Urteil des HessVGH vom 11.12.2009

VGH Kassel: aussetzung, gerichtshof für menschenrechte, rechtsnorm, vorfrage, eugh, verwaltungsbehörde, verfahrensökonomie, ermessensfehler, zugang, zustellung

1
2
3
4
Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
6. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 E 2989/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 94 VwGO
(Aussetzung des Verfahrens in Parallelverfahren)
Leitsatz
Eine Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO kommt
nicht allein deshalb in Betracht, weil in einem in der Berufungsinstanz anhängigen
weiteren Verfahren dieselbe oder eine ähnlich gelagerte Rechtsfrage zur Klärung
ansteht.
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts
Frankfurt vom 22. Oktober 2009 - 7 K 1424/09.F - aufgehoben.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt mit ihrer am 25. Mai 2009 erhobenen Klage Einsicht in die
Akten der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) gemäß dem
Informationsfreiheitsgesetz (IFG). Die Akten, in die Einsicht begehrt wird, betreffen
Vorgänge rund um ein aufsichtsrechtliches Verfahren gegen die P. GmbH, deren
Insolvenzverwalter dem Verfahren beigeladen ist.
Mit Schreiben vom 8. Juli 2009 beantragte die Beklagte, das Ruhen des Verfahrens
gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 251 Satz 1 ZPO anzuordnen. Die Frage, ob die zur P.
GmbH vorhandenen Informationen einem Zugangsanspruch nach dem IFG
unterlägen, sei Gegenstand des Berufungsverfahrens eines anderen Klägers beim
Hessischen Verwaltungsgerichtshof (Az. 6 A 1767/09). Die Klägerin sprach sich
hingegen mit Schreiben vom 17. August 2009 gegen ein Ruhen des Verfahrens
aus und führte zur Begründung an, der Rechtsstreit erfasse individuelle Aspekte,
die nicht Gegenstand des anderen Verfahrens seien. Daraufhin beantragte die
Beklagte mit Schriftsatz vom 2. September 2009, das Verfahren analog § 94
VwGO auszusetzen. Die Rechtsfrage, ob dem mit der Klage begehrten
Informationszugang Ausschlussgründe entgegenstünden, sei Gegenstand des
genannten Berufungsverfahrens.
Mit Beschluss vom 3. September 2009 lud das Verwaltungsgericht den
Insolvenzverwalter der P. GmbH dem Verfahren gemäß § 65 Abs. 2 VwGO bei und
teilte den Beteiligten unter dem 18. September 2009 mit, es beabsichtige, das
Verfahren gemäß § 94 VwGO auszusetzen. Die Klägerin teilte daraufhin am 19.
Oktober 2009 mit, sie stimme einer Aussetzung nicht zu. Ihrer Ansicht nach
betreffe das zitierte Berufungsverfahren vor dem Hessischen
Verwaltungsgerichtshof keine Vorfrage für das von ihr geführte Verfahren.
Mit Beschluss vom 22. Oktober 2009 setzte das Verwaltungsgericht das Verfahren
aus, bis der Hessische Verwaltungsgerichtshof über das Verfahren 6 A 1767/08
entschieden habe. Zur Begründung führte es aus, eine Vorgreiflichkeit im Sinne
des § 94 VwGO liege nicht vor. Es sei jedoch in dem zitierten Berufungsverfahren
5
6
7
8
9
10
11
12
13
des § 94 VwGO liege nicht vor. Es sei jedoch in dem zitierten Berufungsverfahren
eine (für das gegenständliche Verfahren auch) entscheidungserhebliche
Rechtsfrage zu klären, so dass eine analoge Anwendung des § 94 VwGO erfolgen
könne. Eine solche Aussetzung erscheine im Interesse der Verfahrensökonomie
sinnvoll. Die Zustellung des Beschusses erfolgte am 28. Oktober 2009.
Am 11. November 2009 hat die Klägerin Beschwerde gegen den Beschluss vom
22. Oktober 2009 erhoben und trägt zur Begründung vor, die Voraussetzungen
des § 94 VwGO lägen nicht vor und die Vorschrift könne daher auch nicht in
analoger Anwendung zur Begründung der Aussetzung dienen. Zudem habe das
Verwaltungsgericht ausweislich der Begründung des Beschlusses sein Ermessen
nicht bzw. fehlerhaft ausgeübt.
Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 22. Oktober
2009 - 7 K 1424/09.F - aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie führt hierzu aus, in dem als Präzedenzverfahren angesehenen
Berufungsverfahren sei zunächst - unabhängig von der Person des jeweiligen
Antragstellers - zu klären, ob überhaupt ein Recht auf Zugang zu den
vorhandenen Informationen bestehe, was sie gerade bestreite. Sollte dies durch
die Obergerichte hingegen bestätigt werden, werde sie nach pflichtgemäßem
Ermessen die Konsequenzen für den Antrag der Klägerin prüfen. Zudem habe die
Klägerin nicht konkretisiert, inwiefern für sie eine Aussetzung und eine damit
verbundene evt. späte Entscheidung von Nachteil sei. Im Übrigen enthalte der
ergangene Beschluss keine Ermessensfehler.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Aussetzung des Klageverfahrens
findet in § 94 VwGO keine rechtliche Grundlage.
Nach der vorgenannten Bestimmung kann das Gericht anordnen, dass die
Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits u.a. dann auszusetzen
ist, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem
Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den
Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer
Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Die Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit des in
einem anderen Verfahren zur Entscheidung anstehenden Rechtsverhältnisses
steht im Ermessen des Gerichts, dieses hat folglich die Wahl, ob es den bei ihm
anhängigen Rechtsstreit bei Vorgreiflichkeit aussetzt oder die Sache selbst
entscheidet (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., Rdnr. 3 zu § 94 VwGO mit weiteren
Nachweisen). Auf die gegen einen Aussetzungsbeschluss eingelegte Beschwerde
prüft das Beschwerdegericht lediglich das Vorliegen der tatbestandlichen
Voraussetzungen des § 94 VwGO in formeller Hinsicht, jedoch grundsätzlich nicht,
ob das Verwaltungsgericht auf der Basis seiner materiellen Rechtsauffassung zu
Recht eine Vorgreiflichkeit des in einem anderen Verfahren zur Entscheidung
anstehenden Rechtsverhältnisses annehmen durfte (vgl. Bay. VGH, Beschluss
vom 4. Juni 1991 - 8 C 91.1185 -, NVwZ-RR 1992, 334; Rudisile in: Schoch/Schmidt-
Aßmann/Pietzner, VwGO, Rdnr. 41 zu § 94 m.w.N.).
Ein vorgreifliches Rechtsverhältnis nach § 94 VwGO liegt dann vor, wenn die
Entscheidung in einem Rechtsstreit von der Beantwortung einer Vorfrage abhängt,
über die ein anderes Gericht oder eine Verwaltungsbehörde in einem anhängigen
Prozess oder Verfahren zu entscheiden hat. Eine Rechtskraftwirkung dieser
anderen Entscheidung bezüglich des in Frage stehenden Rechtsstreits ist nicht
erforderlich, es genügt jeder rechtslogische Einfluss auf die zu treffende
Entscheidung (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, Rdnr. 4 zu § 94; auch
Hess. VGH, Beschluss vom 27. Juli 1988 - 3 TE 1829/88 -, NJW 1989, 1180). Keine
Vorfrage in diesem Sinne ist die Frage der Rechtsgültigkeit der für die
Entscheidung in dem anhängigen Verfahren maßgeblichen Rechtsnorm sowie die
Frage der Auslegung dieser Bestimmung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.
Dezember 1999 - BVerwG 3 B 55.99 -, Buchholz 310 § 94 VwGO Nr. 13, Urteil vom
11. Februar 2009 - BVerwG 2 A 7.06 -, NVwZ 2009, 787).
14
15
16
17
Der Rechtsstreit darf folglich, wovon auch die Vorinstanz zutreffend ausgegangen
ist, nicht lediglich deshalb nach § 94 VwGO ausgesetzt werden, weil in einem
anderen anhängigen Rechtsstreit über dieselbe oder über eine vergleichbare
Rechtsfrage befunden werden muss. Dies gilt auch dann, wenn in dem anderen
Rechtsstreit über die betreffende Rechtsfrage erstinstanzlich bereits entschieden
wurde und diese Frage nunmehr der Berufungsinstanz - entsprechendes gilt für die
Revisionsinstanz - zur Klärung vorliegt. Auch in diesem Fall ist für eine
Verfahrensaussetzung nach § 94 VwGO kein Raum und zwar, anders als von dem
Verwaltungsgericht angenommen, auch nicht über eine entsprechende
Anwendung der Bestimmung (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.
Januar 2009 - 4 E 1358/08 -, OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. Dezember
2008 - 1 O 153/08, VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. Mai 1998 - 14 S
812/98 -, jeweils Juris; Bay.VGH, Beschluss vom 4. Juni 1991 - 8 C 91.1185 -, NVwZ-
RR 1992, 334).
