Urteil des HessVGH vom 26.01.1998

VGH Kassel: amnesty international, afghanistan, zeitung, politische verfolgung, auskunft, bevölkerung, regierung, abschiebung, general, repressalien

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
13. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
13 UE 2978/96.A
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16a Abs 1 GG, § 51 Abs
1 AuslG 1990, § 53 Abs 4
AuslG 1990, § 53 Abs 6 S 1
AuslG 1990, § 53 Abs 6 S 2
AuslG 1990
(Afghanistan: bürgerkriegsbedingt fehlende staatliche
oder quasi-staatliche Gewalt; Abschiebungshindernis nach
AuslG 1990 § 53 Abs 6 S 1; Gefahrenprognose für
ehemalige DVPA-Mitglieder)
Tatbestand
Der 1962 in K geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer
Volkszugehörigkeit.
Nach eigenen Angaben verließ der Kläger sein Heimatland am 21. Mai 1992 und
gelangte auf dem Luftweg über Taschkent und Moskau nach Prag, von wo aus er
am 22. Mai 1992 die deutsche Grenze überschritt.
Am 16. Juni 1992 meldete er sich als Asylbewerber und gab in einer
handschriftlichen Erklärung zu den Gründen seines Asylgesuches an, er sei im
Jahre 1980 in die Demokratische Volkspartei Afghanistans eingetreten und im
selben Jahre zum Studium in die Sowjetunion geschickt worden. Im Jahre 1987
habe er dort eine Russin geheiratet und sei im selben Jahre nach Abschluß seines
Studiums in der Fachrichtung Geographie und Biologie nach Afghanistan
zurückgekehrt. 1990 sei seine Ehefrau zu ihm nach Afghanistan gezogen,
nachdem auch sie ihr Studium abgeschlossen gehabt habe. In der letzten Zeit
habe sich die Lage der kommunistischen Regierung verschlechtert. Da er mit einer
Russin verheiratet sei, sei hierdurch auch sein Leben und das Leben seiner Familie
in Gefahr geraten. Mit Hilfe eines hohen Geheimdienstbeamten habe er sich einen
auf einen fremden Namen ausgestellten Paß mit einem Visum für die
Tschechoslowakei besorgt. Von dort aus sei er mit Hilfe eines Fluchthelfers nach
Deutschland gekommen.
Am 22. Juni 1992 wurde der Kläger durch das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge im Rahmen der Vorprüfung zu seinen Asylgründen
gehört. Hierbei gab der Kläger im wesentlichen folgendes an: Zur Ausreise habe er
einen auf den Namen lautenden gefälschten afghanischen Reisepaß verwendet,
der nach der Ankunft in Deutschland an den Fluchthelfer zurückgegeben und von
diesem vernichtet worden sei. Den Paß habe er mit Hilfe seines Vaters durch einen
Beamten des Geheimdienstes Khad besorgt. In Deutschland lebten zwei Onkel
sowie eine Tante, die alle als Asylberechtigte anerkannt seien. In Kabul seien seine
Eltern und ein Bruder zurückgeblieben, ein weiterer Bruder sei nach der
Machtübernahme der Mudjaheddin hingerichtet worden. Bei diesem Bruder habe
es sich um einen Mitarbeiter der für die Sicherheit der Stadt Kabul und Patrouillen
zuständigen Abteilung des Khad gehandelt.
In Ergänzung zu seinen Angaben im Asylantrag erklärte der Kläger bei der
Vorprüfung, daß er, als sich der Sturz der kommunistischen Regierung
abgezeichnet habe, zunächst versucht habe, seine Frau und die beiden Kinder in
Sicherheit zu bringen. Sie hätten sich zusammen in das Haus einer Tante in dem
Wohnort Bimaru begeben, wo er geblieben sei, bis sein Vater die
Ausreisevorbereitungen getroffen habe. Seine Ehefrau und die beiden Kinder seien
vorab mit einem Sonderflugzeug der russischen Botschaft aus Afghanistan
ausgeflogen worden. Sie lebten jetzt bei der Mutter seiner Ehefrau in W. Aus
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ausgeflogen worden. Sie lebten jetzt bei der Mutter seiner Ehefrau in W. Aus
Afghanistan habe er deshalb ausreisen müssen, weil er mit einer russischen
Staatsangehörigen verheiratet sei und sein Bruder, der hingerichtet worden sei,
Mitglied des Geheimdienstes Khad gewesen sei. Hieraus habe sich auch für ihn die
Gefahr ergeben, getötet zu werden. Sein Bruder sei am 25. April 1992 in Kabul
getötet worden. Er habe sich zu diesem Zeitpunkt in einem Basar befunden, um
dort einzukaufen. Zu dieser Zeit habe es an vielen Stellen in Kabul, insbesondere
auch in dem von ihnen bewohnten Stadtviertel Makroyan, Kämpfe gegeben. Sein
Bruder sei bei einer Schießerei getötet worden. Dies sei jedoch nicht zufällig
geschehen. Er denke, daß sein Bruder ganz bewußt als Parteimitglied erkannt und
anschließend hingerichtet worden sei. Offenbar habe ihn eine Rakete getroffen und
er sei auf der Stelle tot gewesen.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den
Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 3. März 1993 ab und stellte fest, daß die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53
AuslG nicht vorlägen. Überdies wurde der Kläger unter Androhung der
Abschiebung nach Afghanistan aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland
innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides, im Falle einer
Klageerhebung innerhalb einer Frist von einem Monat nach dem unanfechtbaren
Abschluß des Asylverfahrens, zu verlassen.
Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, der Kläger könne seine
Anerkennung als Asylberechtigter und auch die Flüchtlingsanerkennung nach § 51
Abs. 1 AuslG schon deshalb nicht verlangen, weil es angesichts der Verhältnisse in
Afghanistan an den Voraussetzungen einer von einem Staat ausgehenden oder
ihm zurechenbaren politischen Verfolgung fehle. Nach dem Sturz des letzten
kommunistischen Staatspräsidenten Nadschibullah im April 1992 sei Afghanistan
in eine Vielzahl kleiner Gebiete zerfallen, die von unterschiedlichen, miteinander
um die Vorherrschaft kämpfenden Partisanenführern, Stammesfürsten oder
lokalen Allianzen beherrscht würden. Die im Zuge des Sturzes der
kommunistischen Regierung gebildete Übergangsregierung sei nicht in der Lage,
die immer verworrener und unübersichtlicher werdende Lage zu kontrollieren, so
daß eine übergreifende staatliche Ordnungsmacht nicht vorhanden sei. Auch die
Bildung einer staatsähnlichen Organisation, die anstelle des Staates politische
Verfolgung ausüben könne oder eine solche zu vertreten hätte, sei nicht
ersichtlich. Vor der Gefahr, Opfer der in Afghanistan herrschenden anarchischen
Zustände zu werden, biete das Asylrecht keinen Schutz. Auch das Vorliegen von
Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG sei nicht ersichtlich.
Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge wurde dem Kläger am 18. März 1993 zugestellt.
Am 22. März 1993 erhob der Kläger bei dem Verwaltungsgericht Kassel Klage.
Zur Begründung seiner Klage bezog sich der Kläger im wesentlichen auf seine
Angaben während der Anhörung bei dem Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge und erklärte ergänzend, er habe bei dieser Anhörung
nicht sagen wollen, daß sein Bruder hingerichtet worden sei. Er habe lediglich zum
Ausdruck bringen wollen, daß sein Bruder deshalb zielgerichtet erschossen worden
sei, weil er als Mitglied des Khad erkannt worden sei. In einem dem
Verwaltungsgericht vorgelegten undatierten Lebenslauf gab der Kläger überdies
ergänzend an, er habe sich nach der Ermordung seines Bruders bis zu seiner
Ausreise versteckt. Nachdem er - der Kläger - die Heimat verlassen habe, seien
Mudjaheddin mehrere Male bei seinen Familienangehörigen erschienen, um ihn zu
fassen. Die Mudjaheddin hätten sie geschlagen und gequält und ihr ganzes Hab
und Gut geraubt. Nach diesen Vorfällen seien noch viele andere Parteimitglieder
getötet worden. Während des erstinstanzlichen Verfahrens legte der Kläger
überdies eine Bescheinigung des Rates der Afghanischen Flüchtlinge e. V. vom 5.
Januar 1996 vor, in der dem Kläger bescheinigt wird, Mitglied der vorgenannten
Organisation sowie in Afghanistan Mitglied der DVPA gewesen zu sein.
Der Kläger beantragte,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 3. März 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als
Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, daß die Voraussetzungen der §§
51 Abs. 1, 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte beantragte,
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die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezog sie sich auf den angefochtenen Bescheid des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beteiligte sich am
erstinstanzlichen Verfahren nicht.
Das Verwaltungsgericht Kassel hob mit Einzelrichterurteil vom 24. Januar 1996 den
Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 3.
März 1993 insoweit auf, als hierin das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 53
AuslG verneint worden war. Die Beklagte wurde verpflichtet festzustellen, daß die
Voraussetzungen nach § 53 Abs. 4 AuslG hinsichtlich einer Abschiebung nach
Afghanistan in der Person des Klägers vorliegen. Im übrigen wurde die Klage
abgewiesen.
Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht im wesentlichen aus, der Kläger
könne seine Anerkennung als Asylberechtigter und die Gewährung von
Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG deshalb nicht verlangen, weil in
Afghanistan Bürgerkrieg herrsche und eine effektive Staatsgewalt als
übergreifende Friedensordnung zur Zeit nicht bestehe und sich aller Voraussicht
nach in absehbarer Zeit auch nicht bilden werde. Das Bündnis der Mudjaheddin-
Gruppen, die im April 1992 das letzte kommunistisch geführte Regime gestürzt
hätten, sei zerfallen, ohne daß die vielfältigen Versuche, die Machtkämpfe
innerhalb dieser Gruppierungen beizulegen, zu einem greifbaren Erfolg geführt
hätten. Die Hauptstadt Kabul sei in verschiedene, sich ständig verschiebende
Einflußsphären sich bekämpfender Mudjaheddin-Gruppierungen aufgeteilt. Das
Land sei im übrigen in viele kleine lokale Machtzentren von Militärkommandanten
oder wechselnden Bündnissen verschiedener Gruppierungen zerfallen. Eine
zentrale Regierungsgewalt, die in der Lage wäre, effektive Staatsgewalt im Innern
auszuüben, bestehe nicht. Die von den meisten Mudjaheddin-Gruppen gebildete
Regierung sei in sich zerstritten und handlungsunfähig. In Abwesenheit einer
effektiven Zentralmacht werde die Herrschaft von lokalen Autoritäten in den von
ihnen kontrollierten Gebieten autonom wahrgenommen, ohne daß allerdings
funktionstüchtige staatliche oder quasi-staatliche Strukturen entstanden seien, die
eine effektive und berechenbare Machtausübung garantieren könnten. Diesen
Herrschaftsgebilden fehle es neben der für staatsähnliche Organisationen
erforderlichen Stabilität und Dauer der Herrschaftsausübung auch an der
notwendigen völkerrechtlichen Legitimation. Die Klage sei demgegenüber
begründet, soweit der Kläger beantrage, die Androhung der Abschiebung nach
Afghanistan aufzuheben und festzustellen, daß die Voraussetzungen nach § 53
Abs. 4 AuslG vorliegen. Die Voraussetzungen der vorgenannten Bestimmung
seien erfüllt, insbesondere stehe der Anwendung des § 53 Abs. 4 AuslG nicht
entgegen, daß es in Afghanistan an einer übergreifenden zentralen Staatsmacht
als Voraussetzung für die Annahme asylrechtlich bedeutsamer
Verfolgungsmaßnahmen fehle. Daß der Kläger im Falle seiner Abschiebung nach
Afghanistan Gefahren für Leib, Leben und Freiheit zu befürchten habe, ergebe sich
daraus, daß er durch seine Heirat mit einer russischen Frau eine in den Augen von
Mudjaheddin und Taliban anti-islamische Haltung offenbart und sich durch sein
Studium in der ehemaligen UDSSR sowie durch seine Stellung als Dozent an der
Universität von Kabul in besonderer Weise als Vertreter des kommunistischen
Regimes verdächtig gemacht habe.
Auf die rechtzeitig gestellten Anträge des Klägers und des Bundesbeauftragten für
Asylangelegenheiten ließ der Senat die Berufung gegen das Urteil der Vorinstanz
zu.
Zur Begründung der zugelassenen Berufung verwies der Kläger auf sein
Vorbringen erster Instanz und erklärte ergänzend, er könne nun nach der
Machtübernahme der Taliban im September 1996 erst recht nicht mehr in sein
Heimatland zurückkehren, ohne dort sofort getötet zu werden. Aus Sicht der
derzeitigen Machthaber in Afghanistan gehöre er dem früheren kommunistischen
Regime an und sei nach außen hin für dieses in Erscheinung getreten. Auch eine
Rückkehr in den Norden des Landes sei für ihn nicht möglich, da er auch dort
wegen der Tätigkeit seines nach der Machtübernahme der Mudjaheddin in Kabul
getöteten Bruders im früheren Geheimdienst Khad von Verfolgung bedroht sei.
Der Kläger hat während des Berufungsverfahrens zwei Schriftstücke in Dari
vorgelegt, nach Angaben des Klägers ein Schreiben seines Vaters und eine
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vorgelegt, nach Angaben des Klägers ein Schreiben seines Vaters und eine
Verfolgungsanordnung des Zentralkomitees der Hezb-e-Islami Afghanistan, jeweils
aus dem Jahre 1996. Wegen des näheren Inhalts des zuletzt genannten
Schriftstücks wird auf dessen deutsche Übersetzung (Bl. 152 der Gerichtsakten)
verwiesen.
Der Kläger beantragt,
1. unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 24.
Januar 1996 den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 3. März 1993 aufzuheben und die Beklagte
zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen,
daß die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG vorliegen.
2. Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten
zurückzuweisen.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beantragt,
1. unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 24.
Januar 1996 die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
2. die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Er trägt vor, in Afghanistan herrsche weiterhin eine Bürgerkriegssituation, die unter
Zugrundelegung der hierfür in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
aufgestellten Grundsätze auch die Annahme quasi-staatlicher Gewalt ausschließe.
Aus diesem Grunde komme auch die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach
§ 53 Abs. 4 AuslG nicht in Betracht.
Die Beklagte hat sich im Berufungsverfahren nicht zur Sache geäußert und auch
keine Anträge gestellt.
Der Kläger wurde durch den Berichterstatter des Senats am 22. Januar 1997
ergänzend als Beteiligter zu seinen Asylgründen vernommen. Wegen des
Ergebnisses der Beteiligtenvernehmung wird auf Bl. 191 - 198 der Gerichtsakten
verwiesen.
Der Senat hat mit Verfügung des Berichterstatters vom 13. Januar 1997 das
Auswärtige Amt, amnesty international, das Deutsche Orient-Institut und Dr.
Mostafa Danesch um Beantwortung verschiedener, die Situation in Afghanistan
betreffender Fragen gebeten. Wegen des Inhalts dieser Verfügung wird auf Bl. 139
f. der Gerichtsakten verwiesen. Wegen des Inhalts der dem Senat hierauf
erstatteten Auskünfte und Stellungnahmen wird auf Bl. 171 bis 176, 180 bis 269,
275 bis 278 und 283 f. der Gerichtsakten verwiesen.
Den Beteiligten sind Listen der Erkenntnisquellen übersandt worden, die dem
Senat für Afghanistan vorliegen. Diese Erkenntnisquellen waren Gegenstand der
mündlichen Verhandlung.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und den Inhalt der Behördenakte verwiesen, die ebenfalls
Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die von dem Senat zugelassene Berufung des Klägers gegen den
klageabweisenden Teil des erstinstanzlichen Urteils ist zulässig, aber unbegründet,
denn die Vorinstanz hat die Asylklage des Klägers, soweit diese auf Anerkennung
als politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG und auf Verpflichtung der
Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gerichtet
ist, zu Recht abgewiesen. Demgegenüber hat die von dem Senat zugelassene -
gleichfalls zulässige - Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten,
mit der dieser sich gegen die von dem Verwaltungsgericht ausgesprochene
Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach
§ 53 Abs. 4 AuslG hinsichtlich einer Abschiebung des Klägers nach Afghanistan
wendet, Erfolg, denn das Verwaltungsgericht hätte die Klage auch insoweit
abweisen müssen.
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A.
Der Kläger kann zunächst nicht verlangen, als politisch Verfolgter im Sinne von Art.
16 a Abs. 1 GG anerkannt zu werden.
I.
Von einer Berufung auf das Asylrecht des Art. 16 a Abs. 1 GG ist der Kläger
zunächst nicht deshalb nach § 16 a Abs. 2 Satz 1 GG ausgeschlossen, weil er am
22. Mai 1992 nicht auf direktem Weg von seinem Heimatland aus, sondern über
die damalige Tschechoslowakei in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
Die am 1. Juli 1993 in Kraft getretene sogenannte Drittstaatenregelung des Art. 16
a Abs. 2 GG (vgl. Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom
18. Juni 1993, BGBl. I S. 1002) ist auf Asylbewerber, die vor dem Inkrafttreten
dieser Neuregelung in das Bundesgebiet eingereist sind, nicht anwendbar (BVerfG
- 1. Kammer des Zweiten Senats -, Beschluß vom 3. Februar 1994 - 2 BvR 1671/93
-, BayVBl. 1994, 306, 307).
II.
Der Kläger erfüllt indessen nicht die Voraussetzungen, unter denen ein Ausländer
nach der Grundrechtsgewährleistung des Art. 16 a Abs. 1 GG als politisch
Verfolgter anerkannt werden kann.
1. Eine politische Verfolgung im vorgenannten Sinne liegt dann vor, wenn
dem einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine
religiöse Grundentscheidung, seine Volkszugehörigkeit oder andere für ihn
unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen
zugefügt werden, die ihn in ihrer Intensität aus der übergreifenden
Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (BVerfG, Beschlüsse vom 10.
Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315, 334 f. und vom 11. Mai
1993 - 2 BvR 1989/92, 55, 250/93 - InfAuslR 1993, 310, 312).
Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung. Staaten stellen in sich
befriedete Einheiten dar, die nach innen alle Gegensätze, Konflikte und
Auseinandersetzungen durch eine übergreifende Ordnung in der Weise
relativieren, daß diese unterhalb der Stufe der Gewaltsamkeit verbleiben und die
Existenzmöglichkeit des einzelnen nicht in Frage stellen, insgesamt also die
Friedensordnung nicht aufheben (BVerfG, Beschluß vom 10. Juli 1989 - 2 BvR
502/86 u. a. -, a.a.O., S. 334). Zur Erfüllung dieser Friedensfunktion bedarf es - als
zentrales Merkmal des Staates - einer das prinzipielle Gewaltmonopol sichernden
organisierten Herrschaftsmacht, die auf einem begrenzten Territorium über eine
sich als Schicksalsgemeinschaft verstehende Bevölkerung effektiv und dauerhaft
ausgeübt wird (BVerwG, Urteil vom 6. August 1996 - BVerwG 9 C 172.95 -,
Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 190). Verliert der Staat - wie regelmäßig in
Bürgerkriegsgebieten - die Fähigkeit, seine Gebietsgewalt im Sinne einer
überlegenen Herrschaftsmacht auszuüben, endet seine asylrechtliche
Verantwortlichkeit. Politische Verfolgung im Sinne des Asylgrundrechts kann dann
gegebenenfalls von staatsähnlichen Organisationen ausgehen, die den Staat aus
dem betreffenden Gebiet verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen
hat und die ihn daher insoweit ersetzen. Quasi-staatlich ist eine Gebietsgewalt
allerdings nur dann, wenn sie auf einer staatsähnlich organisierten, effektiven und
stabilisierten Herrschaftsmacht beruht. Effektivität und Stabilität erfordern eine
gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft, verkörpert vorrangig in der
Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparates
(BVerwG, Urteil vom 6. August 1996 - BVerwG 9 C 172.95 -, a.a.O.). Bei
andauerndem Bürgerkrieg sind die Effektivität und Stabilität regionaler
Herrschaftsorganisationen besonders vorsichtig zu bewerten. Die durch den
Bürgerkrieg entstandenen Machtgebilde müssen voraussichtlich von Dauer und
Vorläufer neuer oder erneuerter staatlicher Strukturen sein. Damit ist nur zu
rechnen, wenn die Bürgerkriegsparteien nicht mehr unter Einsatz militärischer
Mittel mit der Absicht, den Gegner zu vernichten, und mit Aussicht auf Erfolg um
die Macht im ganzen Bürgerkriegsgebiet kämpfen, die Fronten also über längere
Zeit stabil sind und allenfalls in Randbereichen noch gekämpft wird, im übrigen
aber einer dauerhafte nichtmilitärische Lösung zu erwarten ist. Ist demgegenüber
jederzeit und überall mit dem Ausbruch die Herrschaftsgewalt dieser regionalen
Machthaber grundlegend in Frage stellender bewaffneter Auseinandersetzung zu
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Machthaber grundlegend in Frage stellender bewaffneter Auseinandersetzung zu
rechnen, kann sich einer dauerhafte territoriale Herrschaftsgewalt nicht etablieren
(BVerwG, Urteil vom 4. November 1997 - BVerwG 9 C 34.96 -).
2. Die vorgenannten Voraussetzungen für die Annahme einer staatlichen
oder quasi-staatlichen Ordnung als grundlegende Voraussetzung für die
Gewährung asylrechtlichen Schutzes sind in Afghanistan derzeit und auf
absehbare Zeit hinaus nicht erfüllt.
Die Verhältnisse in Afghanistan sind noch immer durch das Fehlen einer
gesamtstaatlichen Macht mit der Fähigkeit zur prinzipiellen Ausübung einer das
gesamte Staatsterritorium umfassenden Herrschaftsgewalt geprägt. Das Land ist
als Folge der politischen Entwicklung seit dem Sturz der letzten kommunistischen
Regierung im April 1992 in Herrschaftsbereiche miteinander verfeindeter
Machthaber zerfallen, die in einem anhaltenden Bürgerkrieg mit dem erklärten Ziel
der endgültigen Niederringung des Gegners weiterhin erbittert um die
Vorherrschaft im gesamten Staatsgebiet kämpfen. In dieser Situation eines
fortdauernden, von den sich gegenüberstehenden Parteien ohne Bereitschaft zur
Verständigung geführten Bürgerkriegs sind die Voraussetzungen für eine
dauerhafte und stabilisierte Herrschaft der verschiedenen Machthaber und damit
die Voraussetzungen für das Bestehen staatsähnlicher Macht in Afghanistan nicht
erfüllt.
Die im Zuge der Machtübernahme durch die Mudjaheddin im Jahre 1992 gebildete,
von Prof. Rabbani als nominellem Staatsoberhaupt geführte Übergangsregierung
war wegen der von Anfang an fehlenden Unterstützung der maßgeblichen
Machtgruppierungen und Führungspersönlichkeiten zu keinem Zeitpunkt dazu in
der Lage, die von ihr beanspruchte Herrschaft im gesamten Land auszuüben, und
wurde nach heftigen militärischen Auseinandersetzungen schließlich auf eine
Herrschaftsregion mit der Hauptstadt Kabul und einigen Provinzen im Nordosten
zurückgedrängt. Die übrigen Nordprovinzen standen unter der Herrschaft der aus
verschiedenen Machthabern und Gruppierungen gebildeten Nordallianz unter
Führung des usbekischen Generals Dostum, während der Süden und Westen, etwa
die Hälfte des afghanischen Territoriums, unter der Herrschaft der Taliban
standen, die diese Gebiete nach ihrem Eingreifen in den afghanischen Bürgerkrieg
Ende 1995 in rascher Folge erobert hatten. Daneben bestanden kleinere
Herrschaftsbereiche, vor allem die weitgehend unzugängliche Region der
schiitischen Hazara in Zentral-Afghanistan, und das Bündnis mehrerer neutraler
Provinzen im Osten unter Führung des Gouverneurs der Provinz Nangahar, Hadji
Abdul Kadir (vgl. zum Vorstehenden: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.
November 1995 (Stand: Oktober 1995)).
Diese sich 1995 bis Mitte 1996 entwickelnde und aus damaliger Sicht zumindest
auf absehbare Zeit stabil erscheinende Machtverteilung (vgl. Urteil des Senats
vom 8. Juli 1996 - 13 UE 962/96.A -) geriet ins Wanken, als die Taliban in einer
neuen Offensive Anfang 1996 die neutralen Provinzen im Osten des Landes
angriffen und am 11. September 1996 Dschalalabad eroberten (dpa-Meldungen
vom 10. und 11. September 1996). Im Zuge ihres von der Regierung trotz des
Einsatzes massiver Luftangriffe nicht zu stoppenden Vormarschs brachten die
Taliban die zuvor ebenfalls neutralen Provinzen Laghman und Kunar in ihre Gewalt
(dpa-Meldung vom 22. September 1996) und besetzten nach vorheriger
Eroberung des strategisch wichtigen Stützpunktes Sarobi schließlich am 27.
September 1996 die Hauptstadt Kabul, die ihnen von den kurz zuvor abgezogenen
Regierungstruppen nahezu ohne Gegenwehr überlassen wurde (Frankfurter
Rundschau vom 26. September 1996, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.
September 1996).
Nach der Besetzung Kabuls stießen die Taliban weiter nach Norden vor, drängten
die Truppen Shah Massuds bis in das Pandschir-Tal zurück und gelangten in
nordwestlicher Richtung bis an den strategisch wichtigen Salang-Tunnel, dem
Zugang zu den von den Nordallianz gehaltenen Nordprovinzen (Süddeutsche
Zeitung vom 30. September 1996, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Oktober
1996). Hierdurch gerieten die Taliban in Konflikt mit General Dostum, der durch
den Vormarsch der Taliban auch seine eigene Machtstellung in den von ihm
beherrschten Regionen im Norden Afghanistans zunehmend gefährdet sah (dpa-
Meldung vom 8. Oktober 1996). Die durch den Siegeszug der Taliban
fortschreitende Gefährdung ihrer Machtbasis veranlaßten die Regierung Rabbani,
die sich in die nordöstlich gelegene Provinz Takhar zurückgezogen hatte, und
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die sich in die nordöstlich gelegene Provinz Takhar zurückgezogen hatte, und
General Dostum Anfang Oktober 1996 zu einem militärischen Zusammenschluß
(Neue Zürcher Zeitung vom 9. Oktober 1996, Die Welt vom 9. Oktober 1996).
Diese neue Allianz begann Mitte Oktober 1996 eine Gegenoffensive, durch die die
Taliban vom Salang-Tunnel zurückgeschlagen wurden (Frankfurter Allgemeine
Zeitung und Süddeutsche Zeitung, jeweils vom 10. Oktober 1996). Truppen
Massuds gelang es, unter Eroberung des Luftwaffenstützpunktes Baghram
nördlich von Kabul nach Süden vorzudringen und Stellungen wenige Kilometer vor
Kabul zu beziehen, von wo aus sie die Stadt mit Raketen angriffen. Versuche, die
Stadt durch massierte Angriffe von Boden- und Luftstreitkräften zurückzuerobern,
wurden durch die Taliban zurückgewiesen (Süddeutsche Zeitung vom 15. Oktober,
vom 16. Oktober, vom 21. Oktober und vom 22. Oktober 1996, dpa-Meldungen
vom 27. Oktober und vom 29. Oktober 1996). Gegenangriffe der Taliban im
Bereich des Territoriums der Nordallianz führten zur Besetzung von Teilen der
Provinzen Badhgis und Farjab (Frankfurter Rundschau vom 31. Oktober 1996). Im
November und Dezember 1996 tobten weitere schwere Kämpfe an allen Fronten
nördlich von Kabul (Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung,
jeweils vom 19. November 1996, Süddeutsche Zeitung vom 30. Dezember 1996),
bevor ein Vorstoß der Taliban zur Rückeroberung des Stützpunktes Baghram, zu
weiteren Geländegewinnen der Taliban in der Provinz Parwan und zur Einnahme
wichtiger Städte vor dem Eingang zum Panjir-Tal und zum Salang-Tunnel führte
(dpa-Meldung vom 16. Januar 1997, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.
Januar 1997, Neue Zürcher Zeitung vom 24. Januar 1997). Durch weitere
Offensiven brachten die Taliban die Provinzen Parwan und Kapisa sowie den bis
dahin von schiitischen Kämpfern der Hezb-e-Wahdat gehaltenen Shibar-Paß in ihre
Gewalt (dpa-Meldungen vom 2. Februar und 24. Februar 1997).
Nach vorübergehendem Stillstand kam es schließlich Ende Mai 1997 zum
plötzlichen Zusammenbruch der Nordallianz, als der wichtigste Verbündete
General Dostums, Malik Pahlewan, sich mit den Taliban zusammenschloß
(Frankfurter Rundschau vom 26. Mai 1997). Die Taliban fielen in den bislang von
Truppen General Dostums gehaltenen Nordprovinzen Kunduz und Samangan ein
und eroberten mit Unterstützung von Kämpfern Malik Pahlewans das in der Provinz
Jozjan gelegene Hauptquartier General Dostums in Shibargan (Frankfurter
Allgemeine Zeitung und Neue Zürcher Zeitung, jeweils vom 26. Mai 1997). Am 24.
Mai 1997 drangen Einheiten Malik Pahlewans und Taliban-Kämpfer in Mazar-e-
Sharif ein und eroberten die Stadt nach kurzen Kampf mit dort stationierten
Einheiten General Dostums. Dieser flüchtete am gleichen Tag in die Türkei
(Frankfurter Rundschau, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Neue Zürcher
Zeitung, jeweils vom 26. Mai 1997). In den nachfolgenden Tagen verbuchten die
Taliban weitere Geländegewinne in der von der schiitischen Gruppe Hezb-e-Wadat
beherrschten zentralafghanischen Provinz Bamiyan und den hieran nordöstlich
angrenzenden Provinzen Baghlan und Takhar (dpa-Meldungen vom 26. und 27.
Mai 1997; Frankfurter Rundschau vom 28. Mai 1997). Durch die Eroberung der
strategisch wichtigen Stadt Khinjan nördlich des Salang- Passes wurde die letzte
Verbindung zwischen den von Shah Mussud befehligten Streitkräften der früheren
afghanischen Regierung und den mit ihr verbündeten Schiiten unterbrochen (dpa-
Meldung vom 26. Mai 1997). Die Taliban beherrschten zu diesem Zeitpunkt mit
ihren Verbündeten 30 der 32 afghanischen Provinzen und standen unmittelbar vor
dem endgültigen Sieg über ihre militärisch und politisch isolierten Gegner und der
Übernahme der Macht in ganz Afghanistan (Frankfurter Rundschau vom 28. Mai
1997).
In der Folgezeit erlitten die Taliban, deren Regime durch Pakistan und Saudi-
Arabien bereits als neue afghanische Regierung anerkannt worden war (dpa-
Meldung vom 26. Mai 1997), in ihrem Bemühen, auch die restlichen afghanischen
Gebiete ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben und ihre Macht in den eroberten
Nordprovinzen zu festigen, jedoch unerwartet schwere Rückschläge. Bestrebungen
der Taliban, ihre religiösen Vorstellungen und Verhaltensmaßregeln in den
besetzten Nordregionen durchzusetzen, schürten den Widerstand der dortigen
Bevölkerung. Ihre Versuche, gegnerische Milizen in Mazar-e-Sharif zu entwaffnen,
und die angebliche Nichteinhaltung von Autonomievereinbarungen durch die
Taliban führten zum Bruch mit ihrem kurzfristigen Verbündeten Malik Pahlewan,
dessen Kämpfer die Taliban zusammen mit rebellierenden Teilen der Bevölkerung
aus Mazar-e-Sharif vertrieben (Neue Zürcher Zeitung vom 29. Mai 1997,
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Mai 1997). Zugleich sahen sich die Taliban
einer Offensive der Streitkräfte Shah Massuds und der mit ihnen verbündeten
schiitischen Milizen ausgesetzt. In den Provinzen Kunduz, Takhar, Baghlan und
Parwan wurden sie in schwere Kämpfe mit gegnerischen Einheiten verwickelt, in
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Parwan wurden sie in schwere Kämpfe mit gegnerischen Einheiten verwickelt, in
deren Verlauf die Streitkräfte Shah Massuds entlang der Straße am Salang-Paß
bis auf 40 Kilometer vor Kabul vorstießen (Frankfurter Allgemeine Zeitung und die
Welt, jeweils vom 31. Mai 1997). Im Nordwesten konnten die Provinzen Farjab und
Jozyan von den Taliban nicht gehalten werden und wurden von usbekischen
Streitkräften besetzt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Mai 1997). In der
Provinz Baghlan wurden etwa 3.000 Taliban eingekesselt und konnten wegen
Schwierigkeiten bei dem Nachschub und bei der Rekrutierung neuer Kämpfer nicht
ersetzt werden (dpa-Meldung vom 3. Juni 1997, Neue Zürcher Zeitung vom 7. Juni
1997). Bei den militärischen Auseinandersetzungen mit den gegnerischen Kräften
im Norden bzw. Nordwesten Afghanistans, die sich Mitte Juni 1997 auch politisch
zusammenschlossen und eine Gegenregierung zu den Taliban bildeten
(Süddeutsche Zeitung vom 16. Juni 1997), hatten die Taliban mehrere tausend
Tote, Verletzte und Gefangene zu verzeichnen, darunter viele ihrer erfahrensten
Kämpfer sowie zur Unterstützung entsandte pakistanische Soldaten und Berater
(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Juni 1997).
Nach diesen erheblichen militärischen und politischen Mißerfolgen starteten die
Taliban nach Festigung ihrer Rückzugsstellungen im Norden Afghanistans eine
erneute militärische Offensive. Die in der Provinz Baghlan eingeschlossenen
Taliban-Kämpfer rückten auf Kunduz vor und eroberten - offenbar mit Hilfe
übergelaufener Kommandanten der Nordallianz - den überwiegenden Teil der
Provinz (Frankfurter Rundschau vom 20. Juni 1997, Neue Zürcher Zeitung vom 21.
Juni 1997). Am Salang-Paß und im Osten begannen die Taliban eine
Gegenoffensive gegen die dort stationierten Truppen Shah Massuds, dessen
Vormarsch auf Kabul zur gleichen Zeit ins Stocken geriet (dpa-Meldungen vom 6.
Juli und 28. August 1997, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. August 1997).
Anfang September 1997 drangen die Taliban erneut auf Mazar-e-Sharif vor und
eroberten den dortigen Flughafen (Neue Zürcher Zeitung vom 10. und 11.
September 1997), wurden von dort allerdings einige Tage später wieder vertrieben
(Neue Zürcher Zeitung vom 16. September 1997). Weitere Rückschläge erlitten
die Taliban in den von ihnen kurz zuvor eingenommenen Gebieten der Provinz
Kunduz, die nach Verlusten teilweise wieder geräumt werden mußte (Frankfurter
Allgemeine Zeitung vom 25. September 1997). Teilen der geschlagenen Taliban-
Truppen gelang es, sich in die Stadt Kunduz zurückziehen und sich dort mit
Unterstützung der in dem Gebiet beheimateten paschtunischen Bevölkerung zu
verschanzen (Neue Zürcher Zeitung vom 1. Oktober 1997). Zur gleichen Zeit
verbuchten die Streitkräfte Shah Massuds Geländegewinne im Raum Kabul
(Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30. September 1997 (Stand: September
1997), Die Welt vom 15. Oktober 1997). Innerhalb der Nordallianz kam es im
gleichen Zeitraum zu einem internen Machtkampf, nachdem der im September
1997 aus seinem Exil in der Türkei nach Nordafghanistan zurückgekehrte General
Dostum dem Kommandanten Malik Pahlewan die Vorherrschaft in den
Nordprovinzen streitig gemacht hatte. Nach heftigen militärischen
Auseinandersetzungen übernahm Dostum die Kontrolle über die von der
Nordallianz gehaltenen Gebiete und zwang Malik Pahlewan zur Flucht ins Ausland
(Neue Zürcher Zeitung vom 26. November 1997).
Die Frontlinie zwischen den verfeindeten Machtblöcken verläuft derzeit etwa 30
Kilometer nördlich von Kabul unter andauernden heftigen Kämpfen (Auswärtiges
Amt, Lagebericht vom 30. September 1997 (Stand: September 1997)).
Kampfhandlungen finden weiterhin in der Provinz Kunduz zwischen den dort
eingeschlossenen Milizionären der Taliban und Massud-Einheiten sowie in der von
den Taliban kontrollierten Nordprovinz Badghiz statt. In den östlichen Provinzen
Kunar und Nanghahar liefern sich rebellierende Teile der Bevölkerung Gefechte mit
den dort herrschenden Taliban (amnesty international, Auskunft vom 9. Dezember
1997 an den Senat). Im Raum Kabul kommt es darüber hinaus zu regelmäßigen
Artillerieduellen zwischen den Taliban und den vor der Hauptstadt stehenden
Streitkräften Massuds. Kabul und Herat werden darüber hinaus von der Luftwaffe
der Nordallianz bombardiert (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30. September
1997 (Stand: September 1997); amnesty international, Auskunft vom 9.
Dezember 1997).
