Urteil des HessVGH vom 17.10.1988

VGH Kassel: politische verfolgung, ausreise, religionsunterricht, bevölkerung, staatsangehörigkeit, militärdienst, polizei, rechtskräftiges urteil, anerkennung, bundesamt

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 2497/85
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16 Abs 2 S 2 GG, § 1
Abs 1 AsylVfG, § 4 Abs 1
AsylVfG
(Zur Verfolgung christlicher Minderheiten in der Türkei -
syrisch-orthodoxe Christen)
Tatbestand
Der am 1. Januar 1962 - laut Paß und Nüfus in Istanbul - geborene Kläger ist
syrisch-orthodoxen Glaubens. Er reiste am 6. Mai 1980 zusammen mit seiner
Mutter L. P. aus der Türkei aus und - mit dem Flugzeug aus Istanbul kommend -
über Frankfurt am Main in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er war im Besitz
eines am 10. April 1980 in Istanbul ausgestellten und für ein Jahr gültigen
türkischen Nationalpasses; nach der darin enthaltenen Nüfuseintragung ist der
Kläger in dem Dorf M. in der Provinz Mardin registriert. Laut seinem am 19.
Februar 1980 in Istanbul ausgestellten Nüfus stammt der Kläger aus dem Dorf
Yalim in der Provinz Mardin und ist christlicher Religionszugehörigkeit. Eine
Verlängerung der Gültigkeitsdauer des Nationalpasses lehnte das türkische
Generalkonsulat in Frankfurt am Main unter Hinweis auf den vom Kläger noch nicht
geleisteten Militärdienst ab.
Der Vater des Klägers ist im Jahre 1979 in Istanbul verstorben. Der Mutter des
Klägers wurde durch Beschluß des türkischen Ministerrats vom 7. Dezember 1969
die türkische Staatsangehörigkeit entzogen, weil sie ohne Erlaubnis durch eigenen
Willen die syrische Staatsangehörigkeit erworben habe. Sie hatte sich ihren
Angaben zufolge 1967/68 besuchsweise bei Verwandten in A., Bezirk H. (Syrien),
aufgehalten und ein ihr von einem Soldaten vorgelegtes Schriftstück in Unkenntnis
des Inhalts unterzeichnet. Nach Mitteilung syrischer Behörden ist indessen eine
syrische Staatsangehörige mit dem Namen der Mutter des Klägers in A. nicht
ausfindig zu machen. Unabhängig hiervon verfügte die Mutter des Klägers bei ihrer
Ausreise aus der Türkei und bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland
über einen am 15. April 1980 in Istanbul ausgestellten türkischen Nationalpaß. Den
von ihr gestellten Asylantrag hat das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge abschlägig beschieden; ihre hiergegen erhobene Klage
wies das Verwaltungsgericht Kassel durch rechtskräftiges Urteil vom 26. Mai 1988 -
II/3 E 8025/85 - ab. Von den insgesamt sieben Geschwistern des Klägers sind noch
sechs am Leben; sein ältester Bruder Y. kam - nach Angaben des Klägers - am 15.
Januar 1960 im Alter von 13 Jahren bei einem Überfall ums Leben. Die am 1.
Februar 1954 geborene Schwester J. - jetzt verheiratete C. - und ein am 1. Februar
1960 geborener Bruder - ebenfalls namens Y. - reisten bereits am 24. August 1979
in die Bundesrepublik Deutschland ein. J. C. ist bestandskräftig als Asylberechtigte
anerkannt (VG Kassel IV/1 E 8140/83); das Asylverfahren von Y. P. ist noch beim
Hessischen Verwaltungsgerichtshof rechtshängig (12 UE 2813/86). Die am 1.
Januar 1957 geborene Schwester M. kam am 16. Dezember 1979 ins
Bundesgebiet; ihr Asylverfahren schwebt ebenfalls noch in zweiter Instanz (Hess.
VGH 12 UE 2487/85). Der am 1. Februar 1964 geborene Bruder B. des Klägers
reiste nach eigenen Angaben etwa drei Wochen später als der Kläger und dessen
Mutter ein, den Angaben des Klägers zufolge mit diesem zusammen, nach
Angaben des jüngsten Bruders Z. jedoch zwei Monate und nach Angaben der
Mutter gar drei Monate später; laut Anmeldebestätigung des Magistrats der Stadt
Bebra vom 25. August 1980 zog er am 23. Mai 1980 in die Wohnung seines
Bruders Y. ein; B. P. ist rechtskräftig als Asylberechtigter anerkannt (VG Kassel I/1
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Bruders Y. ein; B. P. ist rechtskräftig als Asylberechtigter anerkannt (VG Kassel I/1
E 8336/83). Der am 1. September 1968 geborene Bruder Z. schließlich gelangte
wiederum einige Zeit danach ins Bundesgebiet; sein Asylantrag ist rechtskräftig
abgelehnt (VG Kassel I/1 E 8337/83).
Bereits am 22. Mai 1980 hatte der Kläger bei der Ausländerbehörde Asyl
beantragt. In der bei dieser Gelegenheit gefertigten Niederschrift zu seinem
Asylbegehren, die ihm in türkischer Sprache vorgelesen und von ihm
unterschrieben wurde, ist als Geburtsort Istanbul, als Staatsangehörigkeit die
türkische und als letzte Anschrift im Heimat-/Herkunftsland "Ümran. M.A.H.
Tan.AP. 30/15, Yesilköy/Istanbul" angegeben. Zur Begründung legte der Kläger ein
in deutscher Sprache abgefaßtes und von ihm sowie seiner Mutter und seinem
Bruder B. unterzeichnetes Schreiben vom selben Tage vor, in dem es heißt: Sie
gehörten einer christlichen Minderheitsgemeinde im kurdischen Gebiet der
Südosttürkei an. Seine Eltern und zwei seiner Geschwister hätten in dem drei
Kilometer von Mardin entfernten Dorf M. gelebt. Am 15. Januar 1960 seien sie von
einer kurdischen Gruppe überfallen worden; dabei sei sein damals 13jähriger
Bruder umgekommen; sein Vater sei erheblich zusammengeschlagen worden.
Kurze Zeit später hätten sie das Dorf verlassen und seien nach Istanbul gezogen.
Dort sei sein Vater 1979 an den von dem Überfall herrührenden Verletzungen
gestorben. Nun habe auch er, der Kläger, mit seiner Mutter und seinem Bruder B.
wegen Unterdrückung und Morddrohungen die Türkei verlassen. Seinen Bruder Z.
hätten sie in Istanbul in einem Kloster in Sicherheit bringen müssen, weil ihm keine
Ausreisegenehmigung erteilt worden sei. Zur Niederschrift der Ausländerbehörde
gab der Kläger weiter an, er habe keinen Beruf erlernt und sei vor seiner Ausreise
als nichtselbständiger Goldschmied tätig gewesen.
In seiner polizeilichen Anmeldung vom 25. August 1980 ließ der Kläger als
bisherige Wohnung die Straße bzw. den Platz I. Nr. 30 in der Gemeinde Y., Kreis
Istanbul, angeben.
Anläßlich seiner Anhörung im Rahmen der Vorprüfung durch das Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg am 21. August 1981
bestätigte der Kläger seine bisherigen Angaben zu Geburtsort und
Staatsangehörigkeit und ergänzte sein Vorbringen im übrigen wie folgt: Er habe
von 1971 bis 1976 die Grundschule in Istanbul besucht. Während dieser Zeit sei er
benachteiligt worden und habe seine Rechte nicht wahrnehmen können. Später sei
er als Goldschmied angelernt worden und als solcher berufstätig gewesen. Im
Dezember 1978 hätten ihn vier ihm unbekannte Personen auf der Straße
zusammengeschlagen; hierbei sei er am Unterschenkel verletzt worden. Anzeige
bei der Polizei habe er nicht erstattet, weil er die Täter nicht gekannt habe. Im
Herbst 1979 sei dann sein Vater an den Folgen eines Unfalls verstorben. Eine
Woche vor der Ausreise seiner Schwester M. sei er, der Kläger, mit dem Zug
gefahren; als er Fanatiker bemerkt habe, die andere Passagiere nach ihrer
politischen Einstellung befragt hätten, sei er aus Angst aus dem fahrenden Zug
gesprungen. Im Februar 1980 sei er von vier Personen als "schmutziger Christ"
beschimpft und geschlagen worden, nachdem er diese - sie hätten zuvor eine
Verkäuferin von Marienbildern beleidigt - zur Rede gestellt hatte; zur Polizei sei er
deswegen nicht gegangen, weil er von ihr sowieso keine Hilfe hätte erwarten
können. Auch ansonsten habe er mehrmals Beleidigungen hinnehmen müssen,
ohne dagegen etwas unternehmen zu können; dies sei auch der Grund für seine
Ausreise gewesen. Mit seinem Bruder Y. oder mit seiner Schwester M. zusammen
habe er noch nicht ausreisen können, da er seinerzeit noch keinen Paß gehabt
habe. Wäre er länger in der Türkei geblieben, so hätte man ihn sicherlich zum
Militärdienst einberufen; er sei indessen nicht gewillt, einer Einberufung Folge zu
leisten, weil - soweit er gehört habe - viele Christen beim Militär körperlich
mißhandelt worden seien und dabei Verletzungen davongetragen hätten; so habe
etwa ein Cousin während der Militärdienstzeit durch Schläge ein Auge verloren.
Mit Bescheid vom 31. Januar 1983 - ausgehändigt am 17. Februar 1983 - lehnte
das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag des
Klägers ab. Zur Begründung wurde ausgeführt: Es sei nicht ersichtlich, daß
Christen in der Türkei allgemein in asylerheblicher Weise verfolgt würden und daß
im vorliegenden Fall für die Ausreise eine asylerhebliche Verfolgung ursächlich
gewesen sei oder daß bei einer Rückkehr in die Türkei mit derartigen
Verfolgungsmaßnahmen gerechnet werden müsse. Weder gebe es in der Türkei
eine gezielte staatliche Verfolgung von Angehörigen der christlichen Minderheit,
noch könne von einer generellen Duldung, Untätigkeit oder gar Unterstützung des
türkischen Staates bei Übergriffen Dritter die Rede sein, wenngleich die türkische
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türkischen Staates bei Übergriffen Dritter die Rede sein, wenngleich die türkische
Regierung nicht in jedem Einzelfall die Sicherheit des einzelnen garantieren könne.
