Urteil des HessVGH vom 15.10.2004

VGH Kassel: markt, firma, zahl, wohnhaus, versorgung, gebäude, rechtswidrigkeit, öffentlich, grundstück, stadt

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
3. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 TG 2938/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 34 Abs 1 BauGB, § 11
Abs 3 BauNVO, § 12 Abs 2
BauNVO, § 15 Abs 1 S 2
BauNVO
(Kein Gebietserhaltungsanspruch bei Gemengelage)
Leitsatz
In einer Gemengelage von Wohnen und Gewerbe kann ein Nachbar baunachbarrechtlich
nicht mit Erfolg gegen einen typischen Lidl-Markt mit 700 qm Verkaufsfläche vorgehen.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts
Frankfurt am Main vom 30. August 2004 - 6 G 3264/04 (V) - wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller haben die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen je zur Hälfte zu tragen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 12.500,00 € festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragsteller hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat
den gemäß § 80 a VwGO gestellten Eilantrag auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung des Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung
vom 23. Juni 2004 für einen Lidl-Markt zu Recht abgelehnt.
Die Antragsteller können sich in dem streitbefangenen Bereich in der unbeplanten
Ortslage von C-Stadt-xxx bezogen auf die Art der baulichen Nutzung nicht mit
Erfolg auf einen Gebietserhaltungsanspruch berufen. Soweit die Festsetzung von
Baugebieten durch Bebauungspläne kraft Bundesrechts grundsätzlich
nachbarschützende Funktion hat und derselbe Nachbarschutz im unbeplanten
Innenbereich besteht, wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der
Baugebiete der Baunutzungsverordnung entspricht und § 34 Abs. 2 BauGB
anwendbar wird (vgl. dazu BVerwG, U. v. 16.09.1993 - 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151
= NJW 1994, 1546), fehlt es hier an einer eindeutig bestimmbaren Gebietsart nach
der Baunutzungsverordnung. Bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen
Prüfung der Sach- und Rechtslage ist für den maßgeblichen Bereich zwischen der
Hauptstraße und der Straße "Auf der Lück" weder mit den Antragstellern von
einem allgemeinen Wohngebiet noch mit der Beigeladenen von einem Mischgebiet
auszugehen, auch wenn der einschlägige Flächennutzungsplan hier eine M-
Darstellung (gemischte Bauflächen) enthält. Der Senat geht vielmehr von einer
Gemengelage aus, wo gewerbliche Nutzungen unmittelbar auf Wohnnutzung
treffen. Dabei ist insbesondere die nach den Angaben der Antragsteller erst vor
etwa 1 ½ Jahren eingestellte Tätigkeit der Firma Raule auf dem Grundstück xxx
noch als prägend einzubeziehen. Angesichts des verhältnismäßig kurzen
Zeitraums seit der Nutzungsaufgabe dieser Firma könnte an die betriebliche
Tätigkeit im Rahmen des Bestandsschutzes noch in gleicher Weise angeknüpft
werden. Nimmt man die dem Schreiben der Firma xxx vom 23. April 2004
beigefügte Faktenliste mit den zahlreichen Kfz-Arbeiten im Werkstattbetrieb auf
etwa 1200 qm Hallenfläche näher in den Blick, daneben den Werkstattbetrieb der
im Norden benachbarten Kfz-Reparaturwerkstatt mit Spritzerei/Lackiererei des
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im Norden benachbarten Kfz-Reparaturwerkstatt mit Spritzerei/Lackiererei des
"Autohauses Taunus", die von den Antragstellern nicht substantiiert bestritten
worden sind, dürfte es sich um Kfz-Betriebe handeln, die gemäß § 8 Abs. 1
BauNVO in ein Gewerbegebiet gehören. Daneben tritt unverbunden und
unvermittelt ohne Pufferflächen als Übergang Wohnnutzung an der Hauptstraße
und an der Straße "Auf der Lück". Angesichts der große Grundstücksflächen
überspannenden beiden Gewerbebetriebe können diese auch nicht als Ausreißer
bei der maßgeblichen baulichen Prägung der näheren Umgebung, die hier einen
Gebietserhaltungsanspruch nach § 34 Abs. 2 BauGB ausschließt, außer Betracht
bleiben.
