Urteil des HessVGH vom 08.12.2003

VGH Kassel: stadt, aufenthaltserlaubnis, staatsangehörigkeit, öffentliche sicherheit, körperliche integrität, ausnahmefall, unterbringung, klinik, abschiebung, psychiatrie

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 1582/03
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 45 AuslG , § 47 AuslG , §
48 AuslG
(Staatenloser - zur Ermessensausweisung)
Leitsatz
Bei der Prüfung, ob statt der Regel-Ausweisung eines Staatenlosen ausnahmsweise
eine Ermessensausweisung in Betracht zu ziehen ist, ist auch das besondere Schicksal
eines Staatenlosen zu berücksichtigen, der von Geburt an staatenlos ist und in einen
anderen Staat weder einreisen noch abgeschoben werden kann.
Tatbestand
Der Kläger wurde 1960 in S (Kreis K ) geboren. Seine Staatsangehörigkeit ist nach
Auffassung der Ausländerbehörde ungeklärt. Sein 1998 verstorbener Vater war in
Albanien und seine ebenfalls bereits verstorbene Mutter war in Jugoslawien
geboren. Der Kläger ist seit Mitte der 1970iger Jahre mehrfach straffällig geworden
und hat seitdem überwiegend die Zeit in Vollzugsanstalten verbracht. So wurde er
am 12. Juni 1992 durch das Landgericht B-Stadt wegen schwerer räuberischer
Erpressung in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit erpresserischem
Menschenraub, zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Zuletzt wurde er
durch das Landgericht D-Stadt am 9. März 1999 unter anderem wegen
gemeinschaftlichen Raubs zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs
Monaten verurteilt. Seit 18. März 1999 befand er sich im Maßregelvollzug in der
Klinik für forensische Psychiatrie A-Stadt, am 31. Januar 2001 wurde er auf eine
offene Vollzugsstation verlegt und am 10. Mai 2001 auf Dauer beurlaubt; seitdem
lebt er mit seiner deutschen Ehefrau zusammen, mit der er am 21. Dezember
2001 die Ehe geschlossen hat und mit der er im Januar 2004 ein Kind erwartet.
Seit 24. Mai 2001 geht der Kläger einer Arbeitstätigkeit nach; derzeit ist er
arbeitsunfähig erkrankt, wird aber ab Januar 2004 wieder arbeiten können.
Die zuständige Ausländerbehörde des Beklagten hat den Kläger mit Verfügung
vom 18. Februar 2000 aus Deutschland ausgewiesen und dessen Anträge auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 19. August 1996 und vom 2. Februar
2000 abgelehnt, weil der Kläger den Tatbestand der Ist-Ausweisung nach § 47 Abs.
1 Nr. 1 AuslG erfülle und keinen besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1
AuslG genieße.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch hat das Regierungspräsidium Gießen mit
Bescheid vom 14. Mai 2002 zurückgewiesen und zusätzlich ausgeführt, es könne
dahingestellt bleiben, ob der Kläger eine fremde Staatsangehörigkeit besitze oder
staatenlos sei, da dies für die Anwendung des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG unbeachtlich
sei. Nach der Eheschließung am 21. Dezember 2001 gehöre der Kläger zu dem
nach § 48 Abs. 1 Nr. 4 AuslG privilegierten Personenkreis, er könne aber gleichwohl
ausgewiesen werden, wenn schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung gegeben seien und Vorrang vor den Interessen des Klägers hätten. §
48 Abs. 1 AuslG gewähre somit keinen generellen Ausweisungsschutz, sondern
schränke nur das behördliche Ermessen ein. Nach Sinn und Zweck des § 48 Abs. 1
Satz 2 AuslG erfordere regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung von Ausländern, bei denen ein
Ausweisungsgrund nach § 47 Abs. 1 AuslG vorliege, so dass dahinter der von § 48
Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AuslG statuierte Schutz des Ausländers zurücktrete. Bei dem
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Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AuslG statuierte Schutz des Ausländers zurücktrete. Bei dem
Kläger liege die Regelvermutung des § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG vor, so dass
schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowohl aus
spezial- als auch aus generalpräventiven Gründen seine Ausweisung geböten. Eine
Ausnahmesituation liege bei dem Kläger nicht vor, vielmehr sei seine Ausweisung
aus spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt. Zweifellos stellten die vom
Landgericht B-Stadt am 12. August 1992 und vom Landgericht D-Stadt am 9.
