Urteil des HessVGH vom 19.02.1992

VGH Kassel: zustellung, einzelrichter, ausreise, quelle, zivilprozessrecht, verwaltungsrecht, immaterialgüterrecht, formvorschrift, verfügung, dokumentation

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 S 2798/91
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 32 Abs 2 Nr 3 AsylVfG, §
117 Abs 4 VwGO, § 138 Nr
6 VwGO, § 32 Abs 2 Nr 2
AsylVfG, § 516 ZPO
(Berufungszulassung wegen fehlender Urteilsgründe -
Überschreitung von fünf Monaten für Urteilsabfassung
durch einen Einzelrichter im Asylstreitverfahren)
Gründe
Die auf den asylrechtlichen Verfahrensteil beschränkte Beschwerde des Klägers ist
zulässig und begründet; denn die Berufung ist zuzulassen, weil das angegriffene
Urteil nicht mit Gründen versehen ist (§ 32 Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 6
VwGO).
Es kann dahinstehen, ob das angegriffene Urteil von der Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 1988 (- 9 C 5.88 -, EZAR 201 Nr. 14 =
NVwZ 1989, 68 = DVBl. 1988, 1027 = DÖV 1988, 1017 = VBlBW 1989, 135)
abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 32 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG); allerdings
bestehen gewichtige Bedenken gegen die Annahme, das Verwaltungsgericht habe
anders als das Bundesverwaltungsgericht und andere Gerichte in ständiger
Rechtsprechung für die Asylanerkennung lediglich auf den Zeitpunkt der Ausreise
des Klägers aus seinem Heimatland und nicht auf den Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung vom 4. Februar 1991 abgestellt. Es braucht auch nicht entschieden
zu werden, ob ein Zulassungsgrund darin zu sehen ist, daß das Verwaltungsgericht
der Beschwerdebegründung zufolge die Frage einer Gruppenverfolgung der Jeziden
in der Türkei nicht eingehend geprüft hat, obwohl dies nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts (10.11.1989 - 2 BvR 403/84 u. a. -, BVerfGE 81, 58
= EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254 = DVBl. 1990, 201 = InfAuslR 1990, 34)
erforderlich gewesen wäre; insoweit ist freilich anzumerken, daß die Abweichung
von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Berufungszulassung
nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG nicht rechtfertigt und die Verletzung der
verwaltungsgerichtlichen Aufklärungsverpflichtung nicht zu den nach § 32 Abs. 2
Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 VwGO für die Zulassung der Berufung in Betracht
kommenden schweren Verfahrensfehlern zählt.
Hierauf kommt es für die Beschwerdeentscheidung letztlich nicht an. Der Kläger
rügt nämlich zu Recht mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde auch, daß das
angegriffene Urteil nicht mit Gründen versehen ist (§ 32 Abs. 2 Nr. 3 AsylVfG i.V.m.
§ 138 Nr. 6 VwGO).
Der Kläger hat mit dem am 12. Dezember 1991 fristgerecht per Telefax
eingegangenen Schriftsatz vom 11. Dezember 1991 Berufung und
Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und die Statthaftigkeit der Berufung damit
begründet, zwischen Erlaß und Zustellung des Urteils seien über neun Monate
vergangen. Die rechtsirrtümlich eingelegte Berufung ist aber umgehend
zurückgenommen (Hess. VGH, 13.01.1992 - 12 UE 2790/91 -) und mit
Schriftsätzen vom 10. und 29. Januar 1992 klargestellt worden, daß sich das
Vorbringen im Zusammenhang mit der Einlegung der Berufung auch auf die
Nichtzulassungsbeschwerde beziehen sollte. Diese nachträgliche Verdeutlichung
entspricht im Blick auf die Formvorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG einer
sachgemäßen Auslegung des Inhalts des Schriftsatzes vom 11. Dezember 1991,
der trotz der auch durch die Schreibweise hervorgehobenen Trennung zwischen
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der trotz der auch durch die Schreibweise hervorgehobenen Trennung zwischen
Berufung und Beschwerde hinsichtlich der Begründung als Einheit angesehen
werden kann. Dies gilt sowohl für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde,
die gleichzeitig für das Berufungsverfahren von Bedeutung sein sollte, als auch für
die Ausführungen zur Einlegung der Berufung, die ersichtlich zumindest hilfsweise
auch der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde dienen sollten.