Im übrigen sei festzustellen, daß sich die Sicherheitssituation der Christen wie
auch der übrigen Bevölkerung allgemein nach der Machtübernahme des Militärs
am 12. September 1980 erheblich verbessert habe. Es sei auch nicht
überzeugend dargelegt worden, daß bei den geschilderten Übergriffen die
Religionszugehörigkeit von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sei und daß
gezielt - insbesondere trotz Bemühungen selbst bei übergeordneten Behörden -
staatlicher Schutz verweigert worden sei. Es fehlten schließlich personenbezogene
Anhaltspunkte dafür, daß Istanbul nicht weiterhin als inländische Fluchtalternative
in Anspruch genommen werden könne. Auch könne der Behauptung des Klägers
nicht gefolgt werden, er müsse während des Militärdienstes wegen seiner
Religionszugehörigkeit erhebliche Beeinträchtigungen hinnehmen. Denn Christen
könnten die Ausbildung zum Reserveoffizier durchlaufen, und es sei auch nicht
anzunehmen, daß schwerwiegende Übergriffe durch "Kameraden" von den
verantwortlichen militärischen Stellen tatenlos hingenommen würden.
Mit Schriftsatz vom 24. Februar 1983, der am folgenden Tage einging, erhob der
Kläger hiergegen Klage.
Zur Begründung bezog er sich auf sein bisheriges Vorbringen und machte weiter
geltend: Er sei nicht in Istanbul, sondern in M. geboren. Wie die anderslautende
Angabe in die Niederschrift vom 22. Mai 1980 gelangt sei, könne er nicht erklären.
Erst nach seiner Geburt sei die Familie nach Istanbul gezogen, und zwar wegen
des Überfalls, bei welchem sein Vater erheblich verletzt worden sei. Außerdem
hätten ihm türkische Behördenbedienstete bei der Ausreise erklärt, daß er nicht
türkischer Staatsangehöriger sei; dies werde durch die Entlassung seiner Mutter
aus der türkischen Staatsangehörigkeit bestätigt, die sich u.a. auch auf ihn
erstrecke und die ihren Grund nur in der Tatsache finden könne, daß die Familie
christlichen Glaubens sei. Seine Mutter habe die Entlassung nicht etwa selbst
betrieben, sondern hiervon erstmals erfahren, als sein Bruder Z. im Jahre 1968
geboren worden sei und habe angemeldet werden sollen. Infolge seiner
Staatenlosigkeit, der die Ausstellung des türkischen Nationalpasses nicht
entgegenstehe, genieße er, der Kläger, nirgendwo Schutz. Gleichwohl sei nicht
auszuschließen, daß er zum Militärdienst herangezogen würde. In Istanbul habe er
ständig Nachteile als Christ gehabt. Er sei von Teilen der muslimischen
Bevölkerung häufig beschimpft worden, weil er ein Kreuz am Hals zu tragen pflege.
Bemühungen um Arbeitsstellen seien ohne Erfolg geblieben, weil er Christ sei.
Etwa sieben bis acht Monate vor der Ausreise sei er einmal grundlos von der
Polizei mit auf die Wache genommen und dort ebenfalls als Christ beschimpft und
geschlagen worden.
Bei seiner informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem
Verwaltungsgericht am 26. September 1985 erklärte der Kläger: In der Schule
habe er zunächst am muslimischen Religionsunterricht teilgenommen. Als er
schließlich ferngeblieben sei, habe der Lehrer ihn beschimpft und geschlagen, so
daß er in der Folgezeit oft Angst vor der Schule gehabt habe. Er sei auch immer
wieder gezwungen worden, am Religionsunterricht teilzunehmen. Später sei es
sehr schwierig für ihn gewesen, eine Arbeitsstelle zu finden. Meist sei er nicht
eingestellt worden, wenn anhand seines Passes seine christliche
Religionszugehörigkeit festgestellt worden sei. Er habe auch keine abgeschlossene
Ausbildung als Goldschmied. Zwar habe er eine solche begonnen und die Anfänge
des Handwerks erlernt; er sei aber derart beschimpft und beleidigt worden, daß er
die Ausbildung nach zwei Monaten abgebrochen habe. Spätere Arbeitsstellen habe
er fast nie länger als zwei Wochen innegehabt. Er sei jeweils von den muslimischen
Arbeitskollegen beschimpft, beleidigt und mit Beschneidung bedroht und auch
sonst diskriminiert worden; dies habe er nicht länger ausgehalten und sei
weggelaufen. Selbst bei einem armenischen Goldschmied habe es Schwierigkeiten
gegeben, weil dieser von ihm verlangt habe, seine christliche Religion nicht zur
Schau zu stellen und nicht darüber zu sprechen. Auch seine Geschwister hätten
sich um Arbeit bemüht und jeweils kurzfristige Stellen gehabt. Zum Teil hätten sie
als Christen ihren Lohn nicht im versprochenen Umfang bekommen. Sie seien
allerdings von der christlichen Gemeinde, in deren Haus sie aufgenommen worden
seien, finanziell unterstützt worden. Es habe auch einen Versuch gegeben, seine
Schwester zu entführen. Damals seien vier Männer und eine Frau zu ihnen nach
Hause gekommen. Während die Frau seine Mutter abgelenkt habe, seien die vier
Männer in die Wohnung eingedrungen. Er, der Kläger, habe sich ihnen in den Weg
gestellt und sei deshalb mit einem Messer bedroht worden; dabei sei seine Hose
beschädigt worden. Sie hätten sich den vier Männern entgegengestellt, und seine
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beschädigt worden. Sie hätten sich den vier Männern entgegengestellt, und seine
Schwester habe gesagt, sie wolle am folgenden Tage mit ihnen gehen. Daraufhin
seien die Leute gegangen, hätten aber gedroht, am nächsten Tag
wiederzukommen. Seine Schwester habe den Tag dann benutzt, um nach Europa
abzureisen. Einmal habe er in dem Stadtteil von Istanbul, in dem sich die
Goldschmiede befänden, miterlebt, wie vier Muslime eine Verkäuferin von
Marienbildern beschimpft hätten. Als er sich eingemischt habe, hätten sie auch ihn
beschimpft und aufs Auge und in den Magen geschlagen. Zwei anwesende
Polizeibeamte seien nicht eingeschritten, so daß er habe flüchten müssen. Die
Polizei habe er von einigen der geschilderten Vorfälle unterrichtet, doch lohne sich
dies nicht; denn oft komme die Polizei gar nicht, und Hilfe gewähre sie ohnehin
nicht. Es seien Fälle bekannt geworden, in denen Polizisten zunächst ein Protokoll
aufgenommen und den Anzeigeerstatter sodann geschlagen hätten. Sein Bruder
sei sogar einmal festgehalten worden, als er Anzeige habe erstatten wollen. Er
selbst, der Kläger, sei zweimal auf der Polizeistation gewesen; einmal sei er mit
einem Knüppel auf die offenen Handflächen und auf die Füße geschlagen worden.
Er habe auch Angst vor dem Militärdienst in der Türkei; Christen würden in
unwegsame und kalte Regionen geschickt, bekämen schlechte Kleidung, müßten
geringwertige Arbeiten verrichten und länger Wache halten; außerdem würden sie
beschimpft und unter Umständen geschlagen und ihnen werde mit Beschneidung
gedroht. Übrigens sei es für ihn schwierig gewesen, einen Paß zu bekommen. Er
habe 15.000 TL dafür zahlen und dann auch noch lange auf die Ausstellung warten
müssen.
Der Kläger beantragte,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 31. Januar 1983 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als
Asylberechtigten anzuerkennen.
Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung machte sie geltend: Im Anerkennungsverfahren sei zutreffend
festgestellt worden, daß ein Anspruch auf Asylgewährung nicht bestehe. Da der
Kläger vor seiner Ausreise in Istanbul gelebt habe, könne er von einer im Tur'Abdin
angenommenen Gruppenverfolgung nicht betroffen gewesen sein. Ein asylrechtlich
erhebliches Einzelschicksal in Istanbul sei nicht glaubhaft gemacht. Im übrigen
deuteten die Eintragungen im Paß des Klägers und die Feststellungen anläßlich
seiner persönlichen Anhörung bei der Ausländerbehörde darauf hin, daß er in
Istanbul geboren sei und die türkische Staatsangehörigkeit besitze. Abgesehen
davon spreche der Umstand der Entlassung der Mutter des Klägers aus der
türkischen Staatsangehörigkeit dafür, daß sie dies von sich aus begehrt habe und
nicht etwa - was allenfalls asylrechtlich bedeutsam sein könnte - gegen ihren Willen
ausgebürgert worden sei. Gegen eine Ausbürgerung spreche auch, daß sie sich
anschließend noch mehr als zehn Jahre in Istanbul habe aufhalten können.
Schließlich müsse der Kläger, wenn er tatsächlich kein türkischer
Staatsangehöriger sei, auch nicht mit seiner Heranziehung zum Militärdienst
rechnen.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten äußerte sich nicht.
Das Verwaltungsgericht gab mit am 3. Oktober 1985 verkündetem Urteil der Klage
unter Zulassung der Berufung statt und führte zur Begründung aus: Der Kläger sei
als Asylberechtigter anzuerkennen, weil er politisch Verfolgter i.S. d. Art. 16 Abs. 2
Satz 2 GG sei. Politisch Verfolgter sei, wer bei einer Rückkehr in seine Heimat aus
politischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder
Beeinträchtigungen seiner persönlichen Freiheit oder politische Repressalien
hinzunehmen habe. Diese Voraussetzungen erfülle der Kläger schon wegen der
ihm im Rückkehrfalle mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Heranziehung
zum Militärdienst in der türkischen Armee. Von der Heranziehung auch des
Klägers müsse ausgegangen werden, weil unter Hinweis darauf schon 1981 sein
Nationalpaß nicht verlängert worden sei. Allerdings stelle grundsätzlich die
Verpflichtung zur Ableistung des Militärdienstes keine asylerhebliche politische
Verfolgung dar. Anders sei es jedoch, wenn der Wehrpflicht auch eine
Verfolgungstendenz innewohne, die etwa in der Einschüchterung politischer
Gegner sowie Umerziehungs- und Disziplinierungsversuchen zum Ausdruck
kommen könne. Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnisquellen seien
syrisch-orthodoxe Christen asylerheblichen Übergriffen von muslimischen
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syrisch-orthodoxe Christen asylerheblichen Übergriffen von muslimischen
Wehrpflichtigen ausgesetzt, ohne daß Vorgesetzte oder andere Stellen dies im
notwendigen Umfang verhinderten. Soweit es sich um fortlaufend wiederholte
Schläge, schwere Körperverletzungen und die Androhung der
Zwangsbeschneidung handele, liege eine Verletzung der Menschenwürde vor.
Derartige Verfolgungshandlungen seien dem türkischen Staat zurechenbar, da er
den Betroffenen nicht den erforderlichen Schutz zukommen lasse. Es komme
deshalb nicht darauf an, ob dem Kläger Vorfluchtgründe zur Seite stünden oder ob
für ihn eine inländische Fluchtalternative bestehe.
Gegen dieses ihm am 4. November 1985 zugestellte Urteil hat der
Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten mit Schriftsatz vom 29. November
1985 - eingegangen am 3. Dezember 1985 - Berufung eingelegt.
