Urteil des HessVGH vom 15.07.1991

VGH Kassel: politische verfolgung, ausreise, wahrscheinlichkeit, anerkennung, persönliche freiheit, orthodoxe kirche, entführung, existenzminimum, religionsunterricht, islam

1
2
3
Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 30/86
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16 Abs 2 S 2 GG, § 1
Abs 1 AsylVfG, § 4 Abs 1
AsylVfG, § 7 Abs 1 AsylVfG,
§ 7a Abs 3 AsylVfG
(Asylrecht - Abschiebungsschutz nach AuslG § 51 -
Familienasyl nach AsylVfG § 7a Abs 3 - syrisch-orthodoxe
Christin in der Türkei)
Tatbestand
Der am 1. Januar 1956 in A geborene Kläger zu 1) ist türkischer Staatsangehöriger
syrisch-orthodoxen Glaubens. Er verließ zusammen mit seiner laut Nüfus- und
Paßeintragung am 1. Januar 1954 ebenfalls in A geborenen Ehefrau, der Klägerin
zu 2), und den gemeinsamen Kindern I und F, die 1974 und 1978 in I geboren sind,
den Klägern zu 3) und 4), am 29. Juni 1980 die Türkei und reiste auf dem Luftwege
über den Flughafen F in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Familie war im
Besitz eines am 1. Oktober 1979 ausgestellten und bis zum 30. September 1981
gültigen türkischen Familienpasses.
Zur Begründung ihres am 11. Juli 1980 gestellten Asylantrags machten die Kläger
geltend, daß sie in ihrer Heimat als syrisch-orthodoxe Christen Verfolgungen durch
Behörden und muslimische Mitbürger ausgesetzt gewesen seien. Immer wieder
seien sie von Muslimen beleidigt und geschlagen worden; letztlich hätten sie sich
als Sklaven behandelt gefühlt. Der Kläger zu 1) sei zuletzt in I als selbständiger
Goldschmied tätig gewesen und dort laufend von Muslimen bedroht, erpreßt und
geschlagen worden. Bei der Polizei sei Hilfe nicht zu erlangen gewesen. Außerdem
hätten die Gewalttätigkeiten in der Türkei ständig zugenommen; immer häufiger
sei es zu Zusammenstößen zwischen linksgerichteten Gruppen und Nationalisten
der Rechten gekommen, ebenso auch zu Übergriffen der Muslime gegenüber
Christen. Da sie sich ständig bedroht gefühlt hätten, hätten sie ihr Heimatland
verlassen.
Bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung am 7. Dezember 1981, zu der unter
Vorlage einer Vollmacht seiner damals hochschwangeren Ehefrau lediglich der
Kläger zu 1) erschien, nahm dieser auf den Asylantrag Bezug und erklärte weiter,
daß sie 1970 von A nach I gegangen seien, wo er bis zur Ausreise als Goldschmied
im Geschäft seines Bruders gearbeitet habe. Zahlreiche Verwandte hielten sich
bereits im Bundesgebiet auf, andere in Holland oder in der Schweiz. Die Lage in
der Türkei sei immer schlechter geworden; politisch Organisierte hätten immer
wieder Geld verlangt und das Geschäft überfallen. Sie hätten mehrmals gezahlt;
als sie nichts mehr gezahlt hätten, sei der Bruder verprügelt worden. Sie seien
nicht zur Polizei gegangen, weil dies zwecklos gewesen wäre. Die Polizei hätte es
auch nicht gewagt, etwas gegen diese Leute zu unternehmen. Er sei etwa 1975
einmal von einem Teeverkäufer verprügelt worden, der anhand seines Vornamens
habe feststellen können, daß er Christ sei. Während seiner Militärdienstzeit sei
1977 seiner Frau auf der Straße die Handtasche mit 8.000 TL geraubt worden. Da
sie nicht türkisch spreche, habe sie nicht zur Polizei gehen können. Nach I seien
sie gegangen, weil die Muslime sie in A nicht in Frieden gelassen hätten. Damals
hätten dort etwa 200 Familien gewohnt, davon etwa 40 muslimische. Die Kinder
hätten in I wegen ihres geringen Alters noch keine Schwierigkeiten gehabt. Auch
beim Militär sei er ständig von den Unteroffizieren und Feldwebeln mißhandelt und
geschlagen worden, weil er Christ sei. Zwischen Paßausstellung und Ausreise sei
ein dreiviertel Jahr vergangen, weil sie erst noch versucht hätten, das Land zu
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
ein dreiviertel Jahr vergangen, weil sie erst noch versucht hätten, das Land zu
verkaufen; auch hätten sie nicht ohne weiteres Devisen erhalten können.
Mit Bescheid vom 15. Februar 1983 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag der Kläger ab. Zur Begründung wurde im
wesentlichen ausgeführt, daß nach eingehender Würdigung aller dem Bundesamt
zur Verfügung stehenden Informationen über die Lage der Christen in der Türkei
nicht ersichtlich sei, daß Christen dort allgemein in asylerheblicher Weise verfolgt
wären und daß auch im vorliegenden Fall für die Ausreise Verfolgung im Sinne des
Artikel 16 Abs. 2 Satz 2 GG ursächlich gewesen sei. Für eine Gruppenverfolgung
sei -- was im einzelnen näher dargelegt ist -- nichts ersichtlich; ebensowenig
hätten die Kläger eine individuelle Einzelverfolgung nachgewiesen. Der Staat
versuche, Schutz zu gewähren. Die desolaten innenpolitischen Zustände hätten
alle getroffen. Seit dem Militärputsch vom 12. September 1980 habe sich die Lage
allgemein verbessert; die Regierung betone immer wieder, daß sie für
ordnungsgemäße Zustände sorgen werde. Eine gezielte Verweigerung staatlichen
Schutzes sei nicht glaubhaft gemacht. Oftmals würden die Gerichte von Christen
gar nicht angerufen. Jedenfalls müßten sich die Kläger aber auf I als inländische
Fluchtalternative verweisen lassen. Gerade für die Kläger sei dort das Leben
grundsätzlich möglich.
Diesen Bescheid stellte die Ausländerbehörde der Stadt G den Klägern zusammen
mit einer an die Kläger zu 1) und 2) gerichteten Ausreiseaufforderung nebst
Abschiebungsandrohung vom 7. März 1983 am 10. März 1983 mit
Postzustellungsurkunde zu.
Gegen beide Bescheide erhoben die Kläger mit am 5. April 1983 beim
Verwaltungsgericht Wiesbaden eingegangenem Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten
Klage, zu deren Begründung sie über die Bezugnahme auf ihr bisheriges
Vorbringen hinaus geltend machten, daß ein Onkel im Heimatdorf von Muslimen
getötet worden sei. Nach I seien sie übergesiedelt, da man sie dauernd beraubt
habe. Auch beim Militär sei es zu Übergriffen gekommen. In I sei eines ihrer Kinder
verstorben, weil es vom Arzt nicht untersucht und richtig behandelt worden sei,
nachdem dieser sie als Christen erkannt hätte.
Die Kläger beantragten,
1. die Beklagte zu 1) unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15. Februar 1983 zu
verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen,
2. die Bescheide des Oberbürgermeisters der Stadt G vom 7. März 1983
aufzuheben.
Die Beklagten beantragten,
die Klage abzuweisen.
Sie bezogen sich zur Begründung auf den Inhalt ihrer Bescheide.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beteiligte sich nicht am
Verfahren.
Mit Urteil vom 12. September 1985 hob das Verwaltungsgericht die Bescheide der
Beklagten vom 15. Februar 1983 und 7. März 1983 auf und verpflichtete das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die Kläger als
Asylberechtigte anzuerkennen. Zur Begründung wurde im wesentlichen
ausgeführt, daß die Kläger als syrisch-orthodoxe Christen einer Gruppe
angehörten, die in jüngster Vergangenheit in asylrechtlich erheblicher Weise
verfolgt worden sei. Die Situation der Christen in der Türkei stelle sich als eine
Verfolgung einer wehrlos gewordenen Minderheit dar, gegen die staatlicher Schutz
nur schwer zu erreichen sei. Die Kläger seien nach ihren glaubhaften
Schilderungen auch in der Türkei mit feindlich gesonnenen Muslimen in Berührung
geraten. Die Kläger müßten bei einer Rückkehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt
befürchten, in asylerheblicher Weise verfolgt zu werden. Durch die Abwanderung
einer Vielzahl christlicher Türken sei die christliche Minderheit zu einer wehrlosen
Minderheit geworden, die den Übergriffen muslimischer Türken schutzlos
ausgeliefert sei. Zwar habe sich insgesamt gesehen die Sicherheitslage in der
Türkei nach dem Militärputsch am 12. September 1980 deutlich verbessert; dies
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
Türkei nach dem Militärputsch am 12. September 1980 deutlich verbessert; dies
gelte jedoch nicht für die christlichen Minderheiten. Eine inländische
Fluchtalternative bestehe nicht. Zudem lasse sich die weitere Entwicklung in der
Türkei vor dem Hintergrund der wachsenden Islamisierungstendenzen nicht
hinreichend sicher einschätzen. Danach sei die Klage auch begründet, soweit sie
sich gegen die Beklagte zu 2) richte.
Gegen das ihm am 31. Oktober 1985 zugestellte Urteil hat der Bundesbeauftragte
für Asylangelegenheiten mit am 30. November 1985 eingegangenem Schriftsatz
Berufung eingelegt, zu deren Begründung er geltend macht, daß für syrisch-
orthodoxe Christen in I, wo seit Jahren eine nicht unbeträchtliche Zahl von Christen
lebe, und anderen großen Städten der Westtürkei eine inländische
Fluchtalternative bestehe, da sich nach ganz überwiegender Einschätzung der
Gutachter die allgemeine Sicherheitslage gerade in den größeren Städten weiter
wesentlich gebessert und sich dies auch auf die Lage der syrisch-orthodoxen
Christen positiv ausgewirkt habe. Gerade in I gebe es seit den 60er Jahren eine
zwar kleine, aber durchaus intakte Gemeinde syrisch-orthodoxer Christen, die
nach besten Kräften bemüht sei, Zuwanderern und auch Rückkehrern bei der
Eingliederung behilflich zu sein. Aufgrund dieses gemeindlichen
Beziehungsgeflechts werde ein syrisch-orthodoxer Christ wohl bei anderen
Mitgliedern seiner Glaubensgemeinschaft eine Unterkunft finden können. Eine
Arbeitsaufnahme erscheine bei den auch in I stark vertretenen Geschäftsleuten
und Handwerkern durchaus möglich, die den überwiegenden Teil der dortigen
syrisch-orthodoxen Bevölkerung ausmachten; auch eine Beschäftigung in
Heimarbeit bzw. für Frauen als Dienstmädchen oder Schneiderin komme in
Betracht. Auch würden erfahrungsgemäß die in der Türkei lebenden Christen von
ihren ins Ausland abgewanderten Familienangehörigen mit Devisen unterstützt. Es
könne deshalb bei der gebotenen generalisierenden Betrachtungsweise nicht
angenommen werden, daß ein syrisch-orthodoxer Christ in I zwangsläufig in eine
bedrohliche wirtschaftliche Notlage oder eine andere ausweglose Lage geraten
würde.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 12. September 1985 in
Bezug auf die Beklagte zu 1) aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten mit der
Maßgabe zurückzuweisen, daß das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge auch verpflichtet wird, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG festzustellen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil.
Die Beklagte zu 1) stellt keinen ausdrücklichen Antrag zum Berufungsverfahren.
Der Senat hat aufgrund des Beschlusses vom 12. April 1991 Beweis erhoben über
die Asylgründe der Kläger durch Vernehmung der Kläger zu 1) und 2) als
Beteiligte. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift
über den Termin vor der Berichterstatterin am 16. Mai 1991 (Bl. 175 ff. d. A.)
verwiesen.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf den Inhalt der Streitakten, den einschlägigen Vorgang des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Az.: 163-74260-80)
und die die Kläger zu 1) und 2) betreffenden Ausländerakten (zwei geheftete
Vorgänge) Bezug genommen; diese sind ebenso Gegenstand der Beratung
gewesen wie die nachfolgend aufgeführten, den Beteiligten mit Verfügung vom 10.
April 1991 bekanntgegebenen Dokumente:
I.
1. Dez. 1978 Yonan: "Assyrer heute"
2. 11.04.1979 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
3. Mai/Juni
pogrom Nr. 64 (Yonan: "Die Lage der
1979 christlichen Minderheiten in der Türkei"
u.a.)
4. 07.08.1979 Dr. Harb-Anschütz an Bay. VGH
5. 12.11.1979 epd Dokumentation Nr. 49/79:
"Christliche Minderheiten aus der
Türkei"
6. Nov. 1979 Ev. Akademie Bad Boll, Materialdienst
2/80: "Christen aus der Türkei suchen
Asyl"
7. Mai 1980
pogrom Nr. 72/73 (Yonan: "Der unbekannte
Völkermord an den Assyrern 1915 -- 1918"
u.a.)
8. 20.05.1980 Patriarch Yakup III und Bischof Cicek
vor dem VG Gelsenkirchen
9. 15.10.1980 Carragher an Bay. VGH
10. 09.04.1981 Msgr. Wilschowitz: "Die Situation der
christlichen Minderheiten in der Türkei"
11. 29.04.1981 Reisebericht einer schwedisch-norwegischen
Reisegruppe
12. 02.05.1981 Dr. Hofmann: "Zur Lage der Armenier in
Istanbul/Konstantinopel"
13. 12.06.1981 Prof. Dr. Kappert vor VG Hamburg
14. 06.07.1981 Staatssekretär von Staden (BT-Drs.
9/650)
15. 20.07.1981 IGFM an VG Wiesbaden
16. 22.07.1981 Vocke an VG Karlsruhe
17. 04.08.1981 Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden
18. 24.11.1981 RA Wiskandt an Bundesamt: "Situation der
Christen in der Türkei"
19. 21.01.1982 Schweiz. Ev. Pressedienst Nr. 3
20. 03.02.1982 Auswärtiges Amt an VG Minden
21. 26.03.1982 Auswärtiges Amt an VG Trier
22. 07.04.1982 Pfarrer Diestelmann: "Die Situation der
syrisch-orthodoxen Christen ...."
23. 19.04.1982 Carragher zum Gutachten Wiskandt
24. 28.04.1982 Dr. Hofmann zum Gutachten Wiskandt
25. 06.05.1982 Diakonisches Werk EKD zum Gutachten
Wiskandt
26. 18.05.1982 Ev. Gemeinde dt. Sprache in der Türkei
an EKD
27. 26.07.1982 Sürjanni Kadim an VG Minden
28. 17.08.1982 Dr. Harb-Anschütz an VG Minden
29.
1983 Kraft, in "Christ in der Gegenwart":
"Fremde und Außenseiter"
30. Mai 1983
Ev. Akademie Bad Boll, Protokolldienst
27/83: "Studienfahrt in die Türkei"
31. 25.05.1984 Auswärtiges Amt an VG Karlsruhe
32. 12.06.1984 epd Dokumentation Nr. 26/84: "Die Lage
der christlichen Minderheiten in der
Türkei ...."
33. 26.06.1984 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
34. 11.09.1984 Auswärtiges Amt an Hess. VGH
35. 14.09.1984 Dr. Oehring an VG Minden
36. 09.11.1984 Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
36. 09.11.1984 Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
37. 03.12.1984 RA Müller, RA Wiskandt, Dr. Oehring und
Erzbischof Cicek als sachverständige
Zeugen vor dem Bay. VGH
38.
1985 Anschütz: "Die syrischen Christen vom
Tur'Abdin"
39. 04.02.1985 Dr. Hofmann an VG Stuttgart
40. 17.03.1985 Prof. Dr. Wießner an VG Stuttgart
41. 07.05.1985 Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg
42. 30.05.1985 Dr. Oehring an VG Gelsenkirchen
43. 22.06.1985 RA Müller: "Reisebericht zur Lage der
Christen in der Türkei"
44. 07.10.1985 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
45. 01.07.1986 EKD an VG Hamburg
46. 14.10.1986 Prof. Dr. Wießner an VG Hamburg
47. 06.01.1987 Dr. Tasci vor VG Gelsenkirchen
48. 07.04.1987 Yonan: Gutachten
49. 23.04.1987 Yonan an Bundesamt; Stellungnahme
50. 01.06.1987 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
51. 30.06.1987 Ev. Gemeinde deutscher Sprache in der
Türkei an VGH Baden-Württemberg
52. 06.07.1987 Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
53. 18.12.1987 Auswärtiges Amt an OVG Bremen
54. 15.01.1988 Dr. Oehring an VGH Baden-Württemberg
55. April 1988 Regine Erichsen: "Die Religionspolitik
im türkischen Erziehungswesen von der
Atatürk-Ära bis heute" in: Zeitschrift
für Kulturaustausch 1988, S. 234 ff.
56. 15.05.1988 Taylan an VG Karlsruhe
57. 25.05.1988 Dr. Oehring an VG Düsseldorf
58. Juli 1988
Auswärtiges Amt -- Bericht zur "Lage der
Christen in der Türkei"
59. 11.07.1988 Dr. Oehring an VG Kassel
60. 02.09.1988 Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg
61. 24.09.1988 Dr. Binswanger an VG Karlsruhe
62. 02.11.1988 Taylan an Hess. VGH
63. Dez. 1988 Gesellschaft für bedrohte Völker
-- Gutachten --
64. 09.12.1988 Pfarrer Klautke vor VG Köln
65. 08.01.1989 Wochenzeitschrift "Ikibine Dogru": "Die
geheimen Beschlüsse des islamischen
internationalen Rates sind enthüllt."
66. 12.01.1989 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
67. 17.01.1989 Auswärtiges Amt an Hess. VGH
68. 27.01.1989 Dr. Binswanger an Hess. VGH
69. März 1989 Gesellschaft für bedrohte Völker: "Wie
einst die Hugenotten -- Glaubensflüchtlinge
heute" in: Vierte Welt Aktuell
Nr. 79
70. 20.03.1989 Dr. Oehring an VG Ansbach
71. 02.04.1989 Dr. Oehring an Hess. VGH
72. 09.06.1989 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
73. 01.07.1989 Sternberg-Spohr u.a. in terre des hommes
"Religionsverfolgte aus der Türkei
26
27
28
29
30
-- politische Verfolgte oder
Scheinasylanten"
74. 04.09.1989 Taylan an OVG Rheinland-Pfalz
75. 18.10.1989 Auswärtiges Amt an OVG Münster
76. Nov. 1989 Weber/Günter/Reuter: "Zur Lage der
Christen in der Türkei", Bericht einer
ökumenischen Besuchsreise vom 31.08. bis
11.09.1989 unter Leitung von Dr. Oehring
77. 22.01.1990 Taylan vor Hess. VGH
78. 22.03.1990 6 Zeugen vor Hess. VGH
79. 15.02.1990 Auswärtiges Amt an OVG Rheinland-Pfalz
80. 12.03.1990 Auswärtiges Amt an VG Oldenburg
81. 12.03.1990 Auswärtiges Amt an VG Minden
82. 15.06.1990 Dr. Oehring an OVG Rheinland-Pfalz
83. 02.09.1990 Dr. Wießner an OVG Rheinland-Pfalz
Entscheidungsgründe
Die auf den asylrechtlichen Verfahrensteil beschränkte Berufung des
Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten, über die mit Einverständnis der
Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 125 i.V.m. §
101 Abs. 2 VwGO), ist frist- und formgerecht eingelegt (§§ 124, 125 VwGO) und
auch sonst zulässig. Sie ist nämlich vom Verwaltungsgericht zugelassen worden,
und der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten war zur Einlegung der
Berufung ungeachtet dessen befugt, daß er sich am erstinstanzlichen Verfahren
weder durch einen Antrag noch sonst beteiligt hat (BVerwG, 11.03.1983 -- 9 B
2597.82 --, BVerwGE 67, 64 = NVwZ 1983, 413; Hess. VGH, 11.08.1981 -- X OE
649/81 --, ESVGH 31, 268).
Die Berufung ist jedoch im Ergebnis in vollem Umfang unbegründet. Denn
jedenfalls die Klägerin zu 2) ist auch nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage
im Zeitpunkt der Entscheidung in der Berufungsinstanz als Asylberechtigte
anzuerkennen, weil sie politisch verfolgt ist (§§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 AsylVfG i.V.m.
Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG); ebenso kann sie -- was durch die im Tenor
vorgenommene Änderung des verwaltungsgerichtlichen Ausspruchs zum Ausdruck
gebracht ist -- die Feststellung beanspruchen, daß die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG in ihrer Person vorliegen (A.).
Schon deswegen hat die Berufung des Bundesbeauftragten für
Asylangelegenheiten auch hinsichtlich der Kläger zu 1), 3) und 4) keinen Erfolg,
weil diesen im Hinblick auf die Asylberechtigung der Klägerin zu 2) gemäß § 7 a
Abs. 3 AsylVfG als Ehegatten bzw. minderjährigen ledigen Kindern die
Rechtsstellung von Asylberechtigten zu gewähren ist (B.); auch dies ist durch die
Neufassung des Tenors der erstinstanzlichen Entscheidung zum Ausdruck zu
bringen.
Ohne diese Mitte Oktober 1990 in Kraft getretene Vorschrift des § 7 a Abs. 3
AsylVfG (vgl. Art. 3 Nr. 3 b des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts
vom 09.07.1990 -- BGBl. I S. 1354 <1381> -- i.V.m. Art. 1 und 3 des Gesetzes zur
Änderung des vorgenannten Gesetzes vom 12.10.1990 -- BGBl. I S. 2170) könnte
der Kläger zu 1) keine Anerkennung finden, wohl aber wären die Kläger zu 3) und
4) als Asylberechtigte anzuerkennen, da auch ihnen nach Überzeugung des
Senats im Falle der Rückkehr individuelle asylrelevante politische Verfolgung
drohte (C.).
A.
Die Klägerin zu 2) kann nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im
Zeitpunkt der Berufungsentscheidung sowohl die Verpflichtung der Beklagten zu 1)
zu ihrer Anerkennung als Asylberechtigte beanspruchen (I.) als auch zu der
Feststellung, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen (II.), weil
sie politisch Verfolgte ist (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1
AsylVfG).
31
32
I.
Asylrecht als politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genießt,
wer bei einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen
Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen
seiner persönlichen Freiheit zu erwarten hat (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80
u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Eine Verfolgung ist in Anlehnung an
den Flüchtlingsbegriff des Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GK als politisch im Sinne von Art.
16 Abs. 2 Satz 2 GG anzusehen, wenn sie auf die Rasse, Religion, Nationalität,
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die politische
Überzeugung des Betroffenen zielt (BVerfG, 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --,
BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 17.05.1983 -- 9 C 874.82 --,
BVerwGE 67, 195 = EZAR 201 Nr. 5, u. 26.06.1984 -- 9 C 185.83 --, BVerwGE 69,
320 = EZAR 201 Nr. 8). Diese spezifische Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen
Charakters der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den
subjektiven Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, 10.07.1989 -- 2 BvR
502/86 u.a. --, BVerfGE 80, 315 = EZAR 201 Nr. 20; zur Motivation vgl. BVerwG,
19.05.1987 -- 9 C 184.86 --, BVerwGE 77, 258 = EZAR 200 Nr. 19). Werden nicht
Leib, Leben oder physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie
etwa die Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so
sind allerdings nur solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und
Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die
Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein
hinzunehmen haben (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, a.a.O., u.
01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --, a.a.O.; BVerwG, 18.02.1986 -- 9 C 16.85 --,
BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7). Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist
gegeben, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände
seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei
die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der
letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren
Zeitraum ausgerichtet sein muß (BVerwG, 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, EZAR 202
Nr. 6 = NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch
verfolgt war, kann eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die
Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen ist (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, a.a.O.; BVerwG,
25.09.1984 -- 9 C 17.84 --, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12 m.w.N.). Der
Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht
gehalten, umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse zu schildern,
die seiner Auffassung zufolge geeignet sind, den Asylanspruch zu tragen (BVerwG,
08.05.1984 -- 9 C 141.83 --, EZAR 630 Nr. 13 = NVwZ 1985, 36, 12.11.1985 -- 9 C
27.85 --, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR 1986, 79, u. 23.02.1988 -- 9 C 32.87 --, EZAR
630 Nr. 25) und insbesondere auch den politischen Charakter der
Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG, 22.03.1983 -- 9 C 68.81 --,
Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG, u. 18.10.1983 -- 9 C 473.82 --, EZAR 630
Nr. 8 = ZfSH/SGB 1984, 281). Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im
Herkunftsland genügt es dagegen, daß die vorgetragenen Tatsachen die nicht
entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, 23.11.1982
-- 9 C 74.81 --, BVerwGE 66, 237 = EZAR 630 Nr. 1). Die Gefahr einer
asylrelevanten Verfolgung kann schließlich nur festgestellt werden, wenn sich das
Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem
Asylbewerber behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschafft, wobei
allerdings der sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im
Verfolgerstaat bei der Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des
Vortrags und der Beweise angemessen zu berücksichtigen ist (BVerwG,
12.11.1985, a.a.O.).
Der erkennende Senat ist nach diesen Grundsätzen aufgrund der eigenen
Angaben der Klägerin zu 2) und ihrer Familienangehörigen, des Inhalts der
beigezogenen Akten und der in das Verfahren eingeführten Dokumente zu der
Überzeugung gelangt, daß die Klägerin zu 2) zwar nicht Kraft innerstaatlich
geltender völkerrechtlicher Vereinbarung als Asylberechtigte anzuerkennen ist (1.)
und daß sie auch vor ihrer Ausreise weder als Mitglied der Gruppe der syrisch-
orthodoxen Christen politisch verfolgt (2.) noch von individuellen
Verfolgungsmaßnahmen betroffen war (3.), daß sie aber bei einer Rückkehr in ihre
Heimat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierten
Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat, die ihre Anerkennung zwar nicht unter
dem Gesichtspunkt der Gruppenverfolgung (4.), wohl aber unter dem
33
34
35
dem Gesichtspunkt der Gruppenverfolgung (4.), wohl aber unter dem
Gesichtspunkte der Einzelverfolgung rechtfertigen (5.). Dabei handelt es sich um
einen objektiven und damit auf jeden Fall beachtlichen Nachfluchttatbestand (6.).
1.
Die Klägerin zu 2), an deren syrisch-orthodoxer Glaubenszugehörigkeit angesichts
ihrer Angaben im Asylverfahren und den Eintragungen im Nüfus "Hiristiyan" kein
Zweifel besteht, kann ihre Anerkennung nicht aufgrund des Abkommens über die
Ausdehnung gewisser Maßnahmen zugunsten russischer und armenischer
Flüchtlinge auf andere Kategorien von Flüchtlingen vom 30. Juni 1928 (abgedruckt
in: Societe des Nations, Recueil des Traites, Bd. 89 <1929>, S. 64) erreichen. Da
die Klägerin 1954 geboren ist und erst 1980 die Türkei verlassen hat, kann dieses
Abkommen auf sie ohnehin nicht angewandt werden (ständige und vom
Bundesverwaltungsgericht durch Urteil vom 17.05.1985 -- 9 C 874.82 --, BVerwGE
67, 195 = EZAR 201 Nr. 5 bestätigte Rechtsprechung des Hess. VGH, vgl. z. B.
25.02.1991 -- 12 UE 2583/85 --). Der Senat kann deshalb offenlassen, ob dem
durch die genannte Vereinbarung geschützten Personenkreis überhaupt noch ein
Anspruch auf Asylanerkennung oder Asylgewährung in anderer Form zusteht,
nachdem die früher in § 28 AuslG 1965 enthaltene Bezugnahme auf Artikel 1 GK
und die dort in Abschnitt A Nr. 1 enthaltene Verweisung auf die erwähnte
Vereinbarung entfallen sind und bei denjenigen Ausländern, die im Bundesgebiet
die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen, lediglich die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2) AuslG vorliegen, was
letztlich bedeutet, daß eine Asylanerkennung allein an die Voraussetzungen des
Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG anknüpft (vgl. Koisser/Nicolaus, ZAR 1991, 91, u. Hess.
VGH, 15.03.1991 -- 10 UE 1538/86 --).
2.
Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß die Klägerin zu 2) vor ihrer
Ausreise aus der Türkei im Juni 1980 als Angehörige der syrisch-orthodoxen
Minderheit einer unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt
war. Der Senat hält an seiner anhand der auch in vorliegendem Verfahren
beigezogenen Unterlagen gewonnenen Einschätzung (vgl. Hess. VGH, 25.02.1991
-- 12 UE 2583/85 --, 18.06.1990 -- 12 UE 3002/86 --) fest, daß für den Zeitraum bis
zur Ausreise der Klägerin aus der Türkei weder eine unmittelbare noch eine
mittelbare Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Minderheit festzustellen ist.
Asylerhebliche Bedeutung haben nicht nur unmittelbare Verfolgungsmaßnahmen
des Staats; dieser muß sich vielmehr auch Übergriffe nichtstaatlicher Personen
und Gruppen als mittelbare staatliche Verfolgungsmaßnahmen zurechnen lassen,
wenn er sie anregt, unterstützt, billigt oder tatenlos hinnimmt und damit den
Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR
147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Eine derartige staatliche
Verantwortlichkeit kommt aber nur in Betracht, wenn der Staat wegen fehlender
Schutzfähigkeit oder -willigkeit zum Schutz gegen Ausschreitungen oder Übergriffe
nicht in der Lage ist, wobei es auf den Einsatz der ihm an sich verfügbaren Mittel
ankommt (BVerfG, 10.07.1989 -- BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 80, 315 = EZAR 201
Nr. 20) und dem Staat für Schutzmaßnahmen besonders bei spontanen und
schwerwiegenden Ereignissen eine gewisse Zeitspanne zugebilligt werden muß
(BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --, BVerwGE 79, 79 = EZAR 202 Nr. 13).
Asylrelevante politische Verfolgung -- und zwar sowohl unmittelbar staatlicher als
auch mittelbar staatlicher Art -- kann sich nicht nur gegen Einzelpersonen,
sondern auch gegen durch gemeinsame Merkmale verbundene Gruppen von
Menschen richten mit der regelmäßigen Folge, daß jedes Gruppenmitglied als von
dem Gruppenschicksal mitbetroffen anzusehen ist (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR
147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1, u. 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86
u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 599.81 --,
BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1, u. 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --, a.a.O.). Die
Annahme einer Gruppenverfolgung setzt eine Verfolgungsdichte voraus, die in
quantitativer Hinsicht die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen
aufweist, daß ohne weiteres von einer aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit jedes
Gruppenmitglieds gesprochen werden kann (BVerwG, 08.02.1989 -- 9 C 33.87 --,
EZAR 202 Nr. 15 = NVwZ-RR 1989, 502). Als nicht verfolgt ist nur derjenige
Gruppenangehörige anzusehen, für den die Verfolgungsvermutung widerlegt
werden kann; es kommt nicht darauf an, ob sich die Verfolgungsmaßnahmen
schon in seiner Person verwirklicht haben (BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --,
a.a.O.). Auch eine frühere Gruppenverfolgung führt für die Betroffenen zur
36
37
38
39
40
41
a.a.O.). Auch eine frühere Gruppenverfolgung führt für die Betroffenen zur
Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs hinsichtlich künftiger
Verfolgung (BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --, a.a.O.).
Ist das beeinträchtigte Schutzgut die religiöse Grundentscheidung, so liegt
politische Verfolgung etwa dann vor, wenn die Maßnahmen darauf gerichtet sind,
die Angehörigen einer religiösen Gruppe ihrer religiösen Identität zu berauben,
indem ihnen eine Verleugnung oder gar Preisgabe tragender Inhalte ihrer
Glaubensüberzeugung zugemutet oder sie daran gehindert werden, ihren eigenen
Glauben, so wie sie ihn verstehen, im privaten Bereich und unter sich zu
bekennen. Die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, wie etwa der
häusliche Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit zum Reden über den eigenen
Glauben und zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen
Bereich, ferner das Gebet und der Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in
persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu
und Glauben unter sich wissen darf, gehören unter dem Gesichtspunkt der
Menschenwürde wie nach internationalem Standard zu dem elementaren Bereich,
den der Mensch als "religiöses Existenzminimum" zu seinem Leben- und
Bestehenkönnen als sittliche Person benötigt (vgl. BVerfG, 01.07.1987 -- 2 BvR
478/86 u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerfG, 10.11.1989 -- 2 BvR
403/84 u.a. --, BVerfGE 81, 58 = EZAR 203 Nr. 5 = DVBl. 1980, 201 = InfAuslR
1990, 34).
Unabhängig von Eingriffen in das religiöse Existenzminimum liegt politische
Verfolgung "wegen" Religionszugehörigkeit aber auch bei Maßnahmen vor, die
darauf gerichtet sind, die Angehörigen einer religiösen Gruppe physisch zu
vernichten oder mit vergleichbar schweren Sanktionen wie Austreibung oder
Vorenthaltung elementarer Lebensgrundlagen zu bedrohen (BVerfG, 01.07.1987 --
2 BvR 478/86 u.a. --, a.a.O.).
Wer nicht von landesweiter, sondern von nur regionaler politischer Verfolgung
betroffen ist, ist erst dann politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2
GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird. Das ist der
Fall, wenn er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht
nicht finden kann. Eine derartige inländische Fluchtalternative besteht, wenn der
Betroffenen in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung
hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und
Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen
Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen (vgl. BVerfG,
02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1), sofern
diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG,
10.07.1989 -- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 80, 315 = EZAR 201 Nr. 20).
Ist jemand vor einer regionalen, an seine Religionszugehörigkeit anknüpfenden
politischen Verfolgung geflohen, so ist er am Ort einer in Betracht kommenden
Fluchtalternative dann nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung, wenn der
Staat ihn durch eigene Maßnahmen daran hindert, das religiöse Existenzminimum
zu wahren. Entsprechendes gilt, wenn die dort ansässige Bevölkerung die Wahrung
des religiösen Existenzminimums durch aktives, mit dem für alle geltenden Recht
unvereinbares Handeln unmöglich macht, ohne daß der Staat die nach seiner
Rechtsordnung hiergegen allgemein in Betracht kommenden Maßnahmen ergreift;
die mit der politischen Verfolgung verbundene Ausgrenzung würde damit
fortdauern. Freilich ist hierbei zu berücksichtigen, daß es keiner staatlichen
Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu
garantieren (vgl. BVerfG, 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u. a. --, a.a.O.). Andere
vergleichbar schwere Nachteile und Gefahren drohen auch dann, wenn sich ein
Asylbewerber ihnen nur durch Aufgabe einer das religiöse Existenzminimum
wahrenden Lebensweise entziehen könnte (vgl. BVerfG, 10.11.1989 -- 2 BvR
403/84 u. a. --, a.a.O.; BVerfG, 08.11.1990 -- 2 BvR 945/90 --).
Der Senat legt seiner Beurteilung der Lage der Christen in der Türkei im
allgemeinen und der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft im besonderen
sowie des Verhältnisses dieser Christen zu anderen dort lebenden religiösen und
ethnischen Gruppen die nachfolgend anhand der vorliegenden schriftlichen
Unterlagen (im folgenden nur noch mit der entsprechenden Nr. der Liste von S. 8
ff. bezeichnet) auszugsweise dargestellte historische Entwicklung der christlichen
Siedlungsgemeinschaften im Nahen Osten zugrunde.
Die Anhänger der syrischen Kirchen siedelten ursprünglich im mesopotamischen
41
42
Die Anhänger der syrischen Kirchen siedelten ursprünglich im mesopotamischen
Raum, und zwar im Bergland des Tur'Abdin mit dem Zentrum Mi, im weiter östlich
gelegenen Bergland von Bohtan, im alpenähnlichen Hochgebirge Hakkari und
weiter südlich in der Mosul-Ebene sowie in der Urmia-Ebene. Nachdem im 7.
Jahrhundert im Zuge der Arabisierung die Mehrheit dieser Christen zum Islam
übergetreten war und dann mongolische Eindringlinge Ende des 14. Jahrhunderts
die syrischen Kirchen bis auf wenige Überreste vernichtet hatten, erlebten sowohl
die syrisch-orthodoxen als auch die anderen im Osmanischen Reich lebenden
Christen vom Ende des 15. Jahrhunderts an eine vergleichsweise friedliche und
gesicherte Periode (38., S. 18), in der einigen der christlichen Kirchen -- allerdings
nicht der syrisch-orthodoxen (3., S. 46) -- der Status als "millat" zuerkannt wurde,
so daß sie ihr Personal- und Familienrecht nach eigenem Rechtsstatus regeln
konnten. Während der im 19. Jahrhundert zur Bewahrung des Osmanischen Reichs
eingeleiteten Reformbewegungen kam es sodann etwa nach der Seeschlacht von
Navarino 1827 zu einer Verfolgung der Armenier und 1843 zu einem Massaker der
Kurden unter den nestorianischen Bergstämmen im Hakkari. Die abseits in ihren
Siedlungsräumen in Ostanatolien lebenden syrischen Christen blieben von
derartigen Ereignissen weitgehend verschont. Sie waren ähnlich wie die ebenfalls in
dieser Region siedelnden Kurden stammesmäßig organisiert und erhielten sich
Unabhängigkeit und Schutz durch Selbstverteidigung und durch Tributzahlungen
an den Sultan. Nachdem seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine rege
Missionstätigkeit christlicher Religionsgesellschaften aus Amerika, England und
Frankreich dazu beigetragen hatte, die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung
der Christen im Nahen Osten zu heben und gleichzeitig deren politisches
Bewußtsein zu fördern, reagierte das Osmanische Reich im letzten Viertel des 19.
Jahrhunderts auf Unabhängigkeitsbestrebungen der Christen mit dem Einsatz
kurdischer Söldnertruppen, und dabei kam es dann häufig zu Morden,
Plünderungen und Hungersnöten (1., S. 17 ff.). Schließlich fanden während des
Ersten Weltkriegs unter den Christen zahlreiche Massaker statt, die insgesamt
über drei Millionen Tote gefordert haben sollen (1., S. 28; 5., S. 14; 7.; 24., S. 6;
38., S. 9 u. 18 f.; 48., S. 18); für sie werden zumindest auch die Allianz der Christen
mit England und Rußland und die Kriegserklärung des damaligen syrisch-
orthodoxen Patriarchen Benjamin XXI. an die Türkei im Mai 1915 verantwortlich
gemacht. So wurden etwa bis März 1915 im Urmia- und im Salamas-Gebiet über
70 Dörfer von türkischen Truppen und kurdischen Freiwilligen zerstört und
geplündert und die christliche Bevölkerung massakriert, und im selben Jahr folgten
weitere Massenmorde in der armenischen Stadt Van und im Bohtan-Gebiet (1., S.
29 f.). Bei der Flucht der Bergassyrer nach Salamas und der Urmia-Assyrer nach
Hamadan sollen jeweils mehr als 10.000 Menschen umgekommen sein (1., S. 30
ff.). Schließlich siedelten syrische Christen in den Jahren 1922 und 1924 in zwei
großen Fluchtbewegungen aus der Türkei in das benachbarte Syrien über (1., S.
110), und im Gefolge des Ersten Weltkriegs und des Friedensvertrags von
Lausanne vom 24. Juli 1923 verließen mehr als zwei Millionen Griechen die Türkei
(3., S. 41).
Es mag im einzelnen Streit darüber herrschen, welche Bedeutung das christliche
Bekenntnis der verschiedenen Gruppen der Christen für ihr jeweiliges Schicksal in
der Vergangenheit im einzelnen hatte, welche Rolle politische und militärische
Interessen fremder Großmächte gespielt haben und ob und in welchem Maße sich
etwa bei Armeniern, Griechen oder Assyrern ein eigenes Nationalbewußtsein
entwickeln konnte (vgl. dazu: 1., S. 12 ff.; 5., S. 1 .ff.; 18., S. 6 ff.). Die Situation der
Christen in der Türkei ist jedenfalls seit langem geprägt von ihrer bis in die Anfänge
des Christentums zurückreichenden religiösen und kirchlichen Tradition, von den
ethnischen und sprachlichen Besonderheiten der einzelnen Gruppen und von
einem mehr und mehr hoffnungslos erscheinenden Überlebenskampf in einer
mehrheitlich türkischen/muslimischen Umwelt, der angesichts der leidvollen
historischen Erfahrungen als besonders bedrückend empfunden wird. Während die
Christen Ende des 19. Jahrhunderts noch etwa 30% der Untertanen des
Osmanischen Reichs ausmachten, stellen sie nunmehr in der Türkei mit
schätzungsweise kaum noch 100.000 Menschen nur eine äußerst kleine Minderheit
der Gesamtbevölkerung von 43 Millionen (zu den Zahlenangaben und im übrigen
vgl.: 2.; 5., S. 5; 6., S. 5; 7.; 18., S. 8; 40.). Außer den Armeniern und den Griechen
sind zahlenmäßig vor allem die Assyrer von Bedeutung, denen aber im
Unterschied zu den Armeniern, Griechen und Juden ein Schutz als
nichtmuslimische Minderheit aufgrund des Lausanner Vertrags von 1923 nicht
zugestanden wird (3., S. 46; 5., S. 6; 32., S. 17 u. 40; 41., S. 2 f.; 60.; 63., S. 7;
68.). Die syrischen Christen gehören im wesentlichen vier Kirchen an, nämlich der
alten apostolischen Kirche des Ostens (oder nestorianischen), der syrisch-
orthodoxen (oder jakobitischen), der chaldäischen und der syrisch-katholischen
43
orthodoxen (oder jakobitischen), der chaldäischen und der syrisch-katholischen
(1., S. 3; 6., S. 5 f. u. 16 f.; 38., S. 8 f.). Die alte apostolische Kirche, die die
diophysitische Lehre des Nestorius (Christ als Gott und Mensch zugleich sowie
Maria als Gebärerin Christi) vertritt, brach auf dem Konzil von Ephesus im Jahre
431 mit der römischen Kirche (vgl. 1., S. 12, u. 6., S. 15 f.). Das Konzil von
Chalkedon im Jahre 451 führte zur Abspaltung der syrisch-orthodoxen Kirche von
Rom, wobei wiederum eine abweichende -- diesmal extrem monophysitische --
Lehrmeinung über die Person Christi ausschlaggebend war (1., S. 12; 6., S. 5 f.);
ihr Patriarch von Antiochia und dem gesamten Osten, Mar Ignatius Yakup III., hat
seinen Sitz seit 1954 in Damaskus (5., S. 21; 8., S. 2; 9., S. 2). Nestorianer und
Syrisch-Orthodoxe bedienen sich bis heute einer altsyrischen Liturgiesprache (1.,
S. 12); die Syrisch-Orthodoxen heben sich außerdem durch verschiedene Dialekte
der neuaramäischen Umgangssprache (im Tur'Abdin: Turoyo) von den
muslimischen Türken und Kurden sowie von den Jeziden ab. Im 16. und 17.
Jahrhundert kamen Teile der nestorianischen Kirche infolge innerer Streitigkeiten
und auf Betreiben von Kapuzinermissionaren unter Beibehaltung ihres Ritus mit
der römischen Kirche zum Ausgleich. Diese unierte nestorianische Kirche nennt
sich chaldäische Kirche; ihr Patriarch residiert (nach Vereinigung der früheren
Patriarchate von Babylon und Mosul) heute in Bagdad (1., S. 12; 3., S. 46; 5., S. 5;
6., S. 16; 29.; 38., S. 9). Im 18. oder 19. Jahrhundert kam es schließlich auch zu
einer Union eines Teils der syrisch-orthodoxen Kirche mit Rom, wobei gleichfalls
der syrische Ritus beibehalten wurde; hierbei handelt es sich um die sog. syrisch-
katholische Kirche (1., S. 3 u. 12; 3., S. 46; 5., S. 5; 6., S. 6 u. 16 f.; 38., S. 9).
Während bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Gebiet der heutigen Türkei noch
etwa eine Million Jakobiten und Nestorianer gelebt haben sollen und 1927
immerhin noch insgesamt 257.000 (1., S. 46 u. 110), beträgt die Zahl der Syrisch-
Orthodoxen in der Türkei neueren Schätzungen zufolge nur noch etwa 45.000 (1.,
S. 111; 5., S. 20), 35.000 (1., S. 46), 20.000 bis 25.000 bzw. 35.000 (6., S. 17; 58.,
S. 1), 20.000 (8., S. 2) oder sogar nur 10.000 bis 15.000 (2.). Im Gebiet des
Tur'Abdin (Berg der Gottesknechte), wo vor etwa 30 Jahren noch 70.000 Syrisch-
Orthodoxe lebten, sollen es 1967/68 noch 20.000 gewesen sein (4., S. 2), 1980
noch ca. 13.000 (70., S. 7), 25.000 (5., S. 29) oder auch annähernd 40.000 (32., S.
17), 1987/1988 lediglich noch 5.000 bis 7.000 (48., S. 14; 63., S. 5; 70., S. 4 f., 7 u.
14) oder 12.000 (58., S. 2) und 1989 sogar nur noch ungefähr 4.000 (76., S. 13 u.
16), während ihre Zahl in I im selben Zeitraum von einigen Hundert auf 15.000
oder gar auf 17.000 angestiegen sein soll (5., S. 46; 9., S. 7; 21.; 26.; 27.; für die
Zeit nach 1982 vgl. auch 35.; 37., S. 11; 58., S. 2; 63., S. 5; 70., S. 4); derzeit
dürften in I noch ungefähr 10.000 syrisch-orthodoxe Christen leben (64., S. 3; 66.,
S. 1). In der Bezirksstadt Mi sollen im Jahr 1978 von den ursprünglich 3.000
syrischen Familien infolge einer seit 1960 anhaltenden starken Abwanderung in
türkische Großstädte und ins Ausland noch 1.000 Familien gewohnt haben (1., S.
117).
Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Entwicklung kann nicht festgestellt
werden, daß die christliche Bevölkerung in der Türkei und insbesondere im Gebiet
des Tur'Abdin in dem hier maßgeblichen Zeitraum bis zur Ausreise der Klägerin zu
2) im Juni 1980 unter einer an die Religion anknüpfenden Gruppenverfolgung zu
leiden hatte; dies gilt sowohl hinsichtlich einer unmittelbaren staatlichen
Verfolgung als auch hinsichtlich einer dem türkischen Staat zurechenbaren
Verfolgung durch andere Bevölkerungsgruppen (ebenso schon der früher für
Asylverfahren allein zuständige 10. Senat des Hess. VGH in st. Rspr., zuletzt
30.05.1985 -- 10 OE 35/83 --, und jetzt der 12. Senat, vgl. etwa 22.02.1988 -- 12
UE 1071/84 --, NVwZ-RR 1988, 48, und 26.03.1990 -- 12 UE 2997/86 -- m.w.N.,
ähnlich VGH Baden-Württemberg, 25.07.1985 -- A 12 S 573/81 --, u. OVG
Lüneburg, 25.08.1986 -- 11 OVG A 263/85 --; a.A. Bay. VGH, 19.03.1981 --
12.B/5074/79 --, InfAuslR 1981, 219, VGH Baden-Württemberg, 09.02.1987 -- A 13
S 709/86 --, u. OVG Nordrhein-Westfalen, 23.04.1985 -- 18 A 10237/84 --, sowie
OVG Rheinland-Pfalz, 10.12.1986 -- 11 A 131/86 --). Für die Frage nach dem
Vorliegen einer an die religiöse Grundentscheidung anknüpfenden
Gruppenverfolgung ist allgemein zu beachten, daß eine aus Gründen der Religion
stattfindende Verfolgung nur dann asylerheblich ist, wenn die Beeinträchtigungen
der Freiheit der religiösen Betätigung nach Intensität und Schwere die
Menschenwürde verletzen (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54,
341 <357> = EZAR 200 Nr. 1). Es muß sich um Maßnahmen handeln, die den
Gläubigen als religiös geprägte Persönlichkeit ähnlich schwer treffen wie bei
Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit (BVerwG,
18.02.1986 -- 9 C 16.85 --, BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7), indem sie ihn
physisch vernichten, mit vergleichbar schweren Sanktionen bedrohen, seiner
religiösen Identität berauben oder daran hindern, seinen Glauben im privaten
44
45
46
religiösen Identität berauben oder daran hindern, seinen Glauben im privaten
Bereich und durch Gebet und Gottesdienst zu bekennen (BVerfG, 01.07.1987 --
BvR 472/86 u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20, u. 10.11.1989 -- 2 BvR
403/84 u.a. --, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254; vgl. im übrigen S. 17).
Aus den in das Verfahren eingeführten Gutachten, Auskünften und anderen
Erkenntnisquellen ergeben sich insgesamt keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür,
daß der türkische Staat die syrisch-orthodoxen Christen in diesem Sinne in dem
hier maßgeblichen Zeitraum unmittelbar aus religiösen Gründen verfolgt hat.
Die syrisch-orthodoxen Christen waren -- und sind -- von Verfassungs wegen
ebenso wie die Angehörigen anderer muslimischer und nichtmuslimischer
Glaubensgemeinschaften gegen Eingriffe in die Religionsfreiheit und gegen
Diskriminierungen aus religiösen Gründen geschützt (Art. 19 d. türk. Verf. v. 1961,
Art. 24 Abs. 1 d. türk. Verf. vom 07.11.1982; 18., S. 23; 41., S. 3; 57., S. 17 f.). Sie
sind in den durch Art. 14 der Verfassung von 1982 gezogenen Grenzen frei,
Gottesdienste, religiöse Zeremonien und Feiern abzuhalten (Art. 24 Abs. 2 dieser
Verfassung). Sie werden jedoch seit jeher anders als die Armenier, Griechen und
Juden in der Staatspraxis nicht zu den nichtmuslimischen Minderheiten gerechnet,
denen aufgrund der Art. 38 ff. des Friedensvertrags von Lausanne vom 24. Juli
1923 besondere Minderheitenrechte gewährleistet sind, so u.a. gemäß Art. 40 das
Recht, auf eigene Kosten jegliche karitative, religiöse und soziale Institutionen,
Schulen und andere Einrichtungen für Lehre und Erziehung mit dem Recht auf
Gebrauch ihrer eigenen Sprache und freie Religionsausübung zu errichten, zu
betreiben und zu kontrollieren (1., S. 112; 3., S. 46; 5., S. 6 u. 57 f.; 8., S. 3 f.; 9., S.
15 f.; 13.; 32., S. 17 u. 40; 41., S. 2 f.; 60.; 68.). Während die in I lebenden etwa
80.000 Armenier dazu imstande sind, ungefähr 30 bis 40 Kirchen und einige
Schulen, mindestens ein Krankenhaus und 12 Jugendclubs zu unterhalten (12.;
53.; 76., S. 3), verfügen die etwa 10.000 Syrisch-Orthodoxen in I lediglich über ein
eigenes Kirchenzentrum und sind in fünf bis sieben weiteren Kirchen zu Gast (18.,
S. 49; 26.; 27.; 35., S. 6; 37., S. 3, 8 u. 13; 64., S. 9; 66.; 76., S. 4 f.), sie dürfen
aber keine Schulen und keine Sozialeinrichtungen betreiben (58., S. 4; 63., S. 7).
Die syrisch-orthodoxen Christen werden allerdings ebensowenig wie andere
christliche Glaubensgemeinschaften staatlicherseits unmittelbar an der Ausübung
ihrer Religion gehindert. Sie können sowohl im Gebiet des Tur'Abdin als auch in I in
den ihnen verbliebenen Kirchen Gottesdienst nach ihrer Liturgie feiern und ihren
Glauben praktizieren. Insbesondere haben sie die Möglichkeit zum Gebet und zum
Gottesdienst im häuslich-privaten Bereich und in Gemeinschaft mit anderen
Gemeindemitgliedern.
Obwohl die Religionsausübung nach außen hin -- weder in der Vergangenheit noch
jetzt -- offen behindert oder gar untersagt (worden) ist, sind dennoch zahlreiche
administrative Schwierigkeiten festzustellen (58., S. 5), die die Syrisch-Orthodoxen
bei der Ausübung ihres Glaubens und der Pflege ihres Brauchtums empfindlich
stören und auf Dauer gesehen das kirchliche und religiöse Leben beeinträchtigen
und schließlich zum Erliegen bringen können. So ist beispielsweise die Ausbildung
der Priester zwar von Staats wegen nicht verboten und auch nicht erkennbar
restriktiv reglementiert. Tatsächlich gibt es aber seit geraumer Zeit in der Türkei
weder einen syrisch-orthodoxen Bischof noch Priesterseminare (8., S. 4; 19., S.
16), und deshalb können neue Priester, die die türkische Staatsangehörigkeit
besitzen müssen, nur im Ausland ausgebildet und geweiht werden (9., S. 5; 12., S.
5; 45., S. 6 f.; 46., S. 6; 48., S. 19; 60., S. 2). Die seelsorgerische Betreuung der
noch in den ehemals syrisch-orthodoxen Siedlungsgebieten verbliebenen
Gläubigen ist auch dadurch erschwert, daß viele Priester ihre Gemeinden gegen
den Willen der Kirchenleitung verlassen haben und im Zuge der Anwerbung von
Arbeitnehmern durch die Bundesrepublik Deutschland und andere westdeutsche
Staaten ins Ausland abgewandert sind (40., S. 3; 46., S. 3). Die ehemals
zahlreichen Klöster im Tur'Abdin sind jetzt nur noch von wenigen Mönchen oder
Nonnen bewohnt und im übrigen verlassen (5., S. 21). Die Klosterschule in D wurde
zudem mehrmals zumindest zeitweilig geschlossen, weil der türkische Staat das
Schulprogramm mit syrisch-aramäischem Sprachunterricht und christlichem
Religionsunterricht für illegal erachtete (5., S. 28; 6., S. 18; 32., S. 18; 46., S. 5;
76., S. 15). Der Bau und die Errichtung von Kirchen sind, nachdem das Eigentum
an dem Besitz der "frommen Stiftungen" im Jahre 1965 auf den Staat übertragen
worden ist, nur noch mit vorheriger staatlicher Genehmigung zulässig (9., S. 17).
Die Tatsache, daß in den vergangenen Jahren keine neue syrisch-orthodoxe Kirche
gebaut worden ist, während in der ganzen Türkei zahlreiche neue Moscheen
entstanden sind (43., S. 3 f.; 45., S. 3; 46., S. 4), kann allerdings darauf
zurückzuführen sein, daß Geld für einen derartigen Kirchenbau nicht vorhanden
47
48
zurückzuführen sein, daß Geld für einen derartigen Kirchenbau nicht vorhanden
war (28.). Trotz dieser faktischen Behinderungen im administrativen Bereich läßt
sich daraus eine unmittelbare staatliche Beeinträchtigung der Religionsfreiheit für
die Zeit bis zur Ausreise der Klägerin aus der Türkei nicht herleiten.
Ebenso verhält es sich im Ergebnis mit der Gestaltung des Religionsunterrichts an
den staatlichen Schulen (vgl. 55.). Insoweit ist allerdings zu beachten, daß die
Belastung nur eines bestimmten genau abgegrenzten Kreises von
Gruppenangehörigen -- hier: der eine Schule besuchenden und in der Regel
minderjährigen Personen -- nicht bereits eine Verfolgung der Religionsgruppe
insgesamt darstellt (BVerwG, 24.08.1989 -- 9 B 301.89 --, NVwZ 1990, 80 =
InfAuslR 1989, 348). Indessen kann eine asylrelevante Belastung der Angehörigen
einer solchen Untergruppe -- zumal ihr grundsätzlich jedes Mitglied der
Religionsgruppe im Verlaufe seines Lebens eine Zeitlang angehört -- ein gewisses
Indiz für eine Verfolgung aller Gruppenangehörigen sein. Wären nämlich
Angehörige weiterer Untergruppen -- etwa der Wehrpflichtigen, der Frauen
bestimmten Alters und/oder der minderjährigen Kinder -- ebenfalls asylrechtlich
erheblicher Verfolgung ausgesetzt, so könnte sich eine Verdichtung bis hin zur
Annahme einer Gruppenverfolgung aller Mitglieder der betreffenden
Religionsgruppe ergeben. Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen
hat, die Pflicht zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht stelle für sich
allein keine asylerhebliche Beeinträchtigung der Religionsausübung dar, da sie
nicht gleichgesetzt werden könne mit der Pflicht, sich zum Islam zu bekennen
(BVerwG, 14.05.1987 -- 9 B 149.87 --, EZAR 202 Nr. 9 = DVBl. 1987, 1113), neigt
der Senat zu einer grundsätzlich anderen Betrachtungsweise. Denn
Religionsunterricht, der gegen den Willen der Kinder oder der insoweit
erziehungsberechtigten Eltern erteilt wird, kann den Beginn einer
Zwangsbekehrung bedeuten, stellt doch die religiöse Unterweisung von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen einen unverzichtbaren -- weil lebenswichtigen -- Teil
der Religionsfreiheit dar. Ohne die Weitergabe religiösen Wissens und religiöser
Überzeugungen vermag nämlich weder der einzelne Gläubige noch die
Glaubensgemeinschaft auf Dauer zu bestehen. Neben der Verkündigung des
Glaubens während des kirchlichen Gottesdienstes spielt hierbei vor allem der
Religionsunterricht für Kinder eine ausschlaggebende Rolle. In vorliegendem
Zusammenhang ist indessen von maßgeblicher Bedeutung, daß zur Zeit der
Ausreise der Klägerin im Juni 1980 noch keine Pflicht zur Teilnahme am
islamischen Religionsunterricht bestanden hat. Zwar war 1950 für die vierte und
fünfte Grundschulklasse, 1956 für die sechste und siebte Klasse der Mittelschule
und 1967/68 auch für die erste und zweite Klasse des Gymnasiums der
Religionsunterricht auf freiwilliger Basis eingeführt und ab 1976 in allen Klassen der
Mittelschule und des Gymnasiums angeboten worden. Auch hatte man 1974/75 in
den beiden letztgenannten Schulformen einen sog. Ethik- bzw.
Moralkundeunterricht als Pflichtfach eingeführt (55.; 63., S. 20). Dieser war aber
jedenfalls in den 70er Jahren weitgehend laizistisch und wertneutral; erst später
wurde er in der Praxis zu einem "Neben-Religionsunterricht" (35.) und schließlich
zwischen 1982 und 1985 mit dem Religionsunterricht zusammengelegt (55.). Für
die Zeit vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1982 besteht daher keine
Veranlassung zu der Annahme, der türkische Staat habe durch die Gestaltung des
Religionsunterrichts an staatlichen Schulen unmittelbar in einer Art und Weise in
die Freiheit der religiösen Betätigung der syrisch-orthodoxen Christen eingegriffen,
die die Menschenwürde und das sog. religiöse Existenzminimum antastete. Auch
wenn man berücksichtigt, daß ein christlicher Religionsunterricht an staatlichen
Schulen nicht angeboten wurde und es im Rahmen des Ethik- bzw.
Moralkundeunterrichts bei der praktischen Handhabung der Unterscheidung
zwischen ethischen und allgemein religiösen Lehrinhalten einerseits und
islamischen Glaubensinhalten andererseits zu Benachteiligungen und
Beeinträchtigungen der Glaubensüberzeugungen christlicher Schüler kommen
konnte, kann darin insgesamt ein asylrelevanter Eingriff nicht gesehen werden.
Denn abgesehen von der regelmäßig fehlenden Intensität mangelte es insoweit
jedenfalls an der asylrechtlichen Zurechenbarkeit, weil Anhaltspunkte dafür, daß
die verantwortlichen Stellen derartiges dienstliches Fehlverhalten von Lehrern
seinerzeit förderten oder zumindest duldeten, aus den dem Senat vorliegenden
Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen sind.
Schließlich können Anzeichen für eine gegen Christen gerichtete
Gruppenverfolgung zur Zeit der Ausreise der Klägerin im Juni 1980 auch nicht aus
der Art und Weise entnommen werden, wie christliche Wehrpflichtige damals in der
türkischen Armee behandelt worden sind. Eine Verfolgung der betreffenden
Religionsgruppe insgesamt könnte allein daraus ohnehin nicht entnommen werden
49
Religionsgruppe insgesamt könnte allein daraus ohnehin nicht entnommen werden
(vgl. BVerwG, 24.08.1989 -- 9 B 301.89 --, NVwZ 1990, 80 = InfAuslR 1989, 348).
