Urteil des HessVGH vom 20.11.1996

VGH Kassel: politische verfolgung, verzicht, zivilprozessrecht, immaterialgüterrecht, verwaltungsrecht, versicherungsrecht, quelle, heimatstaat, einheit, dokumentation

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UZ 4469/96.A
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 78 Abs 3 Nr 2 AsylVfG
1992, Art 16a Abs 1 GG
(Asyl; Verzicht auf politische Betätigung)
Leitsatz
Es kann von einem Asylbewerber nicht verlangt werden, auf eine politische Betätigung
in seinem Heimatstaat zu verzichten, um sich nicht der Verfolgung durch
Sicherheitskräfte auszusetzen.
Gründe
Soweit sich der Antrag auf die Abschiebungsandrohung bezieht, ist er unzulässig,
weil er den Begründungserfordernissen des § 78 Abs. 4 Sätze 1 und 4 AsylVfG
nicht genügt. Insoweit ist mit dem Antrag nämlich nicht zureichend erläutert, aus
welchen Gründen die Berufung zugelassen werden soll (vgl. BVerfG - Kammer -,
19.08.1994 - 2 BVR 719/93 -, EZAR 633 Nr. 24 = InfAuslR 1995, 15; Hess. VGH,
17.01.1983 - X TE 29/82 -, EZAR 633 Nr. 5; OVG Nordrhein-Westfalen, 15.11.1982 -
18 B 20044/82 -, EZAR 633 Nr. 1 = DÖV 1983, 430).
Der Antrag ist hinsichtlich der Asylanerkennung und der Feststellung der
Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG zulässig und begründet; denn mit
ihm ist zu Recht geltend gemacht, dass die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2
AsylVfG zuzulassen ist.
Die mit dem Zulassungsantrag geltend gemachte Divergenz liegt vor. In
Asylrechtsstreitigkeiten ist die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG
zuzulassen, wenn das verwaltungsgerichtliche Urteil von einer Entscheidung des
Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen
Senats der obersten-Gerichtshöfe des Bundes oder des
Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Die
Divergenzrüge kann im Hinblick auf die Funktion des Rechtsmittels der Berufung
und die Aufgaben der Berufungsinstanz gerade in Asylstreitigkeiten - ähnlich wie
die grundsätzliche Bedeutung bei der Grundsatzberufung im Sinne des § 78 Abs. 3
Nr. 1 AsylVfG (vgl. dazu: BVerwG, 31.07.1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 = EIAR
633 Nr. 9; Hess. VGH, 27.12.1982 - X TE 29/82 -, EZAR 633 Nr. 4 = NVwZ 1983,
237) - sowohl rechtliche als auch tatsächliche Fragenbereiche betreffen (BVerwG,
a.a.O.; Hess. VGH, 18.02.1985 - 10 TE 263/83 -). Dabei setzt eine die
Berufungszulassung rechtfertigende Divergenz im rechtlichen Bereich voraus,
dass das verwaltungsgerichtliche Urteil bei objektiver Betrachtung von einem
Rechtssatz abweicht, den z. B. das Bundesverwaltungsgericht aufgestellt hat.
