Urteil des HessVGH vom 04.03.1991

VGH Kassel: vorläufiger rechtsschutz, aufenthaltserlaubnis, aufschiebende wirkung, öffentliches interesse, ausreise, verfügung, visum, einreise, ausländer, rückwirkung

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
6. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 TH 88/91
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 1 S 2 AuslG vom
28.04.1965, § 21 Abs 3 S 1
AuslG vom 28.04.1965, §
80 Abs 5 VwGO, § 69 Abs 2
S 2 Nr 1 AuslG 1990
(Vorläufiger Rechtsschutz gegen Versagung der
Aufenthaltserlaubnis nach Inkrafttreten des neuen AuslG -
keine Rückwirkung)
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 5. Juli 1990 gegen die
ausländerrechtliche Verfügung der Antragsgegnerin vom 21. Juni 1990, durch die
die Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 26. Juni 1985 und vom 7.
Mai 1986 abgelehnt, die Antragstellerin zur Ausreise aufgefordert und ihr eine Frist
zur freiwilligen Ausreise von sechs Wochen ab Zustellung der Verfügung gesetzt
sowie für den Fall der nicht freiwilligen Ausreise ihre Abschiebung angedroht wurde,
zu Recht abgelehnt.
Die angefochtene Entscheidung erweist sich auch nach Inkrafttreten des Gesetzes
zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) in der
Fassung des Änderungsgesetzes vom 12. Oktober 1990 (BGBl. I S. 2170), das der
Senat hier als das zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung
geltende Recht zugrunde zu legen hat, als zutreffend.
Der von der Antragstellerin gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung ihres
Widerspruchs, soweit sich dieser gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom
21. Juni 1990 richtet, durch die die von der Antragstellerin beantragte
Aufenthaltserlaubnis versagt worden ist, gemäß § 80 Abs. 5
Verwaltungsgerichtsordnung --VwGO-- anzuordnen, ist auch nach Inkrafttreten des
obengenannten Gesetzes, das in seinem Artikel 1 das Gesetz über die Einreise
und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz 1990 --
AuslG 1990--) enthält, zulässig, insbesondere statthaft. Aufgrund des § 21 Abs. 3
Satz 1 des Ausländergesetzes in der bis zum 31. Dezember 1990 geltenden
Fassung --AuslG 1965-- hatte die Antragstellerin allein durch die Beantragung der
Aufenthaltserlaubnis kraft Gesetzes eine Rechtsstellung erlangt, die ihren
Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Entscheidung der
Ausländerbehörde über die beantragte Aufenthaltserlaubnis zuließ. Wegen dieser
Fiktion des erlaubten Aufenthalts des Ausländers war bei der erstmaligen
Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis vorläufiger Rechtsschutz regelmäßig über
einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu erlangen
(grundlegend BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 1969 -- I C 5.69 --, BVerwGE 34,
325 <328>; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im
Verwaltungsstreitverfahren, 3. Aufl. 1986, ..., Rdnr. 867 m.w.N.).
Daran ändert sich in Fällen, in denen die Aufenthaltserlaubnis bis zum Ablauf des
31. Dezember 1990 beantragt worden ist, durch die Neuregelung in § 69 Abs. 2
Satz 2 AuslG 1990 nichts. Nach dieser Bestimmung führt der Antrag eines
Ausländers, der beispielsweise unerlaubt eingereist ist, zwar nicht mehr dazu, daß
sein Aufenthalt als erlaubt oder geduldet gilt, bis die Ausländerbehörde über den
Antrag entschieden hat, mit der Folge, daß der Ausländer gemäß § 42 Abs. 1
AuslG 1990 ausreisepflichtig bleibt. Die Regelung in § 69 Abs. 2 AuslG 1990 gilt
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AuslG 1990 ausreisepflichtig bleibt. Die Regelung in § 69 Abs. 2 AuslG 1990 gilt
jedoch nur in Fällen, in denen die Aufenthaltsgenehmigung nach Inkrafttreten der
Neufassung des Ausländergesetzes beantragt wird. Grundsätzlich ist nämlich
davon auszugehen, daß Gesetze vor ihrem Inkrafttreten entstandene
Berechtigungen und Verpflichtungen unberührt lassen, soweit sie diese nicht
ausdrücklich regeln. Da die unter der Geltung des alten Ausländergesetzes
gestellten Anträge auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis weder in § 69 AuslG 1990
noch in den Übergangsvorschriften des 9. Abschnitts des Ausländergesetzes 1990
-- es bedarf keiner Entscheidung, ob die Fortgeltung des fiktiven Bleiberechts nicht
schon aus § 95 AuslG 1990 hergeleitet werden kann -- behandelt werden, ist davon
auszugehen, daß ein aufgrund des § 21 Abs. 3 Satz 1 AuslG 1965 entstandenes
fiktives Bleiberecht nicht durch das Inkrafttreten der Neufassung des
Ausländergesetzes geändert wurde.
Diese Auslegung ist auch aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten. Würde §
69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AuslG 1990 zum Erlöschen vorläufiger Bleiberechte führen,
die vor Inkrafttreten dieser Bestimmung aufgrund des § 21 Abs. 3 Satz 1 AuslG
1965 entstanden sind und über die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen
Ausländergesetzes noch keine bestandskräftige verwaltungsbehördliche
Entscheidung getroffen worden ist, enthielte die Neuregelung eine echte und
damit grundsätzlich verbotene Rückwirkung (vgl. BVerfG, Beschluß vom 31. Mai
1960 -- 2 BvL 4/59 -- BVerfGE 11, 139 <145 f.>; Beschluß vom 11. Oktober 1962 --
1 BvL 22/57 -- BVerfGE 14, 288 <297>). Auf diese Weise würde ein Recht, das an
einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Vorgang (Antrag auf
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach unerlaubter Einreise) anknüpft (vorläufiges
Bleiberecht bis zur Entscheidung über die Aufenthaltserlaubnis gemäß § 21 Abs. 3
Satz 1 AuslG 1965), endgültig entzogen. Dies wäre unzulässig. Infolgedessen
bleiben die nach § 21 Abs. 3 Satz 1 AuslG 1965 mit der Stellung des Antrages auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entstandenen vorläufigen Bleiberechte
bestehen, bis über die Aufenthaltserlaubnis erstmalig entschieden wird, so daß
sich in Fällen dieser Art nichts daran ändert, daß Rechtsschutz auch nach
Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes nur nach § 80 Abs. 5 VwGO gewährt
werden kann, solange die Versagung der Aufenthaltserlaubnis noch nicht
bestands- oder rechtskräftig geworden ist.
Indes kommt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hier nicht in Betracht.
Die Versagung der Aufenthaltserlaubnis sowie die damit verbundene
Ausreiseaufforderung nebst Fristsetzung und die Abschiebungsandrohung sind
nämlich offensichtlich rechtmäßig. Die auf gesetzlicher Anordnung beruhenden
öffentlichen Belange an der sofortigen Vollziehung der durch den angegriffenen
Verwaltungsakt begründeten Ausreisepflicht überwiegen gegenüber den
persönlichen Interessen der Antragstellerin an der vorläufigen Fortdauer ihres
Aufenthaltes im Bundesgebiet, so daß der Rechtsschutzanspruch der
Antragstellerin einstweilen zurückzustellen ist, um unaufschiebbare Maßnahmen
zur Beendigung des Aufenthaltes im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig
in die Wege zu leiten zu können (Hess. VGH, Beschluß vom 21. Dezember 1989 --
12 TH 2820/88 --; BVerfG, Beschluß vom 21. März 1985 -- 2 BvR 1642/83 --,
BVerfGE 69, 220).
Die sachlich und örtlich zuständige Ausländerbehörde hat ihre
Ablehnungsentscheidung zutreffend auf § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG a. F. gestützt.
Danach durfte die Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn die Anwesenheit
des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigte.
Wurde eine Beeinträchtigung von Belangen der Bundesrepublik Deutschland
festgestellt, kam die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht mehr in Betracht. Im
vorliegenden Fall ist eine derartige Belangbeeinträchtigung deshalb zu bejahen,
weil die Antragstellerin spätestens am 1. Juni 1984 einreiste, ohne das dazu
gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 DVAuslG a. F. erforderliche Visum zu besitzen.
Ferner lebte die Antragstellerin über ein Jahr lang illegal in der Bundesrepublik
Deutschland und wurde während dieser Zeit zweimal straffällig, so daß sie auch
den Ausweisungstatbestand nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a. F. erfüllte. Sowohl der
Verstoß gegen Sichtvermerksvorschriften als auch das Vorliegen eines
Ausweisungstatbestands stellen aber eine Beeinträchtigung der Belange der
Bundesrepublik Deutschland dar mit der Folge, daß die erstrebte
Aufenthaltserlaubnis zwingend zu versagen ist (BVerwG, Urteil vom 18. August
1981 -- 1 C 88.76 --, NVwZ 1982, S. 42).
Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich auch nicht unter Zugrundelegung des
Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts, da gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 AuslG
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Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts, da gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 AuslG
1990 die Aufenthaltsgenehmigung selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen eines
Anspruchs zu versagen ist, wenn -- wie hier -- der Ausländer ohne erforderliches
Visum eingereist ist, und -- wird die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung auf §
8 AuslG 1990 gestützt -- gegen diese Versagung vor der Ausreise des Ausländers
Rechtsbehelfe nur darauf gestützt werden können, daß der Versagungsgrund nicht
vorliegt (vgl. § 71 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990), wofür indes nichts vorgetragen ist.
Ist demnach bei der in diesem Verfahren gebotenen summarischen Überprüfung
von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit der Versagung der Aufenthaltserlaubnis
auszugehen, so besteht grundsätzlich auch ein besonderes, die sofortige
Vollziehung rechtfertigendes öffentliches Interesse (BVerfG, Beschluß vom 15.
April 1982 -- 2 BvR 1492/81 --, DÖV 1982, S. 451). Letzteres überwiegt hier
gegenüber den privaten Interessen der Antragstellerin, sich vorläufig bis zum
rechtskräftigen Abschluß des Hauptsacheverfahrens erlaubt im Bundesgebiet
aufhalten zu dürfen. Dieses Ergebnis der in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO
gebotenen Interessenabwägung, die auf der Grundlage der im jetzigen Zeitpunkt
der gerichtlichen Entscheidung gegebenen Tatsachenlage zu treffen ist (Hess.
VGH, Beschluß vom 3. Oktober 1989 -- 12 TH 1239/89 --), ist auch unter
Berücksichtigung des Vorbringens der Antragstellerin im gerichtlichen Eilverfahren
sachgerecht. Die von der Antragstellerin erwähnte Pflegebedürftigkeit ihrer
Schwester und deren Kinder, kann nicht dazu führen, der Antragstellerin auch nur
vorläufig ein weiteres Bleiberecht einzuräumen. Eine etwa erforderliche Pflege der
Schwester der Antragstellerin kann nämlich auch von sonstigen Bekannten der
Schwester der Antragstellerin oder anderen Angehörigen übernommen werden;
dies gilt auch für die Betreuung der Kinder der Schwester der Antragstellerin.
(Notfalls muß sich die Schwester der Antragstellerin in ambulante oder stationäre
Krankenbetreuung einer karitativen Organisation begeben.)
Hinzu kommt, daß zwei Kinder der Antragstellerin noch in Polen leben, so daß bei
einer Rückkehr der Antragstellerin in ihr Heimatland für sie die Möglichkeit besteht,
alsbald wieder Anschluß an ihre dort nach wie vor beheimateten Verwandten zu
finden. Bei der Interessenabwägung darf schließlich nicht unberücksichtigt bleiben,
auf welche Weise die Antragstellerin gegen die in der Bundesrepublik Deutschland
geltende Rechtsordnung verstoßen und das ihr eingeräumte Gastrecht mißbraucht
hat; insoweit wird gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO in der Fassung des Gesetzes
zur Neuregelung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vom 17. Dezember
1990 (BGBl. I S. 2809) auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen
Beschluß des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.
Die mit der Versagung der Aufenthaltserlaubnis verbundene und auf § 13 Abs. 2
AuslG a. F. gestützte Abschiebungsandrohung bleibt gemäß § 95 AuslG 1990 über
den 31. Dezember 1990 hinaus wirksam und ist rechtlich ebenfalls nicht zu
beanstanden. Dies gilt insbesondere für die festgesetzte Ausreisefrist, die
angesichts einer Länge von sechs Wochen ausreichend und angemessen
erscheint, um die für die Rückkehr nach Polen erforderlichen Reisevorbereitungen
zu treffen. Der zwischenzeitliche Ablauf der Ausreisefrist ist ohne rechtlichen
Belang, da die Antragstellerin jedenfalls auch während der gesamten Laufzeit
dieser Frist ausreisepflichtig war. Einer ausdrücklichen Bezeichnung des
Abschiebestaates bedurfte und bedarf es nicht, weil die Antragstellerin
offensichtlich nach Polen abgeschoben werden soll und sie die polnische
Staatsangehörigkeit besitzt. Anhaltspunkte für das Vorliegen von
Abschiebungshindernissen gemäß §§ 51, 53 AuslG 1990 sind weder ersichtlich
noch vorgetragen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.