Urteil des HessVGH vom 11.01.1990

VGH Kassel: aufschiebende wirkung, aufenthaltserlaubnis, ausländer, widerspruchsverfahren, interessenabwägung, geldstrafe, abschreckung, ermessen, ausweisung, rechtsstaatsprinzip

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 TH 2428/89
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 1 AuslG, § 7 Abs 2
S 2 AuslG, § 10 Abs 1
AuslG
(Aufenthaltserlaubnis: Verlängerung, Negativschranke)
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig, aber nur zum Teil begründet.
Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs gegen den ausländerbehördlichen Bescheid vom 18. Mai 1987
wiederhergestellt, diese Anordnung ist jedoch nach einer sachgerechten
Abwägung der für den Sofortvollzug einerseits und den vorläufigen weiteren
Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet andererseits sprechenden Interessen
bis zum Abschluß des Widerspruchsverfahrens zu befristen.
Nach der im vorliegenden Verfahren allein möglichen summarischen Überprüfung
kann derzeit nicht festgestellt werden, ob der ausländerbehördliche Bescheid vom
18. Mai 1987 offenbar rechtmäßig oder offenbar rechtswidrig ist, und unter diesen
Umständen überwiegt im vorliegenden Fall das private Interesse des
Antragstellers an einem vorläufigen weiteren Verbleib im Bundesgebiet bis zum
Abschluß des Widerspruchsverfahrens das öffentliche Interesse am Sofortvollzug
des angegriffenen Bescheids.
Wie das Verwaltungsgericht im wesentlichen zutreffend angenommen hat, läßt die
Begründung des ausländerbehördlichen Bescheids nicht zweifelsfrei erkennen, ob
der Landrat des Landkreises B die Voraussetzungen für eine Beeinträchtigung von
Belangen der Bundesrepublik Deutschland durch die weitere Anwesenheit des
Antragstellers im Bundesgebiet erkannt und unter Berücksichtigung der privaten
Interessen des Antragstellers zu Recht als vorliegend erachtet hat. Gemäß §§ 2
Abs. 1 Satz 2, 7 Abs. 2 Satz 2 AuslG darf eine Aufenthaltserlaubnis nicht
verlängert werden, wenn die weitere Anwesenheit des Ausländers Belange der
Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Zur Auslegung dieser als
verfassungskonform anzusehenden Regelungen (vgl. dazu BVerfG, 26.09.1978 -- 1
BvR 525/77 --, BVerfGE 49, 168 = EZAR 100 Nr. 3; BVerfG, 12.05.1987 -- 2 BvR
1226/83 u.a. --, BVerfGE 76, 1 = EZAR 105 Nr. 20) kann unter anderem auf die
Maßstäbe des § 10 Abs. 1 AuslG über die Ausweisung zurückgegriffen werden; die
Anwendung der sog. Negativschranke wird durch das Rechtsstaatsprinzip und die
Grundrechte sowie die in ihnen zum Ausdruck kommende Wertordnung begrenzt
und verlangt eine zukunftsbezogene Beurteilung, ist also nicht schon dann
gerechtfertigt, wenn ein Ausweisungstatbestand vorliegt (BVerwG, 21.10.1980 -- 1
C 19.78 --, BVerwGE 61, 105 = EZAR 100 Nr. 13, Hess. VGH, 12.05.1989 -- 12 TH
4504/88 --). Die Negativschranke setzt voraus, daß die Beeinträchtigung der
Belange der Bundesrepublik Deutschland von beachtlichem Gewicht ist, und
erfordert eine Güter- und Interessenabwägung, wenn ein anderer öffentlicher
Belang für den Aufenthalt des Ausländers spricht (BVerwG, 24.06.1982 -- 1 C
136.80 --, BVerwGE 66, 29 = EZAR 104 Nr. 6). Die Erteilung oder Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis sind danach nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wenn der
Ausländer zwar einen Ausweisungstatbestand verwirklicht hat, die
ausländerbehördliche Maßnahme aber nur dazu dienen könnte und dienen soll, auf
andere Ausländer vorbeugend dahin einzuwirken, daß sie Belange der
Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen (BVerwG, 16.07.1981 -- 1 C
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Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen (BVerwG, 16.07.1981 -- 1 C
99.76 --, EZAR 100 Nr. 17 = InfAuslR 1981, 240). Ob danach ein so bedeutsamer
Sachverhalt vorliegt, daß die weitere Anwesenheit des Ausländers von vornherein
nicht tragbar erscheint und für ein seine privaten Belange berücksichtigendes und
nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten auszuübendes Ermessen kein Raum
bleibt, ist besonders bei einer generalpräventiv begründeten Annahme einer
Belangbeeinträchtigung besonders sorgfältig zu prüfen und kann etwa dann nicht
als ausreichend angesehen werden, wenn sich ein Ausländer bereits über zehn
Jahre beanstandungsfrei im Bundesgebiet aufhält und lediglich wegen einer
fahrlässigen Verkehrsstraftat mit einer Geldstrafe belegt wird (BVerwG, 13.11.1979
-- 1 C 12.75 --, BVerwGE 59, 104 = EZAR 104 Nr. 1). Nach diesen Maßstäben
erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, daß dem Antragsteller die
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Abschreckung anderer
Ausländer aus zwingenden rechtlichen Gründen versagt werden darf; die
dahingehenden Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid halten indes einer
rechtlichen Prüfung nicht Stand. Sie deuten, worauf das Verwaltungsgericht
zutreffend hingewiesen hat, an mehreren Stellen darauf hin, daß die
Ausländerbehörde bereits die rechtskräftige Verurteilung des Antragstellers wegen
gemeinschaftlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Heroin) für
ausreichend erachtet hat, um die beantragte Verlängerung zwingend zu versagen.
Das besondere Gewicht, das der Bekämpfung des Drogenhandels und einer
konsequenten Ausweisungspraxis gegenüber ausländischen Rauschgifthändlern
beizumessen ist, ist zwar mit zutreffenden Argumenten dargelegt; in diesem
Zusammenhang ist aber lediglich auf das Verhalten des Antragstellers bei
Begehung der Straftat und seine damalige wirtschaftliche Situation eingegangen,
ohne daß der langjährige beanstandungsfreie Aufenthalt des Antragstellers, der
bei der Güter- und Interessenabwägung erhebliches Gewicht besitzt, erwähnt ist.
Die anschließenden Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid sprechen
einerseits für die Absicht der Ausländerbehörde, den Versagungsbescheid auch
auf spezialpräventive Überlegungen zu stützen; andererseits relativieren sie
diesen Gesichtspunkt, in dem auf die Möglichkeit einer generalpräventiven
Entscheidung für den Fall hingewiesen wird, daß eine die Spezialprävention
rechtfertigende Prognose nicht sicher gestellt werden kann. Ob eine im Rahmen
der Prüfung der Beeinträchtigung von Belangen der Bundesrepublik Deutschland
erforderliche Interessen- und Güterabwägung vorgenommen worden ist, erscheint
vor allem deshalb zweifelhaft, weil die privaten Verhältnisse des Antragstellers fast
ausnahmslos im Anschluß an die Feststellung erörtert werden, die "bei der
Ermessensbetätigung zu berücksichtigende persönliche Situation" erfordere keine
andere Entscheidung. Schließlich kann dem angegriffenen Bescheid, wie das
Verwaltungsgericht ebenfalls zu Recht beanstandet hat, nicht sicher entnommen
werden, ob die Ausländerbehörde ihre Entscheidung zumindest hilfsweise im Wege
des Ermessens treffen wollte.
Ob die Rechtsverfolgung des Antragstellers Erfolg haben wird, hängt unter
anderem davon ab, ob die Widerspruchsbehörde die Nichtverlängerung der
Aufenthaltserlaubnis auf eine Belangbeeinträchtigung oder auf
Ermessenserwägungen stützen und ob sie dies jeweils mit generalpräventiven
oder zumindest auch mit spezialpräventiven Gesichtspunkten begründen wird.
Zudem wird es für die Entscheidung über den Widerspruch auf die Feststellung
ankommen, welche Bedeutung den zwischenzeitlichen strafrechtlichen Verstößen
des Antragstellers beizumessen ist, ob sich dieser im übrigen nach seiner
Entlassung aus der Strafhaft beanstandungsfrei verhalten hat und ob es ihm
gelungen ist, sich in familiärer und beruflicher Hinsicht zu stabilisieren und in
geordnete Verhältnisse zurückzufinden. Zu welchem Ergebnis die insoweit
notwendigen Überprüfungen und Abwägungen führen, läßt sich derzeit nicht
absehen und muß daher dem Widerspruchsverfahren vorbehalten bleiben.
Kann nach alledem eine offenbare Rechtmäßigkeit oder offenbare Rechtswidrigkeit
der Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht festgestellt
werden, gilt dies auch für die in dem angegriffenen Bescheid enthaltene
Abschiebungsandrohung, die eine Verpflichtung des Antragstellers zur
unverzüglichen Ausreise voraussetzt (§§ 12 Abs. 1 Satz 2, 13 Abs. 1 AuslG).
Nach alledem überwiegt das private Interesse des Antragstellers an einem
vorläufigen weiteren Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse am
Sofortvollzug des angegriffenen Bescheids. Einerseits lebt der im Alter von etwa
sieben Jahren eingereiste Antragsteller nunmehr seit etwa zwanzig Jahren im
Bundesgebiet und hält sich seine Ehefrau ebenfalls schon seit etwa zehn Jahren
hier auf. Andererseits kann das Widerspruchsverfahren wahrscheinlich nach
hier auf. Andererseits kann das Widerspruchsverfahren wahrscheinlich nach
Durchführung der notwendigen Ermittlungen zügig vorangetrieben und
voraussichtlich schon innerhalb kurzer Zeit abgeschlossen werden. Die Anordnung
der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bis zum Abschluß des
Widerspruchsverfahrens ist schließlich auch deshalb geboten, weil im Hinblick auf
die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit nur überwiegende öffentliche Interessen es rechtfertigen
könnten, den Rechtsschutzanspruch des Antragstellers einstweilen
zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen
Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (vgl. BVerfG, 21.03.1985 -- 2 BvR 1642/83 --
, BVerfGE 69, 220 = EZAR 622 Nr. 1).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.