß sich die Vollstreckung eines
Verwaltungsaktes, gegen den Widerspruch erhoben wird, an ein abgeschlossenes
Hauptsacheverfahren anschließt. Das entspricht der langjährigen Rechtsprechung
des beschließenden Senats (vgl. Beschlüsse vom 28.06.1965 -- B IV 21/76 --,
ESVGH 15, 153/154 und vom 14.07.1971 -- IV TH 25/71 --, BRS 24 Nr. 205).
Der in dieser Verfügung angeordnete Sofortvollzug ist den Anforderungen des § 80
Abs. 3 VwGO genügend begründet worden.
Die angefochtene Anordnung der Vorlage eines Standsicherheitsnachweises eines
staatlich anerkannten Gutachters für das Obergeschoß des streitbefangenen
Fabrikgebäudes konnte auf § 83 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 3 Abs. 1 Satz 1 der
Hessischen Bauordnung -- HBO -- in der hier maßgeblichen Fassung vom
12.07.1990 (GVBl. I S. 395) gestützt werden, denn sie dient der Beseitigung einer
Gefahr und betrifft nicht bloß die Ermittlung derselben. Der Anordnung steht
deshalb nicht § 24 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG entgegen, nach dem die Behörde den
Sachverhalt von Amts wegen ermittelt, wozu sie sich der Beweismittel des § 26
Abs. 1 HVwVfG bedient und wobei der Adressat der behördlichen
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Abs. 1 HVwVfG bedient und wobei der Adressat der behördlichen
Aufklärungsmaßnahme lediglich eine Duldungspflicht hat (vgl. Hess. VGH,
Beschluß vom 11.10.1990 -- 14 TH 2428/90 --, NVwZ 1991, 498; Breuer, NVwZ
1987, 751, 754 mit zahlreichen Nachweisen in Fußn. 41). Auch braucht hier nicht
weiter der Frage nachgegangen zu werden, ob die Ermächtigungsnormen des
Polizei-, Bau-, Wasser- oder Abfallrechts außer den
Gefahrenbeseitigungsmaßnahmen bereits im Vorfeld Ermittlungsmaßnahmen zur
Feststellung des Vorliegens und des Umfangs einer Gefahr gegen verantwortliche
oder vermeintlich verantwortliche Personen erlauben. Dieses Problem wird in
Literatur und Rechtsprechung unter dem Stichwort des sogenannten
Gefahrerforschungseingriffs bei vornehmlich nach Wasser- und Abfallgesetzen zu
beurteilenden sogenannten Altlastfällen, in denen bereits die Ermittlungen des
Vorliegens und des Umfangs einer Gefahr sehr kostspielig ist, erörtert (vgl. Papier,
DVBl. 1985, 873, 875, Schink, DVBl. 1986, 161, 165 f.; Pietzker, JuS 1986, 719, 722
f.; Breuer, NVwZ 1987, 751; Fleischer, JuS 1988, 530 f.; Bay. VGH, Beschl. v.
13.05.1986 -- 20 CS 86.00338 --, NVwZ 1986, 942; VGH Bad.-Württ., Urt. v.