Für den Senat steht aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen und der
Erkenntnisse aus den in letzter Zeit entschiedenen zahlreichen
Berufungsverfahren fest, daß es jedenfalls bis etwa zum Zeitpunkt des
Militärputsches im September 1980 nur in Einzelfällen zu ihrer Intensität nach als
Verfolgung zu qualifizierenden Übergriffen auf christliche Wehrpflichtige gekommen
ist. Bis dahin scheint die Führung der türkischen Streitkräfte, die sich als Hüter
laizistischer Prinzipien verstehen, mit Erfolg darauf geachtet zu haben, daß
religiöse Strömungen dort keinen nachhaltigen Widerhall finden konnten (vgl. 36.).
Demzufolge hatten christliche Wehrpflichtige in aller Regel weder seitens ihrer
Vorgesetzten noch seitens ihrer Kameraden mit schwerwiegenden
Diskriminierungen zu rechnen, wenn auch -- nach der Darstellung des Auswärtigen
Amtes -- Sticheleien und gelegentliche Übergriffe von Kameraden nicht
auszuschließen waren (33.; 36.) und es -- nach den Äußerungen anderer
Sachverständiger -- darüber hinaus vielfach zur Betrauung mit besonders
unangenehmen Aufgaben, zu verbalen Beleidigungen, zum Versuch der
Bekehrung zum Islam und zur Androhung der Zwangsbeschneidung sowie in
Einzelfällen auch zu schweren Körperverletzungen gekommen sein mag (39.; 40.;
42.) und christliche Wehrpflichtige mit Abitur meist -- anders als Muslime -- nicht
als Offiziersanwärter rekrutiert wurden (und werden) (41.). Die zwangsweise
Durchführung von Beschneidungen christlicher Wehrpflichtiger war in der Zeit bis
September 1980 offenbar nur in seltenen Einzelfällen festzustellen (42.). Diese
Einschätzung der damaligen Situation christlicher Wehrpflichtiger wird durch die
von dem erkennenden Senat in zahlreichen Berufungsverfahren gewonnenen
Erkenntnisse über türkische Christen, die vor dem Militärputsch ihren Wehrdienst
abgeschlossen haben, bestätigt. Die vom Senat gehörten Christen haben
entweder selbst in dem Zeitraum zwischen 1953 und 1978 ihren Wehrdienst
abgeleistet oder aber von den Erfahrungen ihrer Brüder oder anderer Verwandter
während deren damaliger Dienstzeit berichtet. Während einige, obgleich sie vom
Alter her Wehrdienst geleistet haben müßten, diesen Punkt in ihren Asylverfahren
überhaupt nicht angesprochen haben, haben sich andere auf die Mitteilung der
Dienstleistung als solcher beschränkt und von irgendwelchen Benachteiligungen
nichts erwähnt (vgl. etwa Hess. VGH, 27.06.1988 -- 12 UE 2438/85 --
3>, 04.07.1988 -- 12 UE 25/86 -- , 06.02.1989 -- 12 UE 2584/85 --
, 29.05.1989 -- 12 UE 2586/85 -- ,
26.03.1990 -- 12 UE 2997/86 -- ). Die übrigen haben von einer
übermäßigen Heranziehung zum Wachdienst und zu besonders schmutzigen
Arbeiten, von Beschimpfungen ihrer Person und ihrer Religion und von
wiederholten Schlägen berichtet, mit denen regelmäßig das Ziel verfolgt worden
sei, sie zum Übertritt zum Islam und zur Beschneidung zu bewegen; in allen Fällen
gelang es den Betroffenen jedoch, sowohl einer Zwangsbekehrung als auch einer
Zwangsbeschneidung letztlich zu entgehen, wobei es allerdings einmal zu einer
Brandverletzung am Geschlechtsteil kam und ein andermal erst im
Militärkrankenhaus der Arzt dazu bewegt werden konnte, von einer Beschneidung
Abstand zu nehmen (vgl. etwa Hess. VGH, 22.02.1988 -- 12 UE 1071/84 --
u. -- 12 UE 2585/85 -- , 30.05.1988 -
- 12 UE 2514/85 -- , 17.10.1988 -- 12 UE 2601/84 --
u. -- 12 UE 767/85 -- , 18.10.1988 -- 12 UE
433/85 -- , 20.03.1989 -- 12 UE 1705/85 --
ff.> u. -- 12 UE 2192/86 -- , 04.12.1989 -- 12 UE 2652/85 --
sowie 26.03.1990 -- 12 UE 2997/86 -- ). Danach
kann schon nicht festgestellt werden, daß seinerzeit christliche Wehrpflichtige mit
Rechtsverletzungen zu rechnen hatten, die nicht nur als Beeinträchtigungen,
sondern auch als sie ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung
der staatlichen Einheit ausgrenzende Verfolgungsmaßnahmen zu qualifizieren sind
(vgl. BVerfG, 10.07.1989 -- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 80, 315 = EZAR 201 Nr.
20). Schon deshalb kann daraus für die Zeit vor dem Militärputsch nicht auf eine
Verfolgung des abgegrenzten Kreises der wehrpflichtigen Gruppenangehörigen
und erst recht nicht auf eine Gruppenverfolgung aller syrisch-orthodoxen Christen
geschlossen werden. Darüber hinaus fehlen für den betreffenden Zeitraum
Anhaltspunkte dafür, daß die militärische Führung Übergriffe, soweit sie vorkamen,
geduldet oder gar gefördert hat (vgl. 33.; 41.); mithin läßt sich für die damalige
Zeit die asylrechtliche Zurechenbarkeit, die auch für Zugriffe innerhalb der Armee
erforderlich ist, ebenfalls nicht annehmen, weil nicht festgestellt werden kann, daß
der türkische Staat seinerzeit an die Religion anknüpfenden Übergriffen auf
Wehrpflichtige nicht entgegengewirkt hätte, indem er beispielsweise präventive
Vorkehrungen unterlassen hätte, um weitere Übergriffe zu verhindern, und, wenn
50
51
52
Vorkehrungen unterlassen hätte, um weitere Übergriffe zu verhindern, und, wenn
sie gleichwohl vorgekommen wären, weder den Opfern Schutz gewährt noch gegen
pflichtwidrig Handelnde Sanktionen verhängt hätte (vgl. BVerwG, 22.04.1986 -- 9 C
318.85 u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8).
Darüber hinaus waren die Christen in der Türkei, insbesondere in der Südosttürkei,
in dem hier maßgeblichen Zeitraum auch keiner mittelbaren staatlichen
Kollektivverfolgung in der Weise ausgesetzt, daß sie von anderen
Bevölkerungsgruppen ihrer Religion und ihres christlichen Bekenntnisses wegen
verfolgt wurden und hiergegen staatlichen Schutz nicht erhalten konnten.
In diesem Zusammenhang ist es nicht erforderlich, die Ursachen der oben
dargestellten Abwanderungsbewegungen aus den ursprünglich ausschließlich oder
zumindest überwiegend christlichen Dörfern nach Ma und Mi und vor allem nach I
und von dort aus ins Ausland im einzelnen zu ermitteln. Tatsächlich sind die
Christen den Anwerbeaktionen der westeuropäischen Wirtschaft seit Beginn der
60er Jahre wohl dank ihrer besseren Ausbildung und ihrer größeren Flexibilität eher
gefolgt als die in der Südosttürkei lebenden Kurden und haben dann nach und
nach ihre Familien in die Bundesrepublik Deutschland und in andere
westeuropäische Länder nachgeholt. Eine gewisse Rolle mag anfangs auch die
allgemein in der Türkei zu beobachtende Landflucht gespielt haben, die die
Einwohnerzahl von I auf jetzt 8 bis 10 Millionen hat anwachsen lassen (1., S. 111;
18., S. 20). Wie bereits oben festgestellt, haben zudem viele Priester im Zuge der
Gastarbeiterwanderung ihre syrisch-orthodoxen Gemeinden im Tur'Abdin
verlassen und sind gegen den Willen der Kirchenleitung nach Europa und nach
Übersee ausgewandert (40., S. 3; 45., S. 3), was zusätzlich zu einer
Destabilisierung der gewachsenen Siedlungsstrukturen der Christen in der
Südosttürkei beigetragen hat. Schließlich haben auch die Ereignisse um Zypern,
im Libanon und im Iran sowie allenthalben feststellbare Islamisierungstendenzen
zu einer Verhärtung des Verhältnisses zwischen Christen und muslimischen
Kurden im Tur'Abdin beigetragen. Ungeachtet der im einzelnen maßgeblichen
Gründe für die Bevölkerungsbewegungen, die durchaus umstritten sein mögen,
wurde aber seit Mitte der 70er Jahre aus dem Gebiet um Mi über eine auffällige
Zunahme schwerer Übergriffe der muslimischen Mehrheit (meist Kurden) gegen
Christen berichtet, und zwar über Morde, Mordversuche, Entführungen,
Zwangsbeschneidungen, Viehdiebstähle, Landwegnahmen, Sachbeschädigungen
und Plünderungen (vgl. dazu etwa: 1., S. 112 f. u. 115 f.; 3., S. 46 ff.; 5., S. 32 ff. u.
106 ff.; 11., S. 5 ff.; 14.; 16.; 32., S. 17 ff.). Gleichzeitig wurde allgemein
beanstandet, daß staatliche Stellen, wenn sie um Hilfe angegangen wurden,
entweder überhaupt nicht tätig geworden sind oder aber sogar offen zum
Ausdruck gebracht haben, sie lehnten es ab, Christen Schutz zu gewähren (vgl.
etwa: 4., S. 3 u. 5; 5., S. 34; 15.). Außerdem wurde betont, ähnliche Gewalttaten
Syrisch-Orthodoxer seien, wenn sie vereinzelt vorgekommen seien, auch verfolgt
worden (9., S. 21).
Bei der Frage nach den Ursachen für die danach seit Mitte der 70er Jahre vermehrt
feststellbaren Beeinträchtigungen der Christen durch die muslimische Bevölkerung
im Tur'Abdin werden teils die Auswirkungen der Verfolgung weniger schwerwiegend
dargestellt, teils die religionsbezogene Motivation der Verfolger bezweifelt und teils
die Einstellung der staatlichen Stellen zu diesen Maßnahmen der andersgläubigen
Mitbürger nicht so gewertet und eingeschätzt, daß den Christen der erforderliche
staatliche Schutz gegen private Übergriffe ihrer Religion wegen verwehrt wurde. So
bestätigen etwa auch andere als die bereits erwähnten Quellen gewalttätige
Auseinandersetzungen und existenzbedrohende Übergriffe im Südosten der Türkei
(2., S. 2; 17.) und die Gefahr administrativer Schikanen sowie die Schutzlosigkeit
gegenüber gesetzlosen Zuständen vor der Machtübernahme durch das Militär im
September 1980 (15.). Andererseits wird aber darauf hingewiesen, daß unter
schwierigen Lebensverhältnissen und der gesetzlosen Lage vor September 1980
auch die übrige Bevölkerung zu leiden gehabt habe, die Abwanderung aus dem
Tur'Abdin vorwiegend wirtschaftliche und soziale Gründe habe und die
Wanderungsbewegung bei den Christen nicht stärker sei als bei der übrigen
Bevölkerung (vgl. vor allem 18., S. 23 ff. u. 31 ff.). Während das Auswärtige Amt als
Ursachen für die Abwanderung neben religiösen Spannungen sowohl
wirtschaftliche Schwierigkeiten als auch die in Gewalttätigkeiten ausufernden
Streitigkeiten aus sprachlichen, sozialen und ethnischen Motiven nennt, räumt es
doch gleichzeitig ein, Christen hätten teilweise existenzbedrohende
Benachteiligungen erlitten und seien gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt
gewesen, gegen die ausreichender staatlicher Schutz besonders in schwer
zugänglichen ländlichen Gebieten häufig nicht habe gewährt werden können, so
53
54
55
56
zugänglichen ländlichen Gebieten häufig nicht habe gewährt werden können, so
daß praktisch die christliche Minderheit oftmals gewalttätigen Übergriffen schutzlos
preisgegeben gewesen sei (2., S. 2). Wenn Wiskandt bezweifelt, daß Christen aus
dem Tur'Abdin in wesentlich größerem Ausmaß als Kurden abgewandert sind (18.,
S. 23 ff., besonders S. 28), so fällt auf, daß er die Anzahl der in der Provinz Ma
lebenden Syrisch-Orthodoxen aus einer offiziellen Einwohnerstatistik und eigenen
Berechnungen ableitet, während die oben erwähnten Zahlenangaben anderer
Autoren zwar vorwiegend auf Schätzungen beruhen, aber insgesamt zutreffender
erscheinen, weil dort der Bevölkerungsrückgang bei den Christen zum größten Teil
durch die Nennung von Ortsnamen und exakten Einwohnerzahlen belegt ist. Es
mag zutreffen, daß die historischen Fakten in den epd-Dokumentationen (5. u.
32.) nicht immer neutral dargestellt sind und die religiösen Bezüge dort ebenso
einseitig in den Vordergrund gestellt werden wie von Yonan (1.) der Prozeß der
Entwicklung einer assyrischen Nation. Abgesehen aber davon, daß Wiskandt seine
Befragungen offenbar ohne die in solchen Situationen wichtige Vertrauensbasis zu
den befragten Personen ohne Bekanntgabe seines Auftrags durchgeführt hat, ist
in seinem Gutachten an zahlreichen Stellen nachzuweisen, daß seine
Ausführungen nicht völlig frei sind von Vorverständnissen und festliegenden
persönlichen Positionen, die die Beantwortung der ihm gestellten Fragen teilweise
beeinflußt haben könnten (vgl. dazu im einzelnen 23., 24., 25.). So wirft er der
ersten epd-Dokumentation offen bewußte Zahlenmanipulation vor (S. 27, 29),
polemisiert gegen die "hiesige Lobby der Sürjannis" (S. 65) und beschreibt die
"Erfolge" der Militärregierung ohne jede Einschränkung (S. 20 ff.), obwohl
Vorbehalte gegen die Politik der Militärregierung angesichts zahlreicher Proteste
gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zumindest erwähnenswert
gewesen wären.
Nach alledem vermag der Senat nicht festzustellen, daß die Christen in der Türkei
-- und zwar auch im Tur'Abdin -- in ihrer Gesamtheit in der Zeit bis zur
Machtübernahme der Militärs im September 1980 in der Weise mittelbar aus
religiösen Gründen verfolgt worden sind, daß sie als Angehörige der christlichen
Minderheit gewalttätigen Übergriffen mit Gefahren für Leib und Leben und die
persönliche Freiheit durch die muslimische Bevölkerung ausgesetzt waren und der
türkische Staat diese Verfolgungsmaßnahmen entweder gebilligt oder zumindest
tatenlos hingenommen und damit den Christen den erforderlichen staatlichen
Schutz versagt hat. Die dargelegten Verhältnisse stellen sich allerdings so dar,
daß in zahlreichen Einzelfällen tatsächlich syrisch-orthodoxe Bewohner des
Tur'Abdin von muslimischen Mitbürgern umgebracht, verletzt, entführt oder
beraubt worden sind, ohne daß die zuständigen staatlichen Behörden hiergegen
eingeschritten sind, obwohl ihnen dies möglich gewesen wäre.
3.
Ebensowenig hat der Senat festzustellen vermocht, daß die Klägerin zu 2) bereits
vor ihrer Ausreise aus der Türkei politische (Einzel-)Verfolgung erlitten hat oder
daß ihr -- was eingetretener Verfolgung gleichstünde (BVerfG, 23.01.1991 -- 2 BvR
902/85 u. a. --, EZAR 202 Nr. 20 = DVBl. 1991, 531) -- eine derartige Verfolgung
damals unmittelbar drohte.
Die Angaben der Klägerin und ihrer Familienangehörigen zu ihrem Lebensschicksal
und zu den Gründen und Umständen ihrer Ausreise aus der Türkei sind allerdings
im wesentlichen glaubhaft; soweit diese Äußerungen im Laufe des Asylverfahrens
geringfügig differierten -- so hatte der Kläger zu 1) z. B. zunächst angegeben, in I
als selbständiger Goldschmied gearbeitet zu haben, während er dann angab, bis
zur Ausreise als Goldschmied im Geschäft seines Bruders tätig gewesen zu sein,
und schließlich als Arbeitgeber einen Goldschmied, "eine christliche Familie aus
Ma", benannte -- wirkt sich dies nicht dergestalt auf den Wahrheitsgehalt des
Klägervortrags aus, daß das Vorbringen insgesamt als unglaubhaft anzusehen
wäre.
Danach ist im wesentlichen von folgendem auszugehen: Der aus A stammende
Kläger zu 1) und die aus dem Ort G stammende Klägerin zu 2) zogen nach ihrer
Heirat etwa 1970 nach I, wo auch die Kläger zu 3) und 4) 1974 bzw. 1978 geboren
wurden. Die Familie des Klägers zu 1) besaß in A, wo damals nach seinen Angaben
etwa 150 Familien -- davon nur zehn muslimische -- lebten, so viel Land,
Weinberge und Vieh, daß sie davon gut leben konnte; die Dörfer in der näheren
Umgebung waren von Muslimen bewohnt. Im Heimatort der Klägerin zu 2) lebten
früher etwa 300 Familien, überwiegend -- wie auch in den umliegenden Dörfern --
Muslime. Heute sollen dort höchstens noch zehn christliche Familien leben,
57
58
59
60
61
62
Muslime. Heute sollen dort höchstens noch zehn christliche Familien leben,
während es in A jetzt nur noch drei Familien sein sollen.
Der Kläger zu 1) besuchte im Heimatort fünf Jahre die Grundschule und arbeitete
dann in der Landwirtschaft mit, insbesondere hütete er oft das Vieh. Dabei kam es
mehrfach zu Überfällen von Muslimen, die Vieh stahlen. Wenn sie auf der
Polizeistation in Mi Anzeige erstatteten, sei ihnen erklärt worden, daß man helfe,
wenn man Geld erhalte. Ein Bruder der Mutter des Klägers zu 1) wurde etwa 1961
von Muslimen umgebracht.
Die Klägerin zu 2) lebte im elterlichen Haushalt und konnte weder die Schule noch
den Gottesdienst bzw. die Kirche besuchen; Grund dafür sei die Angst der Eltern
insbesondere vor Entführung gewesen. Deshalb sei sie auch so früh verheiratet
worden. Die Schwägerin ihrer Schwester sei entführt, der Mann ihrer Schwester
umgebracht worden.
In I arbeitete der Kläger zu 1) als angestellter Goldschmied; als ihm einmal ein
Schmelztiegel mit Gold gestohlen wurde -- Grund dafür war nach Überzeugung des
Klägers auch seine christliche Religionszugehörigkeit --, habe sein Arbeitgeber
Anzeige erstattet; bei der Polizei habe man ihm erklärt, er solle die Täter bringen,
dann würde man sich darum kümmern. Während seiner Wehrdienstzeit 1975 bis
1977 in S und dann in B sei kein Tag ohne Schläge, Beschimpfungen oder
Auseinandersetzungen vergangen, wofür Anlaß immer die Religionszugehörigkeit
gewesen sei. Ein Kind der Kläger zu 1) und 2) starb während dieser Zeit im Alter
von sechs Monaten; nach Darstellung der Kläger wurde im Krankenhaus in I die
notwendige Behandlung unterlassen, weil man sie dort anhand eines goldenen
Kreuzes als Christen erkannt habe.
Mit Ausnahme eines Bruders des Klägers zu 1) und einer Schwester der Klägerin
zu 2) haben inzwischen sämtliche Familienangehörige die Türkei verlassen; diese
beiden seien in Zusammenhang mit den Ereignissen um den Golfkrieg nach I
gegangen und versuchten jetzt auch, sobald wie möglich auszureisen. Die Eltern
der Klägerin, eine Schwester und vier ihrer Brüder sind als Asylberechtigte
anerkannt.