Eine analoge Anwendung des § 94 VwGO wird bei einer Aussetzung zum Zwecke
der Vorlage der für den Rechtsstreit maßgeblichen Rechtsfrage an ein
Verfassungsgericht - im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO gilt insoweit die
Spezialregelung in § 47 Abs. 4 VwGO -, an den Europäischen Gerichtshof (EuGH),
an den Großen Senat des Bundesverwaltungsgerichts bzw. des jeweiligen
Oberverwaltungsgerichts oder an den Gemeinsamen Senat der obersten
Gerichtshöfe des Bundes für möglich erachtet. Eine entsprechende Anwendung
des § 94 VwGO wird ferner dann befürwortet, wenn die für die Entscheidung im
betreffenden Verwaltungsstreitverfahren bestimmende Rechtsnorm in einem
Normenkontrollverfahren zur Klärung ansteht oder wenn die maßgebliche
Rechtsnorm dem EuGH oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
zur Überprüfung vorliegt (vgl. zum Vorstehenden etwa Hess. VGH, Beschluss vom
12. Februar 2008 - 7 A 165/08 -, ZfWG 2008, 149; Bay. VGH, Beschlüsse vom 2.
Juni 2009 - 7 C 09.887 - und vom 9. September 2009 - 19 BV 09.3 -, jeweils Juris;
Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., Rdnr. 4a zu § 94 VwGO, Rennert in: Eyermann,
VwGO, 12. Aufl. 2006, Rdnr. 5 zu § 94). Mit diesen Verfahrenskonstellationen ist
der hier in Rede stehende Fall, dass eine alsbaldige Klärung der maßgeblichen
Rechtsfrage durch das Berufungsgericht zu erwarten ist, nicht vergleichbar.
In den anerkannten Fällen einer Aussetzung des Verfahrens in entsprechender
Anwendung von § 94 VwGO liegt es im wohlverstandenen Interesse aller
Beteiligten, dass in dem Rechtsstreit keine Entscheidung getroffen wird, die mit
einer demnächst zu erwartenden, für das Verwaltungsgericht bindenden (vgl. § 47
Abs. 5 Satz 2 VwGO bezüglich des landesrechtlichen Normenkontrollverfahrens)
Entscheidung eines der oben genannten übergeordneten Gerichte in Widerspruch
steht. Eine solche Bindungswirkung entfaltet die Entscheidung des
Berufungsgerichts indessen nicht. Der von dem Verwaltungsgericht angeführte
Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie allein rechtfertigt eine Aussetzung des
Verfahrens womöglich gegen den Willen der Beteiligten oder eines der Beteiligten
nicht. Auch in dem Fall einer alsbald zu erwartenden Klärung der für den
Rechtsstreit wesentlichen Rechtsfrage in einem Berufungsverfahren liegt es
vielmehr allein in der Hand der Beteiligten, ob sie mit Rücksicht hierauf mit einer
Entscheidung in ihrem Verfahren zuwarten und es dem Verwaltungsgericht durch
Anträge auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens (§ 173 VwGO in Verbindung
mit § 251 ZPO) ermöglichen, die Entscheidung des Berufungsgerichts mit
einzubeziehen, oder ob ihnen daran gelegen ist, dass das Verwaltungsgericht
möglichst bald in dem Verfahren entscheidet und sich, ggf. auf der Basis neuer
rechtlicher Argumente oder mit Rücksicht auf tatsächliche Besonderheiten des
Falles, erneut mit der Rechtsfrage befasst.
Nichts anderes gilt, wenn es sich um eine Serie gleich oder im wesentlichen gleich
gelagerter Fälle handelt, in denen das Verwaltungsgericht eines dieser Verfahren
als "Musterverfahren" behandelt und vorab entschieden hat, um eine
schnellstmögliche Entscheidung des Berufungsgerichts zu ermöglichen. Diese
Verfahrenskonstellation ist durch § 93a VwGO abschließend dahingehend geregelt,
dass eine Verfahrensaussetzung erst dann erfolgen darf, wenn es sich um mehr
als zwanzig dieser gleich gelagerten Verfahren handelt. Dies schließt es
grundsätzlich aus, bei anderen Parallelverfahren, die diese Voraussetzungen nicht
erfüllen, auf eine analoge Anwendung von § 94 zurückzugreifen; anderenfalls
würde die in § 93a VwGO zum Ausdruck kommende gesetzliche Wertung
unterlaufen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15. Januar 2009 - 4 E
1358/08 -, Juris; Rudisile a.a.O., § 94 Rdnr. 43).
18
19
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da es im vorliegenden Verfahren keinen
unterliegenden Beteiligten gibt und Gerichtskosten nicht entstanden sind (Nr.
5502 des Kostenverzeichnisses, Anl. 1 zu § 3 Abs. 2 GKG). Das
Beschwerdeverfahren über die Aussetzung eines Verfahrens nach § 94 VwGO stellt
ein nichtstreitiges Zwischenverfahren dar, in dem sich die Beteiligten nicht als
Gegner gegenüberstehen; dies gilt auch dann, wenn einer der Beteiligten - wie hier
- einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gestellt hat (Hess. VGH, Beschluss
vom 15. Januar 2004 - 4 TG 3441/03 -, ESVGH 54, 149).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.