Urteil des HessVGH vom 03.11.2005
VGH Kassel: elektronische signatur, treu und glauben, niedersachsen, schriftlichkeit, urheber, schriftstück, fernschreiben, eigenhändig, bekanntgabe, telegramm
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
1. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 TG 1668/05
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 70 Abs 1 S 1 VwGO, § 81
Abs 1 S 1 VwGO, § 86a
VwGO, § 3a VwVfG, § 3a
Abs 2 VwVfG HE vom
21.03.2005
(Schriftformerfordernis; Email; qualifizierte elektronische
Signatur erforderlich)
Leitsatz
Ein verfahrenseinleitender Schriftsatz (hier: Widerspruchsschreiben), der mit einfacher
e-Mail ohne qualifizierte elektronische Signatur übermittelt wird, genügt nicht dem
Erfordernis der Schriftlichkeit.
Tenor
Soweit die Beschwerde gegenüber der Antragsgegnerin zu 2. zurückgenommen
worden ist, wird das Beschwerdeverfahren eingestellt.
Im übrigen wird die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts
Gießen vom 31. Mai 2005 - 10 G 608/05 - zurückgewiesen.
Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 518,00 €
festgesetzt.
Gründe
Soweit der Antragsteller mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 4. Juli 2005
die Beschwerde gegenüber der Antragsgegnerin zu 2. zurückgenommen hat, ist
das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
In der Sache selbst hat die Beschwerde keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat
es zu Recht abgelehnt, dem Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz gegen die
Beitragsbescheide (Rückstandsverzeichnisse) der Antragsgegnerin zu 1. vom 19.
August 2004 zu gewähren. Diese Bescheide sind bestandskräftig geworden, da der
Antragsteller innerhalb der Widerspruchsfrist von einem Monat nach Bekanntgabe
(§ 79 HVwVfG i. V. m. § 70 Abs. 1 VwGO) nicht in rechtswirksamer Weise
Widerspruch eingelegt hat. Insbesondere genügte seine e-Mail vom 14. September
2004 mit dem Vermerk: " A. (Die Unterschrift ist elektronisch gesichert. Sofern ein
konventionelles Schreiben gewünscht wird, bitte ich um einen entsprechenden
Hinweis.)", entgegen der mit der Beschwerde vertretenen Auffassung nicht dem
Schriftformerfordernis nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs der Schriftlichkeit in § 70 Abs. 1
Satz 1 VwGO ist ebenso wie im Fall der Klageerhebung (§ 81 Abs. 1 Satz 1 VwGO)
von den Grundsätzen der Authentizität und der Rechtsklarheit auszugehen. Diesen
Grundsätzen wird entsprochen, wenn Urheber und Inhalt der rechtsgestaltenden
Erklärung einwandfrei feststehen und ausgeschlossen werden kann, dass es sich
dabei lediglich um einen Entwurf handelt. Von der ernsthaften und authentischen
Einlegung des Rechtsbehelfs ist in den Fällen des § 70 Abs. 1 VwGO grundsätzlich
auszugehen, wenn der Widerspruchsführer die Widerspruchsschrift eigenhändig
unterschrieben hat, so dass ihm das Schriftstück zuverlässig und zweifelsfrei
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unterschrieben hat, so dass ihm das Schriftstück zuverlässig und zweifelsfrei
zugeordnet werden kann. Soweit die Rechtsprechung im Hinblick auf die
Entwicklung moderner Kommunikationstechniken Ausnahmen zugelassen hat
(Einlegung des Widerspruchs durch Fernschreiben, Telegramm oder Telefax,
elektronische Übertragung einer Textdatei mit eingescannter Unterschrift; vgl.
dazu BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1987 - 1 BvR 475/85 - BVerfGE 74, 228;
BVerwG, Urteil vom 13. Februar 1987 - 8 C 25.85 - BVerwGE 77, 38;
zusammenfassend VG Sigmaringen, Beschluss vom 17. Dezember 2004 - 5 K
1313/04 - VBlBW 2005, 154), besteht deren gemeinsames Merkmal darin, dass die
Identität des Absenders auf Grund der auf seine Veranlassung beim Empfänger
erstellten Urkunde eindeutig bestimmt ist, auch wenn das empfangene Dokument
wegen der Art der Übertragung keine Originalunterschrift aufweist.