März 1999 abgeurteilten besonders schweren Straftaten die bisherige Krönung
eines an Straftaten nicht gerade armen Lebens dar. Der Strafrest aus der ersten
Verurteilung sei am 23. Juli 1996 ausgesetzt und ein Bewährungshelfer bestellt
worden; gleichwohl habe die Strafaussetzung zur Bewährung später widerrufen
werden müssen. Auch aus diesen schweren Sanktionen habe der Kläger wie bei
früheren Verurteilungen keine Konsequenzen gezogen, sondern vier Jahre später,
nämlich am 8. Mai 1998 eine erneute gravierende Straftat begangen, weswegen
ihn das Landgericht D-Stadt zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs
Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Erziehungsanstalt angeordnet
habe. Auch die Prognose, inwieweit in Zukunft schwerwiegende Verfehlungen des
Ausländers ernsthaft drohten, könne nicht zugunsten des Klägers ausfallen. Gegen
die absolut negative Sozialprognose aus Sicht der Allgemeinheit könnten die für
den Kläger möglicherweise sprechenden Gründe kein Gegengewicht darstellen.
Hinsichtlich der Eheschließung sei zu berücksichtigen, dass die Ehe erst seit einem
kurzen Zeitraum bestehe, ihr dauerhafter Bestand angesichts des vom
medizinischen Dienst des Landeswohlfahrtsverbands vorgezeichneten
Personenprofils des Klägers zumindest als nicht gesichert betrachtet werden
könne und es auch keine gesicherten Indizien dafür gebe, dass der Kläger durch
die Eheschließung gravierend in seinem Psychogramm und in seiner
Lebensführung eine Änderung erfahren würde. Schließlich sei durch die
Ausweisung des Klägers die Ehe auch nicht in toto in Frage gestellt; denn die
Eheleute könnten die Ehe auch im Ausland fortsetzen. Auch die Tatsache, dass
das Landgericht E-Stadt am 11. Mai 2001 den Kläger aus der Psychiatrischen
Unterbringung entlassen und den weiteren Vollzug der Unterbringung zur
Bewährung ausgesetzt habe, könne diese Prognoseentscheidung aus
ausländerrechtlicher Sicht nicht verändern.
Mit der hiergegen am 27. Mai 2002 erhobenen Klage hat der Kläger unter
Bezugnahmen auf ärztliche Auskünfte geltend gemacht, er unterziehe sich seit
langer Zeit regelmäßigen Drogenscreenings und sei offenkundig drogenfrei, er
habe eine feste ungekündigte Arbeitsstelle, verfüge über ausreichendes
Einkommen und lebe in einer stabilen Partnerschaft. Außerdem sei entscheidend,
dass die Ausweisungsverfügung letztlich ihren Zweck verfehle, da er nicht
abgeschoben werden könne, da kein Zielland bereit wäre, ihn als Staatenlosen
aufzunehmen. Damit werde durch die Ausweisung genau der gegenteilige Zweck
erreicht, der sonst mit einer Ausweisung verfolgt werde. Er erhalte unter anderem
aufgrund seiner Ausweisung keinen Internationalen Reiseausweis mehr, über den
er jahrelang habe verfügen können. Auf diesem Hintergrund erscheine die
Ausweisungsverfügung als schlichter Unsinn. Faktisch werde mit ihr nur die
dringend nötige soziale Integration erschwert. Die Ausweisungsverfügung
beeinträchtige damit das öffentliche Interesse, statt es zu fördern.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 29. August 2001 in der Fassung des
Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Gießen vom 23. Mai 2002
aufzuheben und das beklagte Land zu verpflichten, eine Aufenthaltserlaubnis zu
erteilen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie macht unter Bezugnahme auf die angegriffenen Bescheide geltend, die
Ausweisung sei sowohl aus spezial- als auch aus spezialpräventiven Gründen
notwendig; ein Ausnahmefall sei nicht gegeben. Schließlich besitze eine
Ausweisung auch dann eine eigenständige Bedeutung, wenn sie nicht mit einer
Abschiebungsandrohung verbunden wäre.
