Urteil des HessVGH vom 15.05.1996

VGH Kassel: aufschiebende wirkung, liegenschaft, gebäude, begriff, wohnraum, nutzungsänderung, wohnfläche, genehmigung, form, umbau

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 TG 3247/95
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 80a VwGO, § 10 Abs 2
BauGBMaßnG
(Feststellung der aufschiebenden Wirkung eines
Nachbarwiderspruchs gegen eine Baugenehmigung im
Eilverfahren; Vorhaben iSd BauGBMaßnG § 10 Abs 2 -
Wohnzweck)
Tatbestand
I.
Der Antragsteller begehrt in diesem Verfahren die Feststellung, daß sein
Widerspruch gegen die dem Beigeladenen für die Liegenschaft erteilte
Baugenehmigung Nr. B 93/2513 vom 22.11.1994 in der Fassung des
Ergänzungsbescheides vom 20.12.1995 für die im Ergänzungsbescheid als
"Umbau, Erweiterung und teilweise Nutzungsänderung eines Wohnhauses für
einen freiberuflich Tätigen" bezeichneten Baumaßnahmen aufschiebende Wirkung
hat. Das 1912 errichtete Gebäude ist in einer Gebäudebeschreibung aus
demselben Jahr als Wohnhaus bezeichnet; sie enthält genaue Angaben über die
Wohn- und Wohnnebennutzungen von Keller, Parterre, 1. Stock und Dachstock.
Auf die Anfrage des Antragstellers vom 07.06.1995, ob dem Widerspruch
aufschiebende Wirkung zukomme, hat die Antragsgegnerin unter dem 14.06.1995
mitgeteilt, der Widerspruch entfalte gemäß § 10 Abs. 2 des Maßnahmengesetzes
zum Baugesetzbuch - BauGBMaßnG - keine aufschiebende Wirkung, so daß die
Baugenehmigung vollzogen werden dürfe.
Am 28.06.1995 hat der Antragsteller einen Eilantrag gestellt.
Mit Beschluß vom 16.08.1995 hat das Verwaltungsgericht festgestellt, daß der
Widerspruch des Antragstellers gegen die Baugenehmigung aufschiebende
Wirkung hat, weil kein Fall des § 10 Abs. 2 Satz 1 BauGBMaßnG vorliege. Zwar
diene das Gesamtvorhaben überwiegend dem Wohnen, jedoch werde im größeren
Umfang bestehender Wohnraum dem Wohnen entzogen als neuer Wohnraum
geschaffen. § 10 Abs. 2 BauGBMaßnG könne aber nur Anwendung finden, wenn
zusätzlicher Wohnraum geschaffen werde.
Gegen den Beschluß haben die Bevollmächtigten des Beigeladenen rechtzeitig
Beschwerde eingelegt, der das Verwaltungsgericht nicht abgeholfen hat.
Nach ihrer Auffassung werde das Gebäude nach dem Umbau einen größeren
Bestand an Wohnfläche aufweisen als davor.
Der Beigeladene beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er vertritt die Auffassung, daß es sich bei der vorgesehenen Größe der
Betriebsräume nicht mehr um eine nach § 13 BauNVO begünstigte freiberufliche
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Betriebsräume nicht mehr um eine nach § 13 BauNVO begünstigte freiberufliche
Nutzung handele.
Die Bauantragsakte B 93/2513 liegt vor und war Gegenstand der Beratung.
Entscheidungsgründe
II.
Vorab wird zur Klarstellung darauf hingewiesen, daß die weiteren Miteigentümer
der Liegenschaft deren Antrag durch den angefochtenen Beschluß abgelehnt
worden ist, Beschwerde nicht eingelegt haben. Zu diesem Hinweis besteht im
Hinblick auf die Ausführungen zur Kostenentscheidung unter Ziffer 4 der
Beschwerdeerwiderung vom 08.10.1995 Veranlassung.
Die Beschwerde des Beigeladenen ist zulässig, insbesondere form- und
fristgerecht erhoben (§§ 146, 147 VwGO). Sie ist jedoch nicht begründet.
Das Verwaltungsgericht hat den Feststellungsantrag zu Recht als zulässig
angesehen und dem Antragsteller im Beschlußverfahren nach § 80 a Abs. 3 i.V.m.
§ 80 Abs. 5 VwGO in entsprechender Anwendung Rechtsschutz gewährt. Auch eine
Feststellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs kann nach § 80 a
Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Betracht kommen, wenn zwischen den
Beteiligten Streit über die sofortige Vollziehbarkeit besteht (Hess. VGH, B. v.
03.06.1992 - 4 TG 2428/91 - HessVGRspr. 1993, 33 = UPR 1993, 69; Kopp,
Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 10. Aufl., § 80 a Rdnr. 17 a; Redeker/von
Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 11. Aufl., § 80 a Anm. 4). Hier
ergibt sich das Rechtsschutzbedürfnis aus der von der Antragsgegnerin sowohl
gegenüber dem Antragsteller wie dem Beigeladenen vertretenen Auffassung, daß
die Baugenehmigung trotz des Widerspruchs vollzogen werden darf. Daß die
Antragsgegnerin gegen die vom Beigeladenen angefochtene dem Antragsteller
günstige Entscheidung selbst kein Rechtsmittel eingelegt hat, beseitigt das
Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers nicht.