Auch sonst steht den Antragstellern öffentlich-rechtlich kein Nachbarschutz zu.
Schon für eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung vom 23. Juni
2004 ist nichts hinreichend dargetan oder im Eilverfahren ersichtlich. Angesichts
einer zuletzt genehmigten Nettoverkaufsfläche von 699,95 qm (Bl. 164 der
Behördenakte - BA -), der die 24 qm für die vor dem Gebäude unter einem
Schutzdach aufgestellten Einkaufswagen nicht hinzuzurechnen sind, liegt kein
großflächiger Einzelhandelsbetrieb vor, der gemäß § 11 Abs. 3 BauNVO nur in
einem Kerngebiet oder in einem festgesetzten Sondergebiet zulässig wäre. So hat
das Bundesverwaltungsgericht seit seinem Urteil vom 22.05.1987 - 4 C 19.85 -
NVwZ 1987, 1076 als Obergrenze für Einzelhandelsbetriebe der wohnungsnahen
Versorgung unter Anerkennung einer gewissen Schwankungsbreite 700 qm
angegeben und diese Orientierungshilfe zuletzt in seinem Beschluss vom
22.07.2004 - 4 B 29.04 - als weiterhin geeignet bezeichnet, die ihr zugedachte
Abgrenzungsfunktion zu erfüllen. Gleichwohl hat das Bundesverwaltungsgericht
ausgeführt, dass bei der Abgrenzung der großflächigen Einzelhandelsbetriebe im
Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO von sonstigen Einzelhandelsbetrieben
Überschreitungen des Verkaufsflächenmaßes von 700 qm selbst dann, wenn sie
eine Größenordnung bis zu 100 qm erreichen, nicht schon für sich genommen zu
dem Schluss zwingen, dass das Merkmal der Großflächigkeit erfüllt sei. Hier
handelt es sich um einen der typischen Lidl-Märkte, die als Discounter nach den
unwidersprochen gebliebenen Angaben der Beigeladenen etwa 1250 Grundartikel
und daneben Obst, Gemüse und Frischfleisch anbieten, was vom Warenangebot
her in Verbindung mit der Verkaufsfläche und der in der Umgebung vorhandenen,
teilweise verdichteten und weiter vorgesehenen Wohnnutzung insgesamt für eine
wohnungsnahe Versorgung durch den streitbefangenen Einzelhandelsbetrieb
spricht. Dabei ist von Bedeutung, dass der bisher bestehende Lidl-Markt in
Rathausnähe aufgegeben und durch den streitbefangenen Markt ersetzt wird.
In die beschriebene Gemengelage fügt sich der Einkaufsmarkt der Beigeladenen
gemäß § 34 Abs. 1 BauGB ein. Er stört das Wohnen in der Umgebung nicht
wesentlich. Dies ergibt sich aus den von der Beigeladenen im
Baugenehmigungsverfahren beigebrachten gutachtlichen Stellungnahmen über
die erwartbare Verkehrs- und Geräuschbelastung. Danach werden zum westlich
gelegenen Wohnhaus der Antragsteller nach der von ihnen nicht ernsthaft in Frage
gestellten Prognose sogar die Richtwerte eines allgemeinen Wohngebiets nach der
TA Lärm nicht überschritten, wenn auch erreicht. Angesichts der Vorbelastung
durch den Verkehrslärm der Hauptstraße und die durch die genannten
Werkstattbetriebe auch gewerblich geprägte Gemengelage überschreiten die
erwartbaren Lärmimmissionen das von den Antragstellern auch im Hinblick auf
das Gebot wechselseitiger nachbarlicher Rücksichtnahme noch Hinzunehmende
nicht, soweit dies im Eilverfahren erkennbar ist. Soweit aus topographischen
Gründen die LKW-Andienung nach Westen zum Wohnhaus der Antragsteller hin
verlegt worden ist, wird der eigentliche Ladebereich an der Rampenöffnung durch
eine Lärmschutzwand abgeschirmt. Ohnehin ist nur mit wenigen
Andienungsvorgängen am Tag zu rechnen. Mithin fällt nicht entscheidend ins
Gewicht, dass der Andienungsbereich auch dem Schlafzimmer der Antragsteller
gegenüberliegt.
