Urteil des HessVGH vom 05.05.1993

VGH Kassel: rechtliches gehör, beweisantrag, auskunft, behandlung, asylverfahren, asylbewerber, quelle, zivilprozessrecht, immaterialgüterrecht, dokumentation

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UZ 790/93
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 103 GG, § 138 Nr 3
VwGO, § 78 Abs 3 Nr 3
AsylVfG vom 26.06.1992
(Zulassung der Berufung in Asylverfahren, hier:
prozeßordnungswidrige Ablehnung eines Beweisantrages)
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung, der sich trotz der Formulierung des
Antrags vom 9. März 1993 ("Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom
02.08.1992") offensichtlich auf das Urteil vom 28. Oktober 1992 und insoweit nur
auf den die Beklagte zu 1) betreffenden Verfahrensteil bezieht, ist zulässig und
begründet; denn dem Kläger ist, wie er zu Recht mit seinem Zulassungsantrag
geltend macht, rechtliches Gehör versagt worden (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m.
§ 138 Nr. 3 VwGO).
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG; vgl. dazu Fritz, ZAR
1984, 189) verschafft den Verfahrensbeteiligten ein Recht darauf, sich zu allen
entscheidungserheblichen Tatsachen zweckentsprechend und erschöpfend zu
erklären und Anträge zu stellen, und verpflichtet das Gericht darüber hinaus, das
Vorbringen und die Anträge der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und auch in
Erwägung zu ziehen (BVerfG, 15.01.1980 - 2 BvR 920/79 -, BVerfGE 53, 109;
BVerfG, 09.02.1982 - 1 BvR 1379/80 -, BVerfGE 60, 1; Hess. VGH, 25.11.1986 - 10
TE 2696/86 -, ESVGH 37, 35; Hess. VGH, 10.03.1989 - 12 TE 1580/88 -, InfAuslR
1989, 256). Aus der Vorschrift des Art. 103 Abs. 1 GG lasse sich unmittelbar keine
bestimmten Beweisregeln herleiten (BVerfG, 18.09.1952 - 1 BvR 612/52 -, BVerfGE
1, 418); sie gebietet aber in Verbindung mit den Grundsätzen der jeweiligen
Prozeßordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge (BVerfG,
29.11.1983 - 1 BvR 1313/82 -, BVerfGE 65, 305) und verwehrt es dem Gericht,
einen als erheblich angesehenen Beweisantrag unter Verstoß gegen die jeweilige
Prozeßordnung abzulehnen (BVerfG, 08.11.1978 - 1 BvR 108/78 -, BVerfGE 50, 32).
Im Verwaltungsprozeß ist die Einholung von Sachverständigengutachten ebenso
zulässig (§ 98 VwGO, §§ 402 bis 411 ZPO) wie die Heranziehung amtlicher
Auskünfte (§§ 87 Abs. 1 Nr. 3, 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Sachverständigengutachten und amtliche Auskünfte dürfen im Falle der
Beiziehung aus anderen Verfahren als Urkunden verwertet werden (BVerwG,
22.01.1985 - 9 C 52.83 -, EZAR 630 Nr. 15 = DVBl. 1985, 577; BVerwG, 31.07.1985
- 9 B 71.85 -, EZAR 630 Nr. 20; Hess. VGH, 14.02.1985 - X OE 589/82 -); die
Einholung weiterer Sachverständigengutachten und amtlicher auskünfte steht im
pflichtgemäßen Ermessen des Tatsachengerichts, wobei für die Entscheidung über
die Beweisanträge allgemein die Vorschrift des § 244 Abs. 3 StPO entsprechend
heranzuziehen ist (BVerwG, 08.02.1983 - 9 C 598.82 -, Buchholz 402.25 § 1
AsylVfG Nr. 2 = InfAuslR 1983, 185; Hess. VGH, 24.11.1986 - 10 TE 1404/86 -).
Demzufolge kann in der prozeßordnungswidrigen Ablehnung eines erheblichen
Beweisantrags eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegen; an
Anträge auf Einholung einer amtlichen Auskunft oder eines Gutachtens im
Asylprozeß sind aber ähnliche Anforderungen zu stellen wie an das Vorbringen des
Asylbewerbers, der aufgrund seiner Mitwirkungsverpflichtung Einzelheiten des
Verfolgungsschicksals substantiiert vorzutragen hat (Hess. VGH, 10.03.1989 - 12
TE 1580/88 -, InfAuslR 1989, 256). Liegen dem Gericht bereits
Sachverständigengutachten und Auskünfte über die tatsächliche Situation im
Heimatland eines Asylbewerbers vor und lehnt es daher die Einholung eines vom
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Heimatland eines Asylbewerbers vor und lehnt es daher die Einholung eines vom
Asylkläger beantragten erneuten Sachverständigengutachtens mit der
Begründung ab, die für die Notwendigkeit eines neuen Gutachtens benannten
Umstände ließen nicht erkennen, daß sich die tatsächliche Situation seit Erstellung
der früheren Gutachten und Auskünfte gerade zum Nachteil des Klägers verändert
habe, so liegt darin, auch wenn diese Würdigung im Einzelfall unzutreffend sein
sollte, jedenfalls keine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Hess. VGH, 07.02.1991
- 13 TE 2034/90 -; zum Zeugenbeweis vgl. Hess. VGH, 31.05.1990 - 12 TE 2512/89
-, 28.02.1990 - 12 TE 902/89 -, 09.01.1990 - 12 TE 493/89 - und 11.12.1989 - 12 TE
1652/88 -; zur Wahrunterstellung vgl. Hess. VGH, 24.11.1986 - 10 TE 1404/86 -,
InfAuslR 1987, 130 m. Anm. Ventzke = NVwZ 1987, 825). Der Grundsatz der
Gewährung rechtlichen Gehörs kann die Beteiligten nämlich nicht vor jeder
sachlich unrichtigen Behandlung eines Beweisantrags schützen (BVerwG,
07.10.1987 - 9 CB 20.87 -, NJW 1988, 722).