Es bedarf keiner Entscheidung, ob es entsprechend der Ansicht des
Verwaltungsgerichts Sigmaringen (a. a. O.) ein "unverzichtbares
Mindesterfordernis" der Schriftform darstellt, dass ein Papierdokument als
verkörpertes Schriftstück bei Gericht eingeht. Die e-Mail vom 14. September 2004
erfüllt das Schriftformerfordernis jedenfalls deshalb nicht, weil sie keine qualifizierte
elektronische Signatur im Sinne von § 2 Nr. 3 Signaturgesetz - SigG - vom 16. Mai
2001 (BGBl. I S. 876) trägt, ohne die nicht mit der durch § 70 Abs. 1 VwGO
gebotenen Sicherheit festgestellt werden kann, ob die betreffende e-Mail
vollständig und richtig ist, und ob sie tatsächlich von dem in ihr angegebenen
Urheber stammt (vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 17. Januar 2005 - 2 PA
108/05 -, S. 4 des Abdrucks). Wird ein elektronisches Dokument gleichwohl
ausgedruckt und zur Akte genommen, ändert dies nichts an der Unwirksamkeit
(vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss vom 29. Juli 2004 - 11 LA 176/04 - zu § 86a
VwGO m. w. N.).
Für die Richtigkeit der hier vertretenen Auslegung des Begriffs der Schriftform in
Bezug auf die Übermittlung verfahrenseinleitender Schriftsätze per e-Mail spricht
insbesondere auch der Umstand, dass der elektronische Rechtsverkehr durch
zahlreiche ergänzende Vorschriften neu geregelt worden ist (vgl. etwa §§ 86a - seit
1. April 2005: § 55a und b - VwGO, § 3a VwVfG, § 77a FGO, § 130a ZPO). Damit
wird hinreichend deutlich, dass der Gesetzgeber selbst nicht davon ausgegangen
ist, dass eine einfache e-Mail dem Schriftformerfordernis genügt. Es ist deshalb
entgegen der Auffassung des Antragstellers gerade nicht maßgeblich, ob der
Antragsteller und die Antragsgegnerin zu 1. vor und nach Erlass der
angefochtenen Bescheide schriftlich, telefonisch oder per e-Mail miteinander
kommuniziert haben, und ob die Antragsgegnerin ihrerseits davon ausgegangen
ist, dass die fragliche e-Mail tatsächlich vom Antragsteller herrührte, oder ob
diesbezügliche Zweifel aktenkundig geworden sind. Die Antragsgegnerin zu 1. war
auch nicht nach Treu und Glauben verpflichtet, den Eintritt der Bestandskraft ihrer
Bescheide durch einen rechtzeitigen rechtlichen Hinweis an den Antragsteller zu
verhindern; für eine derartige Verpflichtung ist im Verhältnis zwischen den Parteien
keine Rechtsgrundlage ersichtlich.
Die vom Antragsteller in Bezug genommenen Entscheidungen des
Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 6. Dezember 1988 - 9 C 40.87 - BVerwGE
81, 32, 36) und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 10. August
1992 - 12 UE 2254/89 - NVwZ-RR 1993, 434) betreffen die weit vor Einführung des
elektronischen Rechtsverkehrs anerkannten Ausnahmen vom Grundsatz der
Wahrung der Schriftform durch eigenhändige Unterschrift bzw. die Wirksamkeit
einer mit handschriftlichem Vermerk beglaubigten Abschrift; sie sind auf den
vorliegenden Fall nicht übertragbar.
Auf die Neuregelung des § 3a Abs. 2 HVwVfG kann sich der Antragsteller schon
deshalb nicht berufen, weil diese die elektronische Kommunikation betreffende
Vorschrift erst durch Gesetz vom 21. März 2005 (GVBl. I S. 218) eingeführt und am
30. März 2005 in Kraft getreten ist. Im übrigen wäre auch nach dieser Vorschrift
entsprechend der zutreffenden Darstellung des Verwaltungsgerichts (S. 5 f. des
Abdrucks) mangels einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem
Signaturgesetz nicht von einer Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen
Schriftform auszugehen.
Die gleichen Erwägungen gelten auch im Hinblick auf die Frage, ob mit der e-Mail
vom 24. November 2004 im Rahmen eines Wiedereinsetzungsgesuchs gemäß §
70 Abs. 2 i. V. m. § 60 Abs. 3 Satz 2 VwGO die versäumte Rechtshandlung wirksam
nachgeholt worden ist. Im Übrigen folgt der Senat den zutreffenden Gründen der
erstinstanzlichen Entscheidung (S. 6 des Abdrucks) und sieht gemäß § 122 Abs. 2
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erstinstanzlichen Entscheidung (S. 6 des Abdrucks) und sieht gemäß § 122 Abs. 2
Satz 3 VwGO von einer weiteren Begründung ab.
Unter den gegebenen Umständen ist es dem Senat verwehrt, inhaltlich zu der
Frage Stellung zu nehmen, ob die Voraussetzungen einer Beitragserhebung in der
Person des Antragstellers gegeben sind. Hiergegen bestehen aus den im
Vergleichsvorschlag des Gerichts vom 1. September 2005 angedeuteten Gründen
erhebliche Bedenken.
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der Teilrücknahme auf § 155 Abs. 2
VwGO und im übrigen auf § 154 Abs. 2 VwGO, da die Beschwerde gegenüber der
Antragsgegnerin zu 1. ohne Erfolg geblieben ist.
Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47
Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 GKG. Er entspricht der Beitragsforderung.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.