Die Chancen einer Beendigung dieser Bürgerkriegsauseinandersetzungen mit der
Aussicht auf Bildung einer von den derzeitigen Machthabern Afghanistans
gemeinsam getragenen Regierung stehen augenblicklich und für die absehbare
Zukunft außerhalb jeglicher realistischer Erwartung. Beide Seiten lassen trotz
gelegentlicher Friedensbeteuerungen nach wie vor keinerlei ernsthaften Willen zur
Verständigung erkennen und verfolgen allein militärische Ziele. Die Taliban streben
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Verständigung erkennen und verfolgen allein militärische Ziele. Die Taliban streben
hierbei erklärtermaßen die endgültige Niederwerfung der Nordallianz und die
alleinige Machtergreifung in ganz Afghanistan, ihre Gegner die Brechung der
militärischen Vorherrschaft der Taliban durch Rückeroberung von Kabul und einen
Friedensschluß zu ihren Bedingungen an (Neue Zürcher Zeitung vom 1. Oktober
1997; Die Welt vom 15. Oktober 1997). Die vielfältigen Bemühungen der
internationalen Gemeinschaft, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und
durch einen dauerhaften Friedensschluß den seit nahezu 20 Jahren andauernden
Bürgerkrieg in Afghanistan zu beenden, scheinen endgültig gescheitert. Der letzte
von den Vereinten Nationen als Sonderbevollmächtigter eingesetzte deutsche
Diplomat Holl erklärte im Oktober 1997 seinen Rücktritt, den er mit Kritik an der
mangelnden Unterstützung vor allem durch die in dem Afghanistan- Konflikt
wirtschaftlich und politisch involvierten Staaten verband (Frankfurter Rundschau
vom 28. Oktober 1997).
In einer solchen unentschiedenen, wechselhaften und zum Teil unübersichtlichen
Bürgerkriegslage, die für die absehbare Zukunft keine Bildung einer neuen
staatlichen Ordnung als Folge einer Verständigung zwischen den
Bürgerkriegsparteien erwarten läßt, sind die Anforderungen für die Annahme
staatsähnlicher Organisationen nicht erfüllt. Nach der bereits oben dargestellten
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat folgt, können aus
einem anhaltenden Bürgerkrieg hervorgegangene Machtgebilde nur dann als
staatsähnliche Organisationen betrachtet werden, wenn diese Machtgebilde
voraussichtlich von Dauer sein werden und Vorläufer neuer oder erneuerter
staatlicher Strukturen sind, was grundsätzlich voraussetzt, daß eine Beendigung
des Bürgerkriegs auf der Basis einer nichtmilitärischen Lösung zu erwarten ist.
Dies ist in Afghanistan, wie umfassend ausgeführt, nicht der Fall. An seiner
gegenteiligen Einschätzung in dem Urteil vom 8. Juli 1996 - 13 UE 962/96.A - hält
der Senat im Hinblick hierauf nicht mehr fest.
B.
Aus den vorstehend dargestellten Gründen folgt zugleich, daß dem Kläger auch
der ausländerrechtliche Abschiebungsschutz für politisch Verfolgte nach § 51 Abs.
1 AuslG nicht gewährt werden kann. Auch hierfür ist das Bestehen einer in ihrem
Gebiet zur politischen Verfolgung fähigen bzw. für eine solche politische Verfolgung
verantwortlich zu machenden Staatsmacht oder staatsähnlichen Organisation
erforderlich (BVerwG, Urteil vom 22. März 1994 - BVerwG 9 C 443.93 -, InfAuslR
1994, 329, 330; Urteil des Senats vom 20. Mai 1996 - 13 UE 2332/95 -).
C.
1. Die Klage des Klägers muß schließlich auch insoweit erfolglos
bleiben, als er hiermit die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung
begehrt, daß in seinem Fall Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.
Für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach der vorgenannten
ausländerrechtlichen Bestimmung ist kein Raum, da keiner der in § 53 AuslG
geregelten Tatbestände einer Abschiebung des Klägers nach Afghanistan
entgegensteht. Soweit die Beklagte durch das Verwaltungsgericht verpflichtet
worden ist, festzustellen, daß die Voraussetzungen nach § 53 Abs. 4 AuslG in der
Person des Klägers hinsichtlich einer Abschiebung nach Afghanistan vorliegen, ist
das Urteil der Vorinstanz folglich auf die Berufung des Bundesbeauftragten für
Asylangelegenheiten abzuändern und die erhobene Asylverpflichtungsklage
insgesamt abzuweisen.
2. Daß für den Kläger in seiner Heimat die konkrete Gefahr bestünde, der
Folter unterworfen zu werden (vgl. § 53 Abs. 1 AuslG), ist nicht ersichtlich.
Auch für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 2 AuslG
(Gefahr der Todesstrafe für eine in dem Aufnahmestaat verfolgt Straftat des
Ausländers) bietet der Fall keine Anhaltspunkte.
3. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts kann zu Gunsten des
Klägers auch kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG bezüglich
einer Abschiebung nach Afghanistan festgestellt werden.
Abschiebungsschutz nach der vorgenannten Bestimmung ist nur dann zu
gewähren, wenn der Ausländer nach seiner Abschiebung eine von dem dortigen
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gewähren, wenn der Ausländer nach seiner Abschiebung eine von dem dortigen
Staat oder von einer an seine Stelle getretenen staatsähnlichen Macht
ausgehende oder dem Staat oder der staatsähnlichen Organisation
zuzurechnende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erdulden hätte
(BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 und
- BVerwG 9 C 15.95 -, BVerwGE 99, 331; Urteil des Senats vom 29. Juli 1996 - 13
UE 2387/96.A -). Wie bereits umfassend dargelegt, besteht eine solche auch für
die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG erforderliche
staatliche oder quasi-staatliche Ordnung in Afghanistan nicht.
4. Auch die Regelung in § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, die deshalb zu prüfen
ist, weil der Kläger mit seinem hauptsächlich auf die Gewährung von
Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG gerichteten Begehren erfolglos bleibt
(vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - BVerwG 9 C 19.96 -, InfAuslR 1997, 420,
421), vermag zu seinen Gunsten nicht einzugreifen.
Zunächst scheidet die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz
1 AuslG im Hinblick auf eine individuelle, gerade in der Person des Klägers
begründet Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit - die hier unabhängig davon zu
berücksichtigen ist, ob sie auf Maßnahmen des Staates oder einer staatsähnlichen
Organisation beruht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95
-, BVerwGE 99, 324 (329)) - aus.
Eine solche Gefährdung ergibt sich für den Kläger in der für die Zuerkennung des
Abschiebungsschutzes nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erforderlichen beachtlichen
Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, a.a.O.) zunächst nicht aufgrund einer ihm in
Afghanistan wegen seiner früheren Mitgliedschaft in der Demokratischen
Volkspartei Afghanistans (DVPA) drohenden Verfolgung durch die dortigen
Machthaber.
Der Senat hat schon in seinem bereits zitierten Grundsatzurteil vom 8. Juli 1996
ungeachtet der in den ersten Jahren nach dem Sturz der kommunistischen
Regierung im Jahre 1992 auch gegen einfache Mitglieder oder Unterstützer der
früheren Staatspartei DVPA ausgeübten Repressalien eine mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit anzunehmende Gefahr, auch heute noch wegen der bloßen
Mitgliedschaft in der DVPA oder einer während der kommunistischen Zeit für diese
Partei geäußerten Sympathie verfolgt zu werden, verneint. Schon aus den von ihm
für diese Entscheidung herangezogenen Erkenntnisquellen ergab sich nämlich,
daß trotz der in der ersten Zeit nach dem Sturz des Nadschibullah-Regimes
verübten Repressionen gegen Angehörige der DVPA und der entsprechenden, von
der Übergangsregierung Rabbani hierzu erlassenen Anordnungen eine allgemeine,
letztlich jedes frühere Mitglied der DVPA erfassende Verfolgung von Kommunisten
in Afghanistan ausblieb (vgl. Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 12. Mai
1995 an das VG Gießen, Seite 14, vom 12. Juni 1995 an das VG Hannover, Seite
32 und vom 28. Februar 1996 an das VG Gießen). Hierbei wurde vor allem darauf
hingewiesen, daß zahlreiche, auch prominente DVPA-Mitglieder und -Funktionäre
sowie führende Repräsentanten der Regierung Nadschibullah, soweit sie nicht im
Ausland oder im Norden des Landes Zuflucht gesucht hatten, entsprechend den
jeweiligen familiären und ethnischen Bindungen Anschluß an die verschiedenen
Mudjaheddin-Gruppierungen gefunden hatten. Alle Mudjaheddin-Fraktionen und
auch die der kommunistischen Ideologie in besonderer Weise feindlich
gegenüberstehenden Taliban hatten Angehörige und Anhänger der früheren DVPA
in ihren Reihen aufgenommen, insbesondere soweit es sich um dringend benötigte
Fachkräfte und frühere Offiziere der ehemaligen afghanischen Armee handelte
(vgl. Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 17. Januar 1994 an das VG München, vom
19. September 1994 an das VG Würzburg, vom 6. Oktober 1994 an das VG Gießen
sowie Lagebericht vom 2. November 1995 - Stand: Oktober 1995 -; Deutsches
Orient-Institut, Gutachten vom 12. Mai 1995 an das VG Gießen, Seite 9 ff. und vom
12. Juni 1995 an das VG Hannover, Seite 32). Durch diesen Prozeß, der zu
gegenseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen zwischen den verfeindeten
Bürgerkriegsparteien führte, kam es zu einer weitgehenden Absorption der weitaus
meisten der ehemaligen Kommunisten durch die verschiedenen Mudjaheddin-
Gruppen (Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 12. Mai 1995 an das VG
Gießen, Seite 11).
Im Hinblick hierauf hat der Senat in seinem Urteil vom 8. Juli 1996, gestützt vor
allem auf entsprechende Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes, angenommen,
daß die bloße Mitgliedschaft in der früheren DVPA gegenüber der Bindung an die
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daß die bloße Mitgliedschaft in der früheren DVPA gegenüber der Bindung an die
nunmehr im Land herrschenden Personen und Organisationen weitgehend an
Bedeutung verloren hat und allein zu keinen Verfolgungsmaßnahmen durch die im
Land herrschenden Machthaber mehr führt. Als weiterhin gefährdet hat der Senat
vielmehr nur solche früheren Angehörigen der DVPA und sonstige Mitarbeiter der
früheren kommunistischen Regierung angesehen, die unter dem früheren Regime
eine ranghohe Stellung einnahmen, in dieser Tätigkeit deutlich und für einen
größeren Personenkreis erkennbar nach außen getreten sind und durch die
Ausübung ihrer Funktion - insbesondere im Militär und im früheren Geheimdienst
Khad - für die Tötung oder Verfolgung von Mudjaheddin verantwortlich gemacht
werden können.
Die von dem Senat nach Erlaß seines Grundsatzurteils vom 8. Juli 1996
eingeholten Auskünfte des Auswärtigen Amtes, der Gefangenenhilfsorganisation
amnesty international, des Deutschen Orient-Instituts und des Journalisten Dr.
Mostafa Danesch geben, ebenso wie die ihm ansonsten zugänglich gewordenen
Erkenntnisquellen, keine Veranlassung, die Verfolgungsgefährdung für ehemalige
Angehörige der DVPA in grundsätzlich anderer Weise zu beurteilen und nunmehr
die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung auch für solche ehemaligen
DVPA-Mitglieder anzunehmen, die neben ihrer Parteimitgliedschaft keine weiteren
Funktionen bekleidet oder lediglich Aufgaben unterhalb der Leitungs- oder
Führungsebene in Verwaltung, Geheimdienst oder Militär wahrgenommen haben
oder aber als herausgehobene Funktionsträger nicht für einen größeren
Personenkreis erkennbar nach außen in Erscheinung getreten sind.
Das Auswärtige Amt geht in Übereinstimmung mit seiner schon in den oben
genannten früheren Auskünften mitgeteilten Einschätzung auch weiterhin davon
aus, daß in ganz Afghanistan die Mitgliedschaft in der DVPA oder die Zugehörigkeit
zu den Streitkräften in der Zeit der kommunistischen Herrschaft allein in der Regel
nicht mehr zum Anlaß für Repressalien genommen wird. Gefährdet seien - so das
Auswärtige Amt - lediglich Personen, die persönlich für Gewalttaten während des
kommunistischen Regimes bzw. im Verlaufe der Auseinandersetzungen zwischen
den verschiedenen Mudjaheddin-Gruppen verantwortlich gemacht würden sowie -
allerdings mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Sturz der letzten
kommunistischen Regierung in immer geringerem Maße - prominente Funktionäre
des kommunistischen Regimes und des früheren Geheimdienstes Khad. Die
Gefährdung sei dabei um so größer, je prominenter die Person sei. In allen
anderen Fällen sei eine Gefährdung gering und vermindere sich mit wachsendem
Zeitabstand zum Ende der kommunistischen Herrschaft noch mehr (Auskunft vom
19. März 1997 an den Senat, Lageberichte vom 20. Dezember 1996 (Stand:
Anfang Dezember 1996), vom 25. April 1997 (Stand: April 1997) und vom 30.
September 1997 (Stand: September 1997)).
Nach Ansicht des Autors und Journalisten Dr. Mostafa Danesch ist das Risiko eines
ehemaligen Angehörigen der DVPA, bei Rückkehr nach Afghanistan dort wegen
seiner kommunistischen Vergangenheit Verfolgungseingriffen ausgesetzt zu
werden, wesentlich davon abhängig, in welchem Herrschaftsbereich sich der
Betreffende aufhält bzw. in welches Machtgebiet er im Falle seiner Rückkehr
gelangen würde.
Bei seinen Vernehmungen als Sachverständiger durch das Verwaltungsgericht
Köln am 17. September 1996 und durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof
am 1. Oktober 1996 sowie in seinem auf Anforderung des Senats erstatteten
Gutachten vom 5. April 1997 hat Dr. Danesch eine Gefährdung ehemaliger DVPA-
Angehöriger in den - zum Zeitpunkt der vorgenannten Vernehmungen als
Sachverständiger und bei Erstattung des Gutachtens für den Senat noch allein von
General Dostum beherrschten - afghanischen Nordprovinzen für den Regelfall
verneint. General Dostum habe - so Dr. Danesch - die Administration aus
kommunistischer Zeit mit ihren Führungskadern im wesentlichen unverändert
übernommen, zu denen viele kommunistische Intellektuelle gehört hätten
(Sitzungsprotokoll des Verwaltungsgerichts Köln vom 17. September 1996, Seite
6, und Sitzungsprotokoll des Bayerischen VGH vom 1. Oktober 1996, Seiten 8 und
9). Zwar habe Dostum mit Rücksicht auf seine radikal-islamischen Bündnispartner
etliche bekannte Ex-Kommunisten und -Funktionäre des alten Regimes ins
Ausland geschickt. Die im Land verbliebenen ehemaligen DVPA-Mitglieder und -
Funktionsträger sowie frühere Khad-Angehörige und -Mitarbeiter hätten aber im
Norden wegen ihrer kommunistischen Vergangenheit grundsätzlich nichts zu
befürchten. Eine - allerdings nicht mit der bei ihnen vermuteten kommunistischen
Gesinnung im Zusammenhang stehende - Gefährdung könne sich vor allem für
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Gesinnung im Zusammenhang stehende - Gefährdung könne sich vor allem für
prominente Angehörige von Parteikadern der ehemaligen DVPA allenfalls aus einer
aktuellen oder früheren Opposition gegenüber Dostum ergeben. Im Blickfeld der
Sicherheitsbehörden im Norden stünden vor allem solche Personen, die den
maßgeblich für den Sturz des Najibullah-Regimes verantwortlichen Kurswechsel
Dostums zu den Mudjaheddin im Jahre 1991 nicht mitvollzogen und ihm
gegenüber deshalb eine feindliche oder oppositionelle Haltung eingenommen
hätten. Im übrigen könnten in den Norden zurückkehrende ehemalige
Kommunisten wegen Vorgängen aus der Zeit vor 1992 durch Vergeltungsakte
örtlicher Kommandanten oder durch Blutrache von Familienangehörigen damals
getöteter oder verfolgter Personen gefährdet sein (Sitzungsprotokoll des
Verwaltungsgerichts Köln vom 17. September 1996, Seite 8 und Sitzungsprotokoll
des Bayerischen VGH vom 1. Oktober 1996, Seiten 8 bis 10; Gutachten vom 5.
April 1997 an den Senat, Seiten 77 ff. sowie Gutachten vom 7. April 1997 an das
OVG Hamburg, Seite 13).
Für das Herrschaftsgebiet der ehemaligen afghanischen Regierung unter Prof.
Rabbani und Schah Ahmad Massoud hat Dr. Danesch bei seiner Vernehmung
durch das Verwaltungsgericht Köln am 17. September 1996 die Auffassung
vertreten, im Bereich der (damals noch zum Herrschaftsbereich der früheren
Regierung gehörenden) Hauptstadt Kabul seien alle ehemaligen Kommunisten
allein wegen ihrer Mitgliedschaft zur DVPA gefährdet. Es gebe in Kabul - so Dr.
Danesch - eine schwarze Liste, auf der unliebsame Personen vermerkt seien. Er
selbst habe im Juni 1996 beobachtet, daß in einem Paßamt vor Ausstellung eines
Passes Einsicht in eine solche Liste, eine relativ dicke Kladde, genommen worden
sei. Hierin seien alle Gegner Rabbanis und Massouds nach Namen, Funktion und
Mitgliedschaft vermerkt. Man müsse sich vor Augen halten, daß ehemalige
Kommunisten a priori als Feinde des Gottesstaates eingestuft würden. Auch
ehemalige Mitglieder der kommunistischen Partei auf unterster Ebene seien
gefährdet. Unter den mehreren tausend Gefangenen der Regierung befänden sich
mehrere hundert ehemalige Mitglieder der kommunistischen Partei
(Verhandlungsprotokoll des Verwaltungsgerichts Köln vom 17. September 1996,
Seiten 9 bis 11).
In seinem für den Senat erstatteten Gutachten vom 5. April 1997 hat Dr. Danesch
das Verfolgungsrisiko von Angehörigen und Funktionären der gestürzten
kommunistischen Regierung und der sie tragenden Organisationen im
Herrschaftsgebiet von Rabbani und Massoud unter Berücksichtigung der
nachfolgend eingetretenen politischen Entwicklung differenzierter beurteilt. Es
bestehe - so der Gutachter - bei den Behörden der ehemaligen Regierung nach
dem Verlust von Kabul und dem Eingehen des Bündnisses mit den Nordprovinzen
gegen die Taliban kein erkennbares Interesse an der Verfolgung einfacher DVPA-
Mitglieder und -Funktionäre, unterrangiger Offiziere der früheren Armee und als
unbelastet geltender Angehöriger des ehemaligen Geheimdienstes mehr.
Herausgehobene Funktionsträger oder Militärangehörige, die einer Beteiligung an
Verbrechen gegen die Mudjaheddin beschuldigt würden, seien allerdings weiterhin
sowohl Repressalien der Behörden als auch Vergeltungsakten örtlicher
Kommandanten oder betroffener Familien ausgesetzt (Gutachten vom 5. April
1997, Seiten 58, 77 ff., ebenso Gutachten vom 7. April 1997 an das OVG
Hamburg, Seite 14).
Die größte Gefahr, Opfer von Verfolgungsmaßnahmen zu werden, bestehe nach
Ansicht von Dr. Danesch für ehemalige DVPA-Mitglieder und Angehörige sowie
Mitarbeiter oder Unterstützer des im April 1992 gestürzten kommunistischen
Regimes im Herrschaftsgebiet der Taliban. Von diesen würden - so der
Sachverständige bei seiner Vernehmung durch den Bayerischen VGH am 1.
Oktober 1996 - ehemalige Kommunisten als Gottlose angesehen und
entsprechend behandelt. Es reiche schon, bei den Taliban als Intellektueller zu
gelten, denn diese würden mit Kommunisten gleichgesetzt und verdienten in den
Augen der Taliban als Feinde des Gottesstaates den Tod. Jeder Rückkehrer, der
nach seinem äußeren Erscheinungsbild nicht den Vorstellungen der Taliban
entspreche, müsse mit sofortiger Verhaftung und intensiven Nachforschungen
nach dem Grund der Einreise und dem bisherigen Aufenthalt rechnen. Werde der
Rückkehrer dabei als Kommunist entlarvt, sei er in den Augen der Taliban des
Todes würdig, ohne auch nur vor ein Gericht gestellt zu werden. Die
hunderttausend bzw. zweihunderttausend früher in Afghanistan lebenden
Kommunisten seien, ebenso wie die dort ehemals beheimateten Intellektuellen,
ins Ausland geflüchtet. Die wenigen Kommunisten, die sich noch im Bereich der
Taliban aufhielten, würden bei Hauskontrollen entdeckt oder durch Denunziationen
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Taliban aufhielten, würden bei Hauskontrollen entdeckt oder durch Denunziationen
ausfindig gemacht und hingerichtet.
Ein differenzierteres Bild der Gefährdungssituation ehemaliger Kommunisten und
Mitarbeiter sowie Helfer des Nadschibullah-Regimes im Gebiet der Taliban zeichnet
Dr. Danesch dagegen wiederum in seinem Gutachten vom 5. April 1997 an den
Senat. Die politischen Fronten in Afghanistan seien - so Dr. Danesch in dem
vorerwähnten Gutachten - stets eng mit Stammesloyalitäten und anderen
Faktoren verquickt. Es gebe deshalb keine einfachen Feindbilder, an denen man
die Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung ablesen könne. Diese
Stammesbindungen hätten auch das Verhältnis der Taliban zu dem von ihnen
nach der Einnahme Kabuls hingerichteten letzten kommunistischen
Staatspräsidenten Nadschibullah bestimmt. Die entgegen vorheriger Absprachen
und Ankündigungen erfolgte Hinrichtung Nadschibullahs und seines Bruders sei
wesentlich darauf zurückzuführen, daß der frühere Staatspräsident trotz seiner
paschtunischen Volkszugehörigkeit nicht dem paschtunisch beherrscht Khalq-
Flügel innerhalb der DVPA angehört, sondern dem tadschikisch dominierten
Partscham- Flügel, und damit nach Auffassung der Taliban sein Volk verraten
habe. Der Stammeszugehörigkeit komme auch im Verhältnis der Taliban zu
einfachen Mitgliedern und Sympathisanten der DVPA und unterrangigen
Angehörigen und Mitarbeitern des früheren Khad wesentliche Bedeutung zu. Es sei
eine Tatsache, daß viele paschtunische Mitglieder der früheren Khalq-Fraktion der
DVPA, insbesondere Offiziere, sich den Taliban angeschlossen hätten und
nunmehr gegen deren Kriegsgegner kämpften. Der Bürgerkrieg sei hierdurch zu
einem Krieg der Paschtunen gegen die anderen afghanischen Völker geworden.
Diese auf Seiten der Taliban kämpfenden einfachen Mitglieder der DVPA blieben -
zumindest vorläufig bis zum Ende des Bürgerkrieges - unbehelligt. Gleiches gelte
für Paschtunen, die früher einfache Mitglieder oder Mitarbeiter des
Geheimdienstes Khad gewesen seien, wobei diese Personen allerdings dann von
Repressalien der Taliban wie auch durch Blutrache bedroht seien, wenn sie in der
Bevölkerung als Denunzianten bekannt seien oder von dieser der Verübung von
Verbrechen verdächtigt würden. Anderen Volksgruppen zugehörige Personen
seien dagegen auch als einfache Partei- oder Geheimdienstmitglieder akut von
Verfolgung bedroht, insbesonderen dann, wenn sie Mitglieder der Partscham-
Fraktion innerhalb der DVPA gewesen seien oder sich im Ausland gegen die
Taliban ausgesprochen hätten. Ungeachtet ihrer Stammeszugehörigkeit seien
bekannte Regierungsmitglieder, Funktionäre der DVPA, Offiziere des
Geheimdienstes Khad und Personen, die während der kommunistischen Zeit in
Verwaltung oder Justiz eine herausgehobene Stellung inne gehabt hätten,
gefährdet, wobei eine unbarmherzige Verfolgung vor allem dann zu erwarten sei,
wenn zur kommunistischen Vergangenheit noch eine oppositionelle oder
antipakistanische Haltung hinzutrete (Gutachten vom 5. April 1997, Seiten 55, 56
und 75, 76).
Nach Aussage der Gefangenenhilfsorganisation amnesty international findet in
den von der Nordallianz beherrschten Gebieten eine systematische Verfolgung
von DVPA-Mitgliedern nicht statt. Allerdings seien einzelne Personen sowohl im
Machtbereich der gestürzten Rabbani-Regierung als auch im Gebiet von Dostum
zur Rechenschaft gezogen worden. Diejenigen Parteimitglieder und Offiziere, die
während der Ausübung ihrer Tätigkeiten im Rahmen des Nadschibullah-Regimes
keines Vergehens für schuldig befunden worden seien, seien geduldet worden und
hätten bei den jeweiligen Machthabern sogar Aufgaben übernehmen können. Im
Hinblick hierauf hätten einfache Mitglieder der DVPA und einfache Angehörige des
Geheimdienstes Khad und deren Familienangehörige bei einer Rückkehr in das
Gebiet der Nordallianz nicht unbedingt mit Verfolgung zu rechnen. Dies gelte
selbst für Mitglieder der DVPA, die hohe Posten in der Verwaltung und in der
Armee inne gehabt hätten. Auch der Aufenthalt in der früheren Sowjetunion zur
Ausbildung und zum Zwecke der Arbeitstätigkeit sei in der Regel kein Grund mehr
für Repressalien. Dies werde auch daran deutlich, daß bei der Regierung der
Nordallianz führende Mitglieder der DVPA und Mitarbeiter des Geheimdienstes
Khad im administrativen und militärischen Bereich tätig seien. Werde allerdings der
Vorwurf erhoben, daß die früheren Funktionsträger im Rahmen ihrer Tätigkeit sich
individueller Vergehen schuldig gemacht hätten, seien Maßnahmen gegen diese
Person zu erwarten. Die Wahrscheinlichkeit, mit der derartige
Verfolgungsmaßnahmen und Repressionen zu befürchten seien, hänge vom
Einfluß der Familie der geschädigten Person wie auch vom Einfluß der Familie des
Rückkehrers ab. Die Gefahr, in die Verfolgung gegen den Familienangehörigen
einbezogen zu werden, bestehe auch für nahe Familienmitglieder der betroffenen
Personen (amnesty international, Auskunft vom 9. Dezember 1997 an den Senat,
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Personen (amnesty international, Auskunft vom 9. Dezember 1997 an den Senat,
Seiten 8 und 13).
Im Machtbereich der Taliban müßten - so amnesty international - frühere
Mitglieder der DVPA und insbesondere Angehörige des Geheimdienstes Khad ohne
weiteres mit Repressionsmaßnahmen rechnen, denn sie würden dort als
Ungläubige betrachtet, die dem Islam abgeschworen hätten und die deshalb in
den Augen der Taliban die Todesstrafe verdienten. Andererseits treffe es zu, daß
zahlreiche Kommunisten der Khalq-Fraktion in der Armee der Taliban dienten. Dies
erkläre sich dadurch, daß sich bei den Taliban die Vorstellung vom Islam mit dem
sogenannten Paschtunwali, dem Ehrencodex der Paschtunen, vermischt hätten.
Die früher der Khalq-Fraktion der DVPA angehörigen Paschtunen könnten deshalb
vor Behelligungen in der Regel sicher sein, solange sie sich nicht gegen die Taliban
erhöben. Die Hinrichtung des früheren Präsidenten Nadschibullah und seines
Bruders stelle hier eine Ausnahme dar. Sie seien offensichtlich auf Drängen der
Khalqis ermordet worden, weil Najibullah beim gescheiterten Tanai-Putsch
zahlreiche Khalqis habe hinreichten lassen. Auch für das Herrschaftsgebiet der
Taliban gelte, daß frühere Funktionsträger, die Angehörigen der Mudjaheddin
geschadet hätten, mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müßten. Da die Taliban
einen rein paschtunischen Staat schaffen wollten, bestehe die Gefahr von
Verfolgungsmaßnahmen für Rückkehr im übrigen auch dann, wenn sie unabhängig
von ihrer früheren Tätigkeit einer anderen Volksgruppe angehörten (amnesty
international, Auskunft vom 9. Dezember 1997 an den Senat, a.a.O.).
Der Senat vermag den dargestellten Aussagen der verschiedenen, von ihm um
Auskunft erbetenen Stellen bzw. Personen keine hinreichenden Anzeichen dafür zu
entnehmen, daß in ihr Heimatland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige
- gegebenenfalls in Zusammenhang mit ihrer Volkszugehörigkeit - schon wegen
ihrer Zugehörigkeit zur früheren DVPA, dem ehemaligen Geheimdienst Khad oder
den Streitkräften während der kommunistischen Herrschaft auch heute noch
Verfolgung durch die derzeitigen Machthaber des Landes droht.
Daß die bloße Parteimitgliedschaft und der Dienst im früheren Geheimdienst Khad
bzw. in den ehemaligen afghanischen Streitkräften als solcher in den nicht von den
Taliban beherrschten nördlichen bzw. nordöstlichen Provinzen Afghanistans keine
Gefährdung nach sich zieht, wird von allen Gutachtern bzw. auskunftgebenden
Stellen einvernehmlich angenommen. Allerdings beziehen sich die oben
erwähnten Auskünfte des Auswärtigen Amtes und das Gutachten von Dr. Danesch
auf einen Zeitraum, in dem die mit der früheren afghanischen Regierung
verbündeten Nordprovinzen noch allein von General Dostum beherrscht wurden,
dessen Verhalten gegenüber Angehörigen und Funktionären der DVPA und des
Khad von einer betont pragmatischen, nicht von radikalislamischen Vorstellungen
beeinflußten Haltung geprägt ist. Diese beherrschende Stellung in den
Nordprovinzen hat General Dostum zumindest vorübergehend eingebüßt,
nachdem sich der mit ihm verbündete Kommandant Malik Pahlewan
vorübergehend auf die Seite der Taliban geschlagen hatte und Dostum nach
Eroberung seines Hauptquartiers und der kurzfristigen Besetzung von Mazar- e-
Sharif durch Taliban-Milizen am 24. Mai 1997 zur Flucht und zu einem zeitweiligen
Exil in der Türkei gezwungen worden war (vgl. hierzu: Frankfurter Rundschau,
Frankfurter Allgemeine Zeitung und Neue Zürcher Zeitung, jeweils vom 26. Mai
1997). Zwar ist es General Dostum nach seiner Rückkehr im September 1997
(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. September 1997) gelungen, seine
militärische und politische Position in den Nordprovinzen wieder zu festigen und
seinerseits General Malik aus Afghanistan zu vertreiben (vgl. Neue Zürcher
Zeitung vom 26. November 1997). Gleichwohl ist die politische und militärische
Kräfteverteilung im Norden nach wie vor unklar, und es ist davon auszugehen, daß
der Einfluß der einer islamischen Gesellschaft fundamentalistischer Prägung
wesentlich näher stehenden regionalen Kommandanten erheblich zugenommen
hat. Gleichwohl verbietet sich die Annahme, die Lage der in den Nordprovinzen
lebenden oder dorthin zurückkehrenden ehemaligen Kommunisten oder
Mitarbeiter des früheren kommunistischen Regimes habe sich durch die aktuelle
politische Entwicklung wesentlich verschlechtert. Die in ihrer Machtposition
gestärkten örtlichen und regionalen Kommandanten und Stammesführer
verfügten nämlich auch schon unter der Ägide General Dostums über eine
weitgehende, von der Zentralverwaltung in Mazar-e-Sharif grundsätzlich
respektierte Autonomie, die es ihnen erlaubt hätte, letztlich unbehindert gegen in
ihrer Region lebende frühere Kommunisten vorzugehen (vgl. Deutsches Orient-
Institut, Gutachten vom 12. Mai 1995 an das Verwaltungsgericht Gießen, Seite 17).
Die Tatsache, daß es zu solchen Verfolgungen nicht gekommen ist, belegt, daß
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Die Tatsache, daß es zu solchen Verfolgungen nicht gekommen ist, belegt, daß
schon damals ein entsprechendes Verfolgungsinteresse bei diesen Machthabern
nicht bestand. Die nunmehr eingetretenen politischen Prozesse und
Veränderungen haben die Bedeutung der in die kommunistische Zeit
zurückreichenden Vorgänge noch weiter in den Hintergrund gedrängt. Die
Situation in den Nordprovinzen ist durch die schwierige, von der anhaltenden
Bedrohung durch die Eroberungsbestrebungen der Taliban und durch interne
Querelen geprägte Lage gekennzeichnet. Daß in dieser Situation eventuell noch
bestehende Feindschaften und Animositäten gegenüber früheren Kommunisten
keine bedeutsame Rolle mehr spielen, ist offensichtlich.
Auch für den Machtbereich der Taliban liefern die dem Senat vorliegenden
Erkenntnisse nach wie vor keine zureichenden Anhaltspunkte für die Gefährdung
eines afghanischen Rückkehrers allein wegen seiner früheren Zugehörigkeit zur
DVPA, zum ehemaligen Geheimdienst Khad oder zu den unter kommunistischer
Führung stehenden ehemaligen afghanischen Streitkräften.
Diese Erkenntnisse lassen zwar keinen Zweifel daran, daß die Taliban aufgrund
ihrer radikal-islamischen Einstellung dem im Jahre 1992 gestürzten
kommunistischen Regime und den von ihm während seiner Herrschaft in
Afghanistan verfolgten Zielen in besonderer Weise feindlich gegenüberstehen. Wie
noch darzulegen sein wird, verdeutlichen die vorliegenden Auskünfte,
Stellungnahmen, Gutachten und Presseberichte jedoch ebenso, daß sich diese
feindliche Haltung bislang nicht in einer umfassenden oder auch nur breiter
angelegten Verfolgung von Funktionsträgern und Anhängern dieses Regimes oder
von Mitgliedern oder Sympathisanten der damaligen Staatspartei DVPA
niedergeschlagen hat.
Dieses Fehlen einer gegen alle ehemaligen Kommunisten gerichteten Verfolgung
ist vor dem Hintergrund der durch die Taliban in ihrem Herrschaftsbereich
geschaffenen Ordnung, die durch eine unnachsichtige Ahndung als abweichend
betrachteter religiöser, politischer und gesellschaftlicher Vorstellungen und
Verhaltensweisen geprägt ist, besonders auffällig.
Aufgrund ihrer Herkunft und Ausbildung vertraten und vertreten die Taliban einen
Islam nach streng fundamentalistischen Grundsätzen. Nach ihren Anschauungen
bedarf es einer Umgestaltung der Gesellschaft und des Staatswesens nach den
Gesetzen des islamischen Rechts unter Anwendung des Strafrechts der Sharia,
der strikten Durchsetzung islamischer Sittlichkeitvorstellungen einschließlich einer
konsequenten Trennung der Lebensbereiche von Mann und Frau und der radikalen
Eliminierung westlicher, als dekadent empfundener Lebensformen (vgl. Die Zeit
vom 6. Dezember 1996; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. September
1996; Neue Zürcher Zeitung vom 15. März 1997; ZDWF-Bericht zur Lage in
Afghanistan vom September 1996, Seite 6 f.; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April
1997 an den Senat, Seite 27; derselbe, Gutachten vom 7. April 1997 an das OVG
Hamburg). Diese orthodox-fundamentalistische Sichtweise bedingt im
Zusammenspiel mit den überlieferten paschtunischen Stammesprinzipien eine
Vorstellungswelt, die selbst unter Anlegung traditioneller islamischer Maßstäbe als
extrem übersteigert zu bezeichnen ist. Zur Durchsetzung ihrer Prinzipien haben
die Taliban in den von ihnen eroberten Gebieten vielfältige, die
Entfaltungsmöglichkeiten der Bevölkerung wesentlich einschränkende
Verhaltensregeln eingeführt und zahlreiche zur Einhaltung dieser Gebote dienende
Verbote erlassen.
Umfassende Verhaltensmaßregeln bestimmen das tägliche Leben der im
Machtbereich der Taliban lebenden Bevölkerung nach streng islamischen
Grundsätzen.
Männer, zu denen bereits männliche Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr gehören,
sind verpflichtet, zweimal täglich die Moschee zum Gebet aufzusuchen (Neue
Zürcher Zeitung vom 3. Oktober 1996; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997
an den Senat, Seite 9).
Streng untersagt wurden sämtliche als westlich-dekadent eingestufte
Lebensweisen und Lebensäußerungen, wie etwa Fernsehen, der Betrieb und
Besuch von Kinos und Tanzveranstaltungen, das Hören moderner Musik, Fußball-
und Kartenspielen, sowie das Rauchen und der Genuß von Alkohol und Drogen
(Frankfurter Rundschau vom 25. September 1996; Neue Zürcher Zeitung vom 30.
September 1996; Süddeutsche Zeitung vom 28. September 1996; Der Spiegel
vom 7. Oktober 1996; Süddeutsche Zeitung vom 23. Oktober 1996; ZDWF-Bericht
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vom 7. Oktober 1996; Süddeutsche Zeitung vom 23. Oktober 1996; ZDWF-Bericht
zur Lage in Afghanistan vom September 1996, Seite 10; Dr. Danesch, Gutachten
vom 5. April 1997 an den Senat, Seite 70). Verboten ist darüber hinaus etwa auch
- wegen eines angeblich im Koran ausgesprochenen Verbots - das Fotografieren,
insbesondere das Aufnehmen "lebender Körper" (Neue Zürcher Zeitung vom 3.
Oktober 1996; Der Spiegel vom 7. Oktober 1996; Süddeutsche Zeitung vom 10.
März 1997), der Besitz von Bildern, auf denen Menschen und Tiere abgebildet sind,
der Gebrauch von Spielzeug, das Lebewesen ähnelt, das Tragen von Kruzifixen
(Süddeutsche Zeitung vom 7. Oktober 1997) sowie das Wegwerfen und Vernichten
beschriebenen Papiers, weil sich hierauf - so die offizielle Version - Suren aus dem
Koran befinden könnten (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Dezember
1996).
Die Kleidung und das äußere Erscheinungsbild der im Machtbereich der Taliban
lebenden Bevölkerung unterliegt strenger Reglementierung. Männer haben nach
herkömmlicher Tradition Kappen oder Turbane zu tragen und sich den Bart in
natürlicher Länge wachsen zu lassen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. April
1997 (Stand: April 1997); Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. September
1996; Neue Zürcher Zeitung vom 30. September 1996; Süddeutsche Zeitung vom
30. September 1996). Frauen müssen, falls sie sich außerhalb ihrer Wohnung oder
ihres Hauses aufhalten, eine Burqua tragen, ein den gesamten Körper
verhüllendes Gewand, das als einzige Öffnungen Sehschlitze enthält (Bericht des
Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen Choong-Hyun Paik über die
Situation der Menschenrechte in Afghanistan vom 11. Oktober 1996, Seite 21
(Abschnitt 71); Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997 an den Senat, Seite 65;
Süddeutsche Zeitung vom 5. Oktober 1996; Der Spiegel vom 7. Oktober 1996;
Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 1996; amnesty international vom März
1997). Ihnen ist überdies jeglicher Gebrauch von Kosmetikartikeln untersagt
(Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 1996; amnesty international vom März
1997; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seite 11).
Die Überzeugung der Taliban, die gesellschaftliche Rolle der Frau beschränke sich
auf ihre Aufgaben im Hause und in der Familie, hat zu einer weitgehenden
Verbannung der Frauen und Mädchen aus dem öffentlichen Leben und der
Arbeitswelt geführt. Für Frauen gilt ein umfassendes Arbeitsverbot (Die Zeit vom
4. Oktober 1996; Der Spiegel vom 7. Oktober 1996; Frankfurter Rundschau vom
10. Oktober 1996; Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 1996; amnesty
international vom März 1997; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997 an den
Senat, Seite 65), das nur für unumgänglich notwendige Ausnahmefälle, wie etwa
im Gesundheitswesen und für die Personenkontrolle am Flughafen, gelockert wird
(Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 25. April 1997 (Stand: April 1997) und vom
30. September 1997 (Stand: September 1997); amnesty international,
Jahresbericht 1997). Mädchen sind vom Schulbesuch und von jeglicher
Berufsausbildung ausgeschlossen; sämtliche Mädchenschulen wurden
geschlossen (Auswärtiges Amt, Ergänzung vom 16. Oktober 1996 des
Lageberichts vom 26. Juli 1996; Lageberichte vom 25. April 1997 (Stand: April
1997) und vom 30. September 1997 (Stand: September 1997); Deutsches Orient-
Institut vom 28. Februar 1996 an das VG Gießen; Süddeutsche Zeitung vom 18.
Oktober 1996; Der Spiegel vom 7. Oktober 1996). Die weiblichen
Staatsangestellten in Kabul wurden unter der - zumeist nicht eingehaltenen -
Zusage der Gehaltsfortzahlung nach Hause geschickt (Auswärtiges Amt,
Lagebericht vom 30. September 1997 (Stand: September 1997)). Nach einer
entsprechenden Anordnung des von den Taliban eingerichteten "Amtes für die
Einhaltung der Sharia und der Bekämpfung des Bösen" (abgedruckt als Anlage I
des Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen Choong Hyun Paik
über die Situation der Menschenrechte in Afghanistan vom 20. Februar 1997) ist
es Frauen weiterhin verboten, sich ohne "legale" männliche Begleitung in die
Öffentlichkeit zu begeben, sich in ein Auto zu setzen, Taxi zu fahren oder zu reisen.
Daneben ist auch die Einladung von Frauen zu Festlichkeiten in Hotels untersagt.
Frauen dürfen darüber hinaus generell nicht mit fremden männlichen Personen
sprechen (vgl. zum Vorstehenden auch: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.
September 1997; ZDWF-Bericht zur Lage in Afghanistan vom September 1996,
Seite 10; amnesty international, Jahresbericht 1997; Dr. Danesch, Gutachten vom
5. April 1997, Seite 65). Ihnen ist es auch nicht möglich, selbst bei Behörden oder
bei sonstigen Institutionen vorzusprechen (Dr. Danesch, a.a.O., Seite 12). Frauen
sind überdies vom Besuch der Moschee ausgeschlossen (Die Zeit vom 6.
Dezember 1996). Durch eine im Oktober 1997 erlassene Anordnung wurde Frauen
überdies die Behandlung in den bestehenden, auch mit Männern belegten
Krankenhäusern verweigert (Frankfurter Rundschau vom 25. Oktober 1997).
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Daneben haben die Taliban weitere wesentliche Freiheitsrechte, z. B. die
Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und das Recht der Presse zur freien
Berichterstattung, außer Kraft gesetzt oder zumindest erheblich eingeschränkt
(Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. April 1997 (Stand: April 1997); Neue
Zürcher Zeitung vom 15. März 1997; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997,
Seite 10). Von diesen Verboten und Einschränkungen ist auch die ausländische
Presse betroffen. So müssen alle Journalisten aus dem Ausland, die nicht fest in
Kabul akkreditiert sind, in einem mehrere Kilometer vom Stadtzentrum entfernten
Hotel wohnen. Sie dürfen nur offizielle Taxis, nicht aber andere Verkehrsmittel
benutzen und stehen unter der ständigen Begleitung eines offiziell zugeteilten
Dolmetschers, der laufende Berichte über den Journalisten und die von diesem im
einzelnen geführten Gespräche zu erstellen hat (Neue Zürcher Zeitung vom 15.
März 1997; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seiten 13 und 14).
Die Taliban haben seit ihrem Eingreifen in den afghanischen Bürgerkrieg keinen
Zweifel daran gelassen, daß sie keinerlei Abweichung von den von ihnen
erlassenen Vorschriften und ihren der Bevölkerung verordneten
Verhaltensmaßregeln dulden und jegliche Zuwiderhandlung gegen diese Normen
und Sittlichkeitsgebote konsequent und unnachsichtig ahnden würden. Hierbei
haben sie keinerlei Rücksicht auf die bisherigen Lebensgewohnheiten der
Bevölkerung genommen, sondern haben ihre gesellschaftlichen und sittlichen
Vorstellungen zunächst im Süden und Westen Afghanistan, danach in Kabul sowie
in dem von ihnen kurzfristig eroberten Mazar-e-Sharif unverzüglich und gegen
teilweise heftigen Widerstand durchgesetzt oder durchzusetzen versucht.
Wie zahlreiche Berichte belegen, gingen die Taliban besonders unnachsichtig
gegen Frauen vor, die der Übertretung der geltenden Bekleidungsvorschriften bzw.
des Verbots, allein in der Öffentlichkeit aufzutreten, beschuldigt wurden
(Auswärtiges Amt, Auskunft vom 19. März 1997 an den Senat; Lageberichte vom
20. Dezember 1996 (Stand: Anfang Dezember 1996) und vom 26. April 1997
(Stand: April 1997); amnesty international, Schwere Übergriffe im Namen der
Religion, November 1996; Jahresbericht 1997 und Bericht vom März 1997 "Gewalt
im Namen der Religion"; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997 an den Senat).
Hierbei wurden schon geringfügige Abweichungen von den geltenden Vorschriften
zum Anlaß für Repressalien gegen die betreffenden Frauen genommen. So wurden
Frauen in schwerwiegender Weise geschlagen und mißhandelt, weil Teile ihrer
Bekleidung verrutscht und Körperteile wie Fußgelenke und Hände zu sehen waren
(amnesty international, "Gewalt im Namen der Religion", März 1997 sowie
Jahresbericht 1997; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seite 66) oder weil
sie sich unbegleitet oder scheinbar ohne zureichenden Grund in der Öffentlichkeit
zeigten (amnesty international, "Schwere Übergriffe im Namen der Religion",
November 1996, Seite 13).
Auch Männer, die aus Sicht der Taliban gegen die geltenden Bekleidungsregeln
oder gegen sonstige Vorschriften verstießen, waren Repressalien ausgesetzt. So
wurden beispielsweise Männer, die nicht die vorgeschriebenen Gebetsmützen
trugen, öffentlich kahl geschoren (Süddeutsche Zeitung vom 23. Oktober 1996).
Das gleiche Schicksal erlitten Männer, die angeblich zu lange Haare trugen
(Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen Choong Hyun Paik
über die Situation der Menschenrechte in Afghanistan vom 20. Februar 1997, Seite
12 (Abschnitt 41)). Männer, die keinen Bart trugen oder deren Bart nicht die
ausreichende Länge aufwies oder rasiert war, wurden von ihrer Arbeitsstelle
entlassen (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Dezember 1996) oder
festgehalten oder inhaftiert, bis der Bart die richtige Länge erreicht hatte (ZDWF-
Bericht zur Lage in Afghanistan vom September 1996, Seite 9 und 10). Gewaltsam
durchgesetzt wurde und wird etwa auch die Anweisung zur regelmäßigen
Teilnahme am Gebet. So wurden in zahlreichen Fällen Männer durch Schläge zum
Besuch der Moschee gezwungen (Die Zeit vom 6. Dezember 1996; Neue Zürcher
Zeitung vom 15. März 1997; amnesty international, Jahresbericht 1997). Wegen
der Nichtbeachtung der Gebetsverpflichtung soll nach Angaben von amnesty
international in Kabul sogar ein Mann getötet worden sein (vgl. Jahresbericht
1997). Neben weiteren schwerwiegenden Übergriffen und
Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban, wie z. B. die zwangsweise
Rekrutierung männlicher Jugendlicher zum Kriegsdienst (Neue Zürcher Zeitung
vom 15. Oktober 1996; amnesty international, Jahresbericht 1997), kam und
kommt es durch die Anwendung der Sharia und der hierin vorgesehenen Todes-
und Körperstrafen zu zahlreichen Hinrichtungen, Amputationen und der
Vollstreckung von Prügelstrafen (Neue Zürcher Zeitung vom 15. März 1997;
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Vollstreckung von Prügelstrafen (Neue Zürcher Zeitung vom 15. März 1997;
Auswärtiges Amt, Ergänzung vom 16. Oktober 1996 des Lageberichts vom 26. Juli
1996, Lageberichte vom 20. Dezember 1996 (Stand: Anfang Dezember 1996)
vom 25. April 1997 (Stand: April 1997) und vom 30. September 1997 (Stand:
September 1997); Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997 an den Senat, Seite
11; amnesty international "Schwere Übergriffe im Namen der Religion", November
1996, Seiten 33 ff.).
Die Taliban scheuen auch nicht vor Behinderungen von UN-Delegationen und in
Afghanistan tätigen internationalen Hilfsorganisationen zurück, falls diesen
Verstöße gegen geltende Verhaltensvorschriften zur Last gelegt werden. So
wurden etwa drei UN- Vertreter durch die Taliban des Landes verwiesen, weil sie
aus Protest gegen die diskriminierende Behandlung einer UN-Mitarbeiterin ein
Treffen mit Talibanvertretern verlassen hatten (Die Welt vom 30. September
1997). Am 29. September 1997 wurde eine von der EU-
Menschenrechtskommissarin geleitete Delegation der Europäischen Union in
Kabul unter dem Vorwurf, in einem Krankenhaus unerlaubt Fotos von Frauen
gemacht zu haben, vorübergehend festgenommen (Die Welt und Frankfurter
Rundschau, jeweils vom 30. September 1997).
Rücksichtslose Härte bestimmt weiterhin das Vorgehen der Taliban im Kampf
gegen den Bürgerkriegsgegner und die ihn aus Sicht der Taliban unterstützenden
Personen sowie gegen tatsächliche oder vermutete politische Opponenten. Opfer
der Verfolgung durch die Taliban wurden im Anschluß an die Einnahme Kabuls im
September 1996 in großer Zahl Personen, die der Zugehörigkeit zur vertriebenen
Regierung Rabbani oder zu deren Streitkräften verdächtigt wurden oder die als
Unterstützer des Regimes von Rabbani und Shah Massoud galten (Süddeutsche
Zeitung vom 28. September 1996; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20.
Dezember 1996 (Stand: Anfang Dezember) und vom 25. April 1997 (Stand: April
1997); amnesty international "Schwere Übergriffe im Namen der Religion",
November 1996, dieselben "Gewalt im Namen der Religion", März 1997 sowie
Jahresbericht 1997).
Ende Juli 1997 wurden im Zusammenhang mit dem Vorrücken der Anti-Taliban-
Allianz auf Kabul in mehreren Kabuler Stadtteilen Razzien durchgeführt, in deren
Verlauf Hunderte von Menschen, vorwiegend Angehörige der Volksgruppe der
Tadschiken und Hazaras unter dem Vorwurf der Sympathisierung mit der Taliban-
Opposition festgenommen und mißhandelt wurden (Auswärtiges Amt, Lagebericht
vom 30. September 1997 (Stand: September 1997); Die Welt vom 27. Juli 1997).
Auch in anderen von den Taliban besetzten Landesteilen waren nach den
vorliegenden Erkenntnissen Einzelpersonen oder Teile der Bevölkerung, die der
Unterstützung der Kriegsgegner verdächtigt wurden, Zielscheibe von Übergriffen
durch die Taliban. Bereits in den Jahren 1994 und 1995 kam es nach Informationen
von amnesty international in Kandahar und Herat zu willkürlichen Tötungen von
Zivilisten durch Taliban wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Beteiligung an
Anti-Taliban-Bestrebungen ("Schwere Übergriffe im Namen der Religion",
November 1996, Seiten 16 und 17). Zahlreiche Personen wurden darüber hinaus
in den Provinzen Herat und Farah wegen angeblicher Sympathie für den früheren
Gouverneur Ismail Khan inhaftiert (amnesty international "Gewalt im Namen der
Religion", März 1997). Am 15. Juli 1996 sollen - wiederum in Herat - 30 junge
Männer wegen angeblicher Opposition von den Taliban hingerichtet und am 22.
Oktober 1996 in einem Dorf nördlich von Kabul 116 Häuser durch Taliban-
Milizionäre niedergebrannt worden sein, weil sich die Dorfbewohner den Taliban-
Gegnern nicht widersetzt hätten (amnesty international, Jahresbericht 1997).
In zahlreichen Fällen wurden Einwohner eroberter Städte oder Regionen Opfer von
Vertreibungen und sonstiger Repressalien durch Taliban-Angehörige, weil sie nicht-
paschtunischen Volksgruppen angehörten und schon deshalb als tatsächliche oder
mögliche Unterstützer der Taliban-Gegner betrachtet wurden. So soll es während
der Hausdurchsuchungen im Anschluß an den Einmarsch der Taliban in Kabul zu
Übergriffen auf dort beheimatete Angehörige der Pandschiri-Volksgruppe (eine zu
den Tadschiken gehörende Volksgemeinschaft) gekommen sein (Bericht des
Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen Choong Hyun Paik über die
Situation der Menschenrechte in Afghanistan vom 20. Februar 1997, Seite 14
(Abschnitt 49)). Die Stadt Charikar wurde nach ihrer Einnahme durch Taliban-
Milizen im Januar 1997 von diesen evakuiert, weil die überwiegend tadschikische
Bevölkerung der Stadt bei den Taliban als Massoud-loyal galt (Choong Hyun Paik,
a.a.O., Seite 24 (Abschnitt 96)). In gleicher Weise gingen die Taliban auch in
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a.a.O., Seite 24 (Abschnitt 96)). In gleicher Weise gingen die Taliban auch in
anderen Städten der Provinz Kapisa vor (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.
Januar und vom 1. Februar 1997). Von diesen Aktionen sollen nach Angaben des
Auswärtigen Amtes etwa 80.000 Menschen (Lagebericht vom 25. April 1997
(Stand: April 1997)), nach Informationen des Sonderberichterstatters der
Vereinten Nationen etwa 100.000 Personen betroffen gewesen sein (Bericht vom
20. Februar 1997, a.a.O.). Der Gutachter Dr. Danesch schätzt die Zahl der
Vertreibungsopfer in den Provinzen Kapisa und Parwan sogar auf mehrere
Hunderttausend. Nach seinen Angaben wurden bei dem Vorgehen der Taliban
überdies mehrere Männer verschleppt und einige Hundert weitere getötet (Dr.
Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seite 35).
Darüber hinaus wird den Taliban die grundlose Tötung von Kriegsgefangenen oder
Kämpfern des Kriegsgegners vorgeworfen, die sich bereits ergeben hatten oder
zur Kapitulation bereit waren (amnesty international "Schwere Übergriffe im
Namen der Religion", November 1996, Seiten 16 bis 18).
Trotz der aus den wiedergegebenen Erkenntnissen deutlich werdenden
unnachgiebigen Strenge der Taliban bei der Durchsetzung ihrer Wertmaßstäbe
und bei der Verfolgung ihrer politischen und militärischen Ziele liegen - weiterhin -
keine begründeten Anhaltspunkte für eine Verfolgung von Personen allein wegen
ihrer früheren Zugehörigkeit zur DVPA bzw. wegen ihrer bloßen Mitarbeit im
Geheimdienst Khad, den früheren afghanischen Streitkräften oder in einer
sonstigen staatlichen Organisation während der kommunistischen Herrschaft vor.
Allerdings kam es im Zuge der Machtübernahme in Kabul am 27. September 1996
zur Hinrichtung des früheren kommunistischen Staatspräsidenten Nadschibullah,
der in einem Gebäude der UN Schutz gesucht hatte, dort von Kämpfern der
Taliban aufgegriffen, mißhandelt und getötet und schließlich, zusammen mit
seinem Bruder, an einem Pfahl aufgehängt, öffentlich zur Schau gestellt wurde
(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. und 30. September 1996). Diese
Hinrichtungen bildeten indessen nicht das Signal oder den Ausgangspunkt einer
gegen frühere Kommunisten oder Funktionäre bzw. gegen Mitarbeiter des 1992
gestürzten Regimes Nadschibullah gerichteten Verfolgungswelle. Zwar war die
Ermordung des früheren Staatspräsidenten und seines Bruders von einer großen
Zahl weiterer Verhaftungen und Hinrichtungen (amnesty international spricht in
seinem Bericht vom November 1996 "Schwere Übergriffe im Namen der Religion"
von mehreren hundert, möglicherweise über tausend Fällen), darunter der Tötung
zweier enger Mitarbeiter Nadschibullahs, begleitet (Auswärtiges Amt, Ergänzung
vom 16. Oktober 1996 zum Lagebericht vom 26. Juli 1996, Lageberichte vom 20.
Dezember 1996 (Stand: Anfang Dezember 1996) und vom 25. April 1997 (Stand:
April 1997) sowie Auskunft vom 17. April 1997 an das Verwaltungsgericht
Würzburg, amnesty international, "Gewalt im Namen der Religion", März 1997,
sowie Jahresbericht 1997). Von diesen Repressalien waren offenbar auch
prominente Funktionäre der DVPA und des früheren kommunistischen Regimes
betroffen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 17. April 1997 an das VG Würzburg;
Deutsches Orient-Institut, Auskunft vom 18. September 1997 an den Senat).
Dagegen sind gezielte Verfolgungsaktionen auch gegen einfache Mitglieder der
früheren DVPA und Mitarbeiter und Mitläufer des kommunistischen Regimes ohne
herausgehobene Funktionen ausgeblieben (Deutsches Orient-Institut, a.a.O.).
Auch das im übrigen zu beobachtende Vorgehen der Taliban gegen aus ihrer Sicht
mißliebige oder unzuverlässige Personen läßt nicht erkennen, daß diese
Maßnahmen wegen der einfachen Mitgliedschaft in der DVPA oder wegen der
bloßen Zugehörigkeit zum kommunistischen Staatsapparat ergriffen oder durch
die kommunistische Vergangenheit des Betreffenden allein auch nur entscheidend
beeinflußt wurden.
Daß die fehlenden Informationen über Verfolgungen auch einfacher
Parteimitglieder der ehemaligen DVPA oder sonstiger in dem früheren
Staatsapparat tätiger oder diesen unterstützender Personen darauf beruhen
könnte, daß entsprechende Verfolgungsfälle den sachinformierten Stellen nicht
bekannt geworden sind, ist in hohem Maße unwahrscheinlich. Da diese Stellen im
übrigen detailliert und kenntnisreich über die Menschenrechtslage im
Machtbereich der Taliban berichten und deshalb offensichtlich einen guten Einblick
in die dortigen Verhältnisse besitzen, ist anzunehmen, daß Repressionen
gegenüber dem vorgenannten Personenkreis im Gebiet der Taliban in den
Auskünften dieser Stellen dokumentiert worden wären.
Mangels entsprechender ernstzunehmender Hinweise muß deshalb davon
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Mangels entsprechender ernstzunehmender Hinweise muß deshalb davon
ausgegangen werden, daß es auch im Herrschaftsbereich der Taliban weder
während des Eroberungsfeldzuges im Süden und Westen Afghanistans in den
Jahren 1994 und 1995 noch in der nachfolgenden, bis heute noch nicht
abgeschlossen Phase der Ausweitung und Konsolidierung ihres Machtbereichs eine
Verfolgung "einfacher" Kommunisten gegeben hat. Dieser Umstand kann nach
Lage der Dinge nur darauf zurückgeführt werden, daß auch die Taliban der
kommunistischen Vergangenheit einer Person allein keine wesentliche Bedeutung
mehr beimessen, sondern ihr Vorgehen hauptsächlich danach ausreichten, ob der
Betreffende zur Kooperation und Unterwerfung bereit ist oder - im Gegenteil - in
ihren Augen als Unterstützer oder Sympathisant des augenblicklichen
Kriegsgegners erscheint. Die Taliban wären nämlich - falls bei ihnen ein
entsprechendes nachdrückliches Interesse bestünde - zu einer umfassenden und
systematischen Ermittlung und Verfolgung der in ihrem Gebiet lebenden oder
dorthin zurückkehrenden ehemaligen Kommunisten durchaus in der Lage. Nach
Angaben des Gutachters Dr. Danesch verfügen die Taliban über umfassende
Listen der Parteimitglieder der DVPA, des Offizierskorps, des Geheimdienstes und
von Funktionären der früheren kommunistischen Verwaltung, die von den
pakistanischen Geheimdienst ISI über Zuträger in den Reihen der Mudjaheddin
angelegt wurden (Gutachten vom 5. April 1997, Seite 56).
Eine gegen frühere Kommunisten gerichtete Verfolgungswelle ist im Verlaufe der
jüngsten Eroberung durch die Taliban offensichtlich auch nicht allein deshalb
ausgeblieben, weil den Personen, die Opfer einer solchen Verfolgung hätten
werden können, rechtzeitig die Flucht aus den besetzten Gebieten gelungen wäre.
Zwar hatte das Vordringen der Taliban auf Kabul eine starke Fluchtbewegung aus
der Hauptstadt nach Norden und nach Pakistan zur Folge. Der Hauptteil dieses
Flüchtlingsstroms, dem sich auch die in Kabul verbliebenen Reste der
intellektuellen Mittelschicht und Beamte, Mitarbeiter und Anhänger der Regierung
anschlossen (Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997 an den Senat, Seiten 37
und 38), setzte jedoch offenbar erst nach der Einnahme Kabuls ein, da wegen der
raschen und zum Teil überfallartigen Eroberung Kabuls nicht einmal alle
Kampftruppen der Regierung und sämtliche Regierungsmitglieder früh genug das
Stadtgebiet verlassen konnten und zum Teil Opfer der Verfolgungsmaßnahmen
der Taliban wurden (Süddeutsche Zeitung vom 28. September 1996). Auch für die
von den Taliban nach schnellem Vormarsch okkupierten Regionen im Norden ist
auszuschließen, daß es einem wesentlichen Teil der dort noch lebenden Personen
mit kommunistischer Vergangenheit gelungen ist, die von den Taliban
eingenommenen Gebiete rechtzeitig zu verlassen. So wurden etwa am 25. Mai
1997 das Hauptquartier General Dostums und am darauffolgenden Tag Mazar-e-
Sharif handstreichartig und von der mit Panik reagierenden Zivilbevölkerung
unerwartet von Taliban-Kämpfern besetzt (Neue Zürcher Zeitung und Frankfurter
Rundschau, jeweils vom 26. Mai 1997).
Das nach alledem zu konstatierende eher pragmatische Vorgehen der Taliban bei
der Behandlungen von Personen mit kommunistischer Vergangenheit ist aus ihrer
Sicht mit Blick auf die gegenwärtige ökonomische Lage im Lande auch durchaus
verständlich und folgerichtig.
Die wirtschaftliche Situation auch im Herrschaftsbereich der Taliban ist aufgrund
der Verwendung nahezu aller zur Verfügung stehender Mittel für militärische
Zwecke und der weitgehenden Zerstörung der ökonomischen Infrastruktur durch
den seit nahezu 20 Jahren andauernden Bürgerkrieg nach wie desolat (ZDWF-
Bericht zur Lage in Afghanistan vom September 1996, Seite 11; Neue Zürcher
Zeitung vom 26. Februar 1997; Auswärtiges Amt, Auskunft an den Senat vom 19.
März 1997; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seite 39 ff.). Hierbei wird
der in ganz Afghanistan herrschende, aus dem Massenexodus ins Ausland
herrührende eklatante Mangel an qualifizierten Fachkräften im Herrschaftsbereich
der Taliban noch durch das von ihnen verhängte Arbeitsverbot für Frauen
verschärft, die, vor allem in Kabul, zum Teil bedeutsame Aufgaben in der
Verwaltung, im Schulsektor und im medizinischen Bereich eingenommen hatten
(vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 1996; frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 31. Oktober 1996; Neue Zürcher Zeitung vom 26. Februar 1997; Dr.
Danesch, a.a.O., Seite 40 und 69). Im Hinblick hierauf werden auch die Taliban
trotz ihres tiefsitzenden Mißtrauens gegen Intellektuelle und frühere Kommunisten
zur Aufrechterhaltung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens in ihrem
Machtbereich zwangsläufig auch auf Personen zurückgreifen müssen, die das
frühere kommunistische Regime unterstützt haben, soweit diese nicht besonders
belastet und zur Zusammenarbeit mit den Taliban bereit sind (vgl. Auswärtiges
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belastet und zur Zusammenarbeit mit den Taliban bereit sind (vgl. Auswärtiges
Amt, Lagebericht vom 25. April 1997 (Stand: April 1997)). Im Militärbereich sind -
wie von dem Senat bereits in seinem Urteil vom 8. Juli 1996 festgestellt wurde -
von den Taliban schon in der Vergangenheit zahlreiche Angehörige der früheren
Armee, zum Teil hochrangige Offiziere, aufgenommen worden, die zu einer
Kooperation mit den Taliban bereit waren (Auswärtiges Amt, Auskunft an den
Senat vom 19. März 1997; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seite 55;
derselbe, Gutachten vom 7. April 1997 an das OVG Hamburg, Seite 12; amnesty
international, Gutachten vom 9. Dezember 1997 an den Senat, Seite 8). Das
Bedürfnis, im Ausland lebende Fachkräfte zur Rückkehr zu bewegen, kommt auch
in der im Juli 1997 verkündeten Bereitschaft der Taliban zum Ausdruck, eine
umfassende Amnestie für die im Ausland lebenden Flüchtlinge zu erlassen (vgl.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30. September 1997 (Stand: September
1997)); Süddeutsche Zeitung vom 4. Juli 1997).
Schließlich ist die geringe Bedeutung, die der kommunistischen Vergangenheit
einer Person von den Taliban beigemessen wird, auch durch die das Handeln
sämtlicher Kriegsparteien in Afghanistan wesentlich beeinflussenden Traditionen
erklärbar. Politische Überzeugungen und sonstige politische, religiöse und
gesellschaftliche Vorstellungen werden in Afghanistan wesentlich durch das dort
tief verwurzelte Stammesdenken überlagert. (Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April
1997, Seite 54; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. September 1996). Dieses
Bewußtsein ist in Afghanistan deshalb weiterhin lebendig, weil die großen
Volksgruppen des Landes (Paschtunen, Tadschiken, Usbeken und Hazaras) nach
wie vor durch weitgehend geschlossene Siedlungsgebiete voneinander getrennt
sind und durch das Bemühen, die eigene ethnische, sprachliche und kulturelle
Eigenart gegenüber fremden Einfluß zu bewahren, letztlich ohne verbindende
Identität nebeneinander leben (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20.
Dezember 1996 (Stand: Anfang Dezember 1997), vom 25. April 1997 (Stand: April
1997) und vom 30. September 1997 (Stand: September 1997)). Das Verhältnis
der verschiedenen Volksgemeinschaften ist darüber hinaus durch gegenseitige
Ressentiments und tiefsitzendes Mißtrauen bestimmt, das sich bereits in der
Vergangenheit in Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen
niedergeschlagen hat, in denen vor allem zwischen den beiden großen
Volksgruppen, den Paschtunen und den Tadschiken, um die Vorherrschaft im
Lande gerungen wurde (vgl. Dr. Danesch in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.
Juni 1997). Der gegenwärtig zwischen den Taliban und ihren Gegnern im Norden
ausgetragene Bürgerkrieg ist deshalb nicht nur eine Auseinandersetzung
unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Systeme, sondern in nicht
unerheblichem Maße eine ethnische Konfrontation, ein Krieg der afghanischen
Völker untereinander (Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seite 55), wobei
die Taliban als erklärte Vertreter der paschtunischen Bevölkerungsmehrheit den
Versuch unternehmen, ihre frühere, durch die Übermacht der Tadschiken und
Usbeken während der Zeit der kommunistischen Herrschaft verloren gegangene
Vorherrschaft in Afghanistan zurückzugewinnen (Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 5. Juni 1997; Die Welt vom 15. Oktober 1997). Diese ethnische Ausrichtung
des Bürgerkrieges bewirkt, daß die politische Gegnerschaft von Personen häufig an
der Volks- oder Stammeszugehörigkeit des Betreffenden festgemacht wird. Dieses
Phänomen wird vor allem in den Übergriffen der Taliban auf Tadschiken, Hazaras
und Angehörige anderer nicht-paschtunischer Volksgruppen deutlich, die wegen
ihrer Volkszugehörigkeit der Unterstützung des Kriegsgegners verdächtigt werden.
Dagegen treten andere Faktoren, wie die frühere politische Gesinnung des
Betreffenden und eine dementsprechende politische Betätigung, in ihrer
Bedeutung erkennbar zurück.
Der Senat vermag sich nach alledem der Einschätzung, auch einfache Mitglieder
der früheren DVPA und untergeordnete Angehörige und Mitarbeiter des
Geheimdienstes Khad müßten mit Repressalien der Taliban rechnen (amnesty
international, Auskunft vom 9. Dezember 1997 an den Senat sowie Steven
Wolfson, UNHCR-Protection- Officer für Afghanistan, in: Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Lagebeurteilung Afghanistan - Stand: 16.
Juni 1997 -) nicht anzuschließen. Hinreichende Anhaltspunkte für eine ernsthafte
Gefährdung auch dieses Personenkreises ergeben sich - wie umfassend dargelegt
- weder aus den vorgenannten Erkenntnisquellen, die sämtlich keine
dementsprechenden Verfolgungsfälle benennen, noch aus den im übrigen zur
Verfügung stehenden Informationen, die gleichfalls keine Berichte oder Hinweise
auf Repressionen enthalten, deren Opfer einfache Mitglieder der ehemaligen DVPA
oder schlichte Bedienstete oder Mitarbeiter des Geheimdienstes Khad waren.
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Die vorliegenden Erkenntnisse bieten auch keine Grundlage für die Annahme des
Gutachters Dr. Danesch (Gutachten vom 5. April 1997, Seite 75; ebenso
Gutachten vom 7. April 1997 an das OVG Hamburg), die bloße Mitgliedschaft in
der DVPA bzw. der Dienst im Khad allein könnten jedenfalls bei solchen Personen
zu einer Verfolgung durch die Taliban führen, die nicht der paschtunischen
Bevölkerungsmehrheit in Afghanistan angehören.
Zwar geht aus den oben dargestellten Auskünften und Presseberichten mit
Deutlichkeit hervor, daß die Taliban als ethnisch-homogene Gemeinschaft der
Volkszugehörigkeit von in ihrem Gebiet lebenden oder dorthin zurückkehrenden
Personen eine erhebliche Bedeutung beimessen, Angehörigen anderer
Volksgruppen mit grundsätzlichem Mißtrauen begegnen und dazu neigen, Nicht-
Paschtunen schon wegen ihrer Volkszugehörigkeit als Unterstützer oder
Sympathisanten des von Tadschiken, Usbeken und Hazaras dominierten
Bürgerkriegsgegners anzusehen und entsprechend zu behandeln. Es liegen aber
keine begründeten Hinweise dafür vor, daß die Taliban Angehörige fremder
Volksgruppen gleichsam automatisch als politische Gegner betrachten und schon
die Zugehörigkeit zu einer nicht-paschtunischen Volkszugehörigkeit als solche
zum Anlaß für eine Verfolgung aus politischen Gründen nehmen. Soweit es bislang
zu Vertreibungsaktionen gegen Tadschiken und Hazaras und zu sonstigen
Repressalien gegen Angehörige dieser Volksgruppen durch die Taliban gekommen
ist, handelte es sich, selbst wenn von diesen Übergriffen zahlreiche Personen
betroffen wurden, letztlich um regional begrenzte Maßnahmen in umkämpften
oder in militärisch bedrohten Gebieten, mit denen eine Parteinahme der
Bevölkerung in diesen Regionen für den Kriegsgegner verhindert und durch
Ansiedlung von Paschtunen eine Pufferzone zwischen den Fronten geschaffen
werden sollte (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Januar 1997, vom 1.
Februar 1997 und vom 10. April 1997) oder die als Vergeltungsmaßnahmen für die
tatsächliche oder unterstellte Unterstützung des Bürgerkriegsgegners in diesen
Gebieten zu betrachten sind. Vergleichbare Aktionen in anderen von den Taliban
besetzten Gebieten gegen die dortige nicht-paschtunische Bevölkerung hat es
dagegen offensichtlich nicht gegeben. Ebensowenig ist erkennbar, daß die Taliban
in diesen Gebieten gegen Angehörige anderer Volksgemeinschaften allein deshalb
vorgegangen sind, weil sie als frühere Mitglieder der DVPA oder des Khad bekannt
waren oder der Unterstützung des entmachteten kommunistischen Regimes
verdächtigt wurden. Es ist deshalb mangels ernsthafter gegenteiliger
Anhaltspunkte davon auszugehen, daß einfache oder in der Bevölkerung als
unbelastet geltende ehemalige DVPA- bzw. Khad-Angehörige im Gebiet der
Taliban auch dann unbehelligt bleiben, wenn sie keine Paschtunen sind, es sei
denn, sie hätten sich bereits als Gegner der Taliban offenbart oder ihre Weigerung,
sich den Wertmaßstäben der Taliban anzupassen, nach außen hin deutlich zu
erkennen gegeben. Diese Annahme wird dadurch bestätigt, daß auch nach der in
der oben genannten Lagebeurteilung des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 9. Juli 1997 wiedergegebenen einheitlichen
Einschätzung sämtlicher Mitgliedsländer des Europäischen
Informationsaustauschzentrums CIREA nur prominente Vertreter des ehemaligen
Regimes mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen müßten.
Es ist schließlich auch nicht zu erkennen, daß die im Gebiet der Taliban lebenden
oder dorthin zurückkehrenden ehemaligen Kommunisten ohne ranghohe Stellung
nur vorübergehend wegen vorrangiger militärischer oder gesellschaftlicher
Zielsetzungen der Taliban während des anhaltenden Bürgerkriegs vor Verfolgung
verschont blieben bzw. bleiben werden. Wie bereits umfassend dargestellt, haben
die Taliban ihre religiösen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen bislang trotz
des für sie mit großen Belastungen und Verlusten verbundenen
Bürgerkriegsgeschehen konsequent und unnachsichtig umgesetzt. Das
Ausbleiben einer systematischen Verfolgung aller Personen mit kommunistischer
Vergangenheit kann im Hinblick hierauf nur als Zeichen dafür gewertet werden,
daß die bloße Zugehörigkeit einer Person zur DVPA oder zum Geheimdienst Khad
auch für die Taliban an Bedeutung verloren hat und mit zunehmendem zeitlichen
Abstand zum Sturz des Regimes Nadschibullah noch weiter verlieren wird. Es steht
deshalb zu erwarten, daß die Taliban ihr Verhalten gegenüber früheren
Kommunisten auch künftig vor allem danach ausrichten werden, welche
Einstellung der Betreffende ihnen gegenüber einnimmt (vgl. Auswärtiges Amt,
Auskunft an den Senat vom 19. März 1997).
Der Senat geht nach alledem weiterhin davon aus, daß auch im Machtbereich der
Taliban nach wie vor nur solche Personen mit Verfolgung zu rechnen haben, die
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Taliban nach wie vor nur solche Personen mit Verfolgung zu rechnen haben, die
während der Herrschaft des kommunistischen Regimes eine ranghohe Stellung
eingenommen, in dieser Tätigkeit für einen größeren Personenkreis erkennbar
nach außen getreten sind und im Zusammenhang mit der Ausübung dieser
Funktion für die Tötung oder Verfolgung von politischen Gegnern bzw. für die
Anordnung, Billigung oder Duldung derartiger Taten verantwortlich gemacht
werden können. Daneben sind auch und vor allem solche Personen von
Repressalien der Taliban bedroht, die sich im Verlaufe des Bürgerkrieges aktiv
kämpfend oder unterstützend auf die Seite des Bürgerkriegsgegners der Taliban
gestellt haben oder eines solchen Verhaltens konkret verdächtigt werden.
Dagegen wird auch im Herrschaftsgebiet der Taliban die bloße Zugehörigkeit zur
früheren DVPA wie auch die Mitgliedschaft oder Mitarbeit im ehemaligen
Geheimdienst Khad oder in einer sonstigen staatlichen Organisation während der
kommunistischen Zeit erkennbar nicht zum Anlaß genommen, gegen den
Betreffenden Verfolgungsmaßnahmen zu ergreifen.
Zu dem oben beschriebenen Kreis der ehemaligen DVPA-Mitglieder und
Staatsfunktionäre oder -mitarbeiter während der kommunistischen Zeit, die auch
heute noch in den aus dem afghanischen Bürgerkrieg hervorgegangenen
Machtzonen gefährdet sind, gehört der Kläger nicht. Er hatte nämlich über seine
bloße Parteimitgliedschaft und seine Stellung als stellvertretender Vorsitzenden
der Parteiorganisation an dem pädagogischen Institut der Universität in Kabul
hinaus zu keinem Zeitpunkt Funktionen innerhalb der DVPA wahrgenommen, die
ihn noch heute dem Verdacht aussetzen könnten, an Verbrechen oder an
Verfolgungsaktionen gegen Angehörige der damaligen Opposition beteiligt
gewesen zu sein.
Das von dem Kläger im Verlaufe des Berufungsverfahrens vorgelegte Schriftstück,
nach der vorliegenden Übersetzung ein Schreiben der "Hezb-e-Islami Afghanistan-
Zentralkomitee-Informations- und Verfolgungsamt" an ein nicht näher
bezeichnetes "Ordnungs- und Verfolgungsamt" aus dem Jahre 1993, rechtfertigt
keine andere Einschätzung. Abgesehen davon, daß die Ausstellung des
vorgenannten Schreibens, in dem ausweislich der vorgelegten Übersetzung die
Festnahme und Hinrichtung des Klägers wegen seiner Mitarbeit im
kommunistischen Regime angeordnet wird, bereits mehrere Jahre zurückliegt und
von einer Mudjaheddin-Gruppierung stammt, die gegenwärtig nur noch sehr
geringen Einfluß auf das politische Geschehen in Afghanistan hat, bestehen
erhebliche Zweifel an der Echtheit des vorgelegten Papiers. Es ist nämlich nicht
ersichtlich und kann auch von dem Kläger nicht zureichend erklärt werden, auf
welchem Wege sein Vater, der nach Angaben des Klägers das Schriftstück im
August 1996 nach Deutschland übersandt habe, in den Besitz einer solchen
behördlichen Anordnung gelangt sein sollte. Daß seinem Vater das Schreiben
tatsächlich unter der Wohnungstür durchgeschoben worden sei, wie der Kläger bei
seiner Beteiligtenvernehmung durch den Berichterstatter des Senats angegeben
hat, ist in hohem Maße unglaubhaft, da es sich um ein behördeninternes
Schriftstück handelt, das - wenn es schon existieren sollte - nicht für dritte
Personen und schon gar nicht für den Betroffenen und dessen Familie bestimmt
ist. Auch der nach Behauptung des Klägers zeitgleich bei ihm eingegangenen
Mitteilung seines Vaters, er - der Kläger - werde in Afghanistan als Kommunist und
Verräter gesucht, vermag der Senat keinen Glauben zu schenken. Es ist nämlich
nicht verständlich, weshalb dem Kläger eine solche Nachricht ohne ersichtlichen
Grund erst mehrere Jahre nach seiner Ausreise zugegangen sein soll, obwohl er
nach seiner Behauptung bereits im Zeitpunkt der Ausreise akut von einer
Verfolgung durch die Mudjaheddin bedroht war.
Auch die schon durch seine Ehe mit einer russischen Staatsangehörigen offenbar
werdende Tatsache, daß sich der Kläger während der kommunistischen Herrschaft
längere Zeit in der damaligen Sowjetunion aufgehalten und dort mit Unterstützung
der afghanischen Regierung ein Studium absolviert hat, vermag seiner
Parteimitgliedschaft kein solches Gewicht beizumessen, daß allein hieraus die
beachtliche Gefahr gezielter Verfolgung entnommen werden könnte. Allerdings
würde der Kläger aufgrund seines Auslandsstudiums in der früheren Sowjetunion
und seinem späteren Lehrauftrag an der Kabuler Universität nicht als bloßer
Mitläufer, sondern als besonders engagiertes und gefördertes DVPA- Mitglied bzw.
als Parteiangehöriger mit Beziehungen zu höheren Regierungskreisen eingestuft
(vgl. Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seite 83 f.). Es liegen indessen -
auch für den Herrschaftsbereich der Taliban - keine hinreichenden Belege dafür
vor, daß gegen Mitglieder der ehemaligen DVPA unterhalb der Führungs- und
Leitungsebene in Partei, Geheimdienst, Verwaltung oder Armee allein deshalb mit
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Leitungsebene in Partei, Geheimdienst, Verwaltung oder Armee allein deshalb mit
Mitteln der politischen Verfolgung vorgegangen wird, weil sie - wie der Kläger -
während der kommunistischen Zeit besondere Vergünstigungen und Privilegien
genossen haben. Ebensowenig sind für den Senat Erkenntnisse ersichtlich, die die
Einschätzung des UNHCR-Protection-Officers für Afghanistan Steven Wolfson in
seiner Lagebeurteilung vom 9. Juli 1997 rechtfertigen könnten, es seien sämtliche
afghanische Studenten aus der ehemaligen UdSSR sowie alle afghanischen
Männer mit russischen Ehefrauen von Verfolgungsmaßnahmen der Taliban
bedroht, zumal diese Einschätzung lediglich in der Form einer bloßen
"Tendenzbeschreibung" wiedergegeben wird.
Unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisse ergibt sich für den Kläger
das beachtliche Risiko, in Afghanistan Opfer von Verfolgungsmaßnahmen zu
werden, auch nicht daraus, wegen seiner gegen die Politik der Taliban gerichteten
exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland von diesen im Falle einer Einreise in
deren Machtbereich als politischer Gegner betrachtet und behandelt zu werden.
Der Kläger hat zu Art und Umfang dieser exilpolitischen Betätigung ausgeführt, er
sei Mitglied des Emigrantenrates der Afghanen in Deutschland und nehme
regelmäßig an Sitzungen der Vertretung dieser Organisation in Kassel teil.
Überdies habe er an mehreren Protestdemonstrationen in Bonn, Hannover und
Frankfurt am Main teilgenommen, die sich unter anderem gegen die
Unterdrückung der Menschenrechte in Afghanistan und die Ermordung des
früheren Staatspräsidenten Nadschibullah durch die Taliban gewandt hätten. Diese
Aktivitäten würden für den Kläger auch im angenommenen Fall einer Rückkehr in
den von den Taliban beherrschten Teil Afghanistans ohne Folgen bleiben, denn es
ist nahezu auszuschließen, daß die Taliban von dieser politischen Betätigung des
Klägers überhaupt Kenntnis erlangt haben. Ob es bei einer Zahl von mehreren
Millionen im Ausland lebender Flüchtlinge für die Taliban oder die sonstigen
Machthaber Afghanistans selbst bei Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden
Ressourcen möglich wäre, auch nur einen Bruchteil der exilpolitischen Aktivitäten
dieser Flüchtlinge zu beobachten, ist äußerst fraglich. Jedenfalls liegt eine solche
Ermittlungstätigkeit bei der derzeitigen Situation im Lande außerhalb jeglicher
Möglichkeiten. Die Kräfte der Taliban sind augenblicklich und auf absehbare Zeit
hinaus durch ihre Bemühungen gebunden, die Nordallianz niederzuringen und ihre
Macht auf ganz Afghanistan auszudehnen, sowie ihre Herrschaft in den
okkupierten Gebieten zu festigen. In dieser Lage haben die Taliban weder die
Möglichkeit noch ein feststellbares Interesse, sich mit den Aktionen ihrer Gegner
im Ausland zu befassen (Auswärtiges Amt, Auskunft an den Senat vom 19. März
1997). Einblick in die Tätigkeit der in Deutschland aktiven Kreise von Taliban-
Gegnern zu nehmen oder gar Erkenntnisse über diese Personen zu sammeln und
auszuwerten, dürfte für die Taliban überdies schon deshalb nahezu unmöglich
sein, weil die hiesige Botschaft Afghanistans von der Nordallianz kontrolliert wird
(Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30. September 1997 (Stand: September 199))
und deshalb die personellen und die organisatorischen Voraussetzungen für den
Aufbau und die Lenkung eines funktionierenden Spitzelsystems fehlen. Die
gegenteilige Annahme des Gutachters Dr. Danesch, es sei bekannt, daß solche
Spitzel der Taliban existierten (vgl. Gutachten vom 5. April 1997, Seite 74),
entbehrt einer zureichenden tatsächlichen Untermauerung. Sein - nicht näher
konkretisierter - Hinweis, ihm seien Fälle aus Deutschland bekannt, in denen
Taliban- Gegner, die ihre Meinung öffentlich kundgetan hätten, mit dem Tode
bedroht worden seien, vermag die Existenz eines gelenkten Spitzelsystems der
Taliban in der Bundesrepublik Deutschland nicht zu belegen. Mangels
irgendwelcher begründeter Hinweise auf eine von den Taliban selbst eingerichtete
und geführte Organisation ist davon auszugehen, daß die in dem Gutachten
angeführten Bedrohungen, falls es solche überhaupt gegeben haben sollte, von
einzelnen Taliban-Anhängern in Deutschland ausgegangen sind. Selbst wenn es
aber einzelne Fälle von Bespitzelungen exilpolitischer Betätigungen von Gegnern
der Taliban gegeben haben sollte, kann es sich allenfalls um die Beobachtung
besonders herausgehobener Aktivitäten, nicht aber auch um die Bespitzelung
untergeordneter exilpolitischer Betätigungen wie der des Klägers gehandelt haben.
Ein sich im Falle der Rückkehr nach Afghanistan realisierendes beachtliches
Verfolgungsrisiko ergibt sich für den Kläger weiterhin auch nicht daraus, daß sein
Bruder dem früheren Geheimdienst Khad angehört hat und nach Angaben des
Klägers wegen dieser Tätigkeit im Geheimdienst durch Mudjaheddin nach deren
Einmarsch in Kabul 1992 ermordet wurde. Selbst wenn man davon ausgeht, daß
der Bruder des Klägers damals tatsächlich als Khad- Mitarbeiter bekannt und
deshalb einer Racheaktion marodierender Mudjaheddin-Banden zum Opfer
gefallen ist, und weiterhin berücksichtigt, daß Sippenhaft in der von Stammes- und
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gefallen ist, und weiterhin berücksichtigt, daß Sippenhaft in der von Stammes- und
Familiendenken wesentlich geprägten afghanischen Gesellschaft seit jeher
praktiziert und deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit auch heute noch gegen die
Familien politischer Gegner oder sonstiger mißliebiger Personen angewandt wird
(vgl. Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seite 71; Deutsches Orient-
Institut, Auskunft vom 18. September 1997 an den Senat; amnesty international,
Auskunft vom 9. Dezember 1997 an den Senat), ist nicht ersichtlich, weshalb der
Kläger, der selbst zu keinem Zeitpunkt mit dem Khad in unmittelbarem
Zusammenhang gestanden hat, heute noch wegen seines Bruders belangt
werden könnte. Ein Grund, gegen den Kläger wegen seines Bruders und dessen
Einsatzes im Khad Maßnahmen zu ergreifen, könnte sich allenfalls daraus
ergeben, den Kläger für Taten seines Bruders wegen dessen Geheimdienstzeit
verantwortlich zu machen und zu bestrafen. Da aber, wie bereits dargelegt,
ehemalige Beamte des Khad selbst heute nur dann mit Repressalien zu rechnen
haben, wenn es sich um bekannte Führungspersönlichkeiten handelt, denen die
Anordnung, Organisierung oder Billigung von Verbrechen während der
kommunistischen Zeit oder die Beteiligung an solchen Taten angelastet werden
können, besteht für die Annahme eines Verfolgungsrisikos für den Kläger unter
diesem Gesichtspunkt keine Grundlage. Sein Bruder hatte nämlich im
Geheimdienst offensichtlich zu keiner Zeit eine herausgehobene Funktion bzw.
eine ranghohe Stellung inne.
Verfolgung droht dem Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan weiterhin auch nicht
wegen seiner tadschikischen Volkszugehörigkeit. Wie bereits dargelegt, ist es zwar
im Machtgebiet der Taliban zu Vertreibungsaktionen und zahlreichen sonstigen
Übergriffen gekommen, von denen in erheblichem Umfang auch die tadschikische
Bevölkerung betroffen war. Von einer systematischen, gegen die gesamte
Volksgemeinschaft der Tadschiken oder signifikante Teile dieser Volksgruppe
gerichteten ethnischen Verfolgung durch die Taliban kann indessen keine Rede
sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 30. September 1997 (Stand:
September 1997)). Es liegen auch keine Hinweise dafür vor, daß es in absehbarer
Zukunft in der Herrschaftszone der Taliban zu einer über die bisherigen,
vorwiegend aufgrund militärischer Sicherheitsüberlegungen vorgenommenen und
regional begrenzten Aktionen hinausgehenden gruppengerichteten Verfolgung von
Tadschiken kommen könnte.
Keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen weiterhin dafür, daß der Kläger im
Falle einer Einreise in das Taliban-Gebiet wegen einer dort vorhandenen
feindseligen Einstellung gegenüber allen Intellektuellen gegenwärtig bzw. in
absehbarer Zukunft Verfolgung ausgesetzt wäre. Zwar ist unverkennbar, daß die
Taliban, bei denen es sich zumeist um Analphabeten oder nur oberflächlich in den
Lehren des Koran unterwiesene Männer ländlicher Herkunft handelt, allen als
gebildet angesehenen Personen, vor allem in Städten wohnhaften Intellektuellen,
grundsätzlich mißtrauisch und ablehnend begegnen (Auswärtiges Amt, Auskunft
an den Senat vom 19. März 1997; Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997,
Seiten 69, 70 und 73; amnesty international, Auskunft vom 9. Dezember 1997 an
den Senat). Es fehlen indessen wiederum jegliche Hinweise darauf, daß der
vorgenannte Personenkreis einer systematischen Verfolgung durch die Taliban
ausgesetzt wäre oder in absehbarer Zukunft ausgesetzt sein könnte (Auswärtiges
Amt, a.a.O.). Erst recht entbehrt die Annahme, alle Intellektuelle, die im Bereich
der Taliban angetroffen würden, seien akut mit dem Tode bedroht (so Dr. Danesch
bei seiner Vernehmung durch den Bay.VGH am 1. Oktober 1996), jeglicher
Grundlage. Selbst wenn man von der Existenz geheimer Listen mit Namen von
Intellektuellen im Gebiet der Taliban ausgehen wollte (vgl. Dr. Danesch, Gutachten
vom 5. April 1997, Seite 56), kann nicht davon ausgegangen werden, daß diese
Listen einer umfassenden oder planmäßigen Erfassung aller im Taliban-Gebiet
lebenden oder dort vermuteten Intellektuellen zur Vorbereitung einer gezielten
Verfolgung dieses Personenkreises dienen sollen. Vielmehr sind in diesen Listen,
wenn es solche überhaupt geben sollte, offensichtlich nur solche Intellektuelle
verzeichnet, die als Unterstützer des Kriegsgegners verdächtigt werden oder als
hohe Funktionäre oder Repräsentanten des früheren kommunistischen Regimes
zur Verantwortung gezogen werden sollen (Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April
1997, a.a.O.).
Ebensowenig kann angenommen werden, daß Afghanen, die sich - wie der Kläger -
über Jahre hinaus im westlichen Ausland aufgehalten haben, bei einer Einreise in
den Herrschaftsbereich der Taliban von diesen gegenwärtig oder in absehbarer
Zukunft schon deshalb als Ungläubige oder Apostaten betrachtet und allein
deswegen mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung
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deswegen mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung
aus religiösen Gründen ausgesetzt werden. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes
(Auskunft vom 19. März 1997 an den Senat) haben Afghanen, die aus dem
Ausland nach Afghanistan zurückkehren, keine besonderen Repressionen zu
befürchten. Sie unterlägen wie alle im Land Verbliebenen den strengen religiösen
Anschauungen der Taliban und müßten sich den Gegebenheiten im Lande
anpassen. Daß eine dekadente Gesinnung bei ihnen von vornherein unterstellt
werde, könne nicht angenommen werden. Dieser Vorwurf könne sich allerdings aus
der Art der Kleidung und den geäußerten Gedanken ergeben. Die gegenteilige
Annahme von amnesty international in der Auskunft vom 9. Dezember 1997 an
den Senat, im Gebiet der Taliban müßten Rückkehrer, insbesondere dann, wenn
sie längere Zeit im westlichen Ausland gelebt hätten, um ihr Leben fürchten,
vermag eine Gefährdung von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland zumindest
nicht in der für die Zuerkennung des Abschiebungsschutzes nach § 53 Abs. 6 Satz
1 AuslG erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit aufzuzeigen. Diese
Einschätzung beruht, ohne daß konkret auf eine solche Verfolgung von
Rückkehrern hindeutende Gesichtspunkte genannt werden, allein auf den
Erkenntnissen über das Vorgehen der Taliban gegenüber der in Afghanistan - vor
allem in den Städten - lebenden Bevölkerung. Mangels ernsthafter, auf eine
konkrete Gefährdung von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland im Taliban-
Gebiet hindeutender Gesichtspunkte ist deshalb davon auszugehen, daß diese
Personen dort wegen einer bei ihnen möglicherweise vermuteten dekadenten
politischen oder religiösen Gesinnung lediglich mit einem erhöhten Druck zur
Anpassung an die dortigen Verhältnisse zu rechnen haben.
Die Gefahr, im angenommenen Falle der Rückkehr nach Afghanistan Opfer von
Repressalien zu werden, folgt für den Kläger gegenwärtig und für die absehbare
Zukunft schließlich auch nicht aus der Tatsache, daß er in Deutschland um Asyl
nachgesucht hat. Daß der Asylbeantragung im Ausland durch die derzeit in
Afghanistan an der Macht befindlichen Kräfte eine nennenswerte Bedeutung
beigemessen wird, ist schon deshalb in hohem Maße unwahrscheinlich, weil
während des seit nunmehr fast 20 Jahre andauernden Bürgerkriegs mehrere
Millionen Afghanen ihr Heimatland verlassen und im Ausland um Schutz
nachgesucht haben. Im Hinblick hierauf wird die Asylbeantragung in aller Regel
nicht als Verrat oder Ausdruck einer den jeweiligen Machthabern
entgegengebrachten oppositionellen Einstellung, sondern als Mittel betrachtet
werden, den unerträglichen Verhältnissen im Lande zu entfliehen (vgl. Auswärtiges
Amt, Auskunft vom 19. März 1997 und amnesty international, Auskunft vom 9.
Dezember 1997, jeweils an den Senat).
Es kann dahingestellt bleiben, ob sich für den angenommenen Fall einer Rückkehr
des Klägers in den Machtbereich der Taliban die für die Gewährung von
Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erforderliche beachtliche
Wahrscheinlichkeit von Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit aus einem
Zusammenwirken der dargestellten, für sich allein nicht ausreichenden
Gefährdungsaspekte ergeben könnte (vgl. zur Notwendigkeit einer Gesamtschau
der Verfolgungsgründe im Bereich des Asylrechts: BVerwG, Beschluß vom 12. Juli
1983 - BVerwG 9 B 10.542.83 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 10). Hierfür
könnte sprechen, daß der Kläger als Tadschike nicht nur einer von den Taliban mit
grundsätzlichem Mißtrauen betrachteten Volksgruppe angehört und seine frühere
berufliche Stellung in Afghanistan seiner Mitgliedschaft im tadschikisch
beherrschten Partscham-Flügel der DVPA verdankt, sondern sich darüber hinaus
zu einem mehrjährigen Studium in der ehemaligen Sowjetunion aufgehalten und
dort eine russische Staatsangehörige geheiratet hat, so daß er von den Taliban -
auch mit Blick auf seinen nachfolgenden Aufenthalt im westlichen Ausland -
womöglich insgesamt als ein zu verfolgender Gegner betrachtet werden könnte.