Das Verwaltungsgericht Gießen hat mit Urteil vom 19. März 2003 den Bescheid
des Landrats des Landkreises Limburg-Weilburg vom 18. Februar 2000 und den
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Gießen vom 14. Mai 2002
aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis
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aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis
zu erteilen. Bei dem Kläger sei ein doppelter Ausnahmefall nach § 48 Abs. 1 Satz 2
und § 47 Abs. 2 und 3 AuslG anzunehmen. Ausländer- und Widerspruchsbehörde
verwiesen zwar zutreffend auf die kriminelle Entwicklung des Klägers seit seinem
16. Lebensjahr, aus der sich ganz konkret auch unter Berücksichtigung der
Stellungnahme der Klinik für forensische Psychiatrie A-Stadt vom 25. Juni 2001 die
Wiederholungsgefahr ergebe, so dass auch unter Berücksichtigung der
Deutschverheiratung vom Normalfall auszugehen sei. Unter Berücksichtigung der
gravierenden Veränderung der Persönlichkeit des Klägers, die in den späteren
Stellungnahmen der Klinik zum Ausdruck gekommen sei, erscheine es aber höchst
fragwürdig, immer noch vom Normalfall auszugehen. Im Übrigen müsse ohnehin
unter Würdigung des konkreten Schicksals des Klägers ein Ausnahmefall
angenommen werden, da eine Abschiebung oder eine dauerhafte Ausreise des
Klägers in absehbarer Zeit unmöglich seien. Infolge dessen werde eine Befristung
der Wirkung der Ausweisung, die angesichts der Deutschverheiratung auch zeitnah
erfolgen müsste, keine Wirkung zeigen, weil die Frist erst mit der Ausreise beginne.
Es sei für die weitere Lebensführung des Klägers völlig unverhältnismäßig, ihn auf
Dauer in Deutschland in einem ungesicherten Rechtszustand infolge der
Ausweisung zu belassen. Nach alledem stehe dem Anspruch des Klägers auf
Aufenthaltserlaubnis aus § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG die Sperrwirkung des § 8
Abs. 2 AuslG nicht entgegen, so dass auch der Verpflichtungsklage auf Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis stattzugeben sei.
Das beklagte Land macht nach Zulassung der Berufung durch Beschluss vom 23.
Juni 2003 (12 UZ 1191/03) geltend, die Ursache für das Verhalten des Klägers in
der Vergangenheit sei umstritten. Gegensätzliche medizinische Positionen klängen
in der gutachterlichen Stellungnahme der Klinik für forensische Psychiatrie A-Stadt
vom 24. August 1999 an. Diese Stellungnahme sei ebenso wie die des gleichen
Beurteilers vom 9. Februar 2000 als negativ zu bewerten. Ein Ausnahmefall müsse
nicht schon allein deswegen bejaht werden, weil eine positive Stellungnahme zum
Therapieverlauf vorliege. Solche gutachterlichen Stellungnahmen seien mit hohen
Unsicherheiten behaftet. Im Übrigen sei ein Ausnahmefall nur dann anzunehmen,
wenn sowohl im Hinblick auf die spezial- als auch die generalpräventive
Ausrichtung der Bestimmung des § 48 Abs. 1 AuslG der Ausnahmefall begründbar
sei. Unzutreffend sei die Ansicht des Verwaltungsgerichts, aus einer fehlenden
Möglichkeit der Abschiebung folge zugleich ein Ausnahmefall im Sinne des § 48
und des § 47 AuslG.
Das beklagte Land beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 19. März 2003 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angegriffene Urteil und legt dazu unter anderem eine
Stellungnahme der Bewährungshelferin vom 2. Dezember 2003 vor.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen Bezug
genommen auf die Gerichtsakten und die den Kläger betreffenden Behördenakten,
die allesamt Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des beklagten Landes ist vom Senat zugelassen und auch sonst
zulässig (§§ 124 Abs. 1, 124a Abs. 5 Satz 5, Abs. 6 VwGO); sie ist aber nur in dem
aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet und im Übrigen unbegründet.
1. Die Berufung ist hinsichtlich der von der Ausländerbehörde ausgesprochenen
Ausweisung unbegründet, weil diese zu Recht von dem Verwaltungsgericht als
rechtswidrig aufgehoben worden ist (§ 113 VwGO).
Zutreffend haben Ausländerbehörde und Verwaltungsgericht angenommen, dass
der Kläger zumindest aufgrund der letzten Verurteilung die Voraussetzungen für
eine zwingende Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG erfüllt und aufgrund der
familiären Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau Ausweisungsschutz
mit der Folge genießt, dass er nur in der Regel und nur aus schwerwiegenden
Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden kann (§§ 47
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Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden kann (§§ 47
Abs. 3 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG). Dabei haben sie außerdem zu Recht
berücksichtigt, dass nach § 48 Abs. 1 Satz 2 AuslG schwerwiegende Gründe der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen des § 47 Abs. 1
AuslG vorliegen. Angesichts dieser zweifachen Rechtsfolgen des besonderen
Ausweisungsschutzes haben sich Ausländerbehörde und Widerspruchsbehörde
(letztere unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Eheschließung mit einer
deutschen Staatsangehörigen) zunächst zu Recht auf die Frage einer
fortbestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den
Kläger konzentriert. Die Frage, ob und wie dessen Staatenlosigkeit im
Zusammenhang mit der Ausweisung und der Möglichkeit einer Ausreise oder einer
Abschiebung zu beachten ist, hat das Verwaltungsgericht stärker berücksichtigt
als die Verwaltungsinstanzen. Diese Frage spielt zwar für die
Gefährdungsprognose und damit auch im Rahmen der Regel des § 48 Abs. 1 Satz
2 AuslG keine Rolle, wohl aber bei Beurteilung der danach zu prüfenden Regel-
Ausnahme-Konstellation für die Regel-Ausweisung.
Im Ergebnis zu Recht hat das Verwaltungsgericht auf eine "ganz besondere
persönliche Ausnahmesituation" abgestellt und den "doppelten Ausnahmefall"
angenommen. Aus den 1992 und 1999 abgeurteilten Straftaten und dem
sonstigen Werdegang des Klägers lässt sich ohne Zweifel schließen, dass dieser
über einen langen Zeitraum hin über eine ungewöhnliche kriminelle Energie
verfügt hat und nicht davor zurückgeschreckt ist, rücksichtslos in das Vermögen
anderer einzugreifen und dabei auch deren körperliche Integrität zu
beeinträchtigen. Die mehrfachen Chancen einer Aussetzung von Freiheitsstrafen
auf Bewährung hat er nicht genutzt und sich über viele Jahre hin in jeder Weise als
unbelehrbar erwiesen. Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen in den
Behördenbescheiden Bezug genommen werden. Unter diesen Umständen kommt
es in besonderer Weise auf die psychische Situation des Klägers an, die für die
lang andauernde ganz erhebliche Straffälligkeit des Klägers zumindest
mitursächlich war und letztlich auch zu seiner Unterbringung in einer
psychiatrischen Anstalt geführt hat. Die bei dem Kläger insoweit seit Beginn des
Jahres 2001 festzustellende wesentliche Änderung gegenüber der über viele Jahre
hin festgestellten Persönlichkeitsstörung hat das Verwaltungsgericht zu Recht zum
Anlass genommen, die spezialpräventive Rechtfertigung der Ausweisung in Zweifel
zu ziehen. Auch nach Überzeugung des Senats ist eine derartige grundlegende
psychische Veränderung bei dem Kläger seit dieser Zeit anhand der vorliegenden
ärztlichen Gutachten festzustellen.
Unter dem 13. März 2001 hat die Klink für forensische Psychiatrie A-Stadt
bestätigt, dass der Kläger in seiner therapeutischen Entwicklung inzwischen soweit
fortgeschritten sei, dass er auf eine offene Therapiestation verlegt worden sei und
einer externen Arbeit bei der IFAB-Technik nachgehe. Ziel dieser Station sei es, die
Patienten auf die Entlassung vorzubereiten und die dafür notwendigen Schritte
einzuleiten. Zuvor hatte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts E-Stadt
am 1. März 2001 die Fortdauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
angeordnet. In einem Schreiben vom selben Tag wird bestätigt, dass der
Therapieverlauf bislang als positiv beschrieben werden könne, der Kläger an der
Einzel- und Gruppentherapie, der Arbeits- und Sporttherapie sowie den
Stationsaktivitäten und der Bezugspflege teilnehme. Er befinde sich inzwischen im
gelockerten Status auf der Station 3.01 und gehe einer externen Arbeit nach.
Diese Station diene der weiteren Außenorientierung und Entlassungsvorbereitung.
In der gutachterlichen Stellungnahme zum Therapieverlauf vom 25. Juni 2001
wurde mitgeteilt, der Kläger habe die ihm seit 31. Januar 2001 gewährten
Belastungserprobungen jeweils ohne jegliche Beanstandung erledigt und
Suchtmittelrückfälle seien nicht bekannt. Am 10. Mai 2001 sei er dauerbeurlaubt
und habe Wohnung bei seiner Lebensgefährtin A. genommen. Zudem arbeite der
Kläger bei der IFAB-Technik als Fräser und habe von seinem Arbeitgeber ein gutes
Zwischenzeugnis erhalten. Aus den Gesprächen in der Ambulanz werde deutlich,
dass der Kläger u. a. mit Hilfe seiner Lebensgefährtin neue Lebenswege und neue
Lebensziele für sich gefunden habe. Alle Anzeichen wiesen auf eine äußerst
günstige therapeutische Entwicklung und eine ebenso gute Prognose hin. Das
Landgericht ordnete mit Beschluss vom 11. September 2001 die Entlassung des
Klägers aus der Unterbringung an und befasste sich in seinem Beschluss
eingehend mit der Entwicklung des Klägers auf der Grundlage der ärztlichen
Berichte zum Therapieverlauf. Unter dem 10. Juni 2002 hat die erwähnte Klinik
darüber berichtet, dass die Drogenscreenings vom 6. und 15. Mai 2002 negativ
gewesen seien. Unter dem Aspekt der zunehmenden Normalisierung von Leben
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gewesen seien. Unter dem Aspekt der zunehmenden Normalisierung von Leben
und Persönlichkeit sowie einer als gefestigt anzusehenden Drogenabstinenz werde
die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung bei dem Kläger nicht mehr
aufrechterhalten. Damit werde der gesamten Entwicklung, insbesondere aber der
Weiterentwicklung von Verhaltens- und Denkmustern Rechnung getragen. In einer
fachärztlichen Bescheinigung vom selben Tag wird nach Hinweis auf die für die
Sozialprognose notwendigen Kriterien zusammenfassend festgestellt, dass dem
Kläger eine sehr günstige Sozialprognose gestellt werden müsse. Die Kriterien
einer dissozialen Persönlichkeitsstörung würden nicht mehr erfüllt. Die Gründe
lägen in einer sich im Zuge der stationären Behandlung eingestellten positiven
Veränderungsbereitschaft. Der Kläger habe nicht nur über Verhalten, Biographie,
Sucht und Delinquenz selbstkritisch reflektieren, sondern auch seine
diesbezüglichen Einstellungen nachhaltig verändern können. Er habe nicht nur
allgemein gültige gesellschaftliche Normen verinnerlicht, sondern auch sein
Verhalten im zwischenmenschlichen Bereich grundlegend zum Positiven hin
verändert. Nach erheblichen initialen Anfangsschwierigkeiten habe der Kläger eine
nachhaltige positive therapeutische Veränderungsbereitschaft gezeigt, die sich
unter den Bedingungen der bedingten Entlassung im gesamten Sozialverhalten
bewährt habe und im Wesentlichen die Bereiche kriminelle und dissoziale Denk-
und Verhaltensmuster, Suchtabstinenz, Arbeitswilligkeit, stabile Partnerschaft und
soziale Integrationsfähigkeit betreffe.
Die Bewährungshelferin hat am 5. Juli 2002 mitgeteilt, die in Angriff genommene
umfangreiche Sanierung der finanziellen Verhältnisse führe zu einer intensiven
Auseinandersetzung mit den Straftaten und einer erneuten Konfrontation mit der
Vergangenheit. Dabei erlebe sie den Kläger als einen Menschen, der zur Reflektion
bereit sei und Verhaltensänderungen zeige. Seine bisherige Entwicklung gestalte
sich sehr positiv. Ihm könne derzeit eine günstige Sozialprognose gegeben
werden. In den Gesprächen zeige er sich als zuverlässig, kooperativ, offen und
motiviert. Er halte sich an Absprachen und Termine und sei von Anfang an zur
Zusammenarbeit mit der Bewährungshelferin bereit gewesen. Diese Einschätzung
wird in der Stellungnahme vom 2. Dezember 2003 bestätigt und zusätzlich darauf
hingewiesen, dass der Kläger seine Schuldensituation geklärt habe und monatlich
Ratenzahlungen leiste.
Die in den ärztlichen Stellungnahmen bescheinigte grundlegende Veränderung in
der psychischen Situation des Klägers kann in diesem Verfahren berücksichtigt
werden, obwohl der insoweit prozessual maßgebliche Widerspruchsbescheid
bereits am 14. Mai 2002 ergangen ist. Wenn die letzten beiden Stellungnahmen
nach diesem Termin gefertigt worden sind, bedeutet dies nicht, dass dort
ausschließlich Tatsachen mitgeteilt worden sind, die erst nach Erlass des
Widerspruchsbescheids entstanden sind. Vielmehr werden dort eine bereits zuvor
begonnene Entwicklung und bereits zuvor erfolgte Veränderungen nachträglich
festgestellt. Obwohl sich die ausländerrechtliche Gefährdungsprognose nicht
unwesentlich von der strafrechtlichen Sozialprognose unterscheidet, kann doch
hier nicht außer Betracht gelassen werden, dass trotz einer früher äußerst
desolaten Persönlichkeitsstruktur ganz wesentliche Veränderungen im äußeren
Sozialverhalten festgestellt worden sind, die auf eine innere Bewusstseins- und
Willensänderung hindeuten, also nicht nur ostentativer Natur sind und nicht nur ein
soziales Wohlverhalten vortäuschen sollen. Da in der Zwischenzeit weitere
gutachtliche ärztliche Stellungnahmen nicht erfolgt und vorgelegt worden sind, ist
anzunehmen, dass sich die positive Entwicklung in den Lebensverhältnissen des
Klägers fortgesetzt und stabilisiert hat, was durch die jüngste Stellungnahme der
Bewährungshelferin bestätigt wird. Insoweit handelt es sich zwar um eine
Entwicklung nach Ergehen des Widerspruchsbescheids, diese darf und muss aber
als tatsächliche Bestätigung der früheren ärztlichen Prognosen auch in diesem
Verfahren berücksichtigt werden, zumal die Ehe bereits während des
Widerspruchsverfahrens geschlossen wurde und der Kläger schon davor mit seiner
späteren deutschen Ehefrau zusammen gelebt hat und die daraus erwachsenen
persönlichen Bindungen offenbar ganz wesentlich zur Stabilisierung des Klägers
beigetragen haben. Da sich die persönlichen Lebensverhältnisse und -umstände
des Klägers nach alledem in den letzten gut zwei Jahren radikal verändert haben,
kann nicht mehr wie noch nach Erlass des letzten Strafurteils eine erhebliche
Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch einen weiteren
Aufenthalt des Klägers in Deutschland prognostiziert werden. Es muss vielmehr in
Rechnung gestellt werden, dass sich seither nicht nur die Persönlichkeitsstruktur
des Klägers verändert hat, sondern damit auch die kriminellen Neigungen und
Anreize erheblich vermindert worden sind, die früher zur Begehung schwerer
Straftaten geführt haben. Daher lagen nach Überzeugung des Senats im
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Straftaten geführt haben. Daher lagen nach Überzeugung des Senats im
Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids schwerwiegende Gründe der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung im Falle des Klägers trotz der Erfüllung des Tatbestands
des § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht vor. Letztlich stellen sich die
Persönlichkeitsveränderung des Klägers und die darauf beruhenden positiven
Entwicklungen seiner Lebensverhältnisse als so gewichtig dar, dass eine
Ausweisung - bezogen auf den Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids - sowohl aus
spezial- als auch aus generalpräventiver Sicht anders als im Normalfall als
ungerecht erschiene. Aus demselben Grund besteht unter Heranziehung vor allem
der in § 45 Abs. 2 AuslG genannten Kriterien auch Anlass für die Annahme eines
atypischen Falles im Sinne von § 47 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 AuslG in der Weise,
dass die im Regelfall angebrachte Ausweisung hier wegen der besonderen
Umstände nicht gerechtfertigt erscheint.
Beim Abweichen von der Regelausweisung ist von der Persönlichkeitsentwicklung
des Klägers abgesehen zusätzlich dessen besonderes
staatsangehörigkeitsrechtliches Schicksal zu berücksichtigen. Der Kläger besitzt -
aus welchen Gründen auch immer - keine Staatsangehörigkeit, jedenfalls ist er
bisher von keinem der in Betracht kommenden Staaten als Staatsangehöriger
anerkannt, also zumindest de facto staatenlos. Da seine Staatsangehörigkeit seit
langem als ungeklärt gilt, der Besitz der jugoslawischen Staatsangehörigkeit nicht
nachgewiesen ist und er nach der Bestätigung der albanischen Botschaft in Bonn
vom 4. November 1999 jedenfalls nicht die albanische Staatsangehörigkeit besitzt
(vgl. Schreiben des jugoslawischen Generalkonsulats in Frankfurt am Main vom 18.
März 1997) , ist er meist als Staatenloser behandelt worden und hat über längere
Zeit hin eine Aufenthaltserlaubnis und einen Fremdenpass besessen. Aus seiner
Staatenlosigkeit folgt, dass er nicht in einen anderen Staat abgeschoben werden
kann, weil kein Staat festgestellt werden kann, der völkerrechtlich zur Aufnahme
verpflichtet ist oder sich aus welchen Gründen auch immer zur Aufnahme des
Klägers bereit erklärt. Da der Kläger keine besonderen persönlichen oder
sonstigen Beziehungen zu einem anderen Staat unterhält, kann auch nicht
festgestellt werden, dass ihm dort ein rechtmäßiger Aufenthalt oder ein sonstiger
Verbleib gewährt würde und er infolge dessen aus Deutschland aus- und dort
einreisen könnte. Diese rechtliche und tatsächliche Ausweglosigkeit ist nicht die
gewöhnliche Folge einer Ausweisung. Sie trifft zwar praktisch ausnahmslos alle
Staatenlosen. Zu Gunsten des Klägers ist aber zusätzlich zu berücksichtigen, dass
er nicht etwa als Erwachsener aus eigenem Entschluss seine Staatsangehörigkeit
aufgegeben hat, sondern dass er allem Anschein nach bereits von der Geburt an
oder jedenfalls seit dem Kindesalter keine Staatsangehörigkeit besitzt. Dieses
besondere Schicksal der Staatenlosen hat die Völkerrechtsgemeinschaft dadurch
gelöst, dass sie mit dem UN-Übereinkommen über Staatenlose von 1953
Staatenlosen die Möglichkeit eines gewöhnlichen und rechtmäßigen Aufenthalts in
einem der Vertragsstaaten eröffnet hat. Nach dem dort vereinbarten System soll
jeder Vertragsstaat möglichst weiterhin die Staatenlosen bei sich behalten, die auf
seinem Hoheitsgebiet rechtmäßig oder rechtswidrig leben. Damit soll eine
Migration von Staatenlosen ebenso verhindert werden wie Versuche der
Aufenthaltsstaaten zur Überführung oder Überstellung in andere Staaten.
Ausweisung und Abschiebung sind, wie die Ausländerbehörde zutreffend geltend
macht, grundsätzlich streng voneinander zu unterscheiden, weil sie nach
Voraussetzungen und Rechtsfolgen voneinander abweichen. Wie aber gerade die
Vorschrift des § 45 Abs. 2 Nr. 3 AuslG zeigt, kann es sachgerecht erscheinen, die
in § 55 Abs. 2 AuslG genannten Duldungsgründe bereits bei der Entscheidung über
die Ausweisung zu berücksichtigen. So liegt es auch beim Kläger, dessen
Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist und der daher sozusagen
auf Lebenszeit eine Duldung erhalten muss, obwohl das Institut der Duldung damit
letztlich seinem Zweck entfremdet wird. Auch diese Überlegung spricht dafür, das
Schicksal eines Staatenlosen bereits bei der Beurteilung zu beachten, ob eine
Regelausweisung gerechtfertigt ist oder in eine Ermessensausweisung
herabgestuft werden sollte.
Da der Kläger nach alledem nur im Wege des Ermessens hätte ausgewiesen
werden dürfen, wäre festzustellen gewesen, ob von ihm Gefahren für die
öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der
Bundesrepublik ausgehen (§ 45 Abs. 1 AuslG), was mit Rücksicht auf die
gutachterlich bestätigte Persönlichkeitsveränderung des Klägers ebenso hätte
verneint werden können wie das Bestehen schwerwiegender Gründe der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 48 Abs. 1 AuslG. Schließlich
hätte im Rahmen des Ermessens dann auch das besondere aufenthaltsrechtliche
Schicksal des Klägers in Rechnung gestellt werden müssen, das dadurch
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Schicksal des Klägers in Rechnung gestellt werden müssen, das dadurch
gekennzeichnet ist, dass er im Falle der Ausweisung und der damit zwingend
verbundenen Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis ordnungsgemäßer
Rechtsgrundlagen für seinen Aufenthalt, seine Erwerbstätigkeit und sein familiäres
Leben in Deutschland auf Dauer entbehren muss. Auf alle diese Gesichtspunkte
kommt es vorliegend jedoch nicht an, weil die Behörden von ihrem
Rechtsstandpunkt aus gesehen zutreffend eine Ermessensausweisung nicht in
Betracht gezogen und daher auch kein Ermessen ausgeübt haben. Während des
Gerichtsverfahrens diese Ermessensentscheidung nachzuholen, gestattet das
Prozessrecht nicht. Zulässig wäre nur eine Ergänzung von Ermessenserwägungen,
falls eine solche Entscheidung bereits getroffen worden wäre (§ 114 Satz 2 VwGO).
Allein, dies ist hier nicht der Fall.
Nach alledem ist die Ausweisungsverfügung als rechtswidrig anzusehen.
2. Bezüglich der Verpflichtungsklage auf Erteilung einer ehebezogenen
Aufenthaltserlaubnis ist die Klage unbegründet und die Berufung des Beklagten
begründet. Insoweit hat das Verwaltungsgericht der Klage zu Unrecht in vollem
Umfang stattgegeben; die Ausländerbehörde kann nämlich nur verpflichtet
werden, den Kläger insoweit neu zu bescheiden, weil die Sache insoweit nicht
entscheidungsreif ist (§ 114 Satz 1 VwGO).
Der Kläger erfüllt zwar unstreitig die Voraussetzungen für den Rechtsanspruch
nach §§ 17 Abs. 1, 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG auf eine ehebezogene
Aufenthaltserlaubnis, wegen des Vorliegens eines Ausweisungsgrunds steht die
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis aber im Ermessen der Ausländerbehörde (§ 23
Abs. 3 i.V.m. § 17 Abs. 5 AuslG).
3. Die Entscheidungen über die Kosten des Klage- und des Berufungsverfahrens
sowie über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und §
167 VwGO i.V.m. §§ 708, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.