Er macht geltend: Der Kläger brauche keine asylrechtlich erheblichen
Benachteiligungen und Übergriffe während der Ableistung des Militärdienstes zu
befürchten. Vereinzelt festgestellte Übergriffe hätten christliche Wehrpflichtige
nicht wegen ihres Glaubens und nicht in asylrechtlich relevantem Umfang
getroffen. Ein erheblicher Teil treffe Moslems und Nichtmoslems gleichermaßen.
Im Hinblick auf Zwangsbeschneidungen handele es sich zum überwiegenden Teil
um nicht ernstgemeinte Drohungen. Außerdem spreche vieles dafür, daß sich die
Verbesserung der Situation der syrisch-orthodoxen Christen nach dem
Militärputsch auch auf den Militärdienst auswirke.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 3. Oktober 1985 aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor: Sein Bruder B. sei wegen des auch diesem bevorstehenden
Militärdienstes rechtskräftig als Asylberechtigter anerkannt worden. Bleibe es bei
der Ablehnung seines, des Klägers, Asylantrags, so widerspreche dies
allgemeinem Gerechtigkeitsempfinden. Im übrigen stütze sich der
Bundesbeauftragte für seine Feststellungen auf Erkenntnisquellen, die entweder -
wie diejenigen des Auswärtigen Amtes - von politischer Rücksichtnahme geprägt
oder die nicht ausreichend empirisch gesichert seien. Ferner werde die Intensität
der vom Iran ausgehenden Islamisierungsbewegung verkannt, durch die fanatische
religiöse Attacken auf christliche Wehrpflichtige begünstigt würden.
Die Beklagte stellt zu der Berufung keinen Antrag.
Der Senat hat aufgrund des Beschlusses vom 27. Juni 1988 Beweis erhoben über
die Asylgründe des Klägers durch dessen Vernehmung als Beteiligten durch den
Berichterstatter des Senats als beauftragten Richter. Wegen des Ergebnisses der
Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift vom 11. Juli 1988 verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird
auf die von diesen eingereichten Schriftsätze, den einschlägigen Vorgang des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - Gesch.-Z.: Tür-T-
67529 - und die über den Kläger geführten Ausländerakten des Landrats des
Kreises Hersfeld-Rotenburg - Az.: L I/3 - 23 d - (zwei Hefter) Bezug genommen,
ferner auf die über die Mutter des Klägers (Bundesamt 163/70294/80 und VG
Kassel II/3 E 8025/85), die Brüder Y. (Bundesamt Tür-T-16299 und Hess. VGH 12
UE 2813/86), B. (VG Kassel I/1 E 8336/83) und Z. (VG Kassel I/1 E 8337/83) sowie
die Schwestern J. (Bundesamt Tür-T-18926 und VG Kassel IV/1 E 8140/83) und M.
(Bundesamt Tür-S-38967 und Hess. VGH 12 UE 2487/85) geführten Bundesamts-
und Gerichtsakten. Diese sind ebenso Gegenstand der Beratung gewesen wie die
nachfolgend aufgeführten Dokumente:
1. Dez. 1978 Yonan: "Assyrer heute"
2. 11.04.1979 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
3. Mai/Juni pogrom Nr. 64 ("Verfolgte christliche Minderheiten in der Türkei" u.a.)
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3. Mai/Juni pogrom Nr. 64 ("Verfolgte christliche Minderheiten in der Türkei" u.a.)
1979
4. 07.08.1979 Dr. Harb-Anschütz an Bay. VGH
5. 12.11.1979 epd Dokumentation Nr. 49/79: "Christliche Minderheiten aus der
Türkei"
6. Nov. 1979 Ev. Akademie Bad Boll, Materialdienst 2/80: "Christen aus der Türkei
suchen Asyl"
7. Mai 1980 pogrom Nr. 72/73 ("Zur Lage der syrisch-orthodoxen Christen in der
Türkei" u.a.)
8. 20.05.1980 Patriarch Yakup III und Bischof Cicek vor dem VG Gelsenkirchen
9. 15.10.1980 Carragher an Bay. VGH
10. 09.04.1981 Msgr. Wilschowitz: "Die Situation der christlichen Minderheiten in
der Türkei"
11. 29.04.1981 Reisebericht einer schwedisch-norwegischen Reisegruppe
12. 02.05.1981 Dr. Hofmann "Zur Lage der Armenier in Istanbul/Konstantinopel"
13. 12.06.1981 Prof. Dr. Kappert vor VG Hamburg
14. 06.07.1981 Staatssekretär von Staden (BT-Drs. 9/650)
15. 20.07.1981 IGFM an VG Wiesbaden
16. 22.07.1981 Vocke an VG Karlsruhe
17. 04.08.1981 Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden
18. 24.11.1981 RA Wiskandt an Bundesamt: "Situation der Christen in der Türkei"
19. 21.01.1982 Schweiz. Ev. Pressedienst Nr. 3
20. 03.02.1982 Auswärtiges Amt an VG Minden
21. 26.03.1982 Auswärtiges Amt an VG Trier
22. 07.04.1982 Pfarrer Diestelmann: "Die Situation der syrisch-orthodoxen
Christen ..."
23. 21.04.1982 Carragher zum Gutachten Wiskandt
24. 28.04.1982 Dr. Hofmann zum Gutachten Wiskandt
25. 06.05.1982 Diakonisches Werk EKD zum Gutachten Wiskandt
26. 18.05.1982 Ev. Gemeinde dt. Sprache in der Türkei an EKD
27. Juni 1982 CCMWE: "The Situation of the Christian Minorities of Turkey ..."
28. 03.07.1982 Anschütz/Harb, Protokoll HR (3. Fernsehprogramm)
29. 26.07.1982 Sürjanni Kadim an VG Minden
30. 17.08.1982 Dr. Harb-Anschütz an VG Minden
31. 1983 Kraft, in "Christ in der Gegenwart": "Fremde und Außenseiter"
32. 28.02.1983 RA Müller: "Zur Lage der Christen in der Türkei"
33. 04.03.1983 Pfarrer Weber: "Christen aus der Türkei suchen Asyl"
34. Mai 1983 Ev. Akademie Bad Boll, Protokolldienst 27/83: "Studienfahrt in die
Türkei"
35. 09.04.1984 Oberkreisdirektor Gütersloh an RP Detmold
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36. 12.06.1984 epd Dokumentation Nr. 26/84: "Die Lage der christlichen
Minderheiten in der Türkei ...."
37. 26.06.1984 Auswärtiges Amt an Bay. VGH
38. 11.09.1984 Auswärtiges Amt an Hess. VGH
39. 14.09.1984 Dr. Oehring an VG Minden
40. 09.11.1984 Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
41. 03.12.1984 RA Müller, RA Wiskandt, Dr. Oehring und Erzbischof Cicek als
sachverständige Zeugen vor dem Bay. VGH
42. 04.02.1985 Dr. Hofmann an VG Stuttgart
43. 17.03.1985 Prof. Dr. Wießner an VG Stuttgart
44. 07.05.1985 Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg
45. 30.05.1985 Dr. Oehring an VG Gelsenkirchen
46. 22.06.1985 RA Müller: "Reisebericht zur Lage der Christen in der Türkei"
47. 07.10.1985 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
48. 31.03.1986 Sprenzel: "Situation der aramäisch sprechenden, syrisch-
orthodoxen Christen in der (Ost)Türkei"
49. 01.07.1986 EKD an VG Hamburg
50. 14.10.1986 Prof. Dr. Wießner an VG Hamburg
51. 10.11.1986 Auswärtiges Amt an VG Hamburg
52. 03.12.1986 Auswärtiges Amt an VG Köln
53. 06.01.1987 Dr. Tasci vor VG Gelsenkirchen
54. 01.06.1987 Auswärtiges Amt an VG Ansbach
55. 09.10.1987 EKD an RA König
56. 18.12.1987 Auswärtiges Amt an OVG Bremen
57. 20.01.1988 Auswärtiges Amt - Lagebericht Türkei -
58. 25.05.1988 Dr. Oehring an VG Düsseldorf
Entscheidungsgründe
In Anbetracht des Einverständnisses der Beteiligten kann der Senat ohne
mündliche Verhandlung entscheiden (§§ 125 Abs. 1 i.V.m. 101 Abs. 2 VwGO).
I.
Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist frist- und
formgerecht eingelegt (§§ 124, 125 VwGO) und auch sonst zulässig. Sie ist
nämlich vom Verwaltungsgericht zugelassen worden (§ 32 Abs. 1 AsylVfG), und der
Bundesbeauftragte war zur Einlegung der Berufung ungeachtet dessen befugt,
daß er sich am erstinstanzlichen Verfahren weder durch einen Antrag noch sonst
beteiligt hat (BVerwG, 11.03.1983 - 9 B 2597.82 -, BVerwGE 67, 64 = NVwZ 1983,
413; Hess. VGH, 11.08.1981 - X OE 649/81 -, ESVGH 31, 268).
II.
Die Berufung des Bundesbeauftragten ist auch begründet, denn der Kläger kann
nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
Berufungsentscheidung die Anerkennung als Asylberechtigter durch die Beklagte
nicht beanspruchen, weil er nicht politisch verfolgt ist (§§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 AsylVfG
i.V.m. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG).
89 Asylrecht als politisch Verfolgter i.S. des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 genießt, wer bei
einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen
mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen seiner persönlichen
Freiheit zu erwarten hätte oder politischen Repressalien ausgesetzt wäre (BVerfG,
02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Als politisch
im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist eine Verfolgung in Anlehnung an den
Flüchtlingsbegriff des Art. 1 Abschn. A Nr. 2 des Abkommens über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Konvention (GK) - vom 28. Juli 1951 (BGBl.
1953 II S. 559) dann anzusehen, wenn sie auf die Rasse, die Religion, die
Nationalität, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die
politische Überzeugung zielt (BVerwGE, 04.11.1965 - I C 54.63 -, DVBl 1966, 645,
u. 29.11.1977 - 1 C 33.71 -, BVerwGE 55, 82 = EZAR 201 Nr. 3, m.w.N.); insofern
kommt es entscheidend auf die Motive für die Verfolgungsmaßnahmen des
Staates an (BVerwG, 17.05.1983 - 9 C 874.82 -, BVerwGE 67, 195 = EZAR 201 Nr.
5, u. - 9 C 36.83 -, BVerwGE 67, 184, 08.11.1983 - 9 C 93.83 -, BVerwGE 68, 171 =
EZAR 200 Nr. 9,26.06.1984 - 9 C 185.83 -, BVerwGE 69, 320 = EZAR 201 Nr. 8,
21.10.1986 - 9 C 28.85 -, BVerwGE 75, 99 = EZAR 200 Nr. 17, 19.05.1987 - 9 C
184.86 -, BVerwGE 77, 258 = EZAR 200 Nr. 19, u. 20.10.1987 - 9 C 277.86 -, EZAR
202 Nr. 11 = NVwZ 1988, 160). Werden nicht Leib, Leben oder physische Freiheit
gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die der Religionsausübung
oder die der beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung, so sind nur solche
Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und Schwere die
Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des
Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen
haben (BVerfG, 02.07.1980, a.a.O., u. 01.07.1987 - BvR 478/86 u.a. -, BVerfGE 76,
143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 18.02.1986 - 9 C 16.85 -, BVerwGE 74, 31 =
EZAR 202 Nr. 7, u. - 9 C 104.85 -, BVerwGE 74, 41, sowie 20.10.1987 - 9 C 42.87 -,
InfAuslR 1988, 22). Asylerhebliche Bedeutung haben hierbei nicht nur unmittelbare
Verfolgungsmaßnahmen des Staates; dieser muß sich vielmehr auch Übergriffe
nichtstaatlicher Personen und Gruppen - als mittelbare staatliche
Verfolgungsmaßnahmen - zurechnen lassen, wenn er sie anregt, unterstützt, billigt
oder tatenlos hinnimmt und damit den Betroffenen den erforderlichen Schutz
versagt, der allerdings nicht lückenlos zu sein braucht (BVerfG, 02.07.1980, a.a.O.,
BVerwG, 02.08.1983 - 9 C 818.81 -, BVerwGE 67, 317 = EZAR 202 Nr. 1,
03.12.1985 - 9 C 33.85 -, BVerwGE 72, 269 = EZAR 202 Nr. 5, u. 02.07.1986 - 9 C
2.85 -). Asylrelevante politische Verfolgung - und zwar sowohl unmittelbar
staatlicher als auch mittelbar staatlicher Art - kann sich nicht nur gegen
Einzelpersonen, sondern auch gegen durch gemeinsame Merkmale verbundene
Gruppen von Menschen richten mit der regelmäßigen Folge, daß jedes
Gruppenmitglied als von dem Gruppenschicksal mitbetroffen anzusehen ist
(BVerfG, 02.07.1980, a.a.O., BVerwG, 02.08.1983 - 9 C 599.81 -, BVerwGE 67, 314
= EZAR 203 Nr. 1, 30.10.1984 - 9 C 24.84 -, BVerwGE 70, 232 = EZAR 202 Nr. 3,
18.02.1986 - 9 C 16.85 -, BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7, u. 23.02.1988 -9 C
85.87 -). Ist jemand bereits in seiner Heimat politisch verfolgt worden oder hatte er
dort bereits gute Gründe, eine solche Verfolgung zu befürchten, so sind sog.
Vorfluchttatbestände gegeben; sind erst nach dem Verlassen des Heimatstaats
Gründe entstanden, die im Falle seiner Rückkehr politische Verfolgung erwarten
lassen, so handelt es sich um sog. Nachfluchttatbestände. In beiden Fällen ist eine
Rückkehr nur dann zumutbar, wenn der Asylbewerber nunmehr in seiner Heimat
vor Verfolgungsmaßnahmen sicher sein kann (vgl. BVerfG, 02.07.1980, a.a.O., Die
insoweit erforderliche Zukunftsprognose muß auf die Verhältnisse im Zeitpunkt
der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen
absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein (BVerwG, 31.03.1981 - 9 C 286.80 -, EZAR
200 Nr. 3 = DVBl. 1981, 1096, 03.12.1985 - 9 C 22.85 -, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ
1986, 760, u. 31.07.1986 - 9 B 165.86 -, NVwZ 1987, 60). Beim Vorliegen von
Vorfluchttatbeständen sind allerdings bei der Prognose künftiger
Verfolgungssicherheit grundsätzlich geringere Anforderungen zu stellen als beim
ausschließlichen Gegebensein von Nachfluchttatbeständen (vgl. BVerwG,
02.08.1983 - 9 C 599.81 -, BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1). Dem
Vorverfolgten kann eine Rückkehr regelmäßig schon dann nicht zugemutet
werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen nicht mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann (BVerfG,
02.07.1980, a.a.O., BVerwG, 27.04.1982 - 9 C 308.81 -, BVerwGE 65, 250 = EZAR
200 Nr. 7, 02.08.1983 - 9 C 599.81 -, BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1,
15.10.1985 - 9 C 3.85 -, EZAR 630 Nr. 22, u. 23.02.1988 - 9 C 85.87 -). Ansonsten
kommt eine Anerkennung als Asylberechtigter nur in Betracht, wenn bei
verständiger Würdigung aller Umstände des konkreten Falles bei der Rückkehr in
die Heimat politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht
90
91
92
die Heimat politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht
(BVerwG, 31.03.1981 - 9 C 286.80 -, EZAR 200 Nr. 3 = DVBl. 1981, 1096,
25.09.1984 - 9 C 17.84 -, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12, u. 03.12.1985 - 9 C
22.85 -, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986, 760). Unabhängig hiervon ist der
Asylbewerber aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht
gehalten, von sich aus die in seine eigene Sphäre fallenden tatsächlichen
Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern sowie eventuelle
Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien nachvollziehbar
aufzulösen, so daß sein Vortrag insgesamt geeignet ist, den Asylanspruch
lückenlos zu tragen (BVerwG, 08.05.1984 - 9 C 141.83 -, EZAR 630 Nr. 13 = NVwZ
1985, 36, 12.11.1985 - 9 C 27.85 -, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR 1986, 79, u.
20.10.1987 - 9 C 147.86 -) und insbesondere auch eine politische Motivation der
Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (BVerwG, 22.03.1983 - 9 C 68.81 -,
Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG, u. 18.10.1983 - 9 C 473.82 -, EZAR 630 Nr.
8). Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im Heimatland genügt es
dagegen, daß die vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit
politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, 23.11.1982 - 9 C 74.81 -, BVerwGE 66,
237 = EZAR 630 Nr. 1). Ungeachtet dessen muß sich das Gericht in vollem
Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem Asylbewerber
behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschaffen, wobei allerdings der
sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Heimatland bei der
Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrags und der Beweise
angemessen zu berücksichtigen ist (BVerwG, 29.11.1977 - 1 C 33.71 -, BVerwGE
55, 82 = EZAR 201 Nr. 3, 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, BVerwGE 71, 180 = EZAR 630
Nr. 17, u. 12.11.1985 -9 C 27.85 -, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR 1986, 79).
Eine Asylanerkennung des Klägers würde nicht von vornherein dann ausscheiden,
wenn er - gemäß seinem Vorbringen im vorliegenden Rechtsstreit, dessen
Richtigkeit hier dahinstehen kann - tatsächlich von der Türkei ausgebürgert und
infolgedessen staatenlos wäre. Denn auch für einen Staatenlosen besteht bei
einer politischen Verfolgung durch das Land seines gewöhnlichen Aufenthalts - und
dies ist für den Kläger die Türkei, da er dort geboren ist und sich die längste Zeit
seines Lebens dort aufgehalten hat eine Notlage, die nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2
GG die Gewährung von Asyl gebietet (BVerwG, 12.02.1985 - 9 C 45.84 -, EZAR 200
Nr. 11 = InfAuslR 1985, 145, u. 15.10.1985 - 9 C 30.85 -, EZAR 200 Nr. 15 =
InfAuslR 1986, 76). Ob hiervon eine Ausnahme anzunehmen ist, wenn der frühere
Aufenthaltsstaat seine Beziehungen zu dem Betreffenden nach dessen Ausreise
aus im asylrechtlichen Sinne nichtpolitischen Gründen gelöst hat und das
Asylbegehren mit drohenden Übergriffen durch im bisherigen Aufenthaltsstaat
operierende nichtstaatliche Personen oder Gruppen begründet wird (so BVerwG,
15.10.1985, a.a.O., bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Denn der
Kläger beruft sich darauf, daß bereits die seiner Ansicht nach erfolgte
Ausbürgerung religiös motiviert gewesen sei und deshalb politische Verfolgung
darstelle.
Der erkennende Senat ist nach den im vorvorstehenden Absatz dargelegten
Grundsätzen aufgrund der eigenen Angaben und Aussagen des Klägers, der
beigezogenen Akten und der in das Verfahren eingeführten Dokumente zu der
Überzeugung gelangt, daß der Kläger nicht kraft innerstaatlich geltender
völkerrechtlicher Vereinbarung anzuerkennen ist (1.), daß er vor seiner Ausreise
aus der Türkei weder als Mitglied der Gruppe der syrisch-orthodoxen Christen
politisch verfolgt (2.) noch persönlich von Verfolgungsmaßnahmen betroffen war
(3.) und daß er auch bei einer Rückkehr in die Türkei weder Gruppenverfolgung zu
befürchten hat (4.) noch selbst politischer Verfolgung ausgesetzt sein wird (5.).
1. Der Kläger, an dessen syrisch-orthodoxer Glaubenszugehörigkeit der Senat in
Anbetracht seiner eigenen Angaben, der Eintragung "Hiristiyan" in seinem Nüfus
und vor allem wegen der Eintragung "Suryani Kadim" in den entsprechenden
Ausweispapieren seiner Mutter (Bl. 22 der Bundesamtsakte 163/70294/80) und
seiner Schwester J. (Bl. 27 der Bundesamtsakte Tür-T-18926) keinen Zweifel hat,
kann seine Anerkennung nicht (schon) aufgrund des Abkommens über die
Ausdehnung gewisser Maßnahmen zugunsten russischer und armenischer
Flüchtlinge auf andere Kategorien von Flüchtlingen vom 30. Juni 1928 (abgedruckt
in: Societe des Nations, Recueil des Traites, Bd. 89 <1929>, S. 64) erreichen. Da
er 1962 geboren ist und erst im Mai 1980 die Türkei verlassen hat, kann dieses
Abkommen auf ihn ohnehin nicht angewandt werden (ständige und vom
Bundesverwaltungsgericht durch Urteil v. 17.05.1983 - 9 C 874.82 -, BVerwGE 67,
195 = EZAR 201 Nr. 5, bestätigte Rechtsprechung des Hess. VGH, vgl. z.B.
17.07.1981 - X OE 553/81 -, 11.08.1981 - X OE 649/81 -, ESVGH 31, 268,
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94
95
17.07.1981 - X OE 553/81 -, 11.08.1981 - X OE 649/81 -, ESVGH 31, 268,
07.08.1986 - X OE 189/82 -, 01.02.1988 - 12 OE 419/82 - u. 04.07.1988 - 12 UE
2573/85 u. 12 UE 25/86 -). Der Senat kann deshalb offenlassen, ob dem durch die
genannte Vereinbarung geschützten Personenkreis überhaupt noch ein Anspruch
auf Asylanerkennung oder Asylgewährung in anderer Form zusteht, nachdem § 39
Nr. 4 AsylVfG die bis dahin in § 28 AuslG enthaltene Bezugnahme auf Art. 1 GK
und die dort in Abschn. A Nr. 1 enthaltene Verweisung auf die erwähnte
Vereinbarung ersatzlos beseitigt hat und eine Asylanerkennung nunmehr allein an
die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG anknüpft (vgl. dazu auch
Berberich, ZAR 1985, 30 ff., und Köfner/Nicolaus, ZAR 1986, 11, 15).
2. Der Senat hat auch nicht feststellen können, daß die Angehörigen der syrisch-
orthodoxen Minderheit in der Türkei im Gebiet des Tur'Abdin oder in Istanbul bis
zur Ausreise des Klägers einer unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung
ausgesetzt waren.
a) Der Senat legt seiner Beurteilung der Lage der Christen in der Türkei im
allgemeinen und der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft im besonderen
sowie des Verhältnisses dieser Christen zu anderen dort lebenden religiösen und
ethnischen Gruppen die nachfolgend anhand der vorliegenden schriftlichen
Unterlagen (im folgenden nur noch mit der entsprechenden Nummer der Liste von
S. 11 f. bezeichnet) auszugsweise dargestellte historische Entwicklung der
christlichen Siedlungsgemeinschaften im Nahen Osten zugrunde.
Die Anhänger der syrischen Kirchen siedelten ursprünglich im mesopotamischen
Raum, und zwar im Bergland des Tur'Abdin mit dem Zentrum Midyat, im weiter
östlich gelegenen Bergland von Bohtan, im alpenähnlichen Hochgebirge Hakkari
und weiter südlich in der Mosul-Ebene sowie in der Urmia-Ebene. Nachdem im 7.
Jahrhundert im Zuge der Arabisierung die Mehrheit dieser Christen zum Islam
übergetreten war und dann mongolische Eindringlinge Ende des 14. Jahrhunderts
die syrischen Kirchen bis auf wenige Überreste vernichtet hatten, erlebten sowohl
die syrisch-orthodoxen als auch die anderen im Osmanischen Reich lebenden
Christen vom Ende des 15. Jahrhunderts an eine vergleichsweise friedliche und
gesicherte Periode, in der sie als nichtmuslimische Völkerschaften - als millat -
auch ihr Personal- und Familienrecht nach eigenem Rechtsstatut regeln konnten.
Während der im 19. Jahrhundert zur Bewahrung des Osmanischen Reichs
eingeleiteten Reformbewegungen kam es sodann etwa nach der Seeschlacht von
Navarino 1827 zu einer Verfolgung der Armenier und 1843 zu einem Massaker der
Kurden unter den nestorianischen Bergstämmen im Hakkari. Die abseits in ihren
Siedlungsräumen in Ostanatolien lebenden syrischen Christen blieben von
derartigen Ereignissen aber weitgehend verschont. Sie waren ähnlich wie die
ebenfalls in dieser Region siedelnden Kurden stammesmäßig organisiert und
erhielten sich Unabhängigkeit und Schutz durch Selbstverteidigung und durch
Tributzahlungen an den Sultan. Nachdem seit der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts eine rege Missionstätigkeit christlicher Religionsgesellschaften aus
Amerika, England und Frankreich dazu beigetragen hatte, die kulturelle und
gesellschaftliche Bedeutung der Christen im Nahen Osten zu heben und
gleichzeitig deren politisches Bewußtsein zu fördern, reagierte das Osmanische
Reich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auf Unabhängigkeitsbestrebungen
der Christen mit dem Einsatz kurdischer Söldnertruppen, und dabei kam es dann
häufig zu Morden, Plünderungen und Hungersnöten (1., S. 17 ff.). Schließlich
fanden während des Ersten Weltkriegs unter den Christen zahlreiche Massaker
statt, die insgesamt über drei Millionen Tote gefordert haben sollen (1., S. 28; 5.,
S. 14); für sie werden zumindest auch die Allianz der Christen mit England und
Rußland und die Kriegserklärung des damaligen Patriarchen Benjamin XXI. an die
Türkei im Mai 1915 verantwortlich gemacht. So wurden etwa bis März 1915 im
Urmia- und im Salamas-Gebiet über 70 Dörfer von türkischen Truppen und
kurdischen Freiwilligen zerstört und geplündert und die christliche Bevölkerung
massakriert, und im selben Jahr folgten weitere Massenmorde in der armenischen
Stadt Van und im Bohtan-Gebiet (1., S. 29 f.). Bei der Flucht der Bergassyrer nach
Salamas und der Urmia-Assyrer nach Hamadan sollen jeweils mehr als 10.000
Menschen umgekommen sein (1., S. 30 ff.). Schließlich siedelten syrische Christen
in den Jahren 1922 und 1924 in zwei großen Fluchtbewegungen aus der Türkei in
das benachbarte Syrien über (1., S. 110), und im Gefolge des Ersten Weltkriegs
und des Friedensvertrags von Lausanne vom 24.7.1923 verließen mehr als zwei
Millionen Griechen die Türkei (3., S. 41). Damals verlegte der syrisch-orthodoxe
Patriarch seinen Sitz vom Kloster Dair Za'faran bei Mardin nach Homes im
heutigen Syrien, wo er seit 1954 in Damaskus residiert (5., S. 21; 8., S. 2; 9., S. 2).
96
97
Es mag im einzelnen Streit darüber herrschen, welche Bedeutung das christliche
Bekenntnis der verschiedenen Gruppen der Christen für ihr jeweiliges Schicksal in
der Vergangenheit im einzelnen hatte, welche Rolle politische und militärische
Interessen fremder Großmächte gespielt haben und ob und in welchem Maße sich
etwa bei Armeniern, Griechen oder Syrisch-Orthodoxen ein eigenes
Nationalbewußtsein entwickeln konnte (vgl. dazu: 1., S. 12 ff.; 5., S. 1 ff.; 18., S. 6
ff.). Die Situation der Christen in der Türkei ist jedenfalls seit langem geprägt von
ihrer bis in die Anfänge des Christentums zurückreichenden religiösen und
kirchlichen Tradition, von den ethnischen und sprachlichen Besonderheiten der
einzelnen Gruppen und von einem mehr und mehr hoffnungslos erscheinenden
Überlebenskampf in einer mehrheitlich türkischen/muslimischen Umwelt, der
angesichts der leidvollen historischen Erfahrungen als besonders bedrückend
empfunden wird. Während die Christen Ende des 19. Jahrhunderts noch etwa 30 %
der Untertanen des Osmanischen Reichs ausmachten, stellen sie nunmehr in der
Türkei mit schätzungsweise kaum noch 100.000 Menschen nur eine äußerst kleine
Minderheit der Gesamtbevölkerung von 43 Millionen (zu den Zahlenangaben und
im übrigen vgl.: 2.; 5., S. 5; 6., S. 5; 7.; 18., S. 8; 43.). Außer den Armeniern und
den Griechen sind zahlenmäßig vor allem die Syrer von Bedeutung, denen aber im
Unterschied zu den Armeniern, Griechen und Juden ein Schutz als
nichtmuslimische Minderheit aufgrund des Lausanner Vertrags von 1923 nicht
zugestanden wird. Die syrischen Christen bestehen in der Türkei im wesentlichen
aus Syrisch-Katholischen und Nestorianern sowie aus Syrisch-Orthodoxen
(Jakobiten) unter dem Patriarchat von Antiochia und dem gesamten Osten, deren
Patriarch Mar Ignazius Yakup III. seinen Sitz jetzt in Damaskus hat. Die Syrisch-
Orthodoxen berufen sich auf eine Abstammung von Noah und eine Bekehrung in
unmittelbarer Beziehung zu Christus, bedienen sich einer altsyrischen
Liturgiesprache und heben sich durch verschiedene Dialekte der neuaramäischen
Umgangssprache (im Tur'Abdin: turoyo) von den muslimischen Türken und Kurden
sowie von den Yeziden ab. Während bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im
Gebiet der heutigen Türkei noch etwa eine Million Jakobiten und Nestorianer gelebt
haben sollen und 1927 immerhin noch insgesamt 257.000 (1., S. 46, 110), beträgt
die Zahl der Syrisch-Orthodoxen in der Türkei neueren Schätzungen zufolge nur
noch etwa 45.000 (1., S. 111; 5., S. 20), 35.000 (1., S. 46), 20.000 bis 35.000 (6.,
S. 17), 20.000 (8., S. 2) oder sogar nur 10.000 bis 15.000 (2.). Im Gebiet des
Tur'Abdin (Berg der Gottesknechte), wo vor 25 Jahren noch 70.000 Syrisch-
Orthodoxe lebten, sollen es 1967/68 noch 20.000 gewesen sein (4., S. 2) und 1980
noch 25.000 (5., S. 29) oder zumindest annähernd 40.000 (27., S. 18; 36., S. 17),
während ihre Zahl in Istanbul im selben Zeitraum von einigen Hundert auf 15.000
oder gar auf 17.000 angestiegen sein soll (5., S. 46; 9., S. 7; 21.; 26.; 29.; für die
Zeit nach 1982 vgl. auch 39. und 41., S. 11). In der Kreisstadt Midyat sollen im Jahr
1978 von den ursprünglich 3.000 syrischen Familien infolge einer seit 1960
anhaltenden starken Abwanderung in türkische Großstädte und ins Ausland noch
1.000 Familien gewohnt haben (1., S. 117). Aus dem Dorf Kefrezi sind die Christen,
die 1970 dort noch 90 Familien zählten, inzwischen vollständig vertrieben (8.). Das
Dorf Arbey war vor 20 Jahren von 100 christlichen Familien bewohnt; schon 1979
waren davon 65 dem Druck der umliegenden muslimischen Dörfer gewichen und
geflohen (22., S. 15).
b) Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Entwicklung kann nicht festgestellt
werden, daß die christliche Bevölkerung in der Türkei und insbesondere im Gebiet
des Tur'Abdin in dem hier maßgeblichen Zeitraum bis zur Ausreise des Klägers
aus der Türkei im Mai 1980 unter einer religiös motivierten Gruppenverfolgung zu
leiden hatte; dies gilt sowohl hinsichtlich einer unmittelbaren staatlichen
Verfolgung als auch hinsichtlich einer vom türkischen Staat gebilligten oder
geduldeten Verfolgung durch andere Bevölkerungsgruppen (ebenso schon der
früher für Asylverfahren allein zuständige 10. Senat des Hess. VGH in st. Rspr.,
zuletzt 30.05.1985 - 10 OE 35/83 -, und jetzt der 12. Senat, 22.02.1988 - 12 UE
1071/84, 1587/84 und 2585/85 -, 16.05.1988 - 12 UE 2571/85 -, 30.05.1988 - 12
UE 2500/85 u. 2514/85 -, 13.06.1988 - 12 OE 94/83 -, 27.06.1988 - 12 UE 2438/85
sowie 04.07.1988 - 12 UE 2573/85 u. 12 UE 25/86 -; ähnlich VGH Baden-
Württemberg, 25.07.1985 - A 12 S 573/81 -, und OVG Lüneburg, 25.08.1986 - 11
OVG A 263/85 -; a.A. Bay. VGH, 19.03.1981 -12.B/5047/79 -, InfAuslR 1981, 219,
VGH Baden-Württemberg, 09.02.1987 - A 13 S 709/86 - und OVG Nordrhein-
Westfalen, 23.04.1985 - 18 A 10237/84 - sowie OVG Rheinland-Pfalz, 10.12.1986 -
11 A 131/86 -). Bei der Frage nach einer religiösen oder religiös motivierten
Gruppenverfolgung ist allgemein zu beachten, daß eine aus Gründen der Religion
stattfindende Verfolgung nur dann asylerheblich ist, wenn die Beeinträchtigungen
der Freiheit der religiösen Betätigung nach Intensität und Schwere die
98
99
100
der Freiheit der religiösen Betätigung nach Intensität und Schwere die
Menschenwürde verletzen (BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54,
341 <357> = EZAR 200 Nr. 1). Es muß sich um Maßnahmen handeln, die den
Gläubigen als religiös geprägte Persönlichkeit ähnlich schwer treffen wie bei
Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit (BVerwG,
18.02.1986 - 9 C 16.85 -, BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7), indem sie ihn
physisch vernichten, mit vergleichbar schweren Sanktionen bedrohen, seiner
religiösen Identität berauben oder daran hindern, seinen Glauben im privaten
Bereich und durch Gebet und Gottesdienst zu bekennen (BVerfG, 01.07.1987 -
BvR 478/86 u.a. -, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20).
aa) Aus den in das Verfahren eingeführten Gutachten, Auskünften und anderen
Erkenntnismitteln ergeben sich keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, daß der
türkische Staat die syrisch-orthodoxen Christen in diesem Sinne in dem hier
maßgeblichen Zeitraum unmittelbar aus religiösen Gründen verfolgt hat.
Die syrisch-orthodoxen Christen waren - und sind - von Verfassungs wegen ebenso
wie die Angehörigen anderer muslimischer und nichtmuslimischer
Glaubensgemeinschaften gegen Eingriffe in die Religionsfreiheit und gegen
Diskriminierungen aus religiösen Gründen geschützt (Art. 19 d. türk. Verf. v. 1961,
Art. 24 Abs. 1 d. Verf. vom 07.11.1982; 1., S. 2; 18., S. 23). Sie sind in den durch
Art. 14 der Verfassung von 1982 gezogenen Grenzen frei, Gottesdienste, religiöse
Zeremonien und Feiern abzuhalten (Art. 24 Abs. 2 dieser Verfassung). Sie werden
jedoch seit jeher anders als die Armenier, Griechen und Juden in in der
Staatspraxis nicht zu den nichtmuslimischen Minderheiten gerechnet, denen
aufgrund der Art. 38 ff. des Friedensvertrags von Lausanne vom 24. Juli 1923
besondere Minderheitenrechte gewährleistet sind, so u.a. gemäß Art. 40 das
Recht, auf eigene Kosten jegliche karitative, religiöse und soziale Institutionen,
Schulen und andere Einrichtungen für Lehre und Erziehung mit dem Recht auf
Gebrauch ihrer eigenen Sprache und freie Religionsausübung zu errichten, zu
betreiben und zu kontrollieren (1., S. 112; 5., S. 57 f.; 8., S. 3 f.; 9., S. 15 f.; 13.;
44.). Während die in Istanbul lebenden etwa 80.000 Armenier dazu imstande sind,
ungefähr 40 Kirchen und 30 Schulen, mindestens ein Krankenhaus und 12
Jugendclubs zu unterhalten (12., 52.), verfügen die etwa 15.000 Syrisch-
Orthodoxen in Istanbul lediglich über ein eigenes Kirchenzentrum und sind in fünf
weiteren Kirchen zu Gast (26., 29.), sie dürfen aber keine Schulen und keine
Sozialeinrichtungen betreiben. Die syrisch-orthodoxen Christen werden allerdings
ebensowenig wie andere christliche Glaubensgemeinschaften staatlicherseits
unmittelbar an der Ausübung ihrer Religion gehindert. Sie können sowohl im
Gebiet des Tur'Abdin als auch in Istanbul in den ihnen verbliebenen Kirchen
Gottesdienst nach ihrer Liturgie feiern und ihren Glauben praktizieren.
Obwohl die Religionsausübung nach außen hin - weder in der Vergangenheit noch
jetzt - offen behindert oder gar untersagt ist, sind dennoch zahlreiche
administrative Schwierigkeiten festzustellen, die die Syrisch-Orthodoxen bei der
Ausübung ihres Glaubens und der Pflege ihres Brauchtums empfindlich stören und
auf Dauer gesehen das kirchliche und religiöse Leben beeinträchtigen und
schließlich zum Erliegen bringen können. So ist beispielsweise die Ausbildung der
Priester zwar von Staats wegen nicht verboten und auch nicht erkennbar restriktiv
reglementiert. Tatsächlich gibt es aber seit geraumer Zeit in der Türkei weder
einen syrisch-orthodoxen Bischof noch Priesterseminare (8., S. 4; 19., S. 16), und
deshalb können neue Priester, die die türkische Staatsangehörigkeit besitzen
müssen, nur im Ausland ausgebildet und geweiht werden (9., S. 5). Die
seelsorgerische Betreuung der noch in den ehemals syrisch-orthodoxen
Siedlungsgebieten verbliebenen Gläubigen ist auch dadurch erschwert, daß viele
Priester ihre Gemeinden gegen den Willen der Kirchenleitung verlassen haben und
im Zuge der Anwerbung von Arbeitnehmern durch die Bundesrepublik
Deutschland und andere westeuropäische Staaten ins Ausland abgewandert sind
(43., S. 3; 50., S. 3). Die ehemals zahlreichen Klöster im Tur'Abdin sind jetzt nur
noch von wenigen Mönchen oder Nonnen bewohnt und im übrigen verlassen (5., S.
21). Die Klosterschule in Dair Za'faran wurde zudem mehrmals zumindest
zeitweilig geschlossen, weil der türkische Staat das Schulprogramm mit syrisch-
aramäischem Sprachunterricht und christlichem Religionsunterricht für illegal
erachtete (5., S. 28; 6., S. 18; 36., S. 18; 50., S. 5). Der Bau und die Errichtung von
Kirchen sind, nachdem das Eigentum an dem Besitz der "frommen Stiftungen" im
Jahre 1965 auf den Staat übertragen worden ist, nur noch mit vorheriger
staatlichen Genehmigung zulässig (9., S. 17). Die Tatsache, daß in den
vergangenen Jahren keine neue syrisch-orthodoxe Kirche gebaut worden ist,
während in der ganzen Türkei zahlreiche neue Moscheen entstanden sind (46., S.
101
während in der ganzen Türkei zahlreiche neue Moscheen entstanden sind (46., S.
3 f.; 49., S. 3; 50., S. 4), kann allerdings darauf zurückzuführen sein, daß Geld für
einen derartigen Kirchenbau nicht vorhanden war (30.). Trotz dieser faktischen
Behinderungen im administrativen Bereich läßt sich daraus eine unmittelbare
staatliche Beeinträchtigung der Religionsfreiheit für die Zeit bis zur Ausreise des
Klägers aus der Türkei nicht herleiten.
Ebenso verhält es sich mit der Gestaltung des Religionsunterrichts an den
staatlichen Schulen. Insoweit neigt der Senat allerdings grundsätzlich zu einer
anderen Betrachtung als das Bundesverwaltungsgericht, das annimmt, ein
islamischer Pflichtunterricht beeinträchtige die Religionsfreiheit andersgläubiger
Kinder nicht (BVerwG, 14.05.1987 - 9 B 149.87 -, EZAR 202 Nr. 9 = DVBl 1987,
1113). Religionsunterricht, der gegen den Willen der Kinder oder der insoweit
erziehungsberechtigten Eltern erteilt wird, kann den Beginn einer
Zwangsbekehrung bedeuten, stellt doch die religiöse Unterweisung von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen einen unverzichtbaren, weil lebenswichtigen Teil der
Religionsfreiheit dar. Denn ohne die Weitergabe religiösen Wissens und religiöser
Überzeugungen vermag weder der einzelne Gläubige noch die
Glaubensgemeinschaft auf Dauer zu bestehen. Neben der Verkündigung des
Glaubens während des kirchlichen Gottesdienstes spielt hierbei vor allem der
Religionsunterricht für Kinder eine ausschlaggebende Rolle. In diesem
Zusammenhang ist es von Bedeutung, daß die Vorschriften des Art. 24 der
türkischen Verfassung von 1982 vorsehen, daß niemand gezwungen werden darf,
an Gottesdiensten, religiösen Zeremonien und Feiern teilzunehmen oder seine
religiöse Anschauung und seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren (Abs. 3),
und daß die Religions- und Sittenerziehung und -lehre unter der Aufsicht und
Kontrolle des Staats durchgeführt werden und religiöse Kultur und Sittenlehre in
den Grund- und Mittelschulanstalten zu den Pflichtfächern gehören (Abs. 4). Auf
der Grundlage dieser Verfassungsbestimmung ist in den letzten Jahren der
Religionsunterricht als Pflichtfach an türkischen Schulen eingeführt worden; ob und
in welcher Weise daraufhin christliche Schüler zur Teilnahme am islamischen
Religionsunterricht gezwungen worden sind, war anfangs zweifelhaft, ist aber
inzwischen aufgeklärt. Das Auswärtige Amt hat zunächst berichtet, christliche
Schüler nähmen nicht am islamischen Religionsunterricht teil, sondern erhielten
eine christliche Unterweisung; in Einzelfällen hätten Schulleiter allerdings gegen
einen entsprechenden Runderlaß des Erziehungsministeriums verstoßen (38.).
Nunmehr hat das Auswärtige Amt unter Bezugnahme auf einen Erlaß des
Ministeriums für nationale Erziehung, Jugend und Sport vom 20. Oktober 1986 Nr.
2219 die Auskunft erteilt, daß christliche Schüler im Fach "Religionslehre und
Grundsätze der Ethik" nicht dazu verpflichtet seien, das islamische
Glaubensbekenntnis, die islamische Einleitungsformel Amentü, die Koranverse und
das islamische Ritualgebet Namaz zu lernen und Kenntnisse über Namaz,
Ramadan, die Regeln der islamischen Jahresspenden und das Pilgern nach Mekka
zu erwerben; allerdings habe man Kenntnis erlangt von Diskriminierungen in der
Praxis und davon, daß manche Schüler lieber an den islamischen Gebeten
teilnähmen, bevor sie dauernd einer demütigenden Behandlung ausgesetzt seien
(54., ähnlich 58.). Anderen Auskünften zufolge soll der sog. Ethik- und
Moralunterricht in den früheren 70er Jahren weitgehend laizistisch und wertneutral
gewesen sein, inzwischen aber immer mehr islamisiert und zu einem Neben-
Religionsunterricht ausgebaut worden sein (39.). Die jetzige Ausgestaltung des
staatlichen Religions- und Ethikunterrichts führe insofern zu einer Benachteiligung
der christlichen Minderheiten, als ein Äquivalent für die nichtmuslimischen Schüler
nicht angeboten werde (49.). Die Annahme, es sei nunmehr ein islamischer
Religionsunterricht als Pflichtfach eingeführt und damit auch für christliche Schüler
verbindlich (49., 50.), erscheint indes nicht gerechtfertigt. Die in deutscher
Übersetzung vorliegenden Richtlinien (Anlage zu 54.) bestimmen eindeutig, daß
der Grundsatz des Laizismus während des Ausbildungsprogramms "Religionslehre
und Grundsätze der Ethik" immer zu beachten und zu schützen ist und niemand
zu religiösen Handlungen gezwungen werden darf. Außerdem ist bestimmt, daß,
wenn den Kindern die "nationale Moral gelehrt wird", nicht unter den Religionen
unterschieden wird, um den Kindern später die Anpassung an die Gesellschaft zu
erleichtern. Insgesamt kommt zwar in den Richtlinien deutlich zum Ausdruck, daß
der Islam die Religion der Türkei und Mohammed ein Vorbild für die Türken sein
soll. Die nach dem Verfassungsgrundsatz des Laizismus gebotene Distanz des
türkischen Staats gegenüber der islamischen Religion äußert sich allerdings darin,
daß Namaz, Suren und Gebete im staatlichen Unterricht nicht in arabischer
Sprache gelehrt werden dürfen. Nach alledem bieten die gesetzlichen und die
verwaltungsinternen Vorschriften für den Religionsunterricht an staatlichen
Schulen keine Veranlassung für die Annahme, der türkische Staat greife
102
Schulen keine Veranlassung für die Annahme, der türkische Staat greife
unmittelbar in die Freiheit der religiösen Betätigung der Syrisch-Orthodoxen in
einer Art und Weise ein, die die Menschenwürde oder das sogenannte religiöse
Existenzminimum antastet. Dies gilt auch und erst recht für die Zeit vor
Inkrafttreten der Verfassung von 1982 und vor der Machtübernahme durch das
Militär im September 1980. Auch wenn berücksichtigt ist, daß ein christlicher
Religionsunterricht an staatlichen Schulen nicht angeboten wird und es bei der
praktischen Handhabung der Unterscheidung zwischen ethischen und allgemein-
religiösen Lehrinhalten einerseits und islamischen Glaubenslehren andererseits im
Unterricht leicht zu Benachteiligungen und Beeinträchtigungen der
Glaubensüberzeugungen christlicher Schüler kommen könnte (58.), kann darin
insgesamt ein asylrelevanter Eingriff nicht gesehen werden. Denn abgesehen von
der fehlenden Intensität mangelt es insoweit auch an der erforderlichen staatlichen
Motivation und an der Zurechenbarkeit. Die Einführung des staatlichen
Pflichtunterrichts in Ethik und Religion verfolgt das Ziel einer Eindämmung des
Einflusses der privaten Koranschulen (20., 58.) und läßt deshalb für sich noch
keinen Rückschluß auf eine im Jahre 1986 oder schon früher vorhandene Neigung
staatlicher Stellen zur gezielten Beeinträchtigung nichtmuslimischer Religionen zu.
Schließlich wären gelegentliche Übergriffe einzelner Lehrer, die die Anweisungen
zur Achtung der Religion nichtmuslimischer Schüler mißachten, dem türkischen
Staat asylrechtlich schwerlich zuzurechnen, weil Anhaltspunkte dafür, daß die
Verantwortlichen derartige dienstliche Verfehlungen förderten oder zumindest
duldeten, nicht bekannt sind.
Schließlich können Anzeichen für eine gegen Christen gerichtete
Gruppenverfolgung auch nicht in der Art und Weise festgestellt werden, wie
christliche Wehrpflichtige in der türkischen Armee behandelt werden. Insoweit
liegen allerdings unterschiedliche Auskünfte und Stellungnahmen vor, wobei -
entgegen der Auffassung des Klägers - auch gegen die Verwertung der in der
Berufungsbegründung erwähnten Unterlagen Bedenken grundsätzlich nicht
bestehen (vgl. etwa Kanein/Renner, AuslR, 4. Aufl. 1988, § 30 AsylVfG, RdNr. 9
m.w.N.). So hat das Auswärtige Amt im Juni und November 1984 berichtet,
Christen hätten in der türkischen Armee nach allen bisherigen Erkenntnissen in
aller Regel weder seitens ihrer Vorgesetzten noch seitens ihrer Kameraden mit
diskriminierenden Handlungen zu rechnen; wenn ein Christ allerdings die Tatsache
seines Glaubens demonstrativ deutlich mache, seien Sticheleien und gelegentliche
Übergriffe seiner Kameraden nicht auszuschließen (37., 40.). Im Oktober 1985 hat
das Auswärtige Amt darüber hinausgehend berichtet, daß zuverlässigen Angaben
zufolge regelmäßig beim ersten Gesundheitsappell nach der Einberufung von
Vorgesetzten im Unteroffiziersrang hämische Bemerkungen über die "dreckigen
Christenschweine" gemacht würden, die noch nicht einmal eine so elementare
hygienische Maßnahme wie die Beschneidung durchführen ließen; einfache
Rekruten in normalen Einheiten sähen sich leicht infolge der Schikanen der
Unteroffiziere und der Kameraden einem zumindest subjektiv als unwiderstehlich
empfundenen Druck ausgesetzt, der viele veranlasse, den geforderten Eingriff
"freiwillig" vornehmen zu lassen (47.). Im Dezember 1987 hat das Auswärtige Amt
wiederum die Auskunft gegeben, es sei von gezielten Schikanen gegen Christen
während des Wehrdienstes nichts bekannt geworden; außerdem hat es berichtet,
es seien keine Fälle von Zwangsbeschneidungen mehr bekannt geworden (56.).
Dagegen sprechen andere Quellen teilweise in pauschaler Form, teilweise aber
auch sehr dezidiert von Zwangsbeschneidungen christlicher Wehrpflichtiger in der
Türkei. Die Sachverständige Dr. Hofmann (42.) berichtet aufgrund zahlreicher
Gespräche mit Betroffenen, die Diskriminierungen reichten von der verbalen
Beleidigung ("schmutziges Christenschwein", "Gavur") bis hin zur schweren
Körperverletzung, an denen Kameraden und Vorgesetzte beteiligt seien; bis in die
Gegenwart (Februar 1985) würden christlichen Soldaten Gewalt und
Zwangsbeschneidung zumindest angedroht, die Androhung der
Zwangsbeschneidung begleite die männlichen Christen durch alle
Lebensabschnitte, sei aber während des Militärdienstes besonders virulent. Dem
Sachverständigen Prof. Wiesner (43.) sind Versuche der zwangsweisen Bekehrung
und der Zwangsbeschneidung während des Militärdienstes dagegen nicht bekannt
geworden; er hält derartige Angaben von Asylbewerbern für Greuelmärchen und
begründet im einzelnen seine Bedenken gegen die Wahrheit entsprechender
Erzählungen. Auch der Sachverständige Dr. Binswanger (44.) gibt an, Fälle von
Zwangsbeschneidungen christlicher Soldaten während ihrer Militärdienstzeit seien
unbekannt, ein offenes Geheimnis sei hingegen die körperliche Mißhandlung durch
sadistische Unteroffiziere, deren Haltung in seltenen Fällen auch muslimische
Wehrpflichtige treffe; diskriminiert würden die Christen insofern, als Wehrpflichtige
mit Abitur nicht wie sonst in der Regel als Offiziersanwärter rekrutiert würden. Der
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mit Abitur nicht wie sonst in der Regel als Offiziersanwärter rekrutiert würden. Der
Sachverständige Dr. Oehring (45.) hat noch im Frühjahr 1985 erfahren, daß
christliche Soldaten generell mit den unangenehmsten Aufgaben betraut werden
und Pöbeleien an der Tagesordnung und Übergriffe nicht ausgeschlossen seien;
Zwangsbeschneidungen oder zumindest entsprechende Drohungen kämen vor,
allerdings "nicht überall und nicht immer". Demgegenüber hat ein Zeuge in einem
Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nähere Angaben über
einzelne Fälle von Zwangsbeschneidungen gemacht (53.). Er ist 16 Monate lang
bis Juli 1985 Militärarzt in der Osttürkei gewesen und hat während seiner Dienstzeit
etwa 90 christliche Rekruten kennengelernt. Seinen Angaben zufolge kann er nicht
als Augenzeuge bestätigen, daß jemand beim Militär einer gewaltsamen
Zwangsbeschneidung unterzogen worden ist; er hat allerdings glaubhaft bezeugt,
daß man auf andere Weise Personen gezwungen hat, sich beschneiden zu lassen.
Er selbst habe die Beschneidung einiger Soldaten, die zu ihm zur
Zwangsbeschneidung geschickt worden seien, abgelehnt. Er habe aber mit
eigenen Augen gesehen, daß man in dem Militärkrankenhaus von Agri einen
christlichen Soldaten beschnitten habe, der bei einem späteren Gespräch
offenbart habe, daß er nur unter Zwang die Beschneidung habe vornehmen
lassen; er sei nämlich nach seiner anfänglichen Weigerung "vom Schreibdienst
zum Toilettenplatz degradiert" und dann auch noch wiederholt geschlagen worden.
Er wisse, daß 30 bis 40 christliche Soldaten der Beschneidung im Krankenhaus
unterzogen worden seien; er habe diese Soldaten aus den üblichen
Generaluntersuchungen, die alle drei Monate stattfänden, gekannt, und alle hätten
ihm unter vier Augen bedeutet, sie seien auf keinen Fall zur Beschneidung bereit
gewesen. Wenn nach alledem auch nicht auszuschließen ist, daß christliche
Wehrpflichtige von Kameraden und auch von Vorgesetzten mit mehr oder weniger
Druck gezwungen worden sind - und weiterhin gezwungen werden -, sich
beschneiden zu lassen, so kann doch andererseits nicht festgestellt werden, daß
christliche Wehrpflichtige allgemein mit einer derartigen Behandlung im Militär in
dem Sinne zu rechnen hatten oder haben, daß daraus auf eine direkte
Kollektivverfolgung aller Christen oder zumindest aller christlichen Wehrpflichtigen
geschlossen werden kann. Anhaltspunkte dafür, daß die militärische Führung
derartige Übergriffe duldet oder gar fördert, bestehen nämlich nicht.
Selbst wenn angesichts der straffen Disziplin in den türkischen Streitkräften
unterstellt wird, daß die Beschwerde eines Soldaten zumindest in den unteren
Rängen nicht akzeptiert würde und die Folgen für den Soldaten eher negativ
wären, besteht schon im Hinblick auf die geringe Anzahl nachgewiesener Fälle
wirklicher Zwangsbeschneidungen und die fehlende Förderung oder zumindest
Duldung durch nicht nur untergeordnete Stellen im türkischen Militär kein
genügender Anhalt für eine asylrechtliche Zurechenbarkeit derartiger Vorfälle (vgl.
Hess. VGH, 14. 10.1987 - 12 TE 1770/84 -, EZAR 633 Nr. 13; ähnlich auch VGH
Baden-Württemberg, 23.07.1984 - A 13 S 267/84 -, bestätigt durch BVerwG,
22.04.1986 - 9 C 318.85 u.a. -, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8), geschweige
denn für eine unmittelbare Verantwortlichkeit des türkischen Staats.
bb) Darüber hinaus waren die Christen in der Türkei, insbesondere in der
Südosttürkei in dem hier maßgeblichen Zeitraum auch keiner mittelbaren
staatlichen Kollektivverfolgung in der Weise ausgesetzt, daß sie von anderen
Bevölkerungsgruppen ihrer Religion und ihres christlichen Bekenntnisses wegen
verfolgt wurden und hiergegen staatlichen Schutz nicht erhalten konnten.
In diesem Zusammenhang ist es nicht erforderlich, die Ursachen der oben (unter
II. 2. a) dargestellten Abwanderungsbewegungen aus den ursprünglich
ausschließlich oder zumindest überwiegend christlichen Dörfern nach Mardin und
Midyat und vor allem nach Istanbul und von dort aus ins Ausland im einzelnen zu
ermitteln. Tatsächlich sind die Christen den Anwerbeaktionen der
westeuropäischen Wirtschaft seit Beginn der 60er Jahre wohl dank ihrer besseren
Ausbildung und ihrer größeren Flexibilität eher gefolgt als die in der Südosttürkei
lebenden Kurden und haben dann nach und nach ihre Familien in die
Bundesrepublik Deutschland und andere westeuropäische Länder nachgeholt. Eine
gewisse Rolle mag anfangs auch die allgemein in der Türkei zu beobachtende
Landflucht gespielt haben, die die Einwohnerzahl von Istanbul auf jetzt acht bis
zehn Millionen hat anwachsen lassen (1., S. 111; 18., S. 20). Wie bereits oben
(unter II. 2. b aa) festgestellt, haben zudem viele Priester im Zuge der
Gastarbeiterwanderung ihre syrisch-orthodoxen Gemeinden im Tur'Abdin
verlassen und sind gegen den Willen der Kirchenleitung nach Europa und nach
Übersee ausgewandert (49., S. 3), was zusätzlich zu einer Destabilisierung der
gewachsenen Siedlungsstrukturen der Christen in der Südosttürkei beigetragen
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gewachsenen Siedlungsstrukturen der Christen in der Südosttürkei beigetragen
hat. Schließlich haben auch die Ereignisse um Zypern, im Libanon und im Iran
sowie allenthalben feststellbare Islamisierungstendenzen zu einer Verhärtung des
Verhältnisses zwischen Christen und muslimischen Kurden im Tur'Abdin
beigetragen. Ungeachtet der im einzelnen maßgeblichen Gründe für die
Bevölkerungsbewegungen, die durchaus umstritten sein mögen, wurde aber seit
Mitte der 70er Jahre aus dem Gebiet um Midyat über eine auffällige Zunahme
schwerer Übergriffe der muslimischen Mehrheit (meist Kurden) gegen Christen
berichtet, und zwar über Morde, Mordversuche, Entführungen,
Zwangsbeschneidungen, Viehdiebstähle, Landnahme, Sachbeschädigungen und
Plünderungen (vgl. dazu etwa: Schreiben eines syrisch-orthodoxen Ortsvorstehers
an den türkischen Staatspräsidenten vom März 1976, zitiert in 1., S. 112 f.; 3., S.
46 f.; Schilderungen in der Zeitschrift "Egartho" zitiert in 1., S. 115 f.; 5., S. 32 ff.
und 106 ff.; 8., S. 5; 14.; 16.; 36., S. 17 ff.). Gleichzeitig wurde allgemein
beanstandet, daß staatliche Stellen, wenn sie um Hilfe angegangen wurden,
entweder überhaupt nicht tätig geworden sind oder aber sogar offen zum
Ausdruck gebracht haben, sie lehnten es ab, Christen Schutz zu gewähren (vgl.
etwa: 4., S. 3, 5; 5., S. 34; 15.). Außerdem wurde betont, ähnliche Gewalttaten
Syrisch-Orthodoxer seien, wenn sie vereinzelt vorgekommen seien, auch verfolgt
worden (9., S. 21). Für die zahlreichen Übergriffe gegenüber syrisch-orthodoxen
Christen seien beispielhaft folgende Ereignisse erwähnt: Raubüberfall auf einen
Priester auf der Fahrt zwischen Ado und Midyat Anfang 1978 (1., S. 115); Überfall
auf einen Pfarrer in Gölgöze am 30. April 1978, dabei zwei Verwandte erschossen
(1., S. 116); Entführung eines christlichen Mädchens einen Tag vor der Hochzeit,
Anrufung der Gerichte blieb ohne Erfolg (5., S. 34 f.); Entführung eines 13jährigen
Mädchens am 19. Februar 1979 durch drei Kurden, trotz Gerichtsentscheidung
keine polizeilichen Maßnahmen wie Festnahme der Entführer und Vorführung des
Mädchens bei Gericht (5., S. 36; ähnliche Fälle in 11., S. 7, 9); Landwegnahme
1948, vor Gericht erfolgreicher Christ anschließend ermordet, 1958 Mord an zehn
Christen, die ebenfalls gerichtliche Verfahren zur Wiedererlangung ihres Besitzes
angestrengt hatten (5., S. 37 f.); Mord an dem letzten in Kerburan verbliebenen
Christenführer am 29. Oktober 1978 nach Ermordung und allmählicher
Verdrängung der ursprünglich mehrheitlich christlichen Bevölkerung (3., S. 50; 5.,
S. 40; vgl. dazu auch 11., S. 5).
Bei der Frage nach den Ursachen für die danach seit Mitte der 70er Jahre vermehrt
feststellbaren Beeinträchtigungen der Christen durch die muslimische Bevölkerung
im Tur'Abdin werden teils die Auswirkungen der Verfolgung weniger schwerwiegend
dargestellt, teils die religionsbezogene Motivation der Verfolger bezweifelt und teils
die Einstellung der staatlichen Stellen zu diesen Maßnahmen der andersgläubigen
Mitbürger nicht so gewertet und eingeschätzt, daß den Christen der erforderliche
staatliche Schutz gegen private Übergriffe ihrer Religion wegen verwehrt wurde. So
bestätigen etwa auch andere als die bereits erwähnten Quellen gewalttätige
Auseinandersetzungen und existenzbedrohende Übergriffe im Südosten der Türkei
(2., S. 2; 17.) und die Gefahr administrativer Schikanen sowie die Schutzlosigkeit
gegenüber gesetzlosen Zuständen vor der Machtübernahme durch das Militär im
September 1980 (15.). Andererseits wird aber darauf hingewiesen, daß unter
schwierigen Lebensverhältnissen und der gesetzlosen Lage vor September 1980
auch die übrige Bevölkerung zu leiden gehabt habe, die Abwanderung aus dem
Tur'Abdin vorwiegend wirtschaftliche und soziale Gründe habe und die
Wanderungsbewegung bei den Christen nicht stärker sei als bei der übrigen
Bevölkerung (vgl. vor allem 18., S. 23 ff., 31 ff.). Während das Auswärtige Amt als
Ursachen für die Abwanderung neben religiösen Spannungen sowohl
wirtschaftliche Schwierigkeiten als auch die in Gewalttätigkeiten ausufernden
Streitigkeiten aus sprachlichen, sozialen und ethnischen Motiven nennt, räumt es
doch gleichzeitig ein, Christen hätten teilweise existenzbedrohende
Benachteiligungen erlitten und seien gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt
gewesen, gegen die ausreichender staatlicher Schutz besonders in schwer
zugänglichen ländlichen Gebieten häufig nicht habe gewährt werden können, so
daß praktisch die christliche Minderheit oftmals gewalttätigen Übergriffen schutzlos
preisgegeben gewesen sei (2., S. 2). Wenn Wiskandt bezweifelt, daß Christen aus
dem Tur'Abdin in wesentlich größerem Ausmaß als Kurden abgewandert sind (18.,
S. 23 ff., besonders S. 28), so fällt auf, daß er die Anzahl der in der Provinz Mardin
lebenden Syrisch-Orthodoxen aus einer offiziellen Einwohnerstatistik und eigenen
Berechnungen ableitet, während die oben (unter II. 2. a) erwähnten
Zahlenangaben anderer Autoren zwar vorwiegend auf Schätzungen beruhen, aber
insgesamt zutreffender erscheinen, weil dort der Bevölkerungsrückgang bei den
Christen zum größten Teil durch die Nennung von Ortsnamen und exakten
Einwohnerzahlen belegt ist. Es mag zutreffen, daß die historischen Fakten in den
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Einwohnerzahlen belegt ist. Es mag zutreffen, daß die historischen Fakten in den
epd-Dokumentationen (5. und 36.) nicht immer neutral dargestellt sind und die
religiösen Bezüge dort ebenso einseitig in den Vordergrund gestellt werden wie
von Yonan (1.) der Prozeß der Entwicklung einer assyrischen Nation. Abgesehen
aber davon, daß Wiskandt seine Befragungen offenbar ohne die in solchen
Situationen wichtige Vertrauensbasis zu den befragten Personen und ohne
Bekanntgabe seines Auftrags durchgeführt hat, ist in seinem Gutachten an
zahlreichen Stellen nachzuweisen, daß seine Ausführungen nicht völlig frei sind von
Vorverständnissen und festliegenden persönlichen Positionen, die die
Beantwortung der ihm gestellten Fragen teilweise beeinflußt haben könnten (vgl.
dazu im einzelnen 23., 24., 25.). So wirft er der ersten epd-Dokumentation offen
bewußte Zahlenmanipulation vor (S. 27, 29), polemisiert gegen die "hiesige Lobby
der Sürjannis" (S. 65) und beschreibt die "Erfolge" der Militärregierung ohne jede
Einschränkung (S. 20 ff.), obwohl Vorbehalte gegen die Politik der Militärregierung
angesichts zahlreicher Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei
zumindest erwähnenswert gewesen wären.
Nach alledem vermag der Senat nicht festzustellen, daß die Christen in der Türkei
- und zwar auch im Tur'Abdin - in ihrer Gesamtheit im Zeitraum von etwa 1973 bis
etwa Mitte 1980 in der Weise mittelbar aus religiösen Gründen verfolgt worden
sind, daß sie als Angehörige der christlichen Minderheit gewalttätigen Übergriffen
mit Gefahren für Leib und Leben und die persönliche Freiheit durch die
muslimische Bevölkerung ausgesetzt waren und der türkische Staat diese
Verfolgungsmaßnahmen entweder gebilligt oder zumindest tatenlos
hingenommen und damit den Christen den erforderlichen staatlichen Schutz
versagt hat. Die dargelegten Verhältnisse stellen sich allerdings so dar, daß in
zahlreichen Einzelfällen tatsächlich syrisch-orthodoxe Bewohner des Tur'Abdin von
muslimischen Mitbürgern umgