Urteil des HessVGH vom 12.10.1990

VGH Kassel: behörde, abschiebung, verfügung, besitz, ghana, ausreise, auslandsvertretung, asylbewerber, rechtswidrigkeit, ermessen

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
13. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
13 TH 2545/90
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 10 Abs 2 AsylVfG
(Berücksichtigung besonderer Umstände - hier:
Beschaffung eines Reisedokuments - bei der Bemessung
der Ausreisefrist seitens der Ausländerbehörde)
Leitsatz
Ist der Asylbewerber nicht im Besitz eines Reisepasses seines Heimatlandes oder
gleichwertiger Ersatzdokumente und steht zu erwarten, daß die Beschaffung der
Reisedokumente bei der Auslandsvertretung des Heimatstaates - etwa durch
notwendig werdende Rückfragen bei den Behörden im Herkunftsland zur Feststellung
der Identität des Ausländers - einige Zeit in Anspruch nehmen
wird, ist dies von der Ausländerbehörde bei der von ihr zu treffenden
Ermessensentscheidung über die Länge der Ausreisefrist gem. § 10 Abs. 2 AsylVfG zu
berücksichtigen.
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet.
Das Verwaltungsgericht hätte seinem gem. § 10 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG rechtzeitig
gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der zeitgleich
erhobenen Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsandrohung des Landrats
des Main-Kinzig-Kreises vom 22. März 1990 entsprechen müssen. Diese
Verfügung erweist sich bei zutreffender rechtlicher Würdigung als offensichtlich
rechtswidrig mit der Folge, daß das öffentliche Vollzugsinteresse hinter dem
Interesse des Antragstellers an einem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik
Deutschland zurückzutreten hat.
Die Rechtswidrigkeit der angefochtenen ausländerbehördlichen Verfügung vom 22.
März 1990 folgt - ungeachtet der Frage, ob in der Begründung des Bescheides der
von dem Antragsteller gestellte Asylfolgeantrag gem. § 14 Abs. 1 AsylVfG zu Recht
als unbeachtlich eingestuft wurde - schon daraus, daß die Behörde das ihr bei der
Bemessung der Ausreisefrist eingeräumte Ermessen in rechtsfehlerhafte Weise
ausgeübt hat.
Gemäß § 10 Abs. 2 AsylVfG hat die Ausländerbehörde, wenn der Asylantrag gem.
§ 7 Abs. 2 und 3 bzw. gem. § 14 Abs. 1 AsylVfG unbeachtlich und der Ausländer
nach § 10 Abs. 1 AsylVfG zur unverzüglichen Ausreise verpflichtet ist, diesem unter
Fristsetzung die Abschiebung anzudrohen. Über die Länge der Ausreisefrist hat die
Ausländerbehörde nach ihrem Ermessen zu befinden. Die Frist zur Ausreise ist
dabei grundsätzlich so ausreichend zu bemessen, daß der Ausländer unter
Berücksichtigung seiner individuellen Verhältnisse in die Lage versetzt wird, seiner
Ausreisepflicht freiwillig nachzukommen (OVG Rheinland-Pfalz, Beschluß vom 17.
April 1985 - 11 B 64/85 -, InfAus1R 1985, 162 <163>;
Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, Stand: 8. Januar 1988, Anmerkung 111
zu § 10 AsylVfG). Die Ausländerbehörde hat deshalb bei Festlegung der
Ausreisefrist im Einzelfall vor allem bestehende berufliche und familiäre
Bindungen, besondere Schwierigkeiten bei der Auflösung des Haushalts und bei
der Abwicklung des Arbeitsverhältnisses sowie bei der Erledigung von
Paßformalitäten und bei der Beschaffung etwaiger Durchreisevisa von Drittländern
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Paßformalitäten und bei der Beschaffung etwaiger Durchreisevisa von Drittländern
in Rechnung zu stellen (Hess. VGH., Beschluß vom 30. November 1983 - 10 R
109/83 -, ESVGH 34, 99 <102>).
Hieraus folgt, daß die Behörde bei der Bemessung der Ausreisefrist einen über die
übliche Vorbereitungszeit hinausgehenden Zeitraum einkalkulieren muß, wenn der
Asylbewerber, wie im vorliegenden Fall, nicht im Besitz eines durch Behörden
seines Heimatlandes ausgestellten Passes oder gleichwertiger Ausweispapiere ist
und auch nicht über sonstige amtliche Dokumente (z. B. Dienst- oder
Militärausweis) aus dem Heimatstaat verfügt, mit deren Hilfe er der
Auslandsvertretung seines Heimatlandes in der Bundesrepublik Deutschland seine
Identität ohne weiteres nachweisen könnte. In einem solchen Fall muß nämlich
damit gerechnet werden, daß die Botschaft die Ausstellung der für die Rückkehr
erforderlichen Reisedokumente von einer zweifelsfreien Feststellung der Identität
des Ausländers abhängig machen wird, die im Regelfall eine Rückfrage bei den
Heimatbehörden erfordert (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluß vom 25. Juli 1989 -
