Urteil des HessVGH vom 02.04.1993

VGH Kassel: pakistan, anerkennung, bundesamt, widerruf, flughafen, provinz, moschee, ausreise, unverzüglich, verwaltungsverfahren

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
10. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 UE 1413/91
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16 Abs 2 S 2 GG, § 26
Abs 1 AsylVfG vom
26.06.1992, § 73 Abs 1
AsylVfG vom 26.06.1992
(Widerruf einer Asylanerkennung)
Tatbestand
Der am 18. Februar 1956 in Faisalabad/Pakistan geborene Kläger ist
pakistanischer Staatsangehöriger.
Er reiste in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1986 über den Flughafen Berlin-
Schönefeld nach Berlin(West) und von dort am 22. Juli 1986 über Bebra in das
übrige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte seine
Asylanerkennung unter Berufung auf seine Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-
Glaubensgemeinschaft. Mit Bescheid vom 5. Februar 1987 lehnte das Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge seinen Asylantrag ab.
Auf seine dagegen am 21. April 1987 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht
Wiesbaden den Asylablehnungsbescheid unter Nichtzulassung der Berufung
aufgehoben und das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen. Dagegen hat der
Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten am 7. März 1991
Nichtzulassungsbeschwerde erhoben, der mit Beschluß des Senats vom 19. Juni
1991 - 10 TE 673/91 - stattgegeben worden ist.
Bereits zuvor war die Ehefrau des Klägers, die am 29. März 1965 im Distrikt
Jhang/Pakistan geborene pakistanische Staatsangehörige Amat ul Mateen, mit
ihren zwei Kindern am 29. April 1987 über Karachi und den Flughafen Frankfurt am
Main in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hatte hier am folgenden
Tage ihre Anerkennung als Asylberechtigte beantragt. Diesen Antrag hatte das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 17.
September 1987 abgelehnt.
Auf ihre dagegen am 30. November 1987 erhobene Klage hat das
Verwaltungsgericht Wiesbaden mit Urteil vom 10. Juli 1991 - VII E 7022/87 - den
Asylablehnungsbescheid unter Nichtzulassung der Berufung aufgehoben und das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge verpflichtet, die Ehefrau
des Klägers und deren Kinder als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen,
daß in deren Personen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Die
gegen die Nichtzulassung der Berufung am 4. September 1991 eingelegte
Beschwerde hat der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten am 29. Oktober
1991 zurückgenommen; daraufhin ist das Verfahren mit Beschluß des Senats vom
30. Oktober 1991 - 10 TE 2143/91 - eingestellt worden. Mit Bescheid vom 6.
Dezember 1991 hat das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge die Ehefrau des Klägers und deren Kinder aufgrund der rechtskräftigen
Verpflichtung durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 10. Juli
1991 als Asylberechtigte anerkannt.
Mit Schriftsatz vom 5. Februar 1993 hat das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge eine Anerkennung des Klägers im Wege des
sogenannten Familienasyls unter Hinweis auf § 26 Abs. 1 Ziff. 3 AsylVfG abgelehnt.
Der Berufungskläger hat schriftsätzlich beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 5. Dezember 1990 - VII E
5571/87 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens
wird auf die den Kläger und seine Ehefrau betreffenden Gerichts- und
Behördenakten verwiesen, die ebenso zum Verfahrensgegenstand gemacht
worden sind wie die 238 Erkenntnismittel, die in der Liste "Pak 2 Pakistan
Ahmadiyya-Bewegung" aufgeführt sind. Auf die den Beteiligten zugesandte Liste
und die zur Einsichtnahme zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel wird insoweit
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Berichterstatter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 125
Abs. 1, 87 a Abs. 2 und 3 sowie 101 Abs. 2 VwGO anstelle des Senats und ohne
mündliche Verhandlung.
