Urteil des HessVGH vom 11.06.1996
VGH Kassel: eltern, unterhaltspflicht, berufsausbildung, berufswechsel, erfüllung, dokumentation, vollstreckbarkeit, fachhochschule, arbeitslosigkeit, beendigung
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
9. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 UE 1985/95
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 11 Abs 3 S 1 Nr 5 BAföG
(Elternunabhängige Ausbildungsförderung - Erfüllung der
Unterhaltspflicht - Neigungswandel des Auszubildenden)
Tatbestand
Der Kläger erstrebt die gerichtliche Verpflichtung des Beklagten, ihm für sein
Studium in der Zeit von März bis Juli 1990 Ausbildungsförderung ohne Anrechnung
des Einkommens seiner Eltern zu bewilligen.
Mit der Fachhochschulreife (Durchschnittsnote 3,5) verließ der Kläger im Juni 1987
das Fachgymnasium Wirtschaft und absolvierte in der Zeit von August 1987 bis
Juni 1989 eine Berufsausbildung zum Versicherungskaufmann. Aus dem
Prüfungsergebnis ergibt sich die Durchschnittsnote "befriedigend". Nach dieser
Berufsausbildung war der Kläger zunächst einige Monate arbeitslos, arbeitete dann
einige Monate als Auslieferungsfahrer und nahm schließlich - nach einigen Wochen
der Arbeitslosigkeit - im März 1990 das Studium in dem Studiengang Verfahrens-
und Umwelttechnik an der Fachhochschule Offenburg auf.
Bei dem zuständigen Studentenwerk Freiburg beantragte er im März 1990
Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Im
Laufe des Antragsverfahrens erklärte er, er beantrage, die Ausbildungsförderung
gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BAföG ohne Anrechnung des Einkommens seiner
Eltern zu gewähren. Zu seinem Ausbildungsgang gab er unter anderem an: Ein
Berufswechsel sei notwendig gewesen. Die theoretische Ausbildung zum
Versicherungskaufmann sowie der praktische Einsatz während der Ausbildungszeit
in den einzelnen Abteilungen des Unternehmens hätten nicht den Vorstellungen
entsprochen, die er in diese Ausbildung gesetzt habe. Er habe sich ungefähr ein
Jahr vor der Beendigung seiner Ausbildung zu einer weiteren Ausbildung
entschlossen. Wegen dieses Entschlusses habe er eine Verkürzung der
Ausbildungszeit beantragt, was auch genehmigt worden sei. Den Antrag auf
Verkürzung seiner Ausbildung sowie seine Entscheidung zu einer weiteren
Ausbildung in Form eines Studiums habe er seinen Eltern zum Zeitpunkt des
Antrags auf Verkürzung mitgeteilt.
Der Vater des Klägers gab auf entsprechende Fragen des Amtes für
Ausbildungsförderung Antworten, die denen seines Sohnes entsprachen.
Mit Bescheid vom 29. August 1990 lehnte das Studentenwerk Freiburg die
Gewährung von Ausbildungsförderung mit der Begründung ab, die
Voraussetzungen für eine sogenannte elternunabhängige Förderung lägen nicht
vor. Die Eltern hätten ihre Unterhaltspflicht gegenüber dem Kläger noch nicht
erfüllt, weil bei ihm nach seinem Vorbringen ein Berufswechsel notwendig gewesen
sei. Das somit anzurechnende Einkommen der Eltern des Klägers übersteige den
förderungsrechtlichen Bedarf.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 4. September 1990 Widerspruch ein,
den das Regierungspräsidium Stuttgart - Landesamt für Ausbildungsförderung -
mit Widerspruchsbescheid vom 9. Oktober 1990 zurückwies.
Daraufhin hat der Kläger am 30. Oktober 1990 bei dem Verwaltungsgericht
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Daraufhin hat der Kläger am 30. Oktober 1990 bei dem Verwaltungsgericht
Freiburg Klage gegen das Studentenwerk Freiburg erhoben. Im Laufe des
Klageverfahrens hat er die Klage dahin geändert, daß er sie gegen das
Studentenwerk Kassel, den jetzigen Beklagten, gerichtet hat. Denn ab dem
Wintersemester 1990/91 studierte er an der Gesamthochschule Kassel.
Infolgedessen wurde nunmehr das Studentenwerk Kassel nach § 45a BAföG
zuständige Bewilligungsbehörde. Der frühere und der neue Beklagte haben in die
Klageänderung eingewilligt. Das Verwaltungsgericht Freiburg hat den Rechtsstreit
an das Verwaltungsgericht Kassel verwiesen.