13 B 54/89 -).
Diesen Besonderheiten hat die Ausländerbehörde vorliegend nicht Rechnung
getragen, obwohl sich aus den Mitteilungen des Grenzschutzamtes Frankfurt am
Main (Blatt 138 und 139 der Ausländerakten) eindeutig ergibt, daß der
Antragsteller ohne Paß eingereist ist und offensichtlich auch nicht über sonstige,
seine Identität bezeugende Ausweispapiere aus Ghana verfügt. Die Behörde hat
dem Antragsteller vielmehr zur Ausreise eine äußerst knapp bemessene Frist von
einer Woche nach Zustellung der Verfügung gesetzt. Diese Frist mag bei einem in
einer Gemeinschaftsunterkunft untergebrachten Asylantragsteller, der im Besitz
gültiger Reisepapiere seines Heimatlandes ist, im Regelfall genügen, um -
gegebenenfalls mit Hilfe der Ausländerbehörde die erforderlichen
Ausreiseformalitäten (Buchung eines Fluges, Besorgung von Durchreisevisa von
Drittländern) zu erledigen. Die Wochenfrist ist jedoch von vornherein als
unzureichend zu betrachten, wenn darüberhinaus - wie im Fall des Antragstellers
bei der Auslandsvertretung Reisedokumente beschafft werden
müssen, deren Ausstellung nach den erkennbaren Umständen einige Zeit in
Anspruch nehmen wird (vgl. den zitierten Beschluß des OVG Rheinland-Pfalz vom
25. Juli 1989, das bei einem paßlosen ghanaischen Asylbewerber, der seine
Identität durch ein Militärausweis nachweisen konnte, eine Ausreisefrist von zwei
Wochen als noch angemessen ansieht).
Die Ausländerbehörde hat sich in dem angefochtenen Bescheid vom 22. März
1990 zur Begründung der Fristsetzung darüberhinaus auf die Feststellung
beschränkt, dem Antragsteller sei es zuzumuten, innerhalb der gesetzten Frist
auszureisen, weil er in der Hessischen Gemeinschaftsunterkunft für ausländische
Flüchtlinge in Schöneck wohne, somit weder gegenüber einem Vermieter noch
gegenüber einem Arbeitgeber Kündigungsfristen einzuhalten habe, und auch keine
sonstigen Anhaltspunkte ersichtlich seien, die die Einräumung einer längeren
Ausreisefrist gebieten würden. Diese Ausführungen machen deutlich, daß es der
Behörde entweder nicht aufgefallen ist, daß der Antragsteller nicht im Besitz eines
Reisepasses oder eines gleichwertigen Ausweispapieres ist oder diesen Umstand
jedenfalls nicht das ihm im vorliegenden Fall bei der Festsetzung der Ausreisefrist
zukommende Gewicht beigemessen hat.
Eine andere Einschätzung ist auch nicht deshalb angezeigt, weil sich die
Ausländerbehörde in der streitgegenständlichen Verfügung vorbehalten hat, "bei
Vorliegen gewichtiger Gründe" die Ausreisefrist auf Antrag zu verlängern. Es gibt
keinen Hinweis darauf, daß die Behörde diesen allgemein-formulierten Vorbehalt
auch oder gerade deshalb aufgenommen hat, weil sie sich des Umstandes bewußt
war, daß die Besorgung der für die Rückkehr des Antragstellers nach Ghana
notwendigen Dokumente eine über die Wochenfrist hinausgehende Zeitspanne in
Anspruch nehmen könnte und deshalb gegen eventuell hierdurch bedingte
Verzögerungen Vorsorge treffen wollte.
Die Berücksichtigung der im Fall des Antragstellers vorliegenden Besonderheiten
bei der Bewältigung der Ausreiseformalitäten ist auch nicht deshalb von vornherein
entbehrlich, weil der Antragsteller keinen plausiblen Grund für das Zurücklassen
seines Passes in Ghana angegeben hat, so daß nach den vorliegenden
Umständen davon auszugehen ist, daß er das Fehlen der für die Rückreise
notwendigen Reisedokumente selbst zu vertreten hat. Die Entscheidung der
Ausländerbehörde über die Festsetzung der Ausreisefrist hat sich allein danach
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Ausländerbehörde über die Festsetzung der Ausreisefrist hat sich allein danach
auszurichten, welchen Zeitraum der Ausländer nach den vorliegenden individuellen
Gegebenheiten benötigen wird, um der Ausreisepflicht freiwillig nachzukommen.
Ein im Einzelfall vorliegendes Eigenverschulden des Ausländers kann nicht dazu
führen, eine aus objektiver Sicht notwendige Ausreisefrist - etwa um einen
Mißbrauch in vergleichbaren Fällen vorzubeugen - zu verkürzen. Anderenfalls
würde der der gesetzlichen Regelung zugrundeliegende Zweck, es dem
betreffenden Ausländer durch die Festsetzung einer angemessen Ausreisefrist zu
ermöglichen, der Ausreisepflicht freiwillig nachzukommen, verfehlt.
Entgegen der aus den Gründen des erstinstanzlichen Beschlusses zum Ausdruck
kommenden Auffassung des Verwaltungsgerichtes kommt dem Umstand, daß der
Antragsteller nach Zustellung der Abschiebungsandrohung offensichtlich keine
Anstrengungen unternommen hat, um bei der ghanaischen Botschaft in der
Bundesrepublik Deutschland einen Reisepaß oder ein gleichwertiges
Reisedokument zu beantragen, schon deshalb keine entscheidungserhebliche
Bedeutung zu, weil die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung der
Ausländerbehörde gem. § 10 Abs. 2 AsylVfG allein nach der Sach- und Rechtslage
zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung zu beurteilen ist (vgl. zum
entsprechenden Fall der Abschiebungsandrohung gem. § 28 Abs. 1 AsylVfG:
BVerwG, Urteil vom 3. November 1987 - 9 C 254.86 -, BVerwGE 78, 243
<246>; Beschluß vom 11. April 1989 - 9 C 60.88 -, BVerwGE 82, 1 <5>),
so daß spätere Ereignisse an der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der
ausländerbehördlichen Verfügung nichts ändern können.
Der Senat vermag schließlich auch nicht der - offenbar auch von dem
Verwaltungsgericht geteilten - Meinung beizupflichten, das Fehlen der für die
Rückkehr ins Heimatland notwendigen Ausweispapiere brauche von der
Ausländerbehörde bei der Bemessung der Ausreisefrist gem. § 10 Abs. 2 AsylVfG
nicht berücksichtigt zu werden; dieser Umstand könne lediglich dazu führen, daß
die Abschiebung nicht durchgesetzt werden könne bzw. gegen den Ausländer
keine Abschiebehaft verhängt werden dürfe (Gemeinschaftskommentar zum
AsylVfG, a.a.O.). Bei der Abschiebungsandrohung gem. § 10 Abs. 2 AsylVfG
handelt es sich um eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung (vgl. BVerwG,
Urteil vom 29. April 1983 - 1 C 5.83 -, EZAR 221 Nr. 20; Heilbronner,
Ausländerrecht, 2. Aufl., Rdnr. 1530). Die Ausländerbehörde hat deshalb bei Erlaß
der Abschiebungsandrohung sowie bei der Festsetzung der hiermit verbundenen
Ausreisefrist grundsätzlich sämtliche Umstände zu berücksichtigen, die dem
Vollzug der Abschiebung entgegen stehen könnten. Hierbei hat sie entweder von
der Androhung der Abschiebung vorerst gänzlich Abstand zu nehmen oder aber -
bei voraussichtlich kurzfristig entfallenden oder behebbaren
Abschiebungshindernissen - eine hierauf abgestimmte Ausreisefrist festzusetzen.
Weshalb gerade das Fehlen der notwendigen Reisedokumente bei der Bemessung
der Ausreisefrist außer Betracht bleiben und erst bei der Durchführung der
Abschiebung selbst Berücksichtigung finden soll, ist nicht ersichtlich.
Da die Beschwerde des Antragstellers Erfolg hat und dem Eilantrag des
Antragstellers gemäß § 80 Abs. 5 VwG0 mithin entsprochen wird, wird die
Entscheidung der Ausländerbehörde unwirksam; zugleich ist der Asylantrag
unverzüglich dem Bundesamt zuzuleiten (§ 10 Abs. 4 AsylVfG). Dabei kommt der
Frage, ob sich der Asylfolgeantrag des Antragstellers tatsächlich als unbeachtlich
erweist, weil es - wovon Ausländerbehörde und Verwaltungsgericht
übereinstimmend ausgegangen sind - möglicherweise an der schlüssigen und
substantiierten Darlegung eines Wiederaufnahmegrundes gem. §§ 14 Abs. 1
AsylVfG, 51 Abs. 1 VwVfG fehle, keine rechtserhebliche Bedeutung zu. Die
eindeutige und speziell für das Eilverfahren geschaffene Regelung des § 10 Abs. 4
AsylVfG sieht eine Weiterleitung des Asylfolgeantrages in allen Fällen vor, in denen
dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwG0 zu entsprechen ist, unabhängig davon, ob der
Eilantrag z. B. wegen Beachtlichkeit des Folgeantrags oder bereits aus anderen
Gründen (z. B. Tätigwerden einer örtlich unzuständigen Behörde, keine
Ermessensbetätigung bei der Ausreisefristsetzung oder unterbliebene
Überprüfung eines Abschiebungshindernisses nach § 14 AuslG) erfolgreich ist
(Hess. VGH, Beschluß vom 30. Mai 1989 - 12 TH 4051/88 -, Beschluß vom 22.
August 1990 - 13 TH 577/90 -).
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Antragsgegner als unterliegender
Teil zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwG0).
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus den §§ 14 Abs. 1 - analog -, 13 Abs. 1, 20
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Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus den §§ 14 Abs. 1 - analog -, 13 Abs. 1, 20
Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 25 Abs. 2 Satz 2
GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.