Die von den Klägern geschilderten Gründe, warum die Familie schließlich die
Heimat verlassen hat, erscheinen zwar nachvollziehbar, rechtfertigen aber nicht
die Annahme, daß sie selbst seinerzeit bereits Opfer gegen sie zielgerichteter
asylrelevanter Verfolgung gewesen waren. Abgesehen davon, daß die
geschilderten Übergriffe muslimischer Dritter die Klägerin zu 2) und ihre
Familienangehörigen weder in ihrem religiösen Existenzminimum getroffen noch
ihnen die wirtschaftliche Existenzgrundlage auf Dauer entzogen haben, ist auch
nicht ersichtlich, inwiefern diese dem türkischen Staat asylrechtlich zuzurechnen
wären. Was die geschilderten Beschimpfungen und Drangsalierungen durch
Muslime allgemein angeht, ist darauf zu verweisen, daß damit noch nicht das
sogenannte religiöse Existenzminimum angegriffen ist, vor dessen
Beeinträchtigung Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG allein schützt. Im übrigen hat der Kläger
zu 1) zum Beispiel selbst erklärt, daß die um Hilfe ersuchte Polizei ein Einschreiten
von Geldzahlungen oder davon abhängig gemacht hätte, daß man die Täter
benenne; inwiefern gerade die christliche Religionszugehörigkeit der Opfer Anlaß
für das Untätigbleiben gewesen sein sollte, wird daraus nicht deutlich. Soweit die
Klägerin auf die Umstände des Todes des damals sechs Monate alten Sohnes im
Krankenhaus verweist, ist -- abgesehen davon, daß damit die Person der Klägerin
nicht unmittelbar betroffen wäre -- nicht hinreichend schlüssig dargetan, daß der
Tod des Kindes tatsächlich auf ein bewußtes Unterlassen von
Behandlungsmaßnahmen durch die Verantwortlichen deswegen zurückzuführen
wäre, weil die Klägerin und ihr Kind einer bestimmten Religion angehörten. Selbst
wenn die Frage der Religionszugehörigkeit im Krankenhaus diskutiert worden sein
sollte, hat jedenfalls die Klägerin selbst vorgetragen, daß das Kind "irgendetwas,
wovon sie nichts verstehe, bekommen habe" und dann gestorben sei. Daraus aber
wird deutlich, daß jedenfalls eine Behandlung versucht wurde. Die subjektiven
Vermutungen der Klägerin werden somit durch das objektive Geschehen nicht
belegt.
4.
Ist demnach die Klägerin zu 2) unverfolgt ausgereist und legt man demzufolge den
"normalen" Wahrscheinlichkeitsmaßstab an (vgl. BVerwG, 31.03.1981 -- 9 C 286.80
--, EZAR 200 Nr. 3 = DVBl. 1981, 1096, 25.09.1984 -- 9 C 17.84 --, BVerwGE 70,
169 = EZAR 200 Nr. 12, 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986,
63
64
65
169 = EZAR 200 Nr. 12, 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986,
760, 27.06.1989 -- 9 C 1.89 --, BVerwGE 82, 171 = EZAR 200 Nr. 25), kann nach
Überzeugung des Senats nicht festgestellt werden, daß der Klägerin zu 2) bei einer
Rückkehr in die Türkei im jetzigen Zeitpunkt allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur
Gruppe der syrisch-orthodoxen Christen politische Verfolgungsmaßnahmen
drohen.
Auf eine gegenwärtige Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Christen kann
weiterhin nicht geschlossen werden, auch wenn sich die Rechts- und
Tatsachenlage seit der Ausreise der Klägerin 1980 verändert hat.
Was die Gestaltung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen angeht, so
sehen die Vorschriften des Art. 24 der 1982 in Kraft getretenen neuen türkischen
Verfassung vor, daß niemand gezwungen werden darf, an Gottesdiensten,
religiösen Zeremonien und Feiern teilzunehmen oder seine religiöse Anschauung
und seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren (Abs. 3), und daß die Religions-
und Sittenerziehung und -lehre unter der Aufsicht und Kontrolle des Staates
durchgeführt werden und religiöse Kultur und Sittenlehre in den Grund- und
Mittelschulen zu den Pflichtfächern gehören (Abs. 4). Auf der Grundlage der
letztgenannten Verfassungsbestimmung ist in den Jahren 1982 bis 1985 der
bisherige Moralkundeunterricht mit dem Religionsunterricht zusammengelegt und
als Pflichtfach eingeführt worden (46., S. 5; 55.; 57., S. 9 ff.; 58., S. 5; 63., S. 20;
64, S. 5; 69.). Mit Beschluß vom 3. Oktober 1986, Nr. 28, des Erziehungs- und
Ausbildungsausschusses, der im Mitteilungsblatt des Ministeriums für nationale
Erziehung, Jugend und Sport vom 20. Oktober 1986, Nr. 2219, veröffentlich wurde
(Anlage zu 50.; 57., S. 21 ff.), wurden "allgemeine Prinzipien der Religionslehre und
des Ethikunterrichts" festgelegt und ein Ausbildungsprogramm für diese Fächer
verabschiedet. Danach ist der Grundsatz des Laizismus immer zu beachten und
zu schützen und darf niemand zu religiösen Handlungen gezwungen werden;
außerdem ist bestimmt, daß, wenn den Kindern die "nationale Moral gelehrt wird",
unter den Religionen nicht unterschieden wird, um den Kindern später die
Anpassung an die Gesellschaft zu erleichtern. Insgesamt kommt in dem
Ausbildungsprogramm zwar deutlich zum Ausdruck, daß der Islam die Religion der
Türkei und Mohammed ein Vorbild für die Türken sein soll (57., S. 28 ff.). Die nach
dem Verfassungsgrundsatz des Laizismus gebotene Distanz des türkischen
Staats gegenüber der islamischen Religion äußert sich aber darin, daß türkische
Schüler christlichen Glaubens das islamische Glaubensbekenntnis, die islamische
Einleitungsformel, die Glaubensformel Amentü, die Koranverse und das islamische
Ritualgebet Namaz nicht zu lernen und keine Kenntnisse über Namaz, Ramadan,
die Regeln über die islamischen Jahresspenden und das Pilgern nach Mekka zu
erwerben brauchen (vgl. Nr. 4 der Anlage zu 50. u. Nr. 4 in 57., S. 23). Durch
ergänzenden Beschluß vom 29. Januar 1987, Nr. 23, veröffentlicht im
Mitteilungsblatt vom 9. Februar 1987, Nr. 2227, wurde zudem klargestellt, daß
christliche Schüler während der Behandlung der betreffenden Lehrinhalte nicht in
der Klasse anwesend sein müssen (57., S. 31 ff.). Nach alledem bieten die
gesetzlichen und die verwaltungsinternen Vorschriften, die auch Gegenstand eines
beim Höchsten Gerichtshof anhängigen Prozesses sind (63., S. 24 ff.), keine
Veranlassung für die Annahme, der türkische Staat greife zum jetzigen Zeitpunkt
unmittelbar in die Freiheit der religiösen Betätigung der Syrisch-Orthodoxen in
einer Weise ein, die die Menschenwürde oder das religiöse Existenzminimum
antastet. Davon abgesehen verfolgte die Einführung des staatlichen
Pflichtunterrichts in Ethik und Religion das Ziel einer Eindämmung der privaten
Koranschulen (20.; 57., S. 1) und läßt deshalb für sich keinen Rückschluß auf eine
damals und noch jetzt vorhandene Neigung staatlicher Stellen zur gezielten
Beeinträchtigung nichtmuslimischer Religionen zu. Auch eine mittelbare staatliche
Gruppenverfolgung läßt sich im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht nicht
feststellen. Zwar mag in einigen Fällen von den Lehrkräften gegen die oben
behandelten Vorschriften verstoßen werden und es zu Diskriminierungen von
christlichen Schülern kommen mit der Folge, daß diese lieber an den islamischen
Gebeten teilnehmen (vgl. 34.; 45., S. 3; 50.; 57., S. 26 ff., 35 ff. u. 47 ff; 58., S. 5;
63. S. 20 f.; 64., S. 5 ff.; 69.; 75.; 76., S. 5). Abgesehen von der insoweit meist
fehlenden Intensität der einzelnen Maßnahmen sind die gelegentlichen Übergriffe
von Lehrkräften dem türkischen Staat asylrechtlich nicht zuzurechnen, weil auch
gegenwärtig Anhaltspunkte dafür, daß die Verantwortlichen an höherer Stelle
derartige dienstliche Verfehlungen fördern oder zumindest dulden, nicht
festgestellt werden können (vgl. 58., S. 5).
Wenn sich auch die Situation christlicher Wehrpflichtiger in der türkischen Armee
nach den Erkenntnissen des Senats seit September 1980 merklich verschlimmert
66
67
nach den Erkenntnissen des Senats seit September 1980 merklich verschlimmert
hat -- so ist es zu Übergriffen bis hin zu Zwangsbeschneidungen gekommen --,
reichen gleichwohl die vorliegenden Feststellungen (noch) nicht für die Annahme
aus, daß christliche Wehrpflichtige allgemein mit einer Zwangsbeschneidung im
Militär in dem Sinne zu rechnen haben, daß daraus auf eine politische
Kollektivverfolgung aller Christen oder zumindest des abgegrenzten Teils aller
wehrpflichtigen Gruppenangehörigen geschlossen werden könnte; für diese
Annahme fehlt es an der entsprechenden Verfolgungsdichte. Allerdings hat der
Senat in zahlreichen Fällen türkischer Asylbewerber christlichen Glaubens politisch
motivierte Einzelverfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit deswegen
angenommen, weil die Betroffenen im Rückkehrfalle mit ihrer Heranziehung zum
Wehrdienst und dort mit ihrer zwangsweisen Beschneidung rechnen müßten (vgl.
hierzu zuletzt etwa Hess. VGH, 08.10.1990 -- 12 UE 2588/85 --, 30.07.1990 -- 12
UE 2572/85 --, 18.06.1990 -- 12 UE 3002/86 --).
Ebensowenig droht im Rückkehrfall der Klägerin allgemein mittelbare staatliche
Gruppenverfolgung im Hinblick auf mögliche Übergriffe muslimischer Eiferer, für
die der türkische Staat Verantwortung zu tragen hätte. Wie bereits ausgeführt,
hatten die syrisch-orthodoxen Christen bis zur Ausreise der Klägerin aus der Türkei
eine derartige politische Verfolgung nicht zu befürchten. Inzwischen hat sich die
Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im September 1980
allgemein erheblich verbessert, und dies hat sich nach allgemeiner Einschätzung
auch zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in I wie in anderen Landesteilen
ausgewirkt (vgl. dazu etwa: 18. S. 34; 21.; 26.; 27.; 28.; 33.; 35.; 37.). Das
Auswärtige Amt hat dazu nach eingehenden Gesprächen mit syrisch-orthodoxen
Geistlichen unter Bezugnahme auf einen deutschsprachigen Bericht in dem Organ
der Erzdiözese der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien in Europa vom
Dezember 1982/Januar 1983 einen zunehmenden staatlichen Schutz für die
syrisch-orthodoxen Christen nach der Machtübernahme durch die Militärs
festgestellt (33.). Die evangelische Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei
berichtet davon, daß von der Geistlichkeit und von einzelnen Gemeindemitgliedern
immer wieder festgestellt werde, daß sich die Verhältnisse nach dem 12.
September 1980 gebessert hätten (26.). Die Sürjanni Kadim berichtet, ihre
Mitglieder befänden sich wie jeder andere türkische Bürger nach dem 12.
September 1980 "in Ruhe und in Sicherheit" (27.). Nach Auskunft der
Sachverständigen Dr. Harb-Anschütz hat sich nach dem 12. September 1980
auch in Istanbul die Lage der syrisch-orthodoxen Christen wesentlich verbessert
(28.). Zu dem selben Ergebnis gelangten die Teilnehmer einer von der
evangelischen Akademie Bad Boll im Mai 1983 veranstalteten Studienfahrt in die
Türkei (30., S. 7 und 18). Soweit eine Verbesserung der Sicherheitslage mit den
entsprechenden Auswirkungen auf die Situation der Syrisch-Orthodoxen in Istanbul
bezweifelt wird (32., S. 17 ff.), fehlt es an konkreten Hinweisen darauf, daß sich
tatsächlich entgegen der allgemeinen Lebenserfahrung die in der Türkei in den
letzten Jahren zu beobachtende Verbesserung der Sicherheitslage nicht auch
zugunsten der christlichen Bevölkerung ausgewirkt haben könnte. Auch bei
Berücksichtigung neuerer Erkenntnisquellen hält der Senat an dieser Einschätzung
fest. Insbesondere läßt die insgesamt vorsichtig gehaltene und nach Straftaten
differenzierende Stellungnahme des Sachverständigen Oehring an das
Verwaltungsgericht Kassel vom 11. Juli 1988 (59.) nicht die Annahme zu, daß
türkische Staatsbürger christlichen Glaubens generell gegenüber Straftaten
muslimischer Staatsbürger strafrechtlichen Schutz nicht erhielten; entsprechend
ist das Gutachten der Gesellschaft für bedrohte Völker vom Dezember 1988 (63.,
S. 13 ff.) zu würdigen. Denn nach einer aktuellen Auskunft des Auswärtigen Amts
(72.) sind keine Fälle bekannt geworden, in denen christlichen Türken behördlicher
Schutz durch Abweisung ihrer Strafanzeigen versagt worden ist (im Ergebnis
ebenso Bay. VGH, 29.11.1985 -- 11 B 85 C 35 --; VGH Baden-Württemberg,
20.06.1985 -- A 13 S 221/84 -- und 09.02.1987 -- A 13 S 709/86 --; OVG Bremen,
14.04.1987 -- 2 BA 28/85 und 32/85 --; OVG Hamburg, 10.06.1987 -- Bf V 21/86 --;
OVG Nordrhein-Westfalen, 19.02.1987 -- 18 A 10315/86 --; ständige
Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa 14.05.1990 -- 12 UE 62/86 -- m.w.N.).
5.
Nach Überzeugung des Senats ist jedoch davon auszugehen, daß der Klägerin zu
2) bei einer Rückkehr in die Heimat zum gegenwärtigen Zeitpunkt politische,
nämlich an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfende Einzelverfolgung mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, und zwar in Form ihrer Entführung und der
anschließenden Zwangsbekehrung zum Islam (vgl. Hess. VGH, 23.08.1984 -- X OE
609/82 --, 26.03.1990 -- 12 UE 2970/86 --, 18.06.1990 -- 12 UE 3002/86 --,
68
69
70
71
609/82 --, 26.03.1990 -- 12 UE 2970/86 --, 18.06.1990 -- 12 UE 3002/86 --,
25.02.1991 -- 12 UE 2583/85 --; a.A. OVG Rheinland-Pfalz, 06.09.1989 -- 13 A
118/89 --, OVG Nordrhein-Westfalen, 19.10.1989 -- 14 A 10258/87 -- u. 07.12.1989
-- 14 A 10144/87 -- u. -- 14 A 10250/87 --, ferner -- jedoch ohne
Auseinandersetzung mit den einschlägigen Erkenntnisquellen -- Bay. VGH,
21.08.1989 -- 11 B 89.31003 --), wenn sie in der Türkei zu leben versuchte.
Für die hinsichtlich des Rückkehrfalls anzustellende Prognose ist hier davon
auszugehen, daß die Klägerin allein in die Türkei zurückkehren müßte. Die
tatsächliche Vermutung, wonach Familienmitglieder nach der Lebenserfahrung
einander in Notsituationen nicht mutwillig im Stich lassen und einander nicht
einem unsicheren Schicksal preisgeben, dessen erkennbar bedrohliche Folgen sie
ohne eigene Gefährdung oder übermäßige Anstrengung abwenden können -- was
zum Beispiel zur Annahme berechtigt, daß der Ehemann einer mit ihrem
Asylbegehren erfolglos gebliebenen Frau diese heimbegleitet, wenn sie ohne ihn
einer Existenzgefährdung ausgesetzt wäre (BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 --
EZAR 202 Nr. 17 = InfAuslR 1990, 211 u. -- 9 C 15.89 --) --, ist nach Auffassung
des Senats deswegen widerlegt, weil der Kläger zu 1) als Ehemann der Klägerin zu
2) auf die Frage, wie er sich für den Fall verhalten würde, daß seine Frau oder seine
Kinder in die Türkei zurückkehren müßten, erklärt hat, daß er alles tun würde, um
seine Familie hier zu behalten; sie würden sich "eher gemeinsam vernichten als
zurückgehen". Daraus kann jedenfalls nicht entnommen werden, daß der Kläger zu
1) mit Sicherheit zurückreisende Familienangehörige begleiten würde; im übrigen
dürfte dem Kläger zu 1) nach der derzeit gültigen Erlaßlage jedenfalls
aufenthaltsrechtlich ein Bleiberecht zustehen, so daß er gegen seinen Willen nicht
zur Rückkehr gezwungen werden könnte.
Insgesamt bleibt für die anzustellende Verfolgungsprognose außer Betracht, ob
die Klägerin zu 2) aufenthaltsrechtlich zu einer Ausreise aus der Bundesrepublik
Deutschland und einer Rückkehr in die Heimat gezwungen werden könnte, so daß
auch auf sie bezogen ohne Bedeutung ist, daß sie aufgrund der seit 1985
bestehenden Erlaßlage als syrisch-orthodoxe Christin unabhängig vom Ausgang
ihres Asylverfahrens im Bundesgebiet bleiben dürfte (vgl. jetzt auch Erlasse des
Hessischen Ministeriums des Innern und für Europaangelegenheiten vom 10. Juni
1991 und 17. Juni 1991 -- II A 5 -- 23 d -- zu § 100 AuslG bzw. §§ 32, 45 Abs. 3, 54
AuslG).
Die Verfolgungsprognose ist für das gesamte Territorium des Heimatstaats
anzustellen, eine Beschränkung auf etwa den Geburts- oder den letzten
Herkunftsort ist nicht statthaft. Wer nämlich von nur regionaler politischer
Verfolgung betroffen ist, ist erst dann politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16 Abs.
2 Satz 2 GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird,
wenn er also in anderen Teilen seines Heimatstaats eine zumutbare Zuflucht nicht
finden kann (sogenannte inländische Fluchtalternative); dies setzt freilich voraus,
daß der Betroffene in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer
Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen
Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer
asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen
gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht
bestünde (BVerfG, 10.07.1989 -- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 80, 315 = EZAR
201 Nr. 20 u. 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, BVerfGE 81, 58 = EZAR 203 Nr. 5
= NVwZ 1990, 254 vgl. auch S. 17. f.). Ist jemand vor einer regionalen, an seine
Religionszugehörigkeit anknüpfenden politischen Verfolgung geflohen, so ist er am
Ort einer in Betracht kommenden Fluchtalternative auch dann nicht hinreichend
sicher vor politischer Verfolgung, wenn der Staat ihn durch eigene Maßnahmen
daran hindert, das religiöse Existenzminimum zu wahren; entsprechendes gilt,
wenn die dort ansässige Bevölkerung die Wahrung des religiösen
Existenzminimums durch aktives, mit dem für alle geltenden Recht unvereinbares
Handeln unmöglich macht, ohne daß der Staat die nach seiner Rechtsordnung
hiergegen allgemein in Betracht kommenden Maßnahmen ergreift (BVerfG,
10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, a.a.O.).
Für die Klägerin zu 2) ist in erster Linie eine Rückkehrmöglichkeit nach G bzw. A zu
prüfen, wo sie geboren ist bzw. bis zu ihrer Heirat gelebt hat; ist für diese Orte eine
Existenzmöglichkeit zu verneinen, muß geprüft werden, ob es ihr voraussichtlich
möglich wäre, in der Westtürkei -- etwa in Großstädten wie I -- eine
Lebensgrundlage zu finden und dort unverfolgt zu leben. Nach Auffassung des
Senats hätte indessen die Klägerin an beiden Orten mit asylrelevanten Übergriffen
muslimischer Türken zu rechnen, gegen die sie staatlichen Schutz nicht wirksam
72
73
muslimischer Türken zu rechnen, gegen die sie staatlichen Schutz nicht wirksam
wird in Anspruch nehmen können, und ein anderer Ort innerhalb ihres
Heimatstaats, an dem sie vor politischer Verfolgung hinreichend sicher und auch
sonst nicht existentiell gefährdet wäre, ist nicht ersichtlich. Die Klägerin zu 2) kann
sich weder in ihrem Geburtsort noch in ihrem späteren Wohnort A im Rückkehrfall
niederlassen, weil sich dort den Feststellungen des Senats zufolge so gut wie keine
christlichen intakten Familien mehr befinden -- soweit überhaupt noch Christen
dort verblieben sind, handelt es sich in der Regel um aus alten Leuten bestehende
unvollständige Restfamilien -- und auch überhaupt keine näheren Verwandte der
Klägerin mehr dort leben, nachdem ihre Eltern und sämtliche Geschwister die
Türkei verlassen haben und überwiegend -- zum größeren Teil als anerkannte
Asylberechtigte -- in der Bundesrepublik Deutschland leben. Soweit nach Angaben
der Kläger sich noch eine Schwester der Klägerin zu 2) und ein Bruder des Klägers
zu 1) in der Türkei aufhalten, haben diese im Zusammenhang mit dem Golfkrieg
die Heimatregion ebenfalls verlassen und sitzen in I "gleichsam auf gepackten
Koffern". Es erscheint deshalb für die Klägerin von vornherein aussichtslos, allein in
einem Ort, der heute -- wie dem Senat auch aus anderen Verfahren bekannt ist
(vgl. etwa 30.07.1990 -- 12 UE 2651/85 --) -- fast ausschließlich von Muslimen
bewohnt wird, leben zu können.