Der Kläger hat geltend gemacht: Vor der Ausbildung zum Versicherungskaufmann
habe er sich vom Arbeitsamt beraten lassen. Seine Eltern hätten ihn nicht gegen
seinen Willen in diesen Beruf gedrängt. Das spätere Studium habe er nicht von
vornherein angestrebt, sondern sich erst im nachhinein dazu entschlossen.
Der Kläger hat sinngemäß beantragt,
den Bescheid des Studentenwerks Freiburg vom 29. August 1990 sowie den
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 9. Oktober 1990
aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm für sein Studium von März bis
Juli 1990 Ausbildungsförderung ohne Berücksichtigung des Einkommens seiner
Eltern zu bewilligen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Auch er hat seinen Antrag begründet.
Mit Gerichtsbescheid vom 3. Mai 1995 hat das Verwaltungsgericht die Klage
abgewiesen. Zur Begründung hat es näher ausgeführt, der Kläger habe keinen
Anspruch auf sogenannte elternunabhängige Ausbildungsförderung, weil seine
Eltern mit der Gewährung von Unterhalt für die Ausbildung zum
Versicherungskaufmann ihre Unterhaltspflicht noch nicht erfüllt hätten.
Gegen diesen Gerichtsbescheid, der ihm am 15. Mai 1995 zugestellt worden ist,
hat der Kläger am 9. Juni 1995 Berufung eingelegt. Er macht unter anderem
geltend: Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts hätten seine Eltern ihm
gegenüber ihre Unterhaltspflicht dadurch erfüllt, daß sie ihm die Berufsausbildung
zum Versicherungskaufmann ermöglicht hätten. Diese Berufsausbildung habe
durchaus seiner schulischen Vorbildung entsprochen. Es habe keine deutliche
Fehleinschätzung seiner Begabung und Fähigkeiten vorgelegen. Das
Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß vor dem Beginn
seiner Ausbildung zum Versicherungskaufmann Zweifel über die Richtigkeit dieses
Wegs bestanden hätten.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Kassel vom 3. Mai 1995 - 5 E
443/91 (2) -, den Bescheid des Studentenwerks Freiburg vom 29. August 1990
sowie den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 9.
Oktober 1990 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm für sein Studium
in der Zeit von März bis Juli 1990 Ausbildungsförderung nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz ohne Anrechnung des Einkommens seiner
Eltern zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er begründet ebenfalls seinen Antrag.
Beide Beteiligten haben ihr Einverständnis erklärt, daß ohne mündliche
Verhandlung über die Berufung entschieden wird.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen
auf die Schriftsätze der Beteiligten, den angefochtenen Gerichtsbescheid und den
Inhalt der beigezogenen Behördenakten des Amtes für Ausbildungsförderung und
des Regierungspräsidiums Stuttgart (jeweils ein Heft).
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet; denn das
Verwaltungsgericht hat die zulässige Klage zu Recht als unbegründet angesehen
und abgewiesen.
Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, daß bei der Berechnung der
Ausbildungsförderung das Einkommen seiner Eltern außer Betracht bleibt. Wie die
Ämter für Ausbildungsförderung und das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt
haben, ist der Tatbestand des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes - in der Fassung der Bekanntmachung
vom 6. Juni 1983 (BGBl. I S. 645), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Juni 1988
(BGBl. I S. 829) - nicht erfüllt. Denn die Eltern hatten dem Kläger gegenüber ihre
Unterhaltspflicht noch nicht erfüllt, als er im März 1990 das Studium aufnahm.
Ob die Eltern ihre Unterhaltspflicht erfüllt haben, ist nach § 1610 Abs. 2 des
Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zu beurteilen. Nach dieser Vorschrift umfaßt der
Unterhalt die Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf. Dazu hat
der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, welcher der Senat folgt, die
Ansicht vertreten, daß nur eine solche Berufsausbildung angemessen ist, die der
Begabung, den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten
Neigungen des Auszubildenden entspricht (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.
Mai 1993 - XII ZR 18/92 -, FamRZ 1993, 1057).
Bei dem Kläger hat sich im Laufe seiner Ausbildung zum Versicherungskaufmann
herausgestellt, daß die theoretische Ausbildung und der praktische Einsatz
während der Ausbildungszeit nicht seinen Vorstellungen entsprachen, ihn nicht
befriedigten. Deshalb entschloß er sich etwa ein Jahr vor dem regulären Ende der
Berufsausbildung, die Verkürzung der Ausbildungszeit zu beantragen und nach
dieser Ausbildung ein Studium aufzunehmen. Dies ergibt sich aus den glaubhaften
Angaben des Klägers und seines Vaters gegenüber dem Studentenwerk Freiburg
in den Schreiben vom 17. April und 14. Mai 1990 (Blätter 25 und 26 der
Behördenakte des Amtes für Ausbildungsförderung).
