Urteil des HessVGH vom 08.12.1988

VGH Kassel: innerstaatliches recht, freizügigkeit der arbeitnehmer, öffentliches interesse, aufenthaltserlaubnis, einreise, abkommen, vollstreckung, verfügung, verordnung, verwaltungsakt

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 TH 2980/88
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 1 AuslG, Art 12
EWGAbk TUR, Art 36
EWGAbkTURZProt
(Einreise, Aufenthalt aufgrund Assoziierungsabkommen
EWG/Türkei)
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat
den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der
Antragstellerin gegen den ausländerbehördlichen Bescheid der Antragsgegnerin
vom 15. April 1988 zu Recht abgelehnt; denn dieser Bescheid erweist sich als
offenbar rechtmäßig mit der Folge, daß das öffentliche Interesse am sofortigen
Vollzug der Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis und der
Abschiebungsandrohung das private Interesse der Antragstellerin an einem
vorläufigen weiteren Verbleib im Bundesgebiet auch unter Berücksichtigung der
hier gegebenen persönlichen Verhältnisse überwiegt. Bei dieser
Interessenabwägung ist allerdings entgegen der Auffassung des
Verwaltungsgerichts nicht von einem gesetzlich vermuteten überwiegenden
Interesse am Sofortvollzug einer die Aufenthaltserlaubnis versagenden Verfügung
und deren Vollstreckung auszugehen; es ist vielmehr festzustellen, ob öffentliche
Belange gegeben sind, welche die persönlichen Interessen der Antragstellerin
überwiegen und über das den angegriffenen Verwaltungsakt selbst rechtfertigende
Interesse hinausgehen und es damit rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch der
Antragstellerin einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im
Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (BVerfG,
21.03.1985 - 2 BvR 1642/83 -, BVerfGE 69, 220 = EZAR 622 Nr. 1; Hess. VGH, 22.
09. 1988 - 12 TH 836/88 -, EZAR 622 Nr. 6).
Wie bereits das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, war die Ausländerbehörde
schon aus Rechtsgründen daran gehindert, der Antragstellerin eine
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen; denn deren Anwesenheit im Bundesgebiet
beeinträchtigt Belange der Bundesrepublik Deutschland, weil sie unter Umgehung
von Einreisevorschriften in das Bundesgebiet eingereist ist (§ 2 Abs. 1 AuslG; § 5
Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG); insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen in dem
angegriffenen Beschluß Bezug genommen (Art. 2 § 7 Abs. 1 EntlG).
Soweit die Antragstellerin ausdrücklich eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von
fünf Jahren zum Zwecke der Familienzusammenführung begehrt, rechtfertigt dies
keine andere Beurteilung (zum Familiennachzug vgl. allgemein Hess. VGH,
22.09.1988 - 12 TH 836/88 -, EZAR 622 Nr. 9); denn die Antragstellerin hat
während des gesamten Verfahrens nichts dafür vorgetragen, daß sich hinsichtlich
der für eine Familienzusammenführung maßgeblichen Sachlage die Verhältnisse
seit der Versagung der schon früher beantragten Aufenthaltserlaubnis durch den
rechtskräftig gewordenen ausländerbehördlichen Bescheid vom 18. Juli 1985
wesentlich geändert haben. Zudem ist von der Antragstellerin nicht einmal
angegeben, ob ihr Ehemann und sie die persönlichen und wirtschaftlichen
Voraussetzungen nach den einschlägigen Erlassen des Hessischen Ministers des
Innern vom 13. Juli 1984 (StAnz. S. 1486) und vom 15. September 1987 (StAnz. S.
1955) erfüllen.
Schließlich steht der Antragstellerin ein Recht zur Einreise und zum Aufenthalt
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Schließlich steht der Antragstellerin ein Recht zur Einreise und zum Aufenthalt
weder unmittelbar noch mittelbar aufgrund der Regelungen des
Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
und der Türkei vom 12. September 1963 (BGBl. 1964 II S. 509, 1959) und Art. 36
des Zusatzprotokolls vom 23. November 1970 (BGBl. 1972 II S. 385; 1973 II S.
113) noch aus einer diesem Assoziierungsvertragswerk konformen Anwendung
des § 2 AuslG zu.
Türkische Staatsangehörige sind nicht nach Ablauf der Übergangszeit für die
Herstellung der Freizügigkeit gemäß Art. 12 des Assoziationsabkommens
EWG/Türkei und Art. 36 des Zusatzprotokolls zu diesem Abkommen unmittelbar
aufgrund dieser völkerrechtlichen Vereinbarungen berechtigt, zur Ausübung einer
Arbeitnehmertätigkeit in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten
(BVerwG, 20.02.1987 - 1 A 94.86 -, EZAR 106 Nr. 8 - DVBl 1987, 786 = NJW 1987,
3093; Hess. VGH, 30.11.1987 - 12 TH 137/87 -, NVwZ 1988, 569; Hess. VGH, 14.