Dagegen leben in I trotz der seit der Ausreise der Klägerin aus der Türkei
fortgeschrittenen Abwanderung weiterhin syrisch-orthodoxe Christen in größerer
Anzahl. Wie bereits oben ausgeführt, hat sich die Sicherheitslage nach der
Machtübernahme durch die Militärs im September 1980 landesweit und damit
auch zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in I erheblich verbessert. Der
Senat teilt insoweit nicht die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-
Pfalz (10.10.1986 -- 11 A 131/86 --, aufgehoben durch BVerwG, 06.10.1987 -- 9 C
13.87 --, EZAR 203 Nr. 4 = InfAuslR 1988, 57), daß Asylbewerbern, die in der
Osttürkei von einer Gruppenverfolgung betroffen worden seien und sich nicht
länger in I aufgehalten hätten, dort allgemein keine zumutbare Fluchtalternative
zur Verfügung stehe, weil auch dort gewaltsame Übergriffe gegenüber Christen
nicht ausgeschlossen werden könnten (vgl. dazu Hess. VGH, 30.05.1988 -- 12 UE
2514/88 --). Für den erkennenden Senat steht jedoch nach Auswertung der ihm
vorliegenden Berichte und Gutachten (insbesondere 4.; 5., S. 23 ff. u. 43 ff.; 14.;
15.; 16.; 35.; 45., S. 5 f.; 66.; 70., S. 54 ff.; 76., S. 5 f.) über die Lage der Christen in
I fest, daß diejenigen, die in diese Stadt zuziehen, ohne dort auf die Unterstützung
von Verwandten oder Bekannten rechnen zu können, schon allgemein auf
erhebliche Schwierigkeiten bei der Sicherung ihrer wirtschaftlichen und religiösen
Existenz stoßen. Dabei wird es nach Überzeugung des Senats alleinstehenden
Frauen noch weitaus schwerer als etwa einem jüngeren Mann fallen, einen
Arbeitsplatz und eine Wohnung zu finden (48., S. 19; 64., S. 11; 70., S. 57). Die
Bemühungen der christlichen Kirchen, neu zuziehende Christen aufzunehmen und
mit dem Notwendigsten zu versorgen, sind begrenzt und im übrigen in den letzten
Jahren durch die große Zahl der christlichen Zuwanderer übermäßig in Anspruch
genommen worden (63., S. 30; 66.; 70., S. 52 f.; 76., S. 5).
Wenn eine aus dem Ausland zurückkehrende Christin jüngeren oder mittleren
Alters danach weder in ihrem Geburts- oder letzten Wohnort in der Südosttürkei
noch in I oder anderswo in der Türkei eine ausreichende materielle
Lebensgrundlage zu erreichen vermag, so wächst zugleich die Gefahr, Opfer von
Übergriffen Andersgläubiger, und zwar insbesondere von Entführungen durch
muslimische Männer, zu werden. Hiergegen können sich solche Christinnen, die
nicht in materiell gesicherten Verhältnissen leben und über keine
verwandtschaftlichen oder sonstigen gesellschaftlichen Anknüpfungspunkte
verfügen, regelmäßig nicht wirksam schützen. Sie sind nämlich, da der Sozialhilfe
vergleichbare staatliche Leistungen in der Türkei nicht gewährt werden (62.; 67.;
68.; 71.), darauf angewiesen, sich nach ihrer Rückkehr allein -- also ohne den
Schutz eines männlichen Begleiters -- in der Türkei zu bewegen, um
möglicherweise eine Unterkunft und eine Arbeitsstelle zu erlangen und die sonst
anfallenden lebensnotwendigen Besorgungen zu erledigen (vgl. zu den
besonderen Problemen der Flüchtlingsfrauen auch den Beschluß Nr. 39
des Exekutiv-Komitees für das Programm des UNHCR von 1985 und Gebauer, ZAR
1988, 120). Ohne Kontaktaufnahme mit anderen Menschen werden
entsprechende Bemühungen selbstverständlich keinen Erfolg haben, und dabei
wird an der Sprache, spätestens aber bei der Nennung des Namens und bei der
Vorlage der Personalpapiere wegen des daraus ersichtlichen Geburtsorts die
christliche Religionszugehörigkeit deutlich, die im Nüfus zudem ausdrücklich
eingetragen ist. Bei der Vielzahl von Versuchen, die allein und ohne
verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt zurückkehrende Christinnen
74
verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt zurückkehrende Christinnen
erfahrungsgemäß unternehmen müssen, bis sie eine Unterkunft und einen
Arbeitsplatz gefunden haben, wird zwangsläufig eine größere Anzahl Personen von
ihrer Religion und ihrer persönlichen Situation Kenntnis erhalten. Regelmäßig
werden sie nur dort unterkommen können, wo bereits andere Zuwanderer aus der
Osttürkei leben. Dies alles schafft für sie eine besondere Gefahrenlage, zumal das
Risiko für potentielle Entführer deshalb gering ist, weil es mangels Verwandter des
Opfers an Personen fehlt, die ihre Tat überhaupt zur Anzeige bringen könnten.
Wenn Christinnen danach auch nicht als solche auf der Straße zu erkennen sein
mögen, so droht ihnen doch aufgrund der zuvor dargelegten Umstände, sofern sie
zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage und ihrer gesellschaftlichen
Stellung nicht ausnahmsweise aus anderen Gründen imstande sind, mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit Entführung durch muslimische Männer. Die
vorliegenden Berichte über Entführungen von Mädchen und Frauen (5., S. 33 ff. u.
47 ff.; 11., S. 4 f., 7 u. 9; 22., S. 9; 35., S. 20; 64., S. 11) und die Erkenntnisse, die
der Senat aus in jüngerer Zeit entschiedenen Berufungsverfahren erlangt hat,
belegen überzeugend die nach wie vor und auch in I bestehende hohe
Entführungsgefahr. So ist eine in I lebende Christin von einem Muslimen, der von
Arbeitskolleginnen ihre Anschrift erfahren hatte, in der elterlichen Wohnung
aufgesucht und gewaltsam zum Mitkommen gezwungen worden; auf der Straße
gelang ihr dann allerdings die Flucht (Hess. VGH. 05.12.1988 -- 12 UE 2487/85 --
). Eine andere Christin, die morgens in I von ihrem Onkel zur
Arbeitsstelle begleitet wurde, wurde bei dieser Gelegenheit von Muslimen entführt
(Hess. VGH, 06.02.1989 -- 12 UE 2584/85 -- ). Schließlich kam es
zur Entführung einer Christin, die mit einer Freundin in I auf den Prinzeninseln
spazierenging (Hess. VGH, 17.10.1988 -- 12 UE 2601/84 -- ). Sind
demnach sogar Entführungen von Christinnen häufig, die mit schutzbereiten
Personen -- insbesondere eingebunden in ihre Familie -- in I leben, so zwingt dies
unter den in der Türkei insgesamt obwaltenden Lebensumständen nach
Überzeugung des Senats zu der Schlußfolgerung, daß wirtschaftlich, sozial und
gesellschaftlich ungesicherten alleinstehenden Christinnen in weit höherem Maße,
nämlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, Entführung droht. Daß über
Entführungen solcher Frauen verhältnismäßig wenig Tatsachenmaterial vorliegt,
erklärt sich daraus, daß es alleinlebende Frauen jüngeren oder mittleren Alters in
der Türkei aufgrund der dort herrschenden traditionellen Familienstrukturen (vgl.
70., S. 50 f.) tatsächlich selten geben dürfte und Entführungsfälle der Öffentlichkeit
kaum bekannt werden. Von einer solchen -- an sich wenig realistischen -- Situation
muß hier aber aus den oben aufgezeigten rechtlichen Gründen prognostisch
ausgegangen werden. Der beachtlich wahrscheinlichen Entführung folgt mit
derselben Wahrscheinlichkeit regelmäßig die Aufnahme in den Haushalt des
Entführers und/oder die Heirat mit ihm, und damit ist notwendig der Wechsel der
Religionszugehörigkeit für die nichtmuslimische Frau verbunden. Dem wird sich die
betroffene Christin auch in großstädtischen Verhältnissen grundsätzlich nicht
entziehen können, weil der Entführer sie, um ihre Flucht zu verhindern, jedenfalls
zunächst in seinem Haus festhalten und ihr keine Möglichkeit eröffnen wird,
Kontakt nach außen aufzunehmen.
Die Entführung und der ihr zwangsläufig nachfolgende aufgenötigte Übertritt zum
Islam sind ihrer Intensität nach als Verfolgung zu qualifizieren. Dadurch wird nicht
nur die persönliche Freiheit des Opfers beschränkt, sondern zugleich -- in ähnlich
schwerer Weise -- in dessen sexuelles und religiöses Selbstbestimmungsrecht
eingegriffen; denn infolge der auf zwangsweise Bekehrung gerichteten
Einwirkungen kann die betroffene Frau ein an ihrer Religion ausgerichtetes Leben
nicht mehr führen und ist ihr ein vom Glauben geprägtes "Personsein" nicht einmal
mehr im Sinne eines religiösen Existenzminimums gestattet, weil sie ihren
Glauben im privaten oder im nachbarlich-kommunikativen Bereich nicht bekennen
darf und tragende Inhalte ihrer Glaubensüberzeugung verleugnen oder gar
preisgeben muß (BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 -- EZAR 202 Nr. 17 = InfAuslR
1990, 211). Übergriffe der vorgenannten Art knüpfen auch erkennbar an die
Religionszugehörigkeit des Opfers an, denn sie führen nach ihrem inhaltlichen
Charakter objektiv und nicht nur aus der subjektiven Sicht derjenigen, die sie
vornehmen, zur Aufgabe des eigenen christlichen Glaubens und zur zwangsweisen
Übernahme des islamischen. Dem steht nicht entgegen, daß Frauen
muslimischen Glaubens ebenfalls entführt werden, weil die Täter -- auf die von
diesen objektiv verfolgte Zielrichtung und nicht auf die Position des türkischen
Staats kommt es insoweit an (BVerwG, 14.03.1984 -- 9 B 412.83 --, Buchholz
402.25 Nr. 20 zu § 1 AsylVfG) -- bei der Entführung einer christlichen Frau bewußt
deren Schutzlosigkeit als einer alleinstehenden Angehörigen einer religiösen
Minderheit ausnutzen und deshalb den Übertritt zum Islam zumindest auch in
75
Minderheit ausnutzen und deshalb den Übertritt zum Islam zumindest auch in
Anknüpfung an deren religiöse Grundentscheidung betreiben (vgl. BVerwG,
06.03.1990 -- 9 C 14.89 -- a.a.O.).
Der türkische Staat muß sich die alleinstehenden Christinnen drohenden
Übergriffe unter Berücksichtigung der dem Senat vorliegenden Unterlagen (vgl.
etwa 5., S. 33 ff. u. 47 ff.; 11., S. 4 f., 7 u. 9; 22., S. 9; 35., S. 20; 64., S. 11) als
mittelbare staatliche Verfolgung asylrechtlich zurechnen lassen. Allerdings ist eine
Verantwortlichkeit des Staats für Verfolgungsmaßnahmen Dritter nur dann
anzunehmen, wenn diese auf eine Anregung des Staats zurückgehen oder doch
dessen Unterstützung oder Billigung genießen oder wenn er sie tatenlos hinnimmt
(BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1;
BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 818.81 --, BVerwGE 67, 317 = EZAR 202 Nr. 1). Danach
genügt der Staat zwar den asylrechtlich an ihn zu stellenden Anforderungen, wenn
er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln im großen und ganzen Schutz
gewährt, auch wenn dieser Schutz nicht lückenlos ist, weil seine Bemühungen mit
unterschiedlicher Effektivität greifen; Übergriffe sind dem Staat jedoch
asylrechtlich zurechenbar, wenn er ihnen nicht entgegenwirkt, indem er präventive
Vorkehrungen unterläßt, um sie zu verhindern, und indem er, wenn sie gleichwohl
vorkommen, weder den Opfern Schutz gewährt noch gegen die Täter Sanktionen
verhängt (vgl. BVerwG, 22.04.1986 -- 9 C 318.85 u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR
202 Nr. 8, u. 02.07.1986 -- 9 C 2.85 --, Buchholz 402.25 Nr. 49 zu § 1 AsylVfG).
Diese asylrechtlichen Anforderungen an die staatliche Sicherheitspolitik folgen
unmittelbar aus der staatlichen Schutzverpflichtung gegenüber den eigenen
Staatsangehörigen. Danach kann der Senat aufgrund der ihm vorliegenden
Erkenntnisse auch unter Berücksichtigung der neuesten einschlägigen
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (06.03.1990 -- 9 C 14.89 --
a.a.O.) eine asylrechtliche Verantwortlichkeit des türkischen Staats für die
alleinstehenden Christinnen im Falle ihrer jetzigen Rückkehr drohende Entführung
und für den dieser zwangsläufig nachfolgenden aufgenötigten Übertritt zum Islam
nicht verneinen. Insbesondere kann auch auf der Grundlage der im
vorangegangenen Absatz und eingangs dieses Absatzes getroffenen
Feststellungen nicht darauf abgestellt werden, daß es sich bei den alleinstehenden
Christinnen, denen es nicht gelingt, Wohnung, Arbeit und ein sie sicherndes
gesellschaftliches Umfeld zu finden, und die deshalb besonderes gefährdet sind,
nur um Einzelfälle handele, in denen der Staat keinen Schutz gewähren müsse (so
BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 -- a.a.O., allerdings auf einer "schmaleren" und
nur bis Januar 1988 reichenden tatsächlichen Erkenntnislage). Denn allein in ihr
Heimatland zurückkehrende Christinnen ohne dortigen persönlichen
Anknüpfungspunkt befinden sich -- wie oben dargelegt -- typischerweise in der
Situation, daß sie weder Unterkunft noch Arbeit noch soziale Kontakte haben; sie
sind demzufolge regelmäßig der Gefahr einer Entführung mit den beschriebenen
Konsequenzen ausgesetzt, und unter diesen Umständen würde es die
Ausgrenzung einer ganzen Untergruppe aus der Verantwortlichkeit des Staates
bedeuten, wollte man ihn insoweit von seiner Schutzpflicht freistellen. Im Hinblick
darauf, daß effektiver Schutz im nachhinein praktisch kaum möglich ist, weil
erfolgte Entführungen von allein und in wirtschaftlicher Not in der Türkei lebenden
Christinnen in der Regel gar nicht zur Kenntnis staatlicher Stellen gelangen
werden, da dem Opfer verbundene Angehörige, die Anzeige erstatten könnten, ja
gerade nicht vorhanden sind, müssen dem türkischen Staat in besonderem Maße
präventive Vorkehrungen abverlangt werden, bevor er von seiner diesbezüglichen
Verantwortlichkeit entlastet werden kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß
gerade infolge der allenthalben zunehmenden Islamisierung bei staatlichen Stellen
die Neigung abzunehmen scheint, der mit dem islamischen Religionsverständnis
eher als mit dem christlichen zu vereinbarenden Entführungspraxis konsequent
entgegenzuwirken. Zwar werden Entführungen allgemein tatsächlich nur schwer zu
verhindern sein, soweit nicht ausnahmsweise und rein zufällig Organe der Polizei
oder anderer staatlicher Stellen Zeugen sind. Indessen könnte der Staat etwa z.B.
dadurch präventiv tätig werden, daß er alleinstehenden Christinnen das zum
Leben Notwendige zur Verfügung stellt und damit ihre besondere Gefährdungslage
auf das allgemeine Maß herabmindert. Derartige Vorkehrungen sind den
vorliegenden Erkenntnisquellen indessen nicht zu entnehmen; vielmehr werden in
der Türkei der Sozialhilfe vergleichbare Leistungen gerade nicht bzw. in der Weise
gewährt, daß die hier betroffene Bevölkerungsgruppe nicht davon profitieren kann
(62.; 67.; 68.; 71.). Nach alledem genügt der türkische Staat insgesamt mit
seinem staatlichen Sicherheits- und Schutzsystem hinsichtlich der besonders
gefährdeten Untergruppe allein zurückkehrender Christinnen ohne
verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt den ihm obliegenden -- insbesondere
präventiven -- Verpflichtungen nicht, so daß ihm Übergriffe auf derartige Personen
76
77
präventiven -- Verpflichtungen nicht, so daß ihm Übergriffe auf derartige Personen
grundsätzlich zuzurechnen sind. Diese Auffassung des erkennenden Senats hat im
Ergebnis schon der früher für Asylsachen allein zuständige 10. Senat des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (23.08.1984 -- X OE 609/82 --) vertreten, und
sie ist seither weder von der Beklagten zu 1) noch vom Bundesbeauftragten für
Asylangelegenheiten in tatsächlicher Hinsicht substantiiert angegriffen worden, so
daß insoweit keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen besteht. Die
Einschätzung widerspricht auch nicht den oben getroffenen Feststellungen, daß
sich die Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im
September 1980 allgemein erheblich verbessert und daß sich dies auch zugunsten
der syrisch-orthodoxen Christen in I und in anderen Landesteilen ausgewirkt habe.
Denn die Situation, in der sich allein zurückkehrende Christinnen ohne
verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt in der Türkei befinden, unterscheidet sich
von der Lage aller übrigen türkischen Staatsangehörigen christlichen Glaubens in
den bereits angesprochenen Punkten erheblich, und deshalb ist trotz der
allgemein verbesserten Sicherheitslage ihre Situation praktisch unverändert
geblieben. Nach alledem hängt die Möglichkeit eines verfolgungsfreien Lebens für
allein zurückkehrende Christinnen jüngeren und mittleren Alters entscheidend von
ihrem wirtschaftlichen und sozialen Status und von sonstigen persönlichen
Voraussetzungen -- etwa von Schul- und beruflicher Bildung, von
Sprachkenntnissen und von ihrer Arbeitsfähigkeit -- ab.
Angesichts dieser allgemein christlichen Frauen, die allein und ohne gesicherte
wirtschaftliche Lebensgrundlage in die Türkei zurückkehren, drohenden
Gefährdung ist festzustellen, daß der Klägerin zu 2) unter Berücksichtigung ihrer
persönlichen Verhältnisse, Kenntnisse und Beziehungen ein verfolgungsfreies
Leben in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird. Sie
verfügt dort über keinen verläßlichen verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt
mehr, nachdem ihre Eltern und Geschwister und sonstige Verwandte sämtlich
ausgereist sind und die letzte in der Türkei verbliebene Schwester ebenfalls in I
"auf gepackten Koffern" sitzt. Es ist von der Beklagten zu 1) oder dem
Bundesbeauftragten auch nicht dargetan oder aus dem Vorbringen der Klägerin zu
2) sonst ersichtlich, daß sie über andere konkrete Beziehungen zu in der Türkei
lebenden Christen verfügt, die ihr den Aufbau einer Existenz und damit ein
verfolgungsfreies Lebens ermöglichen oder in anderer Weise dazu beitragen
könnten, daß sie unbehelligt an irgendeinem Ort in der Türkei leben kann. Die
Klägerin zu 2) verfügt im wesentlichen nur über aramäische Sprachkenntnisse;
türkisch spricht sie nicht sehr gut. Ihren glaubhaften Angaben zufolge hat sie keine
Schule besucht und keine Berufsausbildung erhalten; vielmehr wurde sie früh
verheiratet und war Zeit ihres Lebens im Haushalt tätig. Danach ist nicht
ersichtlich, wie es ihr gelingen sollte, sich im Rückkehrfalle eine Existenz irgendwo
in der Türkei aufzubauen; infolgedessen ist sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
der Gefahr einer Entführung durch muslimische Türken mit anschließender
Zwangsbekehrung ausgesetzt. Daß sie mittlerweile 36 Jahre alt und verheiratet ist,
ändert an dieser Einschätzung nichts. Denn angesichts der vom Islam erlaubten
Polygynie sind Muslime nicht nur an der Entführung junger Mädchen, sondern auch
an Frauen mittleren Alters interessiert, um diese alsdann etwa Haushalts- oder
sonstige anfallende Arbeiten verrichten zu lassen (vgl. 22., S. 9).
6.
Im Hinblick darauf, daß die Klägerin unverfolgt ausgereist ist und sich die ihr im
Rückkehrfalle drohende Verfolgung mithin als sog. Nachfluchttatbestand darstellt,
weist der erkennende Senat auf folgendes hin: Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (26.11.1986 -- 2 BvR 1058/85 --, BVerfGE 72, 51 =
EZAR 200 Nr. 18, 17.11.1988 -- 2 BvR 442/88 --, InfAuslR 1989, 31, u. 08.03.1989 -
- 2 BvR 627/87 --, BayVBl. 1989, 561) setzt das Asylgrundrecht des Art. 16 Abs. 2
Satz 2 GG von seinem Tatbestand her grundsätzlich den Zusammenhang
zwischen Verfolgung und Flucht voraus und kann deshalb grundsätzlich nicht auf
sog. subjektive Nachtfluchttatbestände erstreckt werden, die der Asylbewerber
risikolos vom gesicherten Ort aus durch eigenes Tun geschaffen hat; etwas
anderes gelte -- als allgemeine Leitlinie -- nur dann, wenn die selbstgeschaffenen
Nachfluchttatbestände sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des
Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung
darstellten. Diese Rechtsprechung ist im Schrifttum zwar vorwiegend auf Kritik
gestoßen (vgl. u.a. Brunn, NVwZ 1987, 301; J. Hofmann, ZAR 1987, 115; J.
Hofmann, DÖV 1987, 491; R. Hofmann, NVwZ 1987, 295; Huber, NVwZ 1987, 391;
Kimminich, JZ 1987, 194; Wolff, InfAuslR 1987, 60; Wollenschläger/Becker, ZAR
1987, 51, 54 f.). Dennoch hat sich das Bundesverwaltungsgericht ihr
78
1987, 51, 54 f.). Dennoch hat sich das Bundesverwaltungsgericht ihr
zwischenzeitlich unter Hinweis auf die seiner Ansicht nach insoweit bestehende
Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG angeschlossen und ausgeführt, seine
frühere Rechtsprechung zu den subjektiven Nachfluchttatbeständen sei überholt
und die Vorschrift des § la AsylVfG laufe für solche Nachfluchttatbestände leer, die
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon vom
Anwendungsbereich des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ausgeschlossen seien, und
regele für die beachtlichen Nachtfluchttatbestände darüber hinaus, daß
bestimmte, ihre Herbeiführung betreffende Umstände bei der Asylentscheidung
außer Betracht zu bleiben hätten (BVerwG, 19.05.1987 -- 9 C 184.86 --, BVerwGE
77, 258 = EZAR 200 Nr. 19, 20.10.1987 -- 9 C 147.86 --, 20.10.1987 -- 9 C 42.87 --
, InfAuslR 1988, 22, 22.06.1988 -- 9 B 65.88 --, InfAuslR 1988, 255, 22.06.1988 -- 9
B 189.88 --, InfAuslR 1988, 254, u. 06.12.1988 -- 9 C 91.87 --, InfAuslR 1989, 135).
Außerdem hat das Bundesverwaltungsgericht die vom Bundesverfassungsgericht
aufgestellten Grundsätze im Hinblick auf weitere Fallgruppen selbstgeschaffener
Nachfluchttatbestände präzisiert -- etwa bezüglich der Asylantragstellung
(30.08.1988 -- 9 C 80.87 --, InfAuslR 1988, 337, 30.08.1988 -- 9 C 20.88 --, InfAuslR
1989, 32, 25.10.1988 -- 9 C 50.87 --, InfAuslR 1989, 173, 17.01.1989 -- 9 C 56.88 --
, BVerwGE 81, 170 = EZAR 200 Nr. 23, u. 11.04.1989 -- 9 C 53.88 --) sowie
bezüglich sog. aktiver oder passiver Republikflucht (vgl. einerseits 06.12.1988 -- 9
C 22.88 --, InfAuslR 1989, 169, andererseits 21.06.1988 -- 9 C 5.88 --, EZAR 201
Nr. 14 = NVwZ 1989, 68) -- und dabei entschieden, daß auch eine wegen dieser
Verhaltensweisen im Rückkehrfalle drohende politische Verfolgung wie ein
selbstgeschaffener Nachfluchtgrund zu behandeln und deshalb asylrechtlich
unbeachtlich sei, wenn der Ausländer sich nicht bereits im Zeitpunkt seines
diesbezüglichen Verhaltens in einer politisch bedingten Zwangslage befunden
habe, als deren Erscheinungsform sich eine "latente Gefährdungslage" darstelle, in
der keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung bestehe. Der Senat hat zur Frage
der Asylerheblichkeit selbstgeschaffener Nachfluchttatbestände ebenso wie zu der
einer möglichen Bindung an die betreffende Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (kritisch hierzu VGH Baden-Württemberg, 19.11.1987 -
- A 12 S 761/86 --, NVwZ-RR 1989, 46) bisher noch nicht grundsätzlich Stellung
genommen. Der vorliegende Fall bietet ebenfalls keine Veranlassung für eine
diesbezügliche Grundsatzentscheidung. Denn es fehlt schon an der vom
Bundesverfassungsgericht zugrundegelegten Ausgangssituation, daß der
Asylbewerber den Nachfluchttatbestand risikolos vom gesicherten Ort aus durch
eigenes Tun geschaffen hat; die den Asylanspruch der Klägerin zu 2)
begründenden Umstände sind nämlich nicht von ihr selbst -- etwa durch ihre
Ausreise -- herbeigeführt worden, sondern allein dadurch entstanden, daß auch
ihre übrigen Verwandten sämtlich die Türkei verlassen haben und ihr Ehemann
nicht mit ihr zurückkehren wird. Selbst wenn man gleichwohl die für subjektive
Nachfluchttatbestände entwickelten Maßstäbe anwenden wollte, stünde dies im
vorliegenden Fall der Asylanerkennung der Klägerin zu 2) nicht entgegen, weil sie
sich schon vor ihrer Ausreise, also erst recht im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt
des Entstehens des "Nachfluchtgrundes", in der Türkei zur Überzeugung des
Senats in einer latenten Gefährdungslage befunden hat. Hierbei ist zu bedenken,
daß sich die persönliche Situation der Klägerin zu 2) (nur) insofern verändert
darstellt, als sie vor ihrer Ausreise den Schutz des Familienverbandes genoß,
mithin weder für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen mußte noch ohne männliche
Begleitung die Wohnung zu verlassen brauchte; als junges Mädchen durfte sie sich
-- aus Angst vor Entführungen, wie sie auch in der Nachbarschaft vorgekommen
waren -- nur in der Nähe des Hauses oder auf dem Hof aufhalten. Demgegenüber
müßte sie im Falle ihrer -- prognostisch zugrunde zu legenden -- jetzigen alleinigen
Rückkehr diesen Schutz entbehren. Dies führt auch für die Klägerin zu 2) zu der
vom Senat -- übrigens ebenso in den anderen bisher entschiedenen und bereits
angeführten vergleichbaren Fällen, soweit dort nicht sogar Vorverfolgung gegeben
war -- vertretenen Einschätzung, daß schon vor der Ausreise eine latente
Gefährdungslage gegeben war, in der zwar keine hinreichende Sicherheit vor
Verfolgung, aber auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine solche
Verfolgung bestand, und daß deshalb keine Vorverfolgung anzunehmen ist, daß
aber infolge der veränderten tatsächlichen objektiven Situation bei der jetzt
anzustellenden Prognose für den Rückkehrfall von der beachtlichen
Wahrscheinlichkeit einer der Klägerin zu 2) drohenden Entführung und
anschließenden Zwangsbekehrung zum Islam ausgegangen werden muß.
II.
Da die Klägerin zu 2) neben der Verpflichtung der Beklagten zu 1) zu ihrer
Anerkennung als Asylberechtigte auch deren Verpflichtung zu der Feststellung
79
80
81
82
Anerkennung als Asylberechtigte auch deren Verpflichtung zu der Feststellung
verlangen kann, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist die
im Tenor zum Ausdruck gebrachte Neufassung des verwaltungsgerichtlichen
Ausspruchs geboten.
Seit dem Inkrafttreten des neuen Ausländerrechts am 1. Januar 1991 wird nämlich
mit jedem Asylantrag sowohl die Feststellung, daß die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG vorliegen, als auch, wenn der Ausländer dies nicht ausdrücklich
ablehnt, die Anerkennung als Asylberechtigter beantragt (§ 7 Abs. 1 Satz 2
AsylVfG); demzufolge ist in der Entscheidung des Bundesamts für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ausdrücklich festzustellen, ob die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen und ob der Antragsteller als
Asylberechtigter anerkannt wird (§ 12 Abs. 6 Satz 3 AsylVfG). Da dem
Berufungsverfahren eine Asylverpflichtungsklage der Klägerin zu 2) zugrundeliegt,
für deren Beurteilung die gegenwärtige Sach- und Rechtslage maßgebend ist, sind
-- angesichts des Fehlens von ihre Anwendung ausschließenden
Übergangsbestimmungen -- die genannten Vorschriften hier anzuwenden. Denn
die Erweiterung der Begriffsbestimmung für den Asylantrag erweitert automatisch
auch den Inhalt des Asylverfahrens. § 12 Abs. 6 Satz 3 AsylVfG soll gewährleisten,
daß weder das Bundesamt noch im Falle der Klage die Gerichte von sich aus die
Entscheidung über einen Asylantrag auf die Frage der Anerkennung als
Asylberechtigter beschränken können (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs
der Bundesregierung, BT-Drs. 11/6321, S. 88 f.). Vor dem Hintergrund der
allgemein mit der Gesetzesänderung verfolgten Ziele der Konzentration und
Beschleunigung von Asylverfahren (vgl. BT-Drs. 11/6321, S. 48 f., und, in anderem
Zusammenhang, Hess. VGH, 23.11.1990 -- 12 TH 1760/90 --, EZAR 632 Nr. 10) ist
grundsätzlich davon auszugehen, daß die Entscheidung über einen vor
Inkrafttreten der neuen Verfahrensvorschriften gestellten Asylantrag auch darauf
zu erstrecken ist, ob die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen (Hess.
VGH, 25.02.1991 -- 12 UE 2583/85 -- u. -- 12 UE 2106/87 --, EZAR 231 Nr. 1 sowie
15.03.1991 -- 10 UE 1538/86 --). Die danach kraft Gesetzes wirksam gewordene
Erweiterung der Begriffsbestimmung für den Asylantrag gilt regelmäßig auch für
die gerichtliche Entscheidung in solchen Fällen, in denen der Asylantrag zwar noch
nach früherem Recht gestellt ist, in denen aber erst nach Inkrafttreten der
Neuregelung gerichtlich entschieden wird. Eine Ausnahme hiervon ist nur dann
anzunehmen, wenn der von der gerichtlichen Nachprüfung betroffene
Asylbewerber selbst ausdrücklich eine Entscheidung über nur eine der beiden nach
§ 12 Abs. 6 Satz 4 AsylVfG selbständig anfechtbaren Feststellungen wünscht. Gibt
der Asylbewerber keine sein Rechtsschutzbegehren in diesem Sinne
einschränkenden Erklärung ab, so kann regelmäßig ohne weiteres davon
ausgegangen werden, daß er eine umfassende gerichtliche Überprüfung erstrebt.
Dies gilt ungeachtet der Beteiligtenstellung, die der Asylbewerber in dem
fraglichen Rechtsstreit innehat, mithin auch dann, wenn er nicht selbst Kläger oder
Berufungskläger ist; vor allem bedarf es bei Verfahrensgestaltungen der zuletzt
genannten Art keiner besonders einzulegenden Anschlußberufung des
Asylbewerbers, um eine gerichtliche Entscheidung auch hinsichtlich des Vorliegens
der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG zu erreichen (im Ergebnis ebenso
Hess. VGH, 25.02.1991 -- 12 UE 2583/85 --; a. A. insoweit Hess. VGH, 15.03.1991 -
- 10 UE 1538/86 --).
Nach diesen Grundsätzen ist davon auszugehen, daß die Prüfung des klägerischen
Asylbegehrens auch darauf zu erstrecken ist, ob die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG in der Person der Klägerin zu 2) vorliegen. Denn dem von dieser mit
Schriftsatz vom 3. Juni 1991 gestellten Antrag ist zu entnehmen, daß sie eine
entsprechende Entscheidung wünscht.
Da die Klägerin zu 2) politisch Verfolgte ist, liegen mangels gegenteiliger
Anhaltspunkte die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vor. Zu der
entsprechenden Feststellung ist die Beklagte zu 1) nach Maßgabe des insoweit
neu gefaßten Tenors des erstinstanzlichen Urteils verpflichtet.
B.
Schon im Hinblick auf die festgestellte Asylberechtigung der Klägerin zu 2) ist die
Beklagte zu 1) verpflichtet, den übrigen Klägern auf der Grundlage des § 7 a Abs. 3
AsylVfG die Rechtsstellung von Asylberechtigten zu gewähren; dementsprechend
ist auch insoweit in dem Tenor des erstinstanzlichen Urteils eine Klarstellung
vorzunehmen. Nach dieser Vorschrift wird dem Ehegatten eines Asylberechtigten
die Rechtsstellung eines Asylberechtigten gewährt, wenn die Ehe schon in dem
83
84
85
86
die Rechtsstellung eines Asylberechtigten gewährt, wenn die Ehe schon in dem
Staat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird, bestanden hat, der
Ehegatte einen Asylantrag vor oder gleichzeitig mit dem Asylberechtigten oder
unverzüglich nach der Einreise gestellt hat und die Anerkennung des
Asylberechtigten nicht nach § 16 AsylVfG zu widerrufen oder zurückzunehmen ist;
entsprechendes gilt für die zum Zeitpunkt der Anerkennung bereits geborenen
minderjährigen ledigen Kinder eines Asylberechtigten. Diese Voraussetzungen
liegen hier vor; denn die Ehe der Kläger zu 1) und 2) bestand bereits in der Türkei,
diese sind zusammen mit den gemeinsamen Kindern eingereist und haben
sämtlich einen Asylantrag gestellt, die Kläger zu 3) und 4) sind noch minderjährig
und ledig, und die Klägerin zu 2) ist -- wie oben ausgeführt -- als Asylberechtigte
anzuerkennen.
Dabei sieht sich der Senat nicht gehindert, die Prüfung dieser Vorschrift in das
laufende Asylverfahren einzubeziehen und im Hinblick auf die von ihm bejahte
Asylberechtigung der Klägerin zu 2) zu einem entsprechendem Ausspruch
zugunsten der Kläger zu 1), 3) und 4) zu gelangen.
Dem liegt zum einen die Auffassung zugrunde, daß mit der Gewährung des
sogenannten "Familienasyls" auf der Grundlage des § 7 a Abs. 3 AsylVfG nicht
etwa ein gesonderter, vom Asylrecht unabhängiger Status minderen Rechts, d. h.
ein aliud verliehen wird (so aber OVG Nordrhein-Westfalen, 06.12.1990 -- 20 A
10014/89 --; siehe auch Nicolaus, Die Zuerkennung des
Konventionsflüchtlingsstatus nach dem Gesetz zur Neuregelung des
Ausländerrechts an nicht originär Asylberechtigte, in Barwig u. a., Das neue
Ausländerrecht, 1991, S. 169 <180>), sondern dieses lediglich Ausfluß der vom
Bundesverwaltungsgericht aufgestellten (BVerwG, 02.07.1985 -- 9 C 35.84 --,
EZAR 204 Nr. 2) Regelvermutung ist, wonach Maßnahmen des Verfolgerstaates
gegenüber dem Ehegatten eines politisch Verfolgten in der Regel ebenfalls eine
politische Motivation zugrundeliegen dürfte, unabhängig davon, ob der Ehegatte
selbst sich politisch betätigt hat oder überhaupt eine politische Überzeugung
besitzt (so Heinhold, Das Familienasyl des § 7 a AsylVfG, und Bierwirth, Die
Familienasylregelung des § 7 a Abs. 3 AsylVfG unter besonderer Berücksichtigung
der Altfälle, beide in Barwig u. a., a.a.O., S. 197 <221 ff.> bzw. S. 229 <231 ff.>).
Mit dem Ziel der Entlastung des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichte wird
im Interesse der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung für bestimmte
Fälle eine sonst im Einzelfall glaubhaft zu machende politische Verfolgung fingiert.
Dies ergibt sich einmal aus den Gesetzgebungsmaterialien (siehe BT-Drs.
11/6960, S. 29), zum anderen daraus, daß auch die Gewährung des Familienasyls
"einen Asylantrag" -- also einen Antrag im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG --
voraussetzt, ohne daß nach der Begründung hierfür unterschieden würde; ein
gesonderter, auf die Gewährung von Familienasyl gerichteter Antrag ist gerade
nicht erforderlich (vgl. VGH Baden-Württemberg, 12.11.1990 -- A 13 S 958/90 --;
OVG Nordrhein-Westfalen, 29.11.1990 -- 16 A 10140/90 --; Bay. VGH, 29.11.1990 -
- 24 BZ 90.31964 --, 18.12.1990 -- 19 CZ 90.30661 --; so wohl auch OVG Bremen,
03.07.1991 -- 2 B 90/91 u. a. --, EZAR 215 Nr. 1).
Daraus folgt, daß ein wesentlicher sachlicher Unterschied zwischen einer
Anerkennung als Asylberechtigter und der Gewährung der Rechtsstellung eines
Asylberechtigten nicht besteht (OVG Nordrhein-Westfalen, 29.11.1990, a.a.O.; Bay.
VGH, 29.11.1990, a.a.O.) und die Differenzierung in der Fassung des Tenors -- hier
in der Klarstellung des Tenors des erstinstanzlichen Urteils -- nur zum Ausdruck
bringt, daß sich die Erwerbstatbestände unterscheiden (vgl. VGH Baden-
Württemberg, 12.11.1990, a.a.O.). Andernfalls würde dem von der Neuregelung
verfolgten Ziel der Vereinfachung und Beschleunigung gerade zuwider gehandelt;
denn ginge man vom Vorliegen unterschiedlicher Begehren und damit
unterschiedlicher Streitgegenstände aus, könnte eine Asylverpflichtungsklage
auch dann erhoben bzw. fortgeführt werden, wenn zwar unstreitig die
Voraussetzungen des § 7 a Abs. 3 AsylVfG vorliegen, der Betroffene jedoch meint,
auf jeden Fall einen originären Asylanspruch zu besitzen, obwohl auch der
Asylberechtigte materiell nicht mehr als die Rechtsstellung eines Asylberechtigten
erhält (vgl. Bierwirth, a.a.O. S. 232).
