Urteil des HessVGH vom 25.07.1996

VGH Kassel: speiseeis, öffentliches interesse, genehmigung, bedürfnis, begriff, ausnahme, grundstück, parkplatz, kreis, betreiber

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
6. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 UE 2132/94
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
(Zum Begriff des "Anliegers" in einer
Landschaftsschutzverordnung, hier: Befahren eines
Freizeitgeländes zwecks Verkauf von Speiseeis)
Tatbestand
Die Klägerin, die seit 40 Jahren in und in der näheren Umgebung Eis verkauft,
begehrt sinngemäß die Feststellung, daß sie landschaftsschutzrechtlich nicht
gehindert ist, mit ihrem Kraftfahrzeug, einem kleinen Lieferwagen, in das
Landschaftsschutzgebiet hineinzufahren, um in dem dort gelegenen
Freizeitgelände Speiseeis feilbieten zu können.
Aufgrund eines erfolgreichen Widerspruchsverfahrens erhielt die Klägerin vom
Regierungspräsidenten mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 1988 die Erlaubnis,
auf dem Gelände des Freizeitgebietes außerhalb der gesetzlichen
Ladenschlußzeiten frisches Speiseeis von ihrem Eiswagen aus feilzuhalten. Der
Regierungspräsident sah die Voraussetzungen des § 20 Abs. 2 a
Ladenschlußgesetz als gegeben an, wonach für bestimmte Waren Ausnahmen von
den allgemeinen Ladenschlußzeiten zugelassen werden können, wenn dies zur
Befriedigung örtlich auftretender Bedürfnisse notwendig ist und diese Ausnahmen
im Hinblick auf den Arbeitsschutz unbedenklich sind. Im Jahre 1989 versuchte die
Beklagte auf zivilrechtlichem Weg erfolglos, der Klägerin den Verkauf von Speiseeis
auf dem Freizeitgelände zu verbieten. Die Zivilgerichte sahen den von der
Beklagten zu ihnen beschrittenen Rechtsweg als unzulässig an. Am 28. August
1990 beantragte die Klägerin beim Liegenschaftsamt der Beklagten, ihr zum
Zweck des Verkaufs von Speiseeis die Zufahrt zu dem Freizeitgelände zu
ermöglichen. Dieser Antrag wurde nicht beschieden.
Mit Schreiben vom 17. September 1992 beantragte die Klägerin die Erlaubnis, das
Freizeitgelände mit ihrem Pkw zum Zwecke des Feilbietens von Speiseeis befahren
zu dürfen. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19. November 1992
ab, erteilte aber gleichzeitig die landschaftsschutzrechtliche Genehmigung zum
Feilbieten von Speiseeis. Den am 27. November 1992 eingelegten Widerspruch
wies das Regierungspräsidium mit Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 1993 zurück.
Am 9. August 1993 hat die Klägerin Klage erhoben und vorgetragen, in dem
angegriffenen Widerspruchsbescheid werde nicht berücksichtigt, daß es ihr, der
Klägerin, aufgrund ihres Gewerbescheines und des Bescheides des
Regierungspräsidenten vom 7. Juni 1988 grundsätzlich gestattet sei, in dem
Landschaftsschutzgebiet Speiseeis zu vertreiben. Deshalb gehöre sie auch zu den
"Anliegern" im Sinne des § 3 Abs. 2 a der Landschaftsschutzverordnung.
Schließlich sei eine Befreiung nach § 5 der Landschaftsschutzverordnung zu
erteilen, weil ein erhebliches öffentliches Interesse daran bestehe, daß sie, die
Klägerin, ihr Speiseeis im bisherigen Umfang unmittelbar im Freizeitgelände
verkaufen könne. Insoweit verweist die Klägerin auf eine der Beklagten vorliegende
Unterschriftenliste mit über 2000 Unterschriften von Mitbürgern, die sich dafür
einsetzen, daß die Klägerin auch weiterhin im Freizeitgelände Speiseeis verkauft.
Im übrigen trägt die Klägerin vor, es sei ihr und ihrer 85-jährigen Bekannten, die ihr
bei dem Verkauf des Eises helfe, nicht zuzumuten, die über 5 kg schweren
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bei dem Verkauf des Eises helfe, nicht zuzumuten, die über 5 kg schweren
Eisbehälter mit einem Handwagen an die Verkaufsstellen zu transportieren und
jeweils auf diese Weise für Nachschub zu sorgen.
Die Beklagte hat vorgetragen, die vorliegenden Erlaubnisse der Klägerin seien
ausschließlich gewerberechtlicher oder ladenschlußrechtlicher Natur und schlössen
eine landschaftsschutzrechtliche Genehmigung nicht ein. Anliegerin sei die
Klägerin nicht, denn es bestehe keine besondere Beziehung zwischen ihr und
einem Grundstück.
Mit Urteil vom 21. April 1994 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und
zur Begründung ausgeführt, die Klägerin sei nicht Anliegerin. Durch ihre
gewerberechtliche Genehmigung werde ihr lediglich gestattet, außerhalb der
allgemeinen Ladenschlußzeiten Speiseeis zu vertreiben. Eine Befreiung nach § 5
der Landschaftsschutzverordnung stehe der Klägerin nicht zu, denn ein örtliches
Bedürfnis für das Feilhalten frischen Speiseeises begründe keinen öffentlichen
Belang, der eine Ausnahme rechtfertigen würde. Es sei möglich, das örtliche
Bedürfnis durch das Feilbieten des Speiseeises auf dem Parkplatz des
Freizeitgeländes zu befriedigen.
Gegen das am 4. Juli 1994 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 26. Juli 1994
Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie vorträgt, das örtliche Bedürfnis nach
Speiseeis nicht durch den Verkauf von einem etwa 300 m entfernt gelegenen
öffentlichen Parkplatz aus abdecken zu können. Der Eiserwerb durch Kinder werde
durch die Entfernung zum Freizeitgelände erschwert und sei auch mit erheblichen
Gefahren für die Kinder verbunden. Er sei unhygienisch, da bei dem Befahren des
nicht befestigten Sand- Parkplatzes eine Staubentwicklung nicht zu vermeiden sei.
Es bestehe daher ein öffentliches Interesse daran, frisches Speiseeis auf dem
Freizeitgelände selbst zu verkaufen. Schließlich sei die Klägerin auch Anliegerin im
Sinne der Landschaftsschutzverordnung.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 21. April 1994 abzuändern
sowie den Bescheid der unteren Naturschutzbehörde der Stadt vom 19.
November 1992 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums vom 8.
Juli 1993 aufzuheben und festzustellen, daß die Klägerin berechtigt ist, das
Freizeitgelände im Landschaftsschutzgebiet mit ihrem Pkw zum Zwecke des
Feilbietens von Speiseeis anzufahren,
hilfsweise,
die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Erlaubnis zu erteilen, das
Freizeitgelände im Landschaftsschutzgebiet mit ihrem Pkw zum Zwecke des
Feilbietens von Speiseeis anfahren zu dürfen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung
verzichtet.
Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten (1 Heft) haben vorgelegen und sind
Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-
und Streitstandes wird auf diese Unterlagen sowie auf die im vorliegenden
Verfahren gewechselten Schriftsätze der Beteiligten und den darüber
hinausgehenden Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist begründet, denn das Verwaltungsgericht hätte der
Klage stattgeben müssen.
Die Klägerin begehrt sinngemäß die Feststellung, daß sie
landschaftsschutzrechtlich nicht gehindert ist, das Freizeitgelände im
Landschaftsschutzgebiet mit ihrem PKW zum Zwecke des Feilbietens von
Speiseeis anzufahren. Daß sich ihr Begehren allein darauf und nicht auf sonstige
eventuell erforderliche Erlaubnisse und Genehmigungen - seien sie
straßenverkehrsrechtlicher oder sonstiger Art - bezieht, ergibt die Auslegung ihres
Antrags unter Berücksichtigung der Begründungen, die sie im
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Antrags unter Berücksichtigung der Begründungen, die sie im
Verwaltungsstreitverfahren für ihr Begehren gegeben hat.
Der als Hauptantrag gestellte Feststellungsantrag, auf den die Klägerin
zulässigerweise übergegangen ist, ist auch im übrigen prozessual zulässig.
Insbesondere fehlt das Rechtsschutzbedürfnis für die begehrte Feststellung nicht
deshalb, weil zur Zeit die Zuwege zum Freizeitgelände mit Vorschriftzeichen nach
§ 41 StVO Nr. 250 "Verbot für Fahrzeuge aller Art" - teils mit dem Zusatz "Fahrrad
und Forstbetrieb frei", teils mit dem Zusatz "Linienbus, Dienst-Kfz + Fahrrad frei" -
straßenverkehrsrechtlich auch für die Klägerin mit ihrem Eis-Lieferwagen gesperrt
sind. Denn nach § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO können die Straßenverkehrsbehörden
von den Verboten oder Beschränkungen, die durch Vorschriftzeichen im Sinne des
§ 41 StVO erlassen sind, in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte
Antragsteller Ausnahmen genehmigen. Für den Fall, daß die Klägerin im
vorliegenden Verwaltungsstreitverfahren obsiegt, erscheint es nicht
ausgeschlossen, daß sie auch eine straßenverkehrsrechtliche
Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO erhält, was aber nicht
Gegenstand des vorliegenden Verwaltungsstreitverfahrens ist und daher vom
Senat nicht abschließend geklärt werden muß. Es ist auch denkbar, daß der
Anliegerverkehr entsprechend der Regelung in der Landschaftsschutzverordnung
von dem Verkehrsverbot ausgenommen wird.
Das Feststellungsbegehren der Klägerin ist begründet.
Ein Anspruch auf Anfahren des Freizeitgeländes ergibt sich nicht unmittelbar aus
der der Klägerin erteilten ladenschlußrechtlichen Genehmigung, denn diese
Genehmigung betrifft ausschließlich ladenschlußrechtliche Rechtsfragen. In ihr
werden keine Angaben dazu gemacht, ob eine naturschutz- bzw.
landschaftsschutzrechtliche Genehmigung erforderlich ist und ob eine solche
Genehmigung erteilt wird.
Die landschaftsschutzrechtliche Berechtigung zum Einfahren in das
Landschaftsschutzgebiet folgt jedoch aus der Verordnung zum Schutze von
Landschaftsteilen im Gebiet der Stadt - Landschaftsschutzverordnung - vom 20.
Dezember 1973 in der Fassung der Änderungsverordnung des
Regierungspräsidiums vom 23. März 1993, die am 4. Mai 1993 in Kraft trat. Nach §
3 Abs. 1 der Landschaftsschutzverordnung ist es verboten, im
Landschaftsschutzgebiet Veränderungen vorzunehmen, die geeignet sind, die
Natur zu schädigen, das Landschaftsbild zu verunstalten oder den Naturgenuß zu
beeinträchtigen. Insbesondere verboten ist nach § 3 Abs. 2 a der
Landschaftsschutzverordnung unter anderem, außerhalb der für den allgemeinen
Kraftverkehr zugelassenen Wege und Plätze mit Kraftfahrzeugen aller Art und
Motorfahrrädern zu fahren und Kraftfahrzeuge zu parken mit Ausnahme des
Anlieger-, des land- und forstwirtschaftlichen Verkehrs. Da ein land- und
forstwirtschaftlicher Verkehr hier nicht in Rede steht, kommt allenfalls die
Ausnahme des Anliegerverkehrs in Betracht, wobei im Falle des Vorliegens dieses
Tatbestandsmerkmals eine Erlaubnis bzw. Genehmigung zum Befahren des
Landschaftsschutzgebiets nicht erforderlich wäre, sondern sich die Befugnis dazu
unmittelbar aus der zitierten Vorschrift ergäbe.
Die Klägerin ist Anliegerin im Sinne des § 3 Abs. 2 a der
Landschaftsschutzverordnung. Da der Begriff des Anliegers in der Verordnung
selbst nicht definiert ist, muß insoweit auf den üblichen Sprachgebrauch unter
Berücksichtigung insbesondere des Straßenverkehrsrechts abgestellt werden.
Danach wird die Anliegereigenschaft durch rechtliche Beziehungen zu einem
Grundstück begründet, wobei der Kreis der Berechtigten auf solche
Verkehrsteilnehmer ausgedehnt ist, die zu den Anliegern "sogenannte tatsächliche
Anliegerbeziehungen unterhalten oder anknüpfen wollen" (vgl. OLG Zweibrücken,
Beschluß vom 5. Mai 1989 - 1 Ss 73/89 - NJW 1989, 2483 f.; dasselbe, Beschluß
vom 4. Oktober 1977 - Ss 35/77 - VRS 54, 311 f.; Jagusch/Hentschel,
Straßenverkehrsrecht, 33. Aufl., 1995, Rdnr. 248 zu § 41 StVO mit weiteren
Nachweisen). Maßgebend für das Ein- oder Ausfahren muß die gewollte Beziehung
zu einem Anlieger oder Anliegergrundstück sein (Jagusch/Hentschel, a.a.O., Rdnr.
248 zu § 41 StVO).
Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin, denn sie ist Anliegerin in diesem Sinn.
Sie ist allerdings weder Eigentümerin noch sonstige dinglich Berechtigte eines
Grundstücks im Landschaftsschutzgebiet. Auch eine schuldrechtliche Beziehung
zu dem Freizeitgelände - etwa durch Abschluß eines Pachtvertrages - hat sie nicht.
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zu dem Freizeitgelände - etwa durch Abschluß eines Pachtvertrages - hat sie nicht.
Sie beabsichtigt auch nicht, das Speiseeis an die Beklagte als Eigentümerin des
Freizeitgeländes bzw. an Bedienstete der Beklagten oder an den Verkehrsverein,
dem die Beklagte das Gelände zum Betrieb eines Freizeitzentrums überlassen
hat, zu verkaufen. Auch der Betreiber des Ponybetriebes, mit dem der
Verkehrsverein einen Pachtvertrag geschlossen hat, sowie die Betreiber des
Bootsbetriebs - das ist das Kuratorium Freizeit und Erholung, eine
nichtrechtsfähige Tochter des Verkehrsvereins - sind nicht die von der Klägerin
umworbenen Kunden. Vielmehr will sie in tatsächliche und sogar in rechtliche
Beziehungen zu den Benutzern der Freizeitanlage treten, denn sie möchte das
Speiseeis den Benutzern der Freizeitanlage feilbieten, die aber ebenfalls Anlieger
sind, so daß auch die Klägerin dadurch Anliegerin ist.
In der Rechtsprechung sind die Personen, die einen Baggersee zum Baden
aufsuchten, als Anlieger angesehen worden mit der Begründung, der Kreis der
Berechtigten sei auf solche Verkehrsteilnehmer ausgedehnt, die zu den Anliegern
des Wirtschaftsweges sogenannte tatsächliche Anliegerbeziehungen unterhielten
oder anknüpfen wollten. Auch eine allgemein gehaltene, an einen unbestimmten
Personenkreis gerichtete Genehmigung des Verfügungsberechtigten zur
Benutzung des Anliegergrundstücks sei hierfür ausreichend (OLG Zweibrücken,
Beschluß vom 5. Mai 1989 - 1 Ss 73/89 - NJW 1989, 2483 f.). Entsprechend ist man
in der Rechtsprechung davon ausgegangen, daß auch bei der Nutzung von
Grundstücken durch Jagd- und Fischereiberechtigte diesen nach der
Verkehrsanschauung die Anliegereigenschaft zukommt (vgl. OLG Zweibrücken,
Beschluß vom 4. Oktober 1977 - Ss 35/77 - VRS 54, 311 f.).
Das Anliegerprivileg gibt der Klägerin jedoch nicht das Recht, mit ihrem
Lieferwagen überall im Landschaftsschutzgebiet zu fahren. Diese Befugnis steht
ihr nur auf Wegen und Plätzen zu, soweit sie dadurch andere Anlieger nicht
behindert.
Da der Hauptantrag der Klägerin Erfolg hat, ist über ihren Hilfsantrag nicht zu
entscheiden. Es erübrigt sich in diesem Zusammenhang insbesondere die Prüfung
der Frage, ob die Klägerin aus § 5 der Landschaftsschutzverordnung einen
Anspruch auf die im Hilfsantrag angesprochene Erlaubnis herleiten kann.
Die Beklagte hat die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen, da sie
unterlegen ist (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit § 708 Nr. 10 und § 711 ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 VwGO liegen nicht
vor.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.