Erforderlich ist hierfür nicht, dass die Abweichung bewusst oder gar vorsätzlich
erfolgt; es genügt vielmehr ein Abgehen von der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts in der Weise, dass das Verwaltungsgericht dem Urteil
erkennbar eine Rechtsauffassung zugrunde legt, die einem vom
Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Rechtssatz widerspricht (Hess. VGH,
10.07.1986 - 10 TE 641/86 -; Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633
Nr. 13). Andererseits kann eine zur Berufungszulassung führende Abweichung
dann nicht festgestellt werden, wenn das Verwaltungsgericht gegen vom
Bundesverwaltungsgericht vertretene Grundsätze verstößt, indem es diese
stillschweigend übergeht oder sie übersieht (vgl. dazu BVerwG, 23.08.1976 - III B
2.76 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 147), den Sachverhalt: nicht in dem
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2.76 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 147), den Sachverhalt: nicht in dem
erforderlichen Umfang aufklärt, eine rechtlich gebotene Prüfung tatsächlicher Art
unterläßt (Hess. VGH, 15.02.1995 - 12 UZ 191/95 -, EZAR 633 Nr. 25 = AuAS
1995, 127) oder den festgestellten Sachverhalt fehlerhaft würdigt (vgl. dazu
BVerwG, 17.01.1975 - VI CB 133.74 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 128) und
damit Rechtsgrundsätze des Bundesverwaltungsgerichts unzutreffend auslegt
oder anwendet; denn nicht: jeder Rechtsverstoß in der Form einer unzutreffenden
Auslegung oder Anwendung von Rechtsgrundsätzen gefährdet die Einheit der
Rechtsprechung, die durch die Vorschrift des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG (ähnlich wie
durch die Vorschrift des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO über die Divergenzrevision)
gesichert werden soll (vgl. Hess. VGH, 14.10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633 Nr.
13 m.w.N.). Die Divergenzzulassung setzt voraus, dass das erstinstanzliche Urteil
auf der festgestellten Abweichung beruht. Sie kann aber nicht mit der Begründung
versagt werden, das Urteil erweise sich aus anderen Gründen als richtig (a. A. OVG
Nordrhein-Westfalen, 05.11.1991 - 22 A 3120/91 A -, EZAR 633 Nr. 18); für die
Berufungszulassung fehlt nämlich eine dem § 144 Abs. 4 VwGO vergleichbare
Vorschrift(Hess. VGH, 12.06.1995 - 12 UZ 1178/95 -; Hess. VGH, 20.12.1993 - 12
UZ 1635/93 -; vgl. dazu Kopp, VwGO, 9. Aufl., 1992, Rdnr. 19 zu § 132).
Wie die Klägerin zu Recht rügt, weicht das angegriffene Urteil, soweit dort
ausgeführt ist, der Klägerin sei zuzumuten, auf ihre politische Betätigung in der
Türkei zu verzichten, um sich nicht der Verfolgung durch türkische
Sicherheitskräfte auszusetzen, von den Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 - (BVerfGE 80, 315 =
EIAR 201 Nr. 20) und des Bundesverwaltungsgerichts vom 19: Mai 1987 - 9 C
184.86 - (BVerwGE 77, 258 = EIAR 200 Nr. 19), vom 30. August 1988 - 9 C 14.88 -
(BVerwGE 80, 136 = EIAR 201 Nr. 15 = InfAuslR 1989, 66) und vom 12. Dezember
1989 - 9 C 39.88 - (InfAuslR 1990, 102) ab. Wenn das Verwaltungsgericht unter
Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. November
1992 - 9 C 21.92 -(BVerwGE 91, 150 = EZAR 231 Nr. 5 = DVBl. 1993, 324) die
Auffassung vertritt, Asylbewerbern sei der Verzicht auf politische
Meinungsäußerungen zuzumuten, um hierauf bezogene politische Verfolgung des
Heimatstaats abzuwenden, so verkennt es nicht nur die auf eine bestimmte
Fallkonstellation beschränkte Bedeutung des Revisionsurteils vom 3. November
1992, sondern auch und vor allem fundamentale Grundsätze des deutschen und
internationalen Flüchtlings- und Asylrechts des 19. und 20. Jahrhunderts.
Das Verfahren wird gemäß § 78 Abs. 5 Satz 4 AsylVfG hinsichtlich des
asylrechtlichen Verfahrensteils und der Feststellung von
Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG als Berufungsverfahren fortgesetzt,
ohne dass es der Einlegung einer Berufung bedarf.
Die Entscheidung über die Kosten des Antragsverfahrens folgt insoweit der
künftigen Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.
Die Entscheidungen über die Kosten des Antragsverfahrens beruhen auf § 154
Abs. 1 VwGO und § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.