Urteil des HessVGH vom 02.12.1985

VGH Kassel: wiedereinsetzung in den vorigen stand, eigenes verschulden, behörde, sonntag, abreise, obliegenheit, rechtsmittelfrist, absendung, fristversäumnis, montage

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
11. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
11 UE 494/85
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Leitsatz
Einzelfall einer wegen schuldhafter Versäumung der Widerspruchsfrist erfolglosen Klage
und Berufung.
Tatbestand
Der Kläger beantragte unter dem 20. Juli 1976 die Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung nach § 37 Abs. 3 WaffG für ein Sturmgewehr 44, zwei
Maschinenpistolen und einen Lauf, Kal. 7,62 x 51. Diesen Antrag lehnte das
Bundeskriminalamt unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts mit Bescheid vom 18. Januar 1984, dem Kläger
zugestellt am 19. Januar 1984, ab. Mit am 2. März 1984 beim Bundeskriminalamt
eingegangenem Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 1. März 1984 legte der
Kläger gegen diesen Bescheid Widerspruch ein, wobei er wegen Versäumung der
Widerspruchsfrist um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bat. Zur Begründung
seines Wiedereinsetzungsantrags verwies der Kläger darauf, daß er sich vom 19.
Februar 1984 bis einschließlich 28. Februar 1984 auf Montage in der Schweiz
befunden habe. Eine entsprechende Bestätigung seines Arbeitgebers fügte der
Kläger bei. Mit Widerspruchsbescheid vom 10. April 1984 wies das
Bundeskriminalamt den Widerspruch als verspätet zurück. Dem Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht entsprochen werden, weil der
Kläger die gesetzliche Widerspruchsfrist schuldhaft versäumt habe. Er habe einen
Monat Zeit gehabt, gegen den Bescheid vom 18. Januar 1984 fristgerecht
Widerspruch einzulegen, so daß es auf seine beruflich bedingte Abwesenheit ab
19. Februar 1984 nicht mehr ankomme.
Nach Zustellung dieses Widerspruchsbescheides am 18. April 1984 erhob der
Kläger am 16. Mai 1984 Klage, mit der er sein Begehren auf Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung weiter verfolgte. Hinsichtlich der Versäumung der
Widerspruchsfrist machte er unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts geltend, derartige Fristen könnten bis zum letzten
Tage ausgenutzt werden. Wenn er daher durch eine unerwartete dienstliche
Abwesenheit am letzten Tage der Frist gehindert werde, den Rechtsbehelf
einzulegen, dürfe er nicht darauf verwiesen werden, daß er den Widerspruch auch
schon früher hätte einlegen können.
Der Kläger beantragte,
unter Aufhebung des Bescheides des Bundeskriminalamtes vom 18. Januar
1984 in der Fassung des Widerspruchsbescheides dieser Behörde vom 10. April
1984 die Beklagte zu verpflichten, ihm eine Ausnahmegenehmigung nach § 37
Abs. 3 WaffG für folgende Schußwaffen zu erteilen: 1. Sturmgewehr 44, Herst.-Nr.
5837 vF-44, 2. Maschinenpistole, FN Herstal, Herst.-Nr. 067884, 3.
Maschinenpistole Thomson, Herst.-Nr. 61414, 4. Lauf Kal. 7,62 x 51, Rheinmetall,
Herst.-Nr. 138048.
Die Beklagte beantragte,
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die Klage abzuweisen.
Sie beharrte darauf, daß der Bescheid vom 18. Januar 1984 wegen Versäumung
der Widerspruchsfrist in Bestandskraft erwachsen sei.
Mit am 11. Februar 1985 beratenem Gerichtsbescheid wies das
Verwaltungsgericht Wiesbaden die Klage als unzulässig ab.
Zur Begründung führte das Gericht im wesentlichen aus, der Kläger habe keine
Gründe vorgetragen, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der
Fristversäumnis rechtfertigen könnten. Soweit er geltend mache, wegen einer
Montage in der Schweiz in der Zeit vom 19. Februar 1984 bis 28. Februar 1984
berufsbedingt abwesend gewesen zu sein, könne dies nicht die Annahme einer
nicht schuldhaften Versäumung der Widerspruchsfrist rechtfertigen. Die Säumnis
des Klägers sei vielmehr deshalb verschuldet, weil er die ihm gebotene und nach
den Umständen zumutbare Sorgfalt außer acht gelassen habe. Ihm sei zumutbar
gewesen, das Widerspruchsschreiben im Hinblick auf die ihm obliegende Abreise
am 18. Februar 1984 entweder persönlich oder aber mit Hilfe eines zu
bestellenden Bevollmächtigten spätestens noch am gleichen Tag als Eilbrief bzw.
Telegramm zur Post zu geben, um auf diese Weise sicherzustellen, daß der
Widerspruch noch rechtzeitig am 19. Februar 1984 bei der Behörde eintreffe. Bei
Absendung eines Rechtsbehelfs kurz vor Ablauf der zu wahrenden Frist treffe den
Rechtsbehelfsführer nämlich eine erhöhte Sorgfaltspflicht, so daß auch schon
Verschulden bejaht werde, wenn ein Rechtsbehelf erst so spät abgesandt werde,
daß nur unter besonders günstigen Umständen, nicht aber bei normalem
Beförderungsverlauf mit fristgerechtem Eingehen gerechnet werden könne.
Insoweit würde selbst die Aufgabe am vorletzten Tag der Frist bei so weit
entfernten Orten wie im vorliegenden Fall zwischen München und Wiesbaden nur
genügen, wenn eine Eilbeförderung hinreichend gesichert wäre. Da der Kläger aber
in Kenntnis des Ablaufs der Widerspruchsfrist am 19. Februar 1984 seine Reise am
18. Februar 1984 angetreten habe, ohne überhaupt irgendwelche entsprechenden
Vorkehrungen für die rechtzeitige Einlegung seines Widerspruchs zu treffen, habe
er die Widerspruchsfrist schuldhaft versäumt.
Gegen diesen ihm am 14. Februar 1985 zugestellten Gerichtsbescheid hat der
Kläger am 13. März 1985 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung ergänzt und
vertieft er sein Vorbringen erster Instanz und führt aus, einem Bürger könne ein
Verschulden an einer Fristversäumnis nicht zur Last gelegt werden, wenn er den
Lauf der Rechtsmittelfrist bis zum letzten Tage ausnutze, an diesem letzten Tage
aber infolge eines unabwendbaren Ereignisses daran gehindert werde, den
Rechtsbehelf abzusenden. Da der 19. Februar 1984 ein Sonntag gewesen sei, wäre
die Einmonatsfrist für die Einlegung des Widerspruchs erst am 20. Februar 1984
abgelaufen gewesen. Noch an diesem Tage hätte er die Frist, hätte er nicht
unvorhergesehen verreisen müssen, wahren können, sei es durch telegrafische
Einlegung des Widerspruchs oder über eine entsprechend ausgerüstete
Anwaltskanzlei - per Telex. Hieran sei er aber durch den unerwarteten Auftrag
gehindert gewesen, er solle am Samstag, dem 18. Februar 1984 in die Schweiz
reisen, um dort am 19. Februar 1984 mit den Montagearbeiten beginnen zu
können.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 11. Februar
1985 aufzuheben und nach seinem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte Bezug genommen. Bezug genommen wird ferner auf einen Hefter
mit Behördenvorgängen betreffend den Antrag des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne
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Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne
mündliche Verhandlung entscheiden kann (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO) ist
zurückzuweisen, da das Verwaltungsgericht die Klage zu Recht abgewiesen hat.