Der Antrag ist auch begründet. Der Widerspruch des Antragstellers gegen das
genehmigte durch den Ergänzungsbescheid modifizierte Vorhaben, das nach der
Erklärung des Beigeladenen im Beschwerdeverfahren nur in der geänderten Form
ausgeführt werden soll, hat aufschiebende Wirkung, weil kein Fall des § 10 Abs. 2
Satz 1 BauGBMaßnG vorliegt. Nach dieser Vorschrift hat der Widerspruch eines
Dritten gegen die bauaufsichtliche Genehmigung eines Vorhabens, das
überwiegend Wohnzwecken dient, aufschiebende Wirkung. Maßgeblich für den
Begriff des Vorhabens im Sinne des § 10 Abs. 2 BauGBMaßnG, ist der in § 29
BauGB definierte Begriff mit seiner Verweisung auf das Bauordnungsrecht, hier §
62 HBO, nämlich die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von baulichen
Anlagen, die einer bauaufsichtlichen Genehmigung bedürfen. Ein davon
abweichender Begriff im Sinne eines Gesamtvorhabens, das im Fall der teilweisen
Änderung der Nutzung in einem bestehenden Gebäude den Gebäudebestand
umfassen soll, und zwar auch soweit, als er nicht Gegenstand der
Baugenehmigung ist, findet - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts -
keine Anwendung. Eine derartige Auslegung kann auch nicht - losgelöst vom
Wortlaut des § 10 Abs. 2 BauGBMaßnG - aus der Zielsetzung des Gesetzes
abgeleitet werden, einem dringenden Wohnbedarf der Bevölkerung besonders
Rechnung zu tragen (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 BauGBMaßnG). Der Anteil des
Wohnraums an der Nutzung des Gebäudes insgesamt ist keine Frage der
Anwendbarkeit des § 10 Abs. 2 BauGBMaßnG, sondern unter Umständen ein die
bau- oder wohnraumrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens betreffendes Merkmal.
§ 10 Abs. 2 BauGBMaßnG findet danach jedenfalls dann Anwendung, wenn die
Wohnnutzung innerhalb des streitgegenständlichen Vorhabens gegenüber der
freiberuflichen bzw. gewerblichen Nutzung unter Berücksichtigung der der
jeweiligen Hauptnutzung zugeordneten Nebennutzflächen, Funktionsflächen und
Verkehrsflächen überwiegt (vgl. Bielenberg in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, §
10 BauGBMaßnG Rdnr. 3; Neuhausen, BauGBMaßnG, Erläuterte Textausgabe, 3.
Aufl., Rdnr. 304, jeweils unter Bezugnahme auf die Begründung zum
Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12, 3944, S. 45 f. zu Buchst. h). Das ist hier nicht der
Fall. Die Antragsgegnerin hat im Beschwerdeverfahren für die Liegenschaft eine
fachbehördliche Berechnung vom 11.03.1996 der Nutzungsflächen, die der
Wohnnutzung und der Büronutzung zugeordnet sind, vorgelegt. Die Behörde hat
ihrer Gliederung der Netto-Grundfläche zutreffend die DIN 277 Teil 1 und 2,
Ausgabe Juni 1987 zugrundegelegt und die Baugenehmigung vom 22.11.1994
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Ausgabe Juni 1987 zugrundegelegt und die Baugenehmigung vom 22.11.1994
sowie den Ergänzungsbescheid vom 20.12.1995 berücksichtigt. Nach dieser
Berechnung sind im Keller- und Erdgeschoß insgesamt 153,48 qm Bürofläche
(Hauptnutzungsfläche, Nebennutzungsfläche und Verkehrsfläche) vorgesehen.
Demgegenüber sollen lediglich 100,66 qm Wohnfläche (3 qm Windfang im
Erdgeschoß, 33,07 qm im 1. Obergeschoß, 33,7 qm (2 Wintergärten und die Hälfte
der Terrassenfläche) im 2. Obergeschoß, 30,89 qm (privates Arbeitszimmer und
Bad) im Dachgeschoß) neu geschaffen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren bemißt sich nach
der Bedeutung der Sache für den Beigeladenen (§§ 13 Abs. 1, 14 in
entsprechender Anwendung, 20 Abs. 3 und 25 Abs. 1 GKG). Das
Verwaltungsgericht hat das Interesse des Antragstellers am Eilverfahren
zutreffend mit 4.000,-- DM bewertet. Für die zweite Instanz bemißt sich der Wert
des Streitgegenstandes auch nach der Bedeutung der Sache für den
Beigeladenen als Beschwerdeführer. Obwohl das Interesse des Beigeladenen
höher sein mag, wird der Streitwert durch die Festsetzung für die erste Instanz
nach oben begrenzt (§ 14 Abs. 2 Satz 1 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.