Nach diesen Maßstäben verletzt das angegriffene Urteil den Anspruch des Klägers
auf rechtliches Gehör, weil dessen in der mündlichen Verhandlung gestellter
Beweisantrag unter eindeutigem Verstoß gegen Prozeßrecht abgelehnt worden ist.
Mit dem in der mündlichen Verhandlung übergebenen schriftsätzlichen
Beweisantrag begehrte der Kläger die Einholung einer ergänzenden Auskunft des
Auswärtigen Amts zum Beweis dafür, daß für Kurden in der Türkei keine
inländische Fluchtalternative mehr besteht, die hinreichenden Schutz vor
Verfolgung bietet; dieser Beweisantrag wurde auf 11 Seiten, zum Teil engzeilig
beschrieben, im einzelnen begründet. Das Verwaltungsgericht hat diesen
Beweisantrag abgelehnt, weil er wegen fehlenden Bezugs auf das persönliche
Schicksal des Klägers ungeeignet sei und im übrigen eine rechtliche Wertung
beinhalte und nicht die Feststellung von Tatsachen. Diese Erwägungen sind schon
deswegen unzutreffend, weil sich die Beziehung der unter Beweis gestellten
Situation von Kurden in außerhalb der angestammten Siedlungsgebiete der
Kurden in der Türkei liegenden Regionen ohne weiteres daraus ergibt, daß der
Kläger Kurde ist und von den Auseinandersetzungen zwischen der PKK und
türkischen Sicherheitskräften beeinträchtigt zu sein geltend gemacht hat. Beruft
sich ein Asylbewerber auf Verfolgungsmaßnahmen, die ihn wegen seiner
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe betreffen, dann bedarf es zunächst
der Aufklärung und des Beweises der Situation der gesamten Gruppe und sodann
der gerichtlichen Entscheidung darüber, ob der jeweilige Asylbewerber von den
festgestellten generellen Maßnahmen betroffen oder ausgenommen ist. Eine
Beweiserhebung über die allgemeine Situation der gesamten Gruppe darf dann
nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß das beantragte Beweismittel für
die Aufklärung des individuellen Schicksals des jeweiligen Asylbewerbers nicht
geeignet sei.
Ebenso unzutreffend ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Kläger habe
eine rechtliche Wertung und nicht Tatsachen unter Beweis gestellt; denn insoweit
bedeutete es eine sachwidrige Behandlung des Beweisantrags, wenn lediglich auf
dessen Tenor abgestellt und die Begründung gänzlich vernachlässigt würde. In der
Antragsbegründung hat der Kläger jedoch mehrere Vorfälle unter Benennung von
Belegen substantiiert angeführt, aus denen seiner Auffassung nach auf das Fehlen
einer Fluchtalternative für Kurden in der Westtürkei geschlossen werden muß.
Während das Verwaltungsgericht sich für seine entgegengesetzte Auffassung
lediglich auf eine Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15. Oktober 1991 bezogen
hat, hat der Kläger zur Stützung seines Beweisantrags vorwiegend auf Vorfälle und
Entwicklungen abgehoben, die nach diesem Zeitpunkt eingetreten sind. Unter
diesen Umständen hätte es einer näheren Begründung bedurft, wenn das
Verwaltungsgericht etwa den Beweisantrag mit der Erwägung hätte ablehnen
wollen, die zwischenzeitliche Entwicklung rechtfertige keine andere Beurteilung. In
diesem Zusammenhang fällt auf, daß die den Beteiligten zur Vorbereitung der
mündlichen Verhandlung übersandte Liste von Erkenntnisquellen u. a. 15 amtliche
Auskünfte, Zeitungsberichte und andere Unterlagen enthält, die nach der Auskunft
des Auswärtigen Amtes vom 15. Oktober 1991 an das VG Hamburg datieren. Da
weder der Niederschrift über die mündliche Verhandlung noch den schriftlichen
Entscheidungsgründen entnommen werden kann, daß das Verwaltungsgericht sich
auch mit diesen Erkenntnisquellen im einzelnen auseinandergesetzt hat, und da
diese zumindest teilweise das Vorbringen des Klägers stützen, kann nicht ohne
weiteres festgestellt werden, das Verwaltungsgericht habe angenommen, eine
neuere Auskunft des Auswärtigen Amtes könne eine weitere Sachaufklärung nicht
bewirken. Zu diesem Zweck hätte sich das Verwaltungsgericht zumindest zum
Inhalt der Auskunft des Auswärtigen Amts vom 1. Juni 1992 an das VG Stuttgart
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Inhalt der Auskunft des Auswärtigen Amts vom 1. Juni 1992 an das VG Stuttgart
und zum Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amts vom 12. Juni 1992 äußern
müssen.
Soweit die Berufung zugelassen ist, wird das Antragsverfahren als
Berufungsverfahren unter dem oben genannten Aktenzeichen fortgesetzt, ohne
daß es der Einlegung der Berufung bedarf (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylVfG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.