Das am 4. Februar 1991 beratene und verkündete Urteil des Verwaltungsgerichts
ist im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen, weil es erst über
neun Monate später unterzeichnet und den Beteiligten zugestellt worden ist. Ein
Urteil ist grundsätzlich im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen
versehen, wenn es nicht innerhalb von wenigstens fünf Monaten nach seiner
Verkündung vollständig abgefaßt und von den beteiligten Richtern unterschrieben
wurde (BVerwG, 03.08.1990 - 7 C 41 bis 43.89 -, NJW 1991, 310 = MDR 1991, 473
= Buchholz 310 § 138 Nr. 6 VwGO Nr. 21; BVerwG, 05.10.1990 - 4 CB 18.90 -,
BVerwGE 85, 273 = NJW 1991, 313 = DÖV 1991, 159 = NuR 1991, 123 = Buchholz
310 § 138 Nr. 6 VwGO Nr. 20; Hess. VGH, 05.03.1991 - 11 UE 885/89 -; jew.
m.w.N.). Im Rahmen der richterlichen Verpflichtung zur alsbaldigen vollständigen
Abfassung und Übergabe des Urteils an die Geschäftsstelle (§ 117 Abs. 4 VwGO)
ist auch nach Auffassung des beschließenden Senats grundsätzlich an die zeitliche
Grenze von fünf Monaten nach §§ 516, 552 ZPO anzuknüpfen. Abgesehen davon
ist das vorliegende Urteil jedenfalls deshalb als nicht mit Gründen versehen zu
behandeln, weil es im vorliegenden Verfahren um schwierige tatsächliche und
rechtliche Fragen ging (Gruppenverfolgung von Kurden und Jeziden in der Türkei,
Aktivitäten für die PKK, Nachfluchtgründe u. a.) und sich die Richterin, der der
Rechtsstreit gemäß § 31 AsylVfG als Einzelrichterin übertragen worden war, bei der
Abfassung des Urteils nach Ablauf von mehr als neun Monaten nicht der
Unterstützung anderer Richter wie im Falle einer Entscheidung durch die Kammer
bedienen konnte, um ihr Erinnerungsvermögen aufzufrischen.
Wie sich aus den Gerichtsakten ergibt, ist die Verhandlungsniederschrift über die
mündliche Verhandlung vom 4. Februar 1991 am 13. Februar 1991 zum
Schreibdienst gelangt und dort am 14. Februar 1991 gefertigt worden. Ein gemäß
§ 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO unterzeichneter Tenor ist nicht - auch nicht nach Ablauf
der Zwei-Wochen-Frist - zu den Akten gelangt. Am 11. Februar 1991 hat die
Einzelrichterin Wiedervorlage "sodann" verfügt und später am 18. Juli 1991 eine
Wiedervorlage zum 12. August 1991 ("präzise!"). Wo sich die Akten in der
Zwischenzeit befanden und wann sie der Richterin jeweils wieder vorgelegt wurden,
läßt sich anhand der Akten nicht feststellen. Eine Anfrage der Bevollmächtigten
des Klägers vom 5. September 1991 ist ohne weitere Verfügung in die Akten
eingeheftet und ein weiterer Schriftsatz vom 5. November 1991 "z.d.A."
genommen worden, ohne daß den Bevollmächtigten des Klägers ein Grund für die
Verzögerung bei der Abfassung und Zustellung des Urteils mitgeteilt wurde. Wie
sich den Akten weiter entnehmen läßt, hat die Einzelrichterin erst am 4. November
1991 den Entwurf des Urteils zum Schreibdienst gegeben, der dort am 5.
November 1991 eingegangen und am 6. November 1991 geschrieben worden ist.
Das Urteil wurde schließlich am 11. November 1991 zur Zustellung gegeben,
nachdem es am 8. November 1991 unterschrieben bei der Geschäftsstelle
eingegangen war. Gründe für diesen eindeutigen Verstoß gegen die Vorschriften
des § 117 Abs. 4 VwGO lassen sich den Gerichtsakten nicht entnehmen;
angesichts der Überschreitung der Fünf-Monats- Frist bedarf es insoweit auch
keiner Aufklärung, etwa durch Einholung dienstlicher Erklärungen der
Einzelrichterin, des Kammervorsitzenden und des Gerichtspräsidenten.
Das Verfahren wird hinsichtlich des asylrechtlichen Verfahrensteils gemäß § 32
Abs. 5 Satz 4 AsylVfG als Berufungsverfahren fortgesetzt, ohne daß es der
Einlegung einer Berufung bedarf.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.