01. 1988 - 12 TG 3145/87 -; im Ergebnis ebenso Hess. VGH, 07. 06. 1988 -7 TH
1594/88 -). Denn die genannten Regelungen des Assoziierungsabkommens und
des durch Verordnung Nr. 2760/72 des Rats der EWG vom 19. Dezember 1972
geschlossenen Zusatzabkommens sind keine in der innerstaatlichen
Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren
gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, aus denen türkische Staatsangehörige ein
Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EG-Mitgliedstaaten herleiten können (EuGH,
30.09.1987 - Rs. 12/86 -, EZAR 811 Nr. 8 = NJW 1987, 1442; so auch schon
Hailbronner, ZAR 1984, 176; vgl. dazu auch BSG, 09.09.1986 - 7 RAr 67/85 -, BSGE
60, 230 = EZAR 314 Nr. 1 = InfAuslR 1987, 47). Die genannten Regelungen haben
vielmehr im wesentlichen Programmcharakter und stellen nur
Verhandlungsverpflichtungen dar, aus denen die Staatsbürger der
Vertragsparteien unmittelbare Rechtsansprüche nicht herleiten können (zur
Niederlassungsfreiheit vgl. BVerwG, 09. 05. 1986 - 1 C 39.83 -, BVerwGE 74, 165 =
EZAR 103 Nr. 8 = InfAuslR 1986, 237). Aus der Tatsache, daß das
Assoziierungsvertragswerk durch Gesetze vom 13. Mai 1964 (BGBl. II S. 509) und
vom 19. Mai 1972 (BGBl. II S. 385) in der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert
worden ist, ergibt sich keine günstigere Rechtsposition für türkische
Staatsangehörige. Zustimmungsgesetze dieser Art transformieren den Inhalt
völkerrechtlicher Verträge in innerstaatliches Recht und gehen, soweit sie
ausländerrechtliche Bestimmungen enthalten, gemäß § 55 Abs. 3 AuslG den
Vorschriften des Ausländergesetzes vor. Die Umsetzung des vorliegenden
Vertragswerks in innerstaatliches Recht läßt indes den Charakter seines Inhalts als
einer Abrede, in der lediglich eine Regelung hinsichtlich der Freizügigkeit türkischer
Arbeitnehmer in Aussicht gestellt wird, unberührt. Eine bloße
Verhandlungsverpflichtung, die von vornherein mehrere unterschiedliche
Regelungen hinsichtlich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der
Assoziation als mögliches Verhandlungsergebnis denkbar erscheinen läßt, kann
indessen auch durch ein Zustimmungsgesetz nicht in unmittelbar anwendbares
innerstaatliches Recht umgesetzt werden, weil sie insoweit nicht den
Bestimmtheitsanforderungen genügt, die ein Gesetz nach innerstaatlichem Recht
erfüllen muß, um Rechtsansprüche und diesen Rechtsansprüchen entsprechende
Verpflichtungen zu begründen (so auch BSG, a.a.O.).
Darüber hinaus kann für türkische Staatsangehörige ein Aufenthaltsrecht in der
Bundesrepublik Deutschland auch nicht aus den bisher mit innerstaatlicher
Rechtskraftwirkung veröffentlichten Beschlüssen des Assoziationsrats EWG/Türkei
Nrn. 2/76 und 1/80 (ANBA 1977, 1089 und 1981, 2) hergeleitet werden. Diese
Beschlüsse befassen sich nämlich nicht mit dem Aufenthaltsrecht im engeren
Sinne (vgl. dazu BVerfG, 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. -, BVerfGE 76, 1 = EZAR
105 Nr. 20), und im übrigen fehlt es insoweit zumindest an einer für die
Anwendung in der Bundesrepublik Deutschland präzisierenden Transformation in
innerstaatliches Recht (vgl. dazu BSG, a.a.O.).
Schließlich kann die Antragstellerin die von ihr begehrte Aufenthaltserlaubnis auch
nicht aufgrund einer dem Assoziationsvertragswerk konformen Auslegung und
Anwendung des § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG verlangen. Die Ausländerbehörde ist
nämlich bei der Auslegung des Begriffs der Belange der Bundesrepublik
Deutschland und bei der Ausübung des ihr insoweit zustehenden Ermessens
gegenüber dem Aufenthaltsbegehren eines türkischen Staatsangehörigen nicht
anders gestellt als bei anderen Ausländern, da das gesamte
Assoziationsvertragswerk keine unmittelbaren Rechtswirkungen in
aufenthaltsrechtlicher Hinsicht zeitigt.
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Die der Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beigegebene
Abschiebungsandrohung ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Insbesondere ist die
Ausreisefrist von vier Wochen nach Zustellung des ausländerbehördlichen
Bescheids ausreichend bemessen und begründet.
Ist demnach bei summarischer Überprüfung von der offensichtlichen
Rechtmäßigkeit der Versagung der Aufenthaltserlaubnis und der
Abschiebungsandrohung auszugehen, besteht grundsätzlich auch ein besonderes,
die sofortige Vollziehung rechtfertigendes öffentliches Interesse (BVerfG,
Richterausschuß, 11. 02. 1982 - 2 BvR 77/82 -, NVwZ 1982, 241; BVerfG,
Richterausschuß, 15. 02. 1982 - 2 BvR 1492/81 -, DÖV 1982, 451; Hess. VGH, 22.
09. 1988 - 12 TH 836/88 -, EZAR 622 Nr. 6). Dieses öffentliche Interesse überwiegt
hier das private Interesse der Antragstellerin, die sich schon einmal nach einer
illegalen Einreise von Januar 1984 bis November 1986 im Bundesgebiet
aufgehalten, im Mai 1987 erneut illegal ins Bundesgebiet eingereist ist und der
zugemutet werden kann, zunächst in ihre Heimat zurückzukehren, um
gegebenenfalls von dort aus einen Sichtvermerk zum Zwecke der
Familienzusammenführung zu beantragen.
Die Entscheidung über die Kosten und den Streitwert des Beschwerdeverfahrens
folgen aus § 154 Abs. 2 VwGO und §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.