Eine solche Gefährdung wird nicht nur von dem Gutachter Dr. Danesch und der
Gefangenenhilfsorganisation amnesty international in ihren für das vorliegenden
Verfahren erstatteten Stellungnahmen bejaht, sie klingt auch in der Auskunft des
Auswärtigen Amtes vom 19. März 1997 sowie in der Auskunft des Deutschen
Orient-Instituts vom 18. September 1997 an. Nach der Einschätzung des
Deutschen Orient-Instituts in der vorerwähnten Auskunft gestaltet sich eine
Rückkehr des Klägers in den Machtbereich der Taliban als problematisch. Er würde
dort - so das Deutsche Orient-Institut - wegen seiner Zugehörigkeit zur DVPA
sowie wegen seines Studiums in der Sowjetunion und seiner Ehe mit einer Russin
mit Argwohn betrachtet und möglicherweise deshalb auch verhaftet und bestraft
werden. Auch nach Ansicht des Auswärtigen Amtes in der oben genannten, für den
Senat erstatteten Auskunft könne es für den Kläger wegen seiner russischen
Ehefrau zu Schwierigkeiten kommen.
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Der Frage, ob der Kläger, wenn er im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland in
das Taliban-Gebiet gelangen sollte, dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von
Repressalien bedroht wäre, bedarf indessen vorliegend keiner Beantwortung. Die
mögliche Gefährdung des Klägers im Herrschaftsbereich der Taliban hat nämlich in
den anderen Landesteilen Afghanistans keine Entsprechung. Wie der Senat in
seinen obigen Darlegungen bereits umfassend ausgeführt hat, geht aus allen
verfügbaren Erkenntnisquellen hervor, daß ehemalige Mitglieder der DVPA oder
sonstige Mitarbeiter oder Unterstützer des gestürzten kommunistischen Regimes,
soweit sie nicht dem Kreis der in ganz Afghanistan gefährdenden
herausgehobenen Angehörigen des früheren Regimes angehören, in den nicht von
den Taliban beherrschten Nordprovinzen Afghanistans unbehelligt leben können.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird deshalb dort auch der Umstand, daß sich der
Kläger längere Zeit zu einem Studiumaufenthalt in der früheren Sowjetunion
aufgehalten und dort eine russische Staatsangehörige geheiratet hat, zu keinen
Konsequenzen für ihn führen.
Liegt somit keine landesweite, sondern nur eine regional begrenzte Gefährdung
des Klägers vor, scheidet die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs.
6 Satz 1 AuslG grundsätzlich aus. Er ist vielmehr darauf verwiesen, in den
nördlichen Provinzen des Landes, in die afghanische Staatsangehörige
grundsätzlich auch dann einreisen können, wenn sie aus dem jetzt von den Taliban
beherrschten Gebiet stammen (Dr. Danesch, Gutachten vom 5. April 1997, Seite
51; amnesty international, Auskunft vom 9. Dezember 1997, jeweils an den
Senat), Schutz zu suchen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - BVerwG 9 C
38.96 -, NVwZ 1997, 1127 (1131)).
Dem Kläger kann, ungeachtet der nur in bestimmten Landesteilen bestehenden
Gefahrensituation, Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG auch nicht
deshalb ausnahmsweise gewährt werden, weil für die Abschiebung nur bestimmte,
gerade in Gefahrenregionen führende Abschiebungswege zur Verfügung stünden
und der Kläger folglich die sicheren Gebiete im Norden des Landes nicht erreichen
könnte, ohne hierbei wiederum Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt
zu sein (vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE
99, 324 (329) und vom 15. April 1997 - BVerwG 9 C 38.96 -, a.a.O.).
Zunächst ist nicht ersichtlich, daß der Kläger die nördlichen Provinzen
Afghanistans nur über das Taliban-Gebiet und damit nur über eine für ihn
möglicherweise mit elementaren Gefahren verbundene Region erreichen könnte.
Zwar führen alle derzeit zur Verfügung stehenden Flugverbindungen nach
Afghanistan in den von den Taliban beherrschten Süden und Westen des Landes,
nämlich von Pakistan bzw. von Dubai aus nach Kabul, Dschalalabad, Kandahar,
Herat und Schindand. Der Norden Afghanistans ist indessen über
Landverbindungen zu erreichen, nämlich über Usbekistan sowie über Tadschikistan
über die Grenzstation Taluquan (amnesty international, Auskunft vom 9.
Dezember 1997 an den Senat). Ob und inwieweit diese in die Nordprovinzen
führenden Einreisewege derzeit offen sind und für eine freiwillige Rückkehr bzw.
eine Abschiebung genutzt werden können, bedarf keiner Aufklärung. Selbst dann,
wenn diese Rückkehrwege zeitweise - etwa auf Grund schlechter Witterung oder
durch kriegsbedingte Einwirkungen - nicht zur Verfügung stehen sollten, kann dies
die Gewährung von Abschiebungsschutz nicht rechtfertigen. Der direkte Zugang
zu den sicheren Landesteilen ist in diesen Fällen nämlich nicht auf Dauer, sondern
nur vorübergehend verschlossen, so daß eine Rückkehr nicht von vornherein nur
über die mit Gefahren verbundenen Regionen erfolgen muß. Sollte sich im
Abschiebungsverfahren ergeben, daß eine Abschiebung oder eine Rückkehr über
die in die sicheren Landesteile führenden Einreisewege zur Zeit nicht möglich ist,
ist dem Kläger gegebenenfalls wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der
Abschiebung eine Duldung zu erteilen (§ 55 Abs. 2 AuslG).
Es ist weiterhin auch nicht zu erkennen, daß eine freiwillige Rückkehr bzw. eine
Abschiebung in den Norden Afghanistans den Kläger zwangsläufig in umkämpfte
Gebiete führen würde und er deshalb die für ihn sicheren Regionen nicht ohne
Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit erreichen könnte. Zwar wurden von den
Kampfhandlungen zwischen den Taliban und den Streitkräften der Nord-Allianz
auch nördliche Grenzregionen zu Usbekistan betroffen und in deren Folge
Grenzübergänge, wie etwa die Heiratan- Brücke nach Usbekistan, gesperrt
(amnesty international, Auskunft vom 9. Dezember 1997 an den Senat).
Zumindest in den über Tadschikistan erreichbaren nordöstlichen Provinzen
Afghanistans fanden und finden indessen keine Kampfhandlungen statt. Einige
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Afghanistans fanden und finden indessen keine Kampfhandlungen statt. Einige
dieser Provinzen, wie etwa die Provinz Badakhshan, sind vielmehr seit dem Abzug
der sowjetischen Truppen von dem Bürgerkrieg noch völlig unberührt geblieben
(Neue Zürcher Zeitung vom 1. Oktober 1997).
Den Kläger auf die für ihn sicheren Gebiete im Norden des Landes zu verweisen,
verbietet sich schließlich auch nicht deshalb, weil er dort sonstigen Gefährdungen
ausgesetzt sein könnte, die nur dort, nicht aber auch in dem anderen Teil
Afghanistans, d. h. im Machtbereich der Taliban, bestünden. Dabei kann
dahingestellt bleiben, ob der im Asylrecht geltende Grundsatz, wonach für einen
Asylsuchenden, der nur in Teilbereichen seines Heimatlandes von politischer
Verfolgung bedroht ist, eine inländische Fluchtalternative dann nicht besteht, wenn
ihm in den sicheren Regionen andere existentielle Nachteile und Gefahren drohen,
die am Herkunftsort so nicht bestünden (vgl. etwa BVerfG, Beschluß vom 10. Juli
1989 - 2 BvR 502/86 u. a. -, BVerfGE 80, 315 (343, 344)), auf den Bereich des
Abschiebungsschutzes nach § 53 AuslG übertragbar sind. Jedenfalls ist nicht
ersichtlich, daß der Kläger in den Nordprovinzen Afghanistan sonstigen Gefahren
für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt wäre, die nicht in gleicher Weise auch im
Machtbereich der Taliban bestünden. Derartige auf den Norden des Landes
beschränkte Gefährdungen folgen insbesondere nicht aus der in den nördlichen
Provinzen Afghanistans herrschenden wirtschaftlichen Situation, denn diese
unterscheidet sich nicht grundlegend von der auch im Bereich der Taliban
herrschenden ökonomischen Lage.
In ganz Afghanistan ist die wirtschaftliche Situation aufgrund der Aus- und
Nachwirkungen des Bürgerkrieges weiterhin katastrophal und die Bevölkerung in
allen Gebieten des Landes infolgedessen äußerst schlechten Lebensbedingungen
ausgesetzt. Die Infrastruktur ist in ganz Afghanistan durch die jahrelang
andauernden und noch immer nicht beendeten Kampfhandlungen fast vollständig
zerstört, die industrielle Produktion ist nahezu zum Erliegen gekommen. Die
wirtschaftliche Tätigkeit im Lande erschöpft sich in Landwirtschaft und Handel,
wobei vor allem Schmuggel und Drogenhandel florieren. Der Großteil der
Bevölkerung ist ohne feste Beschäftigung. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch.
Soweit die zum Überleben notwendigen Lebensmittel nicht durch eigene
landwirtschaftliche Betätigung oder Arbeit in der Landwirtschaft beschafft werden,
ernähren sich die Familien durch Gelegenheitsarbeiten oder Kleinhandel, wobei
häufig der verbliebene eigene Besitz veräußert wird. Vor allem in den Städten ist
die Bevölkerung verarmt und lebt unterhalb des Existenzminimums. Die offizielle
medizinische Versorgung ist schlecht. Das Schul- und Ausbildungssystem liegt in
ganz Afghanistan darnieder (vgl. zum Vorstehenden: Auswärtiges Amt,
Lagebericht vom 30. September 1997 (Stand: September 1997) sowie Auskünfte
vom 22. September 1997 an die Verwaltungsgerichte Wiesbaden und Würzburg;
UNHCR, Brennpunkt: Afghanistan, Flüchtlinge, Oktober 1997, Seite 13).
Die vorstehend beschriebenen Mißstände herrschen auch im Gebiet der Taliban,
obwohl dort wegen der weitgehenden Befriedung der von den Taliban besetzten
Regionen und der Öffnung der Handelswege nach Pakistan an sich bessere
Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Erholung und eine Verbesserung der
Lebensbedingungen der Bevölkerung gegeben sind. Zwar stehen in diesem
Bereich aufgrund des Warenverkehrs mit Pakistan ausreichend Lebensmittel zur
Verfügung. Die hohe Arbeitslosigkeit bewirkt jedoch, daß für den größten Teil der
Bevölkerung diese Lebensmittel unerschwinglich sind. Die Familien leben deshalb
auch hier von der Substanz und sind ohne fremde Hilfe zumeist nicht in der Lage,
sich die zum Überleben unerläßlichen Güter zu beschaffen (vgl. Dr. Danesch,
Gutachten vom 5. April 1997, Seiten 39 ff.; Deutsches Orient-Institut, Auskunft
vom 18. September 1997 an den Senat; Neue Zürcher Zeitung vom 26. Februar
1997). Programme oder Vorstellungen, diese ökonomische Notlage durch
Schaffung von Arbeitsplätzen oder Förderung von Existenzgründungen zu
beheben, bestehen bei den Taliban offensichtlich nicht. Die von ihnen praktizierte
Bargeld- und Naturalienwirtschaft läßt die Vergabe von Krediten oder auch nur
einen bargeldlosen Zahlungsverkehr nicht zu und behindert hierdurch das
Entstehen funktionsfähiger ökonomischer Strukturen nachdrücklich (Dr. Danesch
in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Juni 1997). Die katastrophale
wirtschaftliche Situation ist von den Taliban darüber hinaus noch zusätzlich durch
das von ihnen verhängte Arbeits- und Ausbildungsverbot für Frauen, die
Vernichtung als sittlich anstößig empfundener Arbeitsplätze und durch die
Entlassung von Staatsangestellten verschärft worden (Dr. Danesch, Gutachten
vom 5. April 1997, Seite 40; amnesty international, Auskunft vom 9. Dezember
1997 an den Senat).
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Daß der Kläger im Falle der Abschiebung nach Afghanistan - in gleichem Maße wie
die dort lebende Bevölkerung - den fortdauernden Kriegswirren sowie den
dargestellten sozialen und wirtschaftlichen Mißständen im Lande ausgesetzt wäre,
ist im Rahmen der Abschiebungsschutzregelung gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
grundsätzlich ohne Bedeutung. Dieser allgemeinen Gefahrenlage kann, auch wenn
der Kläger selbst hiervon konkret und individuell betroffen wäre, nicht durch die
Zuerkennung des auf individuell begrenzte Gefährdungen zugeschnittenen
Abschiebungsschutzes nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, sondern - wie sich aus § 53
Abs. 6 Satz 2 AuslG ergibt - grundsätzlich nur durch einen generellen
Abschiebungsstopp gemäß § 54 AuslG Rechnung getragen werden. Eine solche
den Kläger begünstigende Regelung nach § 54 AuslG liegt nicht vor. Auf die
bestehende, u. a. auch für afghanische Asylbewerberinnen und Asylbewerber
geltende Regelung über die Aussetzung von Abschiebungen nach § 54 AuslG in
dem Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern und für
Europaangelegenheiten vom 28. Juni 1993 (StAnz. 1993, S. 1774) kann sich der
Kläger nicht berufen, da er den Asylantrag nicht vor dem in dem Erlaß
vorgesehenen Stichtag 1. Januar 1991 gestellt und den Asylantrag auch nicht - wie
in dem Erlaß weiterhin bestimmt - bis zum 31. August 1993 zurückgenommen hat.
Zum Erlaß einer weitergehenden, auch den Kläger begünstigenden Anordnung
kann die zuständige oberste Landesbehörde nicht verpflichtet werden, und zwar
auch dann nicht, wenn eine solche Regelung nach den bekannten oder
erkennbaren Verhältnissen in Afghanistan als zwingend geboten anzusehen wäre
(BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 (327,
328)).
Im Hinblick auf die Zustände in seinem Heimatland könnte dem Kläger - in
verfassungskonformer Auslegung und Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG -
allenfalls dann Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG gewährt
werden, wenn er dort mit einer landesweit bestehenden extremen Gefahrenlage
konfrontiert würde, so daß er, wie jeder andere afghanische Staatsangehörige in
vergleichbarer Lage, im Falle der Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem
sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (BVerwG, Urteil
vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 (327, 328, 330)).
Eine solche für den Kläger im Falle der Abschiebung mit akuter Lebens- oder
Leibesgefahr verbundene extreme Gefahrenlage besteht in Afghanistan jetzt und
auf absehbare Zeit hinaus nicht.
Der Kläger müßte zunächst nicht befürchten, im Falle der Abschiebung in sein
Heimatland wegen der dort weiterhin anhaltenden
Bürgerkriegsauseinandersetzungen in eine extreme Gefahrensituation im oben
genannten Sinne zu geraten.
Wie bereits oben ausgeführt, kann der Kläger in Regionen im Norden Afghanistans
Schutz suchen, die nicht umkämpft und die auch in der Vergangenheit von den
Bürgerkriegsauseinandersetzungen verschont geblieben sind. Eine für die
Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung des § 53
Abs. 6 Satz 2 AuslG erforderliche landesweite extreme Gefahrensituation besteht
insoweit nicht.
Eine solche mit extremen Gefahren verbundene landesweite Situation ergibt sich
für den Kläger schließlich auch nicht aus den Auswirkungen der oben dargestellten
allgemeinen wirtschaftlichen Lage seines Heimatlandes für die dort lebende
Bevölkerung.
Ungeachtet der dargestellten Verhältnisse in Afghanistan, die aus Sicht des
Auswärtigen Amtes eine Rückkehr ohne den Rückhalt einer dort bestehenden
intakten Familien- oder Stammesstruktur derzeit als nicht zumutbar erscheinen
läßt (vgl. beispielsweise Lagebericht vom 30. September 1997 (Stand: September
1997)), ist eine allgemeine extreme Gefährdungslage, aufgrund deren der Kläger,
wie jeder andere afghanische Staatsangehörige in vergleichbarer Situation, durch
die Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder
unabsehbaren Gesundheitsgefahren ausgeliefert würde, nicht zu erkennen. Das
Bestehen einer solchen extremen Gefährdungssituation könnte nur dann
angenommen werden, wenn in Afghanistan - etwa aufgrund des Zusammenbruchs
der nationalen Versorgungssysteme und der Einstellung internationaler
Hilfsleistungen - auch eine minimale Grundversorgung zurückkehrender Flüchtlinge
nicht mehr gewährleistet wäre und ein Rückkehrer, der - wie der Kläger - nicht auf
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nicht mehr gewährleistet wäre und ein Rückkehrer, der - wie der Kläger - nicht auf
die Unterstützung eines intakten Familien- oder Stammesverbandes zurückgreifen
kann, den Tod durch Verhungern oder wegen der Unterversorgung mit
lebenswichtigen Gütern oder fehlender medizinischer Behandlungsmöglichkeiten
schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen befürchten müßte. Eine solche
außergewöhnliche Lage besteht in Afghanistan derzeit und auf absehbare Zeit
hinaus nicht. In Ermangelung wirksamer nationaler Hilfsprogramme wird die
Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmittel ebenso wie die medizinische
Behandlung von den Vereinten Nationen, dem Internationalen Komitee vom Roten
Kreuz (IKRK) und anderen internationalen Hilfsorganisationen zumindest notdürftig
gewährleistet. So werden etwa aus Mitteln des UNO-Welternährungsprogramms
(WFP) allein in Kabul eine Viertelmillion Menschen mit Brot versorgt, das durch
eigene Bäckereien hergestellt und gegen eine Bezugskarte verbilligt abgegeben
wird. Das IKRK hilft seinerseits 30.000 Kabuler Familien, deren Oberhäupter Frauen
oder Behinderte sind (Neue Zürcher Zeitung vom 26. Februar 1997). Durch den
UNHCR wurden in den letzten Jahren über 28.000 Familien beim Wiederaufbau
ihres Hauses unterstützt. Der UNHCR führte zudem im gleichen Zeitraum
zahlreiche infrastrukturelle Hilfsprogramme durch, wie den Wiederaufbau von
Grundschulen und Krankenstationen und die Instandsetzung von Brunnen und
Bewässerungsanlagen (UNHCR, Brennpunkt: Afghanistan, Flüchtlinge, Oktober
1997, Seite 13). Auch wenn diese Maßnahmen und Projekte eine umfassende
Versorgung der Bevölkerung in Afghanistan nicht sicherstellen können und die
internationalen Hilfsorganisationen zudem durch die Sittlichkeitsvorstellungen der
Taliban in ihrer Arbeit nachdrücklich behindert werden, so erscheint es doch
zumindest gewährleistet, daß es nicht zum Ausbruch einer allgemeinen
Hungersnot oder zu sonstigen, die Existenz breiterer Bevölkerungsschichten
elementar bedrohenden Krisen kommt.
D.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger als unterlegener Beteiligter zu
tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO). Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG
nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der
Kosten ergibt sich § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10 und 711 ZPO in
entsprechender Anwendung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da Gründe für ihre Zulassung gemäß § 132 Abs.
2 VwGO nicht vorliegen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.