Der Kläger hat es versäumt, gegen den Bescheid des Bundeskriminalamtes vom
18. Januar 1984, der ihm am 19. Januar 1984 durch Niederlegung beim Postamt
München 90 zugestellt wurde, rechtzeitig, d.h. innerhalb der Monatsfrist des § 70
Abs. 1 VwGO Widerspruch einzulegen. Dieser Widerspruch hätte - dies scheint das
Verwaltungsgericht allerdings übersehen zu haben -, da es sich bei dem 18.
Februar 1984 um einen Samstag und dem 19. Februar 1984 um einen Sonntag
handelte, spätestens am Montag, dem 20. Februar 1984, beim
Bundeskriminalamt eingehen müssen ( § 57 Abs. 2 VwGO, 222 ZPO, 187 ff. BGB).
Das Widerspruchsschreiben der Bevollmächtigten des Klägers vom 1. März 1984
ist jedoch bei dieser Behörde erst am 2. März 1984 eingegangen.
Im Ergebnis zu Recht hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, daß dem Kläger
wegen Versäumung der Widerspruchsfrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand §§ 70 Abs. 2, 60 VwGO) gewährt werden kann. Er war nämlich nicht ohne
Verschulden im Sinne des § 60 Abs. 1 VwGO verhindert, die Widerspruchsfrist
einzuhalten. Vielmehr hat er die für eine gewissenhafte und sachgemäße Führung
des Verwaltungsverfahrens gebotene Sorgfalt außer acht gelassen und damit in
zurechenbarer Weise selbst die Ursache dafür gesetzt, daß die Frist des § 70 Abs.
1 VwGO nicht eingehalten wurde. Der Senat kann insoweit weitgehend auf die
Ausführungen des Verwaltungsgerichts Bezug nehmen und bemerkt in Hinblick auf
das Berufungsvorbringen des Klägers lediglich ergänzend, daß es
selbstverständlich im Belieben eines jeden Betroffenen liegt, die ihm von Gesetzes
wegen eingeräumte Frist zur Einlegung von Rechtsbehelfen voll auszuschöpfen.
Dementsprechend kann dem Kläger auch nicht dar Vorwurf gemacht werden, er
habe schon deswegen leichtfertig gehandelt, weil er am Samstag, dem 18.
Februar 1984, also an jenem Tag, an welchem er überraschend zu auswärtigen
Montagearbeiten in die Schweiz aufbrechen mußte, den Widerspruch noch immer
nicht abgesandt hatte. Vielmehr konnte der Kläger durchaus darauf vertrauen, daß
ein noch am Samstag aufgegebener Brief - entsprechende Leerungszeiten des
Briefkastens vorausgesetzt - am Montag, dem Tag des Fristablaufs, bei der
Behörde eingehen würde. Möglich wäre grundsätzlich auch gewesen, den
Widerspruch selbst noch am Montag telegrafisch beim Bundeskriminalamt
einzulegen. War es dem Kläger somit unbenommen, mit der Einlegung des
Rechtsbehelfs bis zu den vorgenannten Tagen zu warten, so muß er sich aber
andererseits vorhalten lassen, daß er jedenfalls die gebotene Sorgfalt dadurch hat
vermissen lassen, daß er über den Umständen seiner am Samstag, dem 18.