Die zulässige Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen
das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 5. Dezember 1990 ist
zurückzuweisen, denn sie ist nicht begründet. Der Kläger ist nach der gemäß § 77
Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes vom 26. Juni 1992 (BGBl. I S. 1126) - AsylVfG -
maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des
Berufungsgerichts gemäß § 26 Abs. 1 AsylVfG im Wege des sogenannten
Familienasyls als Asylberechtigter anzuerkennen.
Diese Vorschrift des seit dem 1. Juli 1992 geltenden Asylverfahrensgesetzes vom
26. Juni 1992 und nicht § 7 a Abs. 3 AsylVfG a.F. ist auf das vorliegende Verfahren
anzuwenden, weil die Übergangsvorschrift des § 87 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG, wonach
bereits begonnene Asylverfahren nach bisher geltendem Recht zu Ende zu führen
sind, wenn - wie hier - vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes das Bundesamt seine
Entscheidung an die Ausländerbehörde zur Zustellung abgesandt hat,
ausdrücklich nur für das "Verwaltungsverfahren" gilt und weil in Absatz 2 dieser
Vorschrift, der ausdrücklich Übergangsvorschriften für "die Rechtsbehelfe und das
gerichtliche Verfahren" enthält, keine Regelung der Frage getroffen ist, welches
materielle Recht im einzelnen Fall einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde zu
legen ist, so daß es bei der allgemeinen Regelung des § 77 Abs. 1 AsylVfG bleibt,
daß das Gericht in Streitigkeiten nach diesem Gesetz auf die Sach- und
Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abstellt.
Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 AsylVfG, denn seine
Ehefrau ist aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts
Wiesbaden vom 10. Juli 1991 - VII E 7022/87 - mit bestandskräftigem Bescheid des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 6. Dezember
1991 als Asylberechtigte anerkannt worden. Die Ehe ist ausweislich des in
Übersetzung der Nuur-Moschee in Frankfurt am Main eingereichten
Heiratsformulars am 4. Dezember 1980 in Rabwah/Pakistan vor der Ausreise des
Klägers und seiner Ehefrau geschlossen worden; der Kläger hat seinen Asylantrag
unverzüglich nach seiner Einreise und vor seiner Ehefrau gestellt und schließlich ist
nicht erkennbar oder geltend gemacht, warum die Asylanerkennung seiner
Ehefrau gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu widerrufen oder gemäß Absatz 2
dieser Vorschrift zurückzunehmen sein sollte.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat die Ehefrau des
Klägers als Asylberechtigte anerkannt, weil es dazu vom Verwaltungsgericht
Wiesbaden mit Urteil vom 10. Juli 1991 rechtskräftig verpflichtet worden ist.
Abgesehen von- hier nicht ersichtlichen - Rücknahmegründen kann ein Widerruf
der Asylanerkennung nicht schon dann erfolgen, wenn das Verwaltungsgericht
einen Asylanspruch zu Unrecht angenommen hat (so aber VGH Bad.-Württ.,
Beschluß v. 13.10.1988 - A 13 S 703/88 - Inf- AuslR 1989 S. 39 f.), sondern nach
dem Wortlaut des § 73 1 Satz 1 AsylVfG (...Voraussetzungen... nicht mehr
vorliegen) und insbesondere wegen der auf der Rechtskraft des Urteils beruhenden
Verbindlichkeit der in ihm getroffenen Rechtsfindung für die Sach- und Rechtslage
im Entscheidungszeitpunkt nur dann, wenn aufgrund nach Erlaß des Urteils
eingetretener Veränderungen die Voraussetzungen für die stattgebende
Entscheidung nachträglich weggefallen sind (vgl. Kanein/Renner, Ausländerrecht, 5.
Aufl. 1992, Rdnr. 5 zu § 16 AsylVfG a.F.; Rühmann, InfAuslR 1989 S. 141). Das
Verwaltungsgericht hat einen Asylanspruch der Ehefrau des Klägers vorliegend im
wesentlichen mit der Begründung bejaht, daß sie als Angehörige der Ahmadiyya
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wesentlichen mit der Begründung bejaht, daß sie als Angehörige der Ahmadiyya
aufgrund ihrer glaubhaften Schilderungen nach Überzeugung des Gerichts wegen
religiös motivierter Verfolgung orthodox/islamischer Mitbürger und fehlenden
staatlichen Schutzes Pakistan als Vorverfolgte verlassen hat und daß sie im Falle
ihrer Rückkehr vor einer entsprechenden erneuten mittelbaren staatlichen
Verfolgung und vor einer unmittelbaren staatlichen Verfolgung aufgrund der gegen
die Religionsausübung der Ahmadis gerichteten Strafgesetze nicht hinreichend
sicher sein kann. Neue Gesichtspunkte, die der Annahme der Vorverfolgung der
Ehefrau des Klägers entgegenstehen könnten, sind nicht erkennbar. Seit dem
Erlaß des Urteils hat sich auch nach den neuesten Erkenntnisquellen des Senats
die Verfolgungssituation der Ahmadis in Pakistan nicht dermaßen verändert, daß
das Verwaltungsgericht nunmehr an seiner Prognose nicht mehr festhalten könnte
und eine hinreichende Verfolgungssicherheit für die Ehefrau des Klägers im Falle
ihrer Rückkehr nach Pakistan bejahen müßte. Ob hinsichtlich der durch die
strafrechtlichen Verbote erfolgten asylerheblichen Einschränkung der
Religionsfreiheit der Ahmadis seit dem vom Auswärtigen Amt in seinem
Lagebericht Pakistan vom 10. 2.1993 (Stand: 1.1.1993) erwähnten Urteil des
Obersten Bundesgerichts, in dem den Ahmadis das Recht zugestanden worden
sein soll, von der muslimischen Bevölkerungsmehrheit benutzte religiöse
Alltagsfloskeln ebenfalls zu gebrauchen, eine in diesem Sinne
entscheidungserhebliche Verbesserung der Lage der Ahmadis in Pakistan
eingetreten ist, ist sehr zweifelhaft, kann hier aber dahinstehen, da jedenfalls
hinsichtlich der vom Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrundegelegten
Gefahr mittelbarer staatlicher Verfolgung insbesondere in der Provinz Punjab, der
Heimatregion des Klägers und seiner Ehefrau, eine deutliche und nachhaltige
Veränderung der Verfolgungssituation der Ahmadis nicht erkennbar ist. Nach wie
vor kommt es nach den jüngsten Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vgl.
Lagebericht Pakistan vom 30.11.1992 - Stand: 1.10.1992 - und vom 10.2.1993)
insbesondere in der Provinz Punjab immer wieder zu gewalttätigen Vorfällen und
strafrechtlicher Verfolgung von Ahmadis, wobei sie häufig nicht von der Polizei vor
Gewalttätigkeiten geschützt werden, und werden Ahmadis immer wieder Opfer
staatlicher Willkür oder vom Staat nicht ausreichend geschützt.
Für den demnach gemäß § 26 AsylVfG als Asylberechtigten anzuerkennenden
Kläger ist jedoch von einer Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG gemäß § 31 Abs. 4 AsylVfG abzusehen, weil anderenfalls insoweit eine
materielle Prüfung erforderlich wäre und dadurch der mit der Gewährung des
sogenannten Familienasyls bezweckte Vereinfachungs- und
Beschleunigungszweck vereitelt würde.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat die Kosten des
Berufungsverfahrens gemäß § 154 Abs. 2 VwGO zu tragen, weil sein Rechtsmittel
ohne Erfolg geblieben ist.
Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung
und über die Abwendungsbefugnis des Berufungsklägers ergeben sich aus § 167
VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Revision ist gemäß § 132 Abs. 2 VwGO nicht zuzulassen, weil sich die
Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfragen ohne weiteres aus dem Gesetz
ergibt und diese deshalb nicht grundsätzlich klärungsbedürftig sind und weil die
Entscheidung auch nicht von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.