Zum anderen ist nicht ersichtlich, woraus sich ergeben sollte, daß die
Verpflichtung zur Gewährung von Familienasyl auf der Grundlage des § 7 a Abs. 3
AsylVfG nicht auch dann ausgesprochen werden kann, wenn über die
Asylberechtigung desjenigen, von dem Familienasyl hergeleitet wird, noch nicht
rechtskräftig entschieden ist (so auch VGH Baden-Württemberg, 12.11.1990,
a.a.O.; VG Karlsruhe, 22.02.1991 -- A 13 K 4373/90 --). Knüpfte man die
87
88
89
90
a.a.O.; VG Karlsruhe, 22.02.1991 -- A 13 K 4373/90 --). Knüpfte man die
Entscheidung über die Gewährung von Familienasyl an die Bestandskraft der den
Anspruch vermittelnden Asylberechtigung, würde auch dies dem Zweck der
Vereinfachung und Beschleunigung zuwiderlaufen; denn Konsequenz wäre, daß
entweder im laufenden Verfahren die originäre Asylberechtigung aller
Familienmitglieder zwingend geprüft werden müßte oder daß das Verfahren
hinsichtlich der Familienmitglieder, denen Familienasyl zu gewähren wäre, bis zur
Rechtskraft der Entscheidung für den diesen Anspruch Vermittelnden ausgesetzt
würde. Dementsprechend entscheidet auch das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge durchaus in ein und demselben Anerkennungsbescheid
über Familien, indem es z. B. ein Mitglied als Asylberechtigten nach Artikel 16 Abs.
2 Satz 2 GG anerkennt und den übrigen die Rechtsstellung von Asylberechtigten
auf der Grundlage des § 7 a Abs. 3 AsylVfG gewährt (z. B. Bescheid vom
03.05.1991 -- Az.: 163-42572-89).
C.
Ohne die Vorschrift des § 7 a Abs. 3 AsylVfG hätte die Klage des Klägers zu 1)
keinen Erfolg, weil ihm im Rückkehrfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine
asylrelevante politische Verfolgung droht (1.). Demgegenüber muß die jetzt 17
Jahre alte Klägerin zu 4) aus den gleichen Gründen wie die Klägerin zu 2) im Falle
der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit an ihre Religion anknüpfender
politischer Verfolgung rechnen (2.); ebenso wird der jetzt fast 13jährige Kläger zu
3) im Rückkehrfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung
ausgesetzt sein, weil er mit der Einweisung in ein staatliches türkisches
Waisenhaus rechnen muß und damit zwangsläufig seinen christlichen Glauben
verlieren wird (3.).
1.
Eine gerade dem Kläger zu 1), dessen Vorverfolgung ebensowenig wie bei seiner
Ehefrau, der Klägerin zu 2), festgestellt werden kann und der im Rückkehrfalle auch
nicht mit unmittelbar oder mittelbar staatlicher Gruppenverfolgung zu rechnen
hat, drohende individuelle politische Verfolgung kann weder in Bezug auf den
Heimatort A noch in Bezug auf I festgestellt werden, wo er bis zu seiner Ausreise
gelebt und gearbeitet hat. Der Kläger zu 1) könnte vielmehr in diesen beiden Orten
ebenso wie anderswo in der Türkei ohne unmittelbar drohende Gefahr politischer
Verfolgung leben. Wie bereits oben ausgeführt (A. I. 4.), hat sich die Verbesserung
der Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im September
1980 auch zugunsten der Christen ausgewirkt. Es gibt aus jüngster Zeit keine
Bezugsfälle, in denen männliche Christen im Alter des Klägers zu 1) ernsthaft an
der Ausübung ihrer Religion gehindert worden sind. Es kann daher nicht mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß der Kläger zu 1) im
Rückkehrfalle von an seine Religionszugehörigkeit anknüpfenden Übergriffen
muslimischer Türken betroffen und diesen Verfolgungsmaßnahmen schutzlos
ausgeliefert wäre, zumal er seinen Wehrdienst bereits geleistet hat, so daß dieser
als Ort möglicher politischer Verfolgung ausscheidet (vgl. hierzu etwa Hess. VGH,
08.10.1990 -- 12 UE 2588/85 --).
2.
Anders verhält es sich bei der Klägerin zu 4); dieser drohte aus den gleichen
Gründen wie der Klägerin zu 2) auf ihre Person bezogene, individuelle politische
Verfolgung, weil auch in ihrem Fall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
anzunehmen ist, daß sie bei alleiniger Rückkehr -- und davon ist, wie ebenfalls
oben aufgrund der Äußerungen des Klägers zu 1) dargelegt ist, auszugehen -- der
Gefahr der Entführung durch Muslime und damit der zwangsweisen Aufgabe ihres
christlichen Glaubens ausgesetzt sein wird. Insoweit wird auf die obigen
Ausführungen unter A. I. 5., die auch für die Person der Klägerin zu 4) Geltung
haben, verwiesen, zumal diese noch unverheiratet und gerade in einem Alter ist, in
dem eine Verheiratung nach türkischen Gepflogenheiten durchaus üblich ist. Diese
Situation stellte sich auch hinsichtlich der Klägerin zu 4) als objektiver und damit
beachtlicher Nachfluchttatbestand dar (vgl. oben A. I. 6.).
3.
Ebenso hätte der Kläger zu 3) im Rückkehrfall mit asylrelevanter politischer
Verfolgung zu rechnen. Dies wäre zwar nicht schon im Hinblick auf eine künftig
drohende Wehrdienstleistung der Fall -- der Senat geht in ständiger
Rechtsprechung davon aus, daß wehrpflichtige türkische Staatsangehörige
91
92
93
Rechtsprechung davon aus, daß wehrpflichtige türkische Staatsangehörige
christlichen Glaubens damit rechnen müssen, an Standorte eingezogen zu
werden, an denen sie Übergriffen bis hin zur Zwangsbeschneidung ausgesetzt
sind, und ihnen damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit individuelle asylrelevante
politische Verfolgung droht (vgl. etwa Hess. VGH, 08.10.1990 -- 12 UE 2588/85 --) -
-, denn der Kläger zu 3) ist derzeit erst knapp 13 Jahre alt; da die Musterung
frühestens mit 18 Jahren erfolgt und die anzustellende Prognose auf einen
überschaubaren Zeitraum abzustellen ist (vgl. BVerwG, 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --,
EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986, 760 m.w.N.), könnte derzeit nicht mit der
erforderlichen Gewißheit davon ausgegangen werden, ob und wann der Kläger zu
3) tatsächlich würde Wehrdienst leisten müssen und daß bis dahin die heute
festgestellten Verhältnisse unverändert bleiben.
Dem Kläger zu 3) würde jedoch individuelle politische Verfolgung in Ansehung des
Umstandes drohen, daß er im Falle der alleinigen Rückkehr mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit damit rechnen müßte, in ein staatliches türkisches Waisenhaus
eingewiesen zu werden; das aber wäre mit der zwangsweisen Aufgabe des
christlichen Glaubens verbunden (vgl. Hess. VGH, 26.03.1990 -- 12 UE 2970/86 --,
18.06.1990 -- 12 UE 3002/86 --, ständige Rechtsprechung).
Wenn ein syrisch-orthodoxes minderjähriges Kind allein in die Türkei zurückkehrt
und sich seine Eltern und Verwandten allesamt im Ausland befinden, werden
Versuche der syrisch-orthodoxen Kirche, es in einer christlichen Familie oder in
einem Kloster unterzubringen, aufgrund der gegenüber nicht verwandten Personen
nur sehr eingeschränkten Aufnahmebereitschaft und aufgrund der -- infolge der
fortlaufenden Abwanderung -- stark begrenzten Kapazitäten regelmäßig erfolglos
bleiben (vgl. 51.; 52.; 54., S. 1 ff.; 60., S. 5; 64., S. 11; 66., S. 2; 70., S. 51 f., 57 u.
60; 76., S. 5). In eigene Sozialeinrichtungen, insbesondere Waisenhäuser, kann die
syrisch-orthodoxe Kirche alleinstehende Minderjährige nicht aufnehmen, da sie
solche Einrichtungen in der Türkei nicht betreiben darf (58., S. 4; 60., S. 5; 63., S.
7). Die entsprechenden Einrichtungen anderer christlicher Konfessionen in der
Türkei sind auf die Fürsorge für eigene Kirchenmitglieder beschränkt, und deshalb
ist ihnen die Aufnahme syrisch-orthodoxer Kinder legal nicht möglich (51.; 52.; 54.,
S. 8; 60., S. 6). Danach müssen alleinstehende syrisch-orthodoxe Minderjährige,
sofern nicht ausnahmsweise von Gerichts wegen eine Privatperson -- dann aber
regelmäßig muslimischen Glaubens -- zum Vormund bestellt wird (60., S. 7), mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, in ein staatliches türkisches
Waisenhaus eingewiesen zu werden (54., S. 5). Die Verhältnisse in solchen
Waisenhäusern entsprechen nicht unseren Standards (31.). Zwar sind die Erzieher
auf die kemalistisch-laizistische Staatsideologie verpflichtet, andererseits aber
auch von den islamischen Vorstellungen der Bevölkerungsmehrheit geprägt (51.;
52.; 54., S. 5 f. u. 8 f.). Wenn auch Kontakte des Kindes zur syrisch-orthodoxen
Kirche nicht gewaltsam unterbunden werden dürften (51.; 52.), so führen der in der
Einrichtung herrschende Druck und die Angst vor Benachteiligungen letztlich doch
dazu, daß das Kind selbst von einer solchen Kontaktaufnahme Abstand nehmen
wird (54., S. 9; vgl. auch 60., S. 6). Auf keinen Fall ist gewährleistet, daß syrisch-
orthodoxe Kinder in staatlichen türkischen Waisenhäusern im christlichen Sinne
erzogen werden (31.; 54., S. 5 u. 7); insbesondere können sie nicht an einer
Unterweisung durch syrisch-orthodoxe Religionslehrer oder an syrisch-orthodoxen
Gottesdiensten teilnehmen (54., S. 7; 60., S. 7); die Erhaltung ihrer religiösen
Identität ist somit nicht möglich (60., S. 6). Inwieweit Repressalien, Schläge und
Ehrverletzungen durch muslimische Altersgenossen von den Aufsichtspersonen
unterbunden oder geahndet werden, hängt weitgehend von deren persönlicher
Einstellung und Durchsetzungskraft ab (52.; 54., S. 11 f.; vgl. auch 60., S. 6).
Die Aufnahme in ein staatliches türkisches Waisenhaus führt demnach für ein
syrisch-orthodoxes Kinder zwangsläufig zum Verlust seines christlichen Glaubens
(vgl. zu den besonderen Problemen der Flüchtlingskinder auch den Beschluß Nr.
47 des Exekutiv-Komitees für das Programm des UNHCR von 1987).
Dies ist rechtlich als asylrelevanter Eingriff in die Religionsfreiheit zu qualifizieren,
und zwar unabhängig davon, ob ein Vorteil für das Kind darin zu erblicken sein
mag, daß durch die Waisenhausunterbringung wenigstens sein Lebensunterhalt
sichergestellt ist und es nicht gleichsam "auf der Straße" leben muß (vgl. hierzu
BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --). Gleichwohl wird nämlich bei
Kindern, die -- wie der Kläger zu 3) -- bisher in einem christlichen Familienverband
aufgewachsen sind und deshalb zweifellos eine eigene, ihnen bewußte religiöse
Identität besitzen, durch die ihnen in einem staatlichen türkischen Waisenhaus
widerfahrende Behandlung in das religiöse Existenzminimum eingegriffen. Dieses
umfaßt die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, wie etwa den
umfaßt die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, wie etwa den
häuslichen Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit zum Reden über den eigenen
Glauben und zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen
Bereich, ferner das Gebet und den Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in
persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu
und Glauben unter sich wissen darf (BVerfG, 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --,
BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20, u. 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, EZAR
203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254). Es mag dahinstehen, ob ein syrisch-orthodoxes
Kind in einem staatlichen türkischen Waisenhaus Gelegenheit zum privaten Gebet
findet; jedenfalls ist ihm von dort aus nach den im vorstehenden Absatz
getroffenen Feststellungen eine Teilnahme an einem syrisch-orthodoxen
Gottesdienst nicht möglich, und mindestens deshalb ist sein religiöses
Existenzminimum im Waisenhaus nicht gewährleistet. Der Senat verkennt nicht,
daß die Intensität des Eingriffs je nach dem Alter der betroffenen Minderjährigen
unterschiedlich sein wird. So dürften ältere Kinder durch die ihnen in einem
staatlichen türkischen Waisenhaus auferlegten Einschränkungen insofern stärker
betroffen werden, als sie diese infolge ihrer längeren christlichen Erziehung
subjektiv als einschneidender empfinden; andererseits werden sie aufgrund ihrer
meist ausgeprägteren religiösen Überzeugung eher in der Lage sein, trotzdem
innerlich an ihrem Glauben festzuhalten. Demgegenüber werden jüngere Kinder
zwar mehr unbewußt, dafür aber auch ohne effektive Abwehrmöglichkeit den
Verlust ihrer christlichen Erziehung ertragen müssen. Das religiöse
Existenzminimum wird zur Überzeugung des Senats freilich in allen diesen Fällen
angetastet. Dieser Umstand ist auch nicht -- wie das Bundesverwaltungsgericht
auf einer "schmaleren" und nur bis Anfang 1988 reichenden tatsächlichen
Erkenntnislage angenommen hat (06.03.1990 -- 9 C 14.89, a.a.O. u. -- 9 C 15.89 --
) -- lediglich die Konsequenz eines asylrechtlich irrelevanten
Anpassungsprozesses, dem ein zielgerichtetes Verhalten nicht zu entnehmen sei.
Allerdings schützt das Asylrecht nicht vor einer Entwicklung, die sich für den
einzelnen als Folge einer sich verändernden Situation seiner Umwelt und seiner
Lebensbedingungen in seinem Heimatland ergibt (BVerwG, 15.02.1984 -- 9 CB
191.83 --, EZAR 203 Nr. 2 = Buchholz 402.25 Nr. 18 zu § 1 AsylVfG, u. 06.03.1990
-- 9 C 14.89 -- a.a.O. u. -- 9 C 15.89 --). Indessen kommt auch einem derartigen
Anpassungsdruck Verfolgungscharakter zu, wenn der Betroffene in bezug auf
seine religiöse Überzeugung und Betätigung mit einer zwangsweisen
Umerziehung, mit Zwangsassimilation oder mit einer auf Unterwerfung
ausgerichteten gezielten Disziplinierung zu rechnen hat (BVerwG, 31.03.1981 -- 9
C 6.80 --, BVerwGE 62, 123 = EZAR 200 Nr. 6, u. 06.03.1990 -- 9 C 14.89 -- a.a.O.
u. -- 9 C 15/89 --). So aber stellt sich die Situation in staatlichen türkischen
Waisenhäusern für syrisch-orthodoxe Kinder nach den dem Senat derzeit
vorliegenden Erkenntnisquellen dar. Zunächst ist zu berücksichtigen, daß im Falle
alleiniger Rückkehr die Aufnahme in das Waisenhaus und demzufolge auch die dort
stattfindende Behandlung gegen den Willen des Kindes und seiner Eltern erfolgen,
da ihnen aufgrund der gegebenen tatsächlichen Verhältnisse insoweit keine Wahl
bleibt. Die im Waisenhaus demnach erfolgende zwangsweise Erziehung stellt sich
auch als "Umerziehung" dar, weil christliche Kinder dort nach den Erkenntnissen
des Senats und nach der Lebenserfahrung gleichsam "rund um die Uhr" unter
indoktrinierender islamischer Bevormundung stehen (54., S. 7; 60., S. 6),
demzufolge die elementaren Möglichkeiten christlicher Religionsausübung nicht
haben und deshalb notwendigerweise ihren christlichen Glauben verlieren werden
(dahin neigend auch OVG Nordrhein-Westfalen, 19.10.1989 -- 14 A 10258/87 --).
Mit der -- asylrechtlich irrelevanten -- Situation christlicher Schüler während des
islamischen Religionsunterrichts (vgl. oben unter II. 2. a u. 5.) ist die Lage der in
Waisenhäusern untergebrachten christlichen Minderjährigen schon hinsichtlich des
zeitlichen Umfangs nicht vergleichbar, denn für letztere besteht überhaupt keine
Möglichkeit mehr -- auch nicht in der Familie und außerhalb des Schulunterrichts --
, im christlichen Glauben erzogen zu werden und aufzuwachsen. Erst recht haben
christliche Kinder dort, eben weil sogleich mit der Waisenhausaufnahme ihr
religiöses Existenzminimum angetastet wird, mehr zu ertragen als muslimische
Kinder, die ebenfalls ohne elterliche Betreuung in einem staatlichen türkischen
Waisenhaus großgezogen werden. Christliche Kinder werden in diesem Falle in
ähnlich einschneidender Weise betroffen, wie dies der früher für Asylsachen allein
zuständige 10. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs für afghanische
Kinder im Falle einer ihnen aufgezwungenen atheistischen und kommunistischen
Erziehung und Ausbildung in der Sowjetunion angenommen hat (Hess. VGH,
19.12.1985 -- 10 UE 1647/84 -- u. 03.06.1986 -- 10 OE 40/83 --; offengelassen von
BVerwG, 27.02.1987 -- 9 C 264.86 --, vgl. dazu jetzt auch BVerwG, 04.12.1990 -- 9
C 93.90 --). Der hiernach mit der Aufnähme in ein staatliches türkisches
Waisenhaus für syrisch-orthodoxe Kinder verbundene Eingriff in die Religionsfreiheit
94
Waisenhaus für syrisch-orthodoxe Kinder verbundene Eingriff in die Religionsfreiheit
ist dem türkischen Staat auch zuzurechnen. Zwar mag dieser asylrechtlich nicht
gehalten sein, die Einweisung christlicher Kinder in die bestehenden Einrichtungen
zu verhindern oder gar christliche Waisenhäuser zu errichten; auch wird der
türkische Staat nicht ohne weiteres in der Lage sein, muslimisches Eiferertum und
daraus resultierende Übergriffe gegenüber Christenkindern lückenlos abzustellen
(vgl. hierzu BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 -- a.a.O. u. -- 9 C 15.89 --). Eingriffe in
das religiöse Existenzminimum, seien sie nun unmittelbar oder nur mittelbar
staatlicher Art, sind dem türkischen Staat aber auch dann zurechenbar, wenn er
ihnen nicht entgegenwirkt, indem er beispielsweise präventive Vorkehrungen trifft,
um Übergriffe zu verhindern, und indem er, wenn solche Übergriffe gleichwohl
vorkommen, den Opfern Schutz gewährt und gegen pflichtwidrig Handelnde
Sanktionen verhängt (vgl. BVerwG, 22.04.1986 -- 9 C 318.85 u.a. --, BVerwGE 74,
160 = EZAR 202 Nr. 8; ferner BVerfG, 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, EZAR
203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254). Im Hinblick darauf, daß -- ähnlich wie bei allein in die
Türkei zurückkehrenden christlichen Frauen ohne verwandtschaftlichen
Anknüpfungspunkt -- effektiver Schutz im nachhinein praktisch kaum möglich ist,
weil nach im Waisenhaus erfolgter zwangsweiser Aufgabe des Glaubens das Kind
selbst keine Beschwerde führen wird und hierzu bereite Angehörige sich gerade
nicht in der Türkei befinden, muß der türkische Staat in besonderem Maße
präventiv tätig werden. Dies könnte dadurch geschehen, daß er durch Rechts-
und/oder Verwaltungsvorschriften -- etwa vergleichbar den zum Religionsunterricht
ergangenen -- sicherstellt, daß christliche Kinder, die in staatliche türkische
Waisenhäuser eingewiesen sind, dort von allen religiösen Übungen und
Handlungen islamischer Art freigestellt werden und ausreichenden Freiraum zum
Gebet und zum Gespräch mit Glaubensgenossen haben und daß sie insbesondere
ohne Angst vor gravierenden Nachteilen Kontakt zur syrisch-orthodoxen Kirche
halten und an kirchlichen Gottesdiensten in persönlicher Gemeinschaft mit
anderen Gläubigen ihrer Konfession teilnehmen können. Derartige Vorkehrungen
hat der türkische Staat ausweislich der dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen
bisher nicht getroffen; vielmehr nimmt er die christlichen Kinder in den von ihm
betriebenen Waisenhäusern widerfahrende Behandlung mindestens billigend in
Kauf. Dies im Rückkehrfall bis zum Eintritt seiner Volljährigkeit zu erdulden, könnte
dem Kläger zu 3) nicht abverlangt werden.
Auch hierbei handelte es sich um einen im Sinne der oben dargestellten
Rechtsprechung beachtlichen Nachfluchttatbestand, da diese Umstände ohne
eigenes Zutun des Klägers zu 3) eingetreten sind.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.