Damit hat sich vor dem Ende der ersten Berufsausbildung herausgestellt, daß
diese nicht den Neigungen des Klägers entsprach, und zwar in einem solchen
Maße, daß eine weitere Ausbildung notwendig erschien. Die Neigungen des Klägers
und der im Laufe der Ausbildung zu Tage getretene Widerspruch der Ausbildung zu
diesen Neigungen sind auch als beachtenswert für die Unterhaltspflicht der Eltern
anzusehen. Dafür spricht, daß sie von den Eltern anerkannt worden sind und die
Eltern sowohl die Entscheidung des Klägers für die erste Ausbildung als auch
dessen Entscheidung, diese Ausbildung trotz des Widerspruchs zu seinen
Neigungen abzuschließen, mitgetragen haben. Diese Einstellung der Eltern ergibt
sich ebenfalls aus den Angaben des Klägers und des Vaters in den Schreiben vom
17. April und 14. Mai 1990.
Zwar fällt dieser Sachverhalt nicht unter die Ausnahmetatbestände, die der
Bundesgerichtshof in seiner grundlegenden Entscheidung vom 29. Juni 1977 - IV
ZR 48/76 - (BGHZ 69, 190) für ein Fortbestehen der Unterhaltspflicht nach einer
ersten Ausbildung genannt hat. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist
aber anerkannt, daß die in dieser Entscheidung genannten Ausnahmen
keineswegs als abschließender, andere Fallgruppen ausschließender Katalog zu
verstehen sind (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 6. Februar 1991 - XII ZR 56/90 -,
FamRZ 1991, 931, 932). Dem in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
anerkannten Ausnahmefall, daß sich bis zum Ende der ersten Ausbildung
Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die erste Ausbildung auf einer deutlichen
Fehleinschätzung der Begabung des Kindes beruhte (Bundesgerichtshof, Urteil
vom 6. Februar 1991, a. a. O.), ist der Fall gleichzustellen, daß sich - wie hier - bis
zum Ende der ersten Ausbildung herausstellt, daß die Ausbildung und der mit ihr
angestrebte Beruf den beachtenswerten Neigungen des Auszubildenden in einem
solchen Maße widersprechen, daß eine weitere Ausbildung notwendig erscheint.
Diese Gleichstellung der Fallgruppen ist deshalb geboten, weil in der ständigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Begabung und den beachtenswerten
Neigungen des Kindes gleiches Gewicht beigemessen wird.
Da die Ausbildung zum Versicherungskaufmann aufgrund des im Laufe der
Ausbildung hervorgetretenen Widerspruchs zu den beachtenswerten Neigungen
des Klägers keine angemessene Vorbildung zu einem Beruf im Sinne von § 1610
Abs. 2 BGB war, waren die Eltern des Klägers verpflichtet, im Rahmen ihrer
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit das Studium zu finanzieren. Daß die Eltern dazu
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wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit das Studium zu finanzieren. Daß die Eltern dazu
wirtschaftlich in der Lage waren, hat das Verwaltungsgericht bereits zutreffend
ausgeführt.
Bei diesem Ergebnis kommt es nicht mehr darauf an, ob die Unterhaltspflicht der
Eltern auch nach den Grundsätzen, die der Bundesgerichtshof für die sogenannten
Abitur-Lehre-Studium-Fälle aufgestellt hat (vgl. Urteil vom 7. Juni 1989 - IVb ZR
51/88 -, BGHZ 107, 376) fortbestand. Diese Grundsätze sind zwar auch auf den
Fall des Erwerbs der Fachhochschulreife anzuwenden. Doch stand das Studium
des Klägers im Studiengang Verfahrens- und Umwelttechnik mit seiner
Berufsausbildung zum Versicherungskaufmann nicht in engem sachlichen
Zusammenhang im Sinne dieser Grundsätze.
Da der Kläger mit seiner Berufung keinen Erfolg hat, hat er nach § 154 Abs. 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) die Kosten des Berufungsverfahrens zu
tragen. Nach § 188 Satz 2 VwGO werden in Verfahren aus dem Gebiet der
Ausbildungsförderung Gerichtskosten nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V.
m. § 708 Nr. 10 und § 711 der Zivilprozeßordnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund im Sinne von § 132
Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gegeben ist. Eine grundsätzliche Bedeutung der
Rechtssache scheidet schon deshalb aus, weil die Vorschrift des § 11 Abs. 3 Satz 1
Nr. 5 BAföG auslaufendes Recht ist, wie § 11 Abs. 3 Satz 3 BAföG in der
gegenwärtig geltenden Fassung ergibt.
Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten kann der Senat ohne mündliche
Verhandlung über die Berufung entscheiden.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.