13.02.1985 -- 5 S 1380/83 --, DÖV 1985, 687 und Urt. v. 11.10.1985 -- 5 S 1738/85
--, NVwZ 1986, 325 sowie Urt. v. 23.06.1988 -- 5 S 2908/87 --, N+R 1989, 260;
OVG Saarland, Beschl. v. 21.09.1983 -- 2 W 1695/83 --, N+R 1986, 216; OVG
Rheinl.-Pf., Beschl. v. 25.03.1986 -- 1 B 14/86 --, NVwZ 1987, 240; Hess. VGH,
Beschl. v. 20.03.1986 -- 7 TH 455/86 --, DÖV 1987, 260 und Beschl. v. 11.10.1990,
a.a.O.). Für den Bereich des Baurechts gilt nach Auffassung des Senats, daß die
Behörde nach § 24 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG von Amts wegen den Sachverhalt
aufklären muß hinsichtlich der Frage, ob eine Gefahr im Sinne der
Ermächtigungsgrundlage des § 83 Abs. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1 Satz 1 HBO vorliegt
(ebenso Hess. VGH, Beschl. v. 11.10.1990, a.a.O.). Hingegen kann sie von einer
Ermittlung auf eigene Kosten absehen und als Gefahrenabwehrmaßnahme (im
weiteren Sinne) gestützt auf diese Ermächtigungsgrundlage verantwortlichen
Personen aufgeben, zur Vorbereitung der eigentlichen Gefahrenabwehrmaßnahme
(im engeren Sinne) den Umfang der bestehenden Gefahr zu ermitteln (ebenso
Hess. VGH, Beschl. v. 15.04.1984 -- 4 TH 306/84 --, BRS 42 Nr. 211). Dies ergibt
sich aus folgendem:
Nach § 83 Abs. 1 Satz 1 HBO haben die Bauaufsichtsbehörden u. a. bei baulichen
Anlagen für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften und der aufgrund
dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen zu sorgen. Nach § 83 Abs. 1 Satz 2
HBO haben sie im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtgemäßem
Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder
dem einzelnen Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Sinne von §
3 Abs. 1 Satz 1 HBO abzuwehren, die u. a. durch bauliche Anlagen hervorgerufen
werden. Die Bauaufsichtsbehörden haben also die Aufgabe der Herstellung und
Aufrechterhaltung baurechtmäßiger Zustände, wozu sie die Befugnis haben,
verantwortliche Personen im Sinne von §§ 6 und 7 des Hessischen Gesetzes über
die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom 26.06.1990 (GVBl. I S. 197 u. S. 534) --
HSOG -- heranzuziehen und sich die von ihnen dazu aufzuwendenden Kosten
gegebenenfalls im Rahmen der Ersatzvornahme nach § 74 HVwVG von diesen
erstatten zu lassen. Diese spezielle baupolizeiliche Befugnis setzt -- wie die
polizeiliche Generalklausel des § 11 HSOG -- das Vorliegen einer konkreten Gefahr
voraus. Die nach § 3 Abs. 1 HSOG auch im Bauordnungsrecht maßgeblichen
Bestimmungen der §§ 6 und 7 HSOG (vgl. Reg.-Entw. zum HSOG, Landtags-
Drucks. 12/5794 S. 109) über verantwortliche Personen (Störer) konkretisieren
durch die Verpflichtung aller Personen, ihr Verhalten und den Zustand ihrer
Sachen so einzurichten, daß keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder
Ordnung entsteht (materielle Polizeipflicht), den Gemeinschaftsvorbehalt, unter
dem auch alle unbeschränkbaren Grundrechte stehen, d. h., sie bringen
insbesondere die Sozialbindung des Eigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 2
Grundgesetz zum Ausdruck und sind inhalts- und schrankenbestimmende Normen
im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (vgl. BVerfG, Beschl. v.
17.11.1966 -- 1 BvL 10/61 --, BVerfGE 20, 351, 356 ff. = NJW 1967, 548). Deshalb
muß die an objektive Umstände anknüpfende Inanspruchnahme des
Verantwortlichen (Störers), die regelmäßig nur eine Zurückweisung in die
Schranken bedeutet (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH, Urt. v. 20.01.1966 -- III
ZR 109,64 --, BGHZ 45, 23, 25; BVerwG, Urt. v. 17.02.1971 -- IV C 2.68 --, DVBl.
1971, 754), im Gegensatz zur Inanspruchnahme als nicht verantwortliche Person
(Nichtstörer) grundsätzlich entschädigungslos (vgl. BVerwG, a. a. O.)
hingenommen werden und hat der Verantwortliche (Störer) die finanzielle Last zu
tragen. Daraus folgt, daß dann, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der
Befugnisnorm gegeben sind und eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit
vorliegt, dem Verantwortlichen (Störer) alle Maßnahmen zur Abwehr derselben
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vorliegt, dem Verantwortlichen (Störer) alle Maßnahmen zur Abwehr derselben
aufgegeben werden können, die geeignet, erforderlich (notwendig) und
verhältnismäßig sind. Zudem muß die Behörde nach § 40 HVwVfG das ihr
zustehende Ermessen entsprechend dem Zweck der Befugnis ausüben und die
Grenzen des Ermessens einhalten. Geeignet im Sinne des Rechts der
Gefahrenabwehr ist nicht nur eine solche Maßnahme, die die Gefahr
voraussichtlich vollständig beseitigt. Es reicht aus, daß die Maßnahme einen
Schritt in die betreffende Richtung darstellt und die Gefahrenabwehr fördert,
jedenfalls nicht ungeeignet zur Bekämpfung der konkreten Gefahr ist, denn es
steht gerade im Ermessen der Behörde, in welchem Umfang sie
Gefahrenabwehrmaßnahmen ergreift (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 20.03.1986,
a.a.O.; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl., S. 420 f.; Götz,
Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Auflage, Randnummer 251; Knemeyer,
Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Auflage, Randnummer 207). Zu der insoweit
erforderlichen konkreten Gefahr zählen nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts auch die sogenannte Anscheinsgefahr (vgl. z. B.
BVerwGE, Urt. v. 26.02.1974 -- BVerwG I C 31.72 --, BVerwGE 45, 51, 58; Urt. v.
01.07.1975 -- BVerwG I C 35.70 --, BVerwGE 49, 36, 44; Urt. v. 01.07.1975 -- I C
35/70 --, NJW 1975, 2158) und der sogenannte Gefahrverdacht (vgl. z. B. BVerwG,
Urt. v. 28.02.1961 -- BVerwG I C 54.57 --, BVerwGE 12, 87, 93; Urt. v. 16.12.1971 --
BVerwG I C 60.67 --, BVerwGE 39, 190, 193). Unbillige Ergebnisse lassen sich trotz
dieses sehr weiten Gefahrbegriffs vermeiden, wenn bei Anscheinsgefahr und
Gefahrverdacht erhöhte und explizit darzulegende (§ 39 HVwVfG) Anforderungen
an die Verhältnismäßigkeit und damit auch an die Ermessensbetätigung gestellt
werden. Zusammenfassend bedeutet dies, daß eine Maßnahme, die beim
Vorliegen einer konkreten Gefahr der Klärung des Umfangs derselben mit dem
Ziel ihrer endgültigen Beseitigung dient, auf die Befugnisnorm des § 83 Abs. 1
HBO gestützt werden kann.
Für die Anforderung eines Standsicherheitsnachweises nach Feststellung einer von
einer baulichen Anlage ausgehenden konkreten Gefahr für die öffentliche
Sicherheit oder Ordnung findet dieses Ergebnis zudem Bestätigung in § 16 Abs. 1
HBO, demzufolge jede bauliche Anlage im ganzen, in ihren einzelnen Teilen und für
sich allein -- auch während der Errichtung sowie bei der Änderung und beim
Abbruch -- standsicher und dauerhaft sein muß. Diesem Ziel dient auch, daß
gemäß § 5 der Bauvorlagenverordnung vom 22.05.1977 (GVBl. I S. 271 u. S. 306)
im Baugenehmigungsverfahren ein Standsicherheitsnachweis verlangt wird.
Sowohl der Antragsgegner in seiner Verfügung vom 28.09.1990 als auch das
Verwaltungsgericht haben eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne von §
83 Abs. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1 Satz 1 HBO aufgrund des Zustandes des
Obergeschosses des streitbefangenen Fabrikgebäudes zutreffend bejaht. Die dort
bestehenden erheblichen Mängel werden entgegen der Auffassung des
Antragstellers in der streitgegenständlichen Verfügung insbesondere unter
Einbeziehung der anläßlich von Ortsbesichtigungen am 08.08. und am 27.08.1990
gefertigten 13 Lichtbilder, die Bestandteil der streitgegenständlichen Verfügung
sind, hinreichend deutlich dargelegt. Aus ihr ist zu ersehen, daß in vielen Bereichen
von Stahlbetonunterzügen, Stürzen und Stützen im obersten Geschoß die
ursprünglich vorhanden gewesene Betonummantelung fehlt und daß infolge von
Witterungseinflüssen in den Deckenbereichen die unteren und die Stegteile der
Bimskörper herausgefallen sind. Insoweit genügt im vorliegenden Eilverfahren eine
summarische Prüfung. Wegen der Einzelheiten wird insoweit Bezug genommen auf
die Ausführungen in der streitgegenständlichen Verfügung und in dem Beschluß
des Verwaltungsgerichts. Dafür sprechen weiter die Ausführungen in dem
Gutachten des Dipl.-Ing. K. H. S vom 10.11.1980, auf das sich der Antragsteller
zum Nachweis nach wie vor gegebener Standsicherheit beruft. Damals stellte
dieser Gutachter bereits fest, daß die Dachdecke zumindest in den Feldern mit
dem geschwächten Querschnitt nicht mehr ausreichend standsicher ist. Weiter
stellte er fest, daß die Standsicherheit der tragenden Stahlbetonkonstruktion im
Obergeschoß unter der Annahme gewährleistet ist, daß die Ausführung den
geprüften statischen Berechnungen und Ausführungszeichnungen entspricht und
die Schadstellen in der Betondeckung wieder so ergänzt werden, daß der
Korrosionsschutz der Bewährung wieder hergestellt ist. Als
Sanierungsmaßnahmen schlug der Gutachter damals vor, die nicht mehr
ausreichend standsichere Bimshohlkörperdecke abzutragen und durch eine neue
Dachdecke zu ersetzen. Diese bereits 1980 vorhandenen erheblichen Mängel
haben sich durch ungehinderte Witterungseinflüsse im Laufe von über 10 Jahren
mit größter Wahrscheinlichkeit verstärkt, zumal der Antragsteller die von dem
Gutachter geforderten Maßnahmen nicht ergriffen hat. Der Vortrag des
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Gutachter geforderten Maßnahmen nicht ergriffen hat. Der Vortrag des
Antragstellers, "durchaus Sicherungsmaßnahmen durchgeführt" zu haben, ist
völlig unsubstantiiert und deshalb unbeachtlich. Insbesondere die der
streitgegenständlichen Verfügung beigefügten Lichtbilder enthalten keinerlei
Hinweise auf derartige Sicherungsmaßnahmen. Lockere Betonteile fielen
ausweislich der mit der streitgegenständlichen Verfügung aufgehobenen
Verfügung vom 13.08.1980 bereits damals und in der Folgezeit wiederholt auf die
an dem streitbefangenen Fabrikgebäude entlangführende Kstraße. Zutreffend wird
daher in der streitgegenständlichen Verfügung ausgeführt, daß davon
ausgegangen werden muß, daß sich weiterhin Betonteile lösen, und daß durch
deren Herunterstürzen die Benutzer der vorgenannten Straße gefährdet werden.
Zusammenfassend ergibt sich nach summarischer Prüfung, daß das Obergeschoß
des streitbefangenen Fabrikgebäudes mit großer Wahrscheinlichkeit nicht
standsicher ist und dadurch Menschen zu schaden kommen können, mithin eine
Gefahr für die öffentliche Sicherheit gegeben ist (vgl. Hess. VGH, Beschluß vom
12.01.1982 -- IV TH 92/82 --, HessVGRspr. 1982, 75).
Das dem Antragsteller nach § 83 Abs. 1 Satz 2 HBO zustehende Ermessen hat
dieser in gerichtlich nicht zu beanstandender Art und Weise (§ 114 VwGO)
dahingehend ausgeübt, den Antragsteller als Zustandsverantwortlichen im Sinne
von § 7 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 HSOG n. F. zur Gefahrenabwehr in Anspruch
zu nehmen.
Der dazu geforderte Standsicherheitsnachweis ist geeignet, erforderlich
(notwendig) und verhältnismäßig.
Geeignetheit im Sinne des Rechts der Gefahrenabwehr ist -- wie vorstehend
ausgeführt -- bereits dann gegeben, wenn die Maßnahme die Gefahrenabwehr
fördert. Dies ist hier der Fall, denn durch den Standsicherheitsnachweis kann
festgestellt werden, ob die bauliche Anlage standsicher im Sinne von § 16 Abs. 1
HBO ist. Der Standsicherheitsnachweis verschafft einen Überblick über das
Ausmaß der Schäden im obersten Geschoß des streitbefangenen Fabrikgebäudes.
Auf ihn aufbauend kann dann die erforderliche eigentliche
Gefahrenabwehrmaßnahme getroffen werden. Insbesondere kann die Frage
beantwortet werden, ob dazu Sanierungsmaßnahmen ausreichen oder ob ein
vollständiger Abbruch des Obergeschosses erforderlich ist. Der
Standsicherheitsnachweis ist auch ohne die bislang nicht auffindbaren statischen
Unterlagen technisch durchführbar, wie das vom Antragsteller mit Schriftsatz vom
27.11.1990 vorgelegte Schreiben des Dipl.-Ing. G. B bestätigt.
Der Standsicherheitsnachweis ist auch erforderlich (notwendig), da aufgrund des
vorgenannten Gutachtens vom 10.11.1980 bereits damals erhebliche Bedenken
an der Standsicherheit des Obergeschosses bestanden, die sich aufgrund der
Untätigkeit des Antragstellers über 10 Jahre hinweg erheblich verdichtet haben.
Der geforderte Standsicherheitsnachweis ist auch verhältnismäßig, da er
gegenüber einem Totalabbruch das mildere Mittel darstellt. Die Einlassung des
Antragstellers, er sei bereit, erhebliche Kosten in die Sanierung des Gebäudes zu
investieren, wenn das Gebäude einer sinnvollen wirtschaftlichen Nutzung zugeführt
werde, weshalb das gegenwärtige Verlangen nach einem
Standsicherheitsnachweis unverhältnismäßig sei, ist schon deshalb unerheblich,
weil er auch bei einem dann zu stellenden Bauantrag einen
Standsicherheitsnachweis nach § 16 Abs. 1 HBO in Verbindung mit § 5
Bauvorlagenverordnung brauchen wird. Es kommt hinzu, daß der Antragsteller
bereits gegen die in der streitgegenständlichen Verfügung aufgehobenen
Verfügungen über zehn Jahre hinweg eine Bauabsicht angeführt hat, ohne jemals
einen Bauantrag für eine geänderte Nutzung zu stellen und ernsthafte Anstalten
zu seiner Verwirklichung zu machen.
Zu Recht hat der Antragsteller die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung nach §
80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet. Die vom Senat nach § 80 Abs. 5 VwGO
entsprechend dieser Vorschrift vorzunehmende Interessenabwägung führt zu dem
Ergebnis, daß regelmäßig bei ungeklärter Standsicherheit eines Gebäudes die
Anordnung des Sofortvollzuges gerechtfertigt ist, weil bei fraglicher
Standsicherheit Einsturzgefahr und damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit
gegeben ist, die es umgehend zu beseitigen gilt. Diese Gefahr besteht hier
insbesondere für die Benutzer der angrenzenden Kstraße (vgl. Hess. VGH, Beschl.
v. 12.01.1982 -- IV TH 92/82 --, HessVGRspr. 1982, 75; Beschluß vom 28.07.1989 -
- 3 TH 2147/78 --). Hinsichtlich des durch einen staatlich anerkannten Gutachter zu
- 3 TH 2147/78 --). Hinsichtlich des durch einen staatlich anerkannten Gutachter zu
erstellenden Standsicherheitsnachweises, mithin einer vertretbaren Handlung,
begegnet die Androhung der Ersatzvornahme im Hinblick auf § 68 ff., 74 Abs. 1
HVwVG keinen rechtlichen Bedenken. Gleiches gilt für die nach § 74 Abs. 3 Satz 1
HVwVG auf 70.000,-- DM veranschlagten Kosten für die Erstellung des
Standsicherheitsnachweises. Diesen Betrag hat der Antragsteller weder
substantiiert noch überhaupt in Frage gestellt. Auf gerichtliche Anfrage hat der
Antragsgegner dazu mitgeteilt, daß dieser Betrag ihm von einem Prüfstatiker
mitgeteilt worden sei und sich im übrigen eher an der unteren Grenze der für ein
solches Gutachten zu veranschlagenden Kosten bewege.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.