Februar 1984, überraschend angeordneten Geschäftsreise die Einlegung des
Widerspruchs schlicht "vergessen" hat. Insoweit handelte der Kläger aber fahrlässig
und damit schuldhaft. Daß sich die am 18. Februar 1984 seitens seines
Arbeitgebers angeordnete Geschäftsreise für den Kläger als überraschend
darstellte, kann nicht zu einem Ausschluß dieses Verschuldens führen. Vielmehr
ist dieser Umstand nicht anders zu bewerten, als eine Vielzahl anderer
Verpflichtungen und unaufschiebbar zu verwirklichender Maßnahmen, wie sie
täglich im Leben eines Menschen vorkommen können und die diesen dennoch
nicht von der Obliegenheit befreien, seine übrigen Angelegenheiten - zumal wenn
ein drohender Fristablauf unmittelbar bevorsteht - sorgfältig und gewissenhaft zu
ordnen und weiterzuführen. Immerhin hätte der Kläger noch vor seiner Abreise in
die Schweiz, für die er ohnehin gewisse Vorbereitungen treffen wußte, am
Samstag entsprechende Anweisungen an einen Rechtsanwalt, an
Familienmitglieder, Verwandte oder Bekannte geben können, sofort - und
gegebenenfalls zunächst ohne weitere Begründung - schriftlich Widerspruch beim
Bundeskriminalamt einzulegen. Selbst noch am darauffolgenden Sonntag und
sogar noch am Montag hätte im übrigen die Möglichkeit bestanden, eine derartige
Anordnung telefonisch zu treffen oder selbst aus der Schweiz telegrafisch
Widerspruch beim Bundeskriminalamt einzulegen. Da der Kläger dies alles nicht
getan hat, kann nicht davon ausgegangen werden, er habe ohne eigenes
Verschulden die Widerspruchsfrist versäumt. Entgegen der Auffassung des Klägers
bedeutet eine Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Fällen
der vorliegenden Art auch keineswegs, daß ein Rechtssuchender die ihm
gewährten gesetzlichen Fristen nicht in voller Länge ausschöpfen könne; vielmehr
begründet diese Auffassung lediglich die Obliegenheit des Betroffenen, bei
zulässiger Inanspruchnahme der gesamten Fristdauer die gebotene Sorgfalt bis
zum letztmöglichen Zeitpunkt walten zu lassen. Wartet eine Rechtssuchender mit
der Einlegung seines Rechtsbehelfs bis zu diesem Zeitpunkt ab und treten dann
unerwartete Umstände der vorliegend vom Kläger geltend gemachten Art ein,
aufgrund derer er die Absendung des Rechtsmittelsschlicht "vergißt", so muß ihm
aufgrund derer er die Absendung des Rechtsmittelsschlicht "vergißt", so muß ihm
dies allerdings auch als Verschulden in Form von Fahrlässigkeit zugerechnet
werden. Keiner tieferen Erörterung bedarf insoweit, daß es durchaus
Fallgestaltungen geben kann, in denen ein Betroffener durch das Eintreten
unerwarteter und sein Denken und Handeln ausschließlich bestimmender
Umstände derart in Anspruch genommen wird, daß von ihm vernünftigerweise
nicht mehr erwartet werden kann, er müsse trotz dieser überraschend
eingetretenen Umstände auch noch an die Einhaltung bestimmter
Rechtsmittelfristen denken. Beispielsweise könnte einem Rechtssuchenden wohl
dann nicht der Vorwurf der fahrlässigen Nichtbeachtung einer laufenden
Rechtsmittelfrist gemacht werden, wenn er zwei Tage vor Ablauf dieser Frist durch
einen lebensbedrohenden Unfall eines nahen Angehörigen überrascht wird und
geltend macht, er habe sich nahezu ausschließlich am Krankenbett dieses
Angehörigen aufgehalten und darüber die Einlegung eines Rechtsmittels
versäumt. Von Fällen dieser Art unterscheidet sich der vorliegende Rechtsstreit
ganz erheblich dadurch, daß die Notwendigkeit einer überraschenden Abreise zu
Montagearbeiten in die Schweiz am Samstag, dem 18. Februar 1984, keineswegs
ein schwerwiegender und das gesamte Denken und Handeln des Klägers in
Beschlag nehmender Umstand derart war, daß von dem Kläger die Wahrnehmung
seiner übrigen wichtigen Angelegenheit schlechterdings nicht mehr hätte erwartet
werden können. Selbst wenn beim Kläger am Samstag, als ihm der überraschende
Auftrag erteilt wurde, eine gewisse Aufregung vorhanden gewesen sein sollte, so
muß doch davon ausgegangen werden, daß sich diese im Laufe der kommenden
beiden Tage nicht in dieser Intensität fortsetzte, so daß vom Kläger hätte erwartet
werden können, daß er sich wieder des drohenden Fristablaufs erinnerte.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.