Soweit die Antragsteller unter Bezugnahme auf den früheren Eilbeschluss des
Verwaltungsgerichts vom 23.04.2004 - 6 G 378/04 (V) - von einem Umschlag der
Stellplätze von 20 mal je Tag ausgehen und bei 94 genehmigten Stellplätzen von
einer weit größeren Zahl von Pkw-Fahrbewegungen ausgehen als das Gutachten
von Prof. F.-S. vom Juni 2004 mit maximal 640 Pkw, wird dieses Gutachten nicht
substantiiert in Frage gestellt. Seine Annahmen beruhen auf den am früheren
Standort des Lidl-Marktes am Rathaus ermittelten Fahrbewegungen zuzüglich 10
%. Diese Annahme erscheint plausibel und schlüssig, nicht jedoch die Annahme
einer 20-fachen täglichen Benutzung für jeden einzelnen Stellplatz, der dem
Einkaufsmarkt zuzurechnen ist. Dabei sind die Antragsteller auch den Angaben der
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Einkaufsmarkt zuzurechnen ist. Dabei sind die Antragsteller auch den Angaben der
Beigeladenen nicht substantiiert entgegengetreten, dass von den 94 genehmigten
Stellplätzen bereits 23 für sonstige Wohn- und Geschäftsnutzung an der
Hauptstraße vorgesehen ist, womit sich die Zahl der dem Einkaufsmarkt
zurechenbaren Stellplätze nur auf 71 beläuft. Bei alledem hat das
Verwaltungsgericht auf S. 7 und 8 des angefochtenen Beschlusses, worauf der
Senat gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug nimmt, zutreffend dargelegt, dass
die höhere Zahl von Stellplätzen über das Mindesterfordernis von 47 Stellplätzen
nach der städtischen Stellplatzsatzung hinaus keinen Verstoß gegen § 12 Abs. 2
BauNVO darstellt, wie auch das Vorhaben der Beigeladenen mit § 15 Abs. 1 Satz 2
BauNVO vereinbar ist. Insgesamt ist nichts hinreichend dafür ersichtlich, dass
selbst bei gewissen Verkehrszuwächsen über die prognostizierte Annahme hinaus
die Immissionsrichtwerte für Mischgebiete überschritten werden, womit auch den
Vorgaben der Nr. 6.7 der TA Lärm für Gemengelagen Genüge getan ist, wobei dort
vorausgesetzt wird, dass der jeweilige Stand der Lärmminderungstechnik
eingehalten wird. Sollten sich aus der tatsächlichen Nutzung des Einkaufsmarktes
Unzuträglichkeiten zu Lasten der Antragsteller ergeben, ist dem gegebenenfalls
mit nachträglichen Anordnungen gemäß § 53 Abs. 3 HBO bzw. § 24 BImSchG
entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang sei abschließend nur darauf
hingewiesen, dass in der hier streitbefangenen Baugenehmigung vom 23. Juni
2004 bei den Auflagen nicht die Auflage Nr. 8 der früheren Baugenehmigung vom
6. Januar 2004 aufgenommen worden ist, wo es hieß, die Immissionsprognose Nr.
1027, erstellt durch das Büro A. Pfeifer Dipl.-Ing. vom 25.11.2003, werde
Bestandteil der Baugenehmigung und die hier geforderten
Schallschutzmaßnahmen seien einzuhalten und deren Umsetzung durch den
Bauleiter der Bauaufsicht schriftlich zu bestätigen. Gleichwohl verhilft dies dem
Eilantrag den Antragstellern aus den dargelegten Gründen nicht zum Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO i.V.m. §
100 Abs. 1 ZPO sowie auf § 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen sind aus Billigkeitsgründen erstattungsfähig, weil sie durch
Antragstellung auch am Prozesskostenrisiko teilgenommen hat (vgl. § 154 Abs. 3
VwGO). Die in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht vorgenommene
Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 47, 53 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1, 66 Abs. 3
GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.