Urteil des HessVGH vom 14.05.1986

VGH Kassel: hessen, cousin, widerspruchsverfahren, alter, onkel, ermessensfehlgebrauch, behörde, vorrang, meldung, organisation

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
10. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 TH 291/86
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 22 Abs 6 S 1 AsylVfG, §
22 Abs 2 AsylVfG
(Ermessensgesichtspunkte bei der Verteilung von
Asylbewerbern)
Gründe
Die Beschwerde der Antragsteller - es handelt sich um ein der jezidischen
Glaubensgemeinschaft angehörendes Ehepaar aus der Türkei mit fünf Kindern im
Alter zwischen einem und 12 Jahren - ist zulässig und in dem aus dem Tenor
ersichtlichen Umfang begründet.
Es kann zwar bei der hier im Eilverfahren allein möglichen summarischen
Überprüfung der Zuweisungsentscheidung des Notaufnahmelagers Gießen vom 7.
November 1985 nicht festgestellt werden, daß diese eindeutig rechtmäßig oder
offenbar rechtswidrig ist; eine Abwägung der Interessen der Beteiligten ergibt
jedoch, daß den Begehren der Antragsteller, sich in Hessen aufzuhalten, für die
Zeit bis zur Entscheidung über ihren Widerspruch Vorrang gebührt gegenüber dem
öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung des Vollzugs der
Zuweisungsentscheidung vom 7. November 1985; aufgrund der sich die
Antragsteller derzeit in Baden-Württemberg befinden.
Ob diese Zuweisungsentscheidung der Nachprüfung im Widerspruchsverfahren
standhalten wird, erscheint dem Senat offen. Es bestehen allerdings keine
durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Ausgestaltung des in
§ 22 Abs. 2 bis 8 und Abs. 10 AsylVfG geregelten länderübergreifenden
Verteilungsverfahrens und gegen die Bestimmung des Notaufnahmelagers Gießen
als zuständige Behörde für den Erlaß länderübergreifender
Zuweisungsentscheidungen (vgl. dazu im einzelnen Hess. VGH, EZAR 228 Nr. 5 m.
w, N.). Darüber hinaus ist die angegriffenen Zuweisungsentscheidung offenbar
auch nicht verfahrensfehlerhaft zustandegekommen oder sonst aus formellen
Gründen rechtswidrig. Insbesondere sind die Antragsteller, obwohl dies nicht
notwendig war, vor Erlaß der Zuweisungsentscheidung angehört worden. Auch läßt
der Bescheid die Verteilung der Antragsteller von Hessen nach Baden-
Württemberg und deren Verpflichtung zur Meldung bei der Zentralen Anlaufstelle
in Karlsruhe eindeutig erkennen. Letztendlich ist aber nicht abzusehen, ob die
Zuweisungsentscheidung im Widerspruchsverfahren zu bestätigen sein wird. Es
erscheint nämlich nicht sicher, daß sich die Entscheidung, die Antragsteller dem
Land Baden-Württemberg zuzuweisen, unter Berücksichtigung der von den
Antragstellern vorgebrachten - teilweise erst nachträglich substantiiert -
persönlichen Belange im Widerspruchsverfahren als rechtsfehlerfrei und auch als
zweckmäßig erweisen wird. Es handelt sich zwar bei den geltend gemachten
Beziehungen zu einem Cousin, einer Cousine und einem Onkel des Antragstellers
bzw. der Antragstellerin formell nicht um Verwandtschaftsverhältnisse der in § 22
Abs. 6 Satz 1 AsylVfG genannten Art; es ist aber durchaus möglich, daß die
Antragsteller auf diese Personen aufgrund ihrer derzeitigen persönlichen Situation
in ähnlicher Weise angewiesen sind, wie dies bei den in der genannten Vorschrift
bezeichneten verwandtschaftlichen Beziehungen der Fall ist. Zwar erscheint es
zweifelhaft, ob die im Schriftsatz vom 7. Januar 1986 geschilderten Vorfälle in
Horb, dem derzeitigen Wohnsitz der Antragsteller, im vorliegenden Verfahren
berücksichtigt werden können. Auch kann aus den insoweit nicht hinreichend
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berücksichtigt werden können. Auch kann aus den insoweit nicht hinreichend
substantiierten Darlegungen der Antragsteller hinsichtlich der Praxis des
Antragsgegners bei anderen Zuweisungsentscheidungen nicht auf einen
Ermessensfehlgebrauch im vorliegenden Fall geschlossen werden. Entscheidend
ist vielmehr, daß die Antragsteller das Bestehen enger verwandtschaftlicher
Beziehungen zu ihren im Gießener Raum lebenden Verwandten glaubhaft gemacht
haben. Diese sind offenbar bereit und in der Lage, den Antragstellern, die sich erst
seit wenigen Monaten in der Bundesrepublik Deutschland befinden, wirksam ideell
und materiell zu helfen. Ohne diese Unterstützung sind die Antragsteller
weitgehend isoliert und befinden sich als Familie mit fünf teilweise noch sehr
kleinen Kindern in einer äußert schwierigen Situation. Hinzu kommt, daß den
Antragsteller mit seinem Cousin, mit, dem er zusammen aufgewachsen ist, ein
besonders enges Verhältnis verbindet; beide haben nach den Angaben der
Antragsteller in der Organisation KAWA zusammengearbeitet. Im weiteren
Verfahren kann von Bedeutung sein, ob der Antragsteller dasselbe tatsächliche
Verfolgungsschicksal erlitten hat wie sein Cousin und er nunmehr infolge der
Verteilung sozusagen aus einer Verfolgungs- und Fluchtgemeinschaft
herausgenommen und mit zusätzlichen Schwierigkeiten belastet wird, die
vermeidbar sein können (vgl. Hess. VGH, EZAR 228 Nr. 5). Schließlich ergibt sich
eine enge verwandtschaftliche Beziehung zu der bereits erwähnten Cousine
daraus, daß diese nach dem Tod ihres Vaters in der Familie des Antragstellers
aufgewachsen ist.
Hingegen ist bisher vom Antragsgegner in keiner Weise substantiiert vorgebracht
worden, welche öffentlichen Interessen die Zuweisung der Antragsteller nach
Baden-Württemberg gebieten und einer Beachtung ihrer privaten Belange
entgegenstehen. Dies wäre hier jedoch notwendig gewesen, nachdem die
Antragsteller ihrerseits ein Verhältnis schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht
haben, das rechtlich und tatsächlich den durch § 22 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG erfaßten
familiären Beziehungen ähnelt. Wie der Senat bereits in dem Beschluß vom 25.
September 1985 - 10 TH 1562/85 - (EZAR 228 Nr. 5) zu einem ähnlich gelagerten
Fall ausgeführt hat, bedarf es, wenn Asylbewerber aus Hessen in ein anderes
Bundesland umverteilt werden müssen, weil sonst der Schlüssel des § 22 Abs. 2
AsylVfG nicht einzuhalten ist, der Darlegung, daß beim Ausgleichen eines
Ungleichgewichts zwischen den beteiligten Ländern die Trennung des jeweiligen
Asylbewerbers von Bezugspersonen der in § 22 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG genannten
oder einer ähnlichen Art nicht zu vermeiden ist; hierzu wäre es notwendig, die bei
der Verteilung angewandten Kriterien (wie etwa Nationalität, Geschlecht, Alter,
Verfolgtengruppe o. ä.) bekanntzugeben und zu erläutern. Einer derartigen
Begründung der Verteilungsentscheidung bedarf es nicht allgemein, sie ist aber
erforderlich, wenn der Tatbestand des § 22 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG oder ein
ähnliches Verhältnis vorliegt und bei der Ermessensentscheidung nicht außer acht
gelassen werden darf (vgl. auch den Beschluß des Senats vom 22.4.1985 - 10 TH
952/86 -).
Da nach alledem der Ausgang des Widerspruchsverfahrens offen erscheint,
überwiegt nach Überzeugung des Senats das private Interesse der Antragsteller
bis zur Entscheidung des Widerspruchs das öffentliche Interesse an der
Aufrechterhaltung des Vollzugs der Zuweisung. Denn die den Antragstellern bei
einem weiteren Aufenthalt außerhalb Hessens entstehenden Nachteile sind ihnen
weniger zumutbar als dem Antragsgegner die vorläufige Aufhebung der
Vollziehung der Zuweisungsentscheidung.
Die Entscheidungen über die Kosten des gesamten Verfahrens und den
Beschwerdewert ergeben sich aus § 155 Abs. 1 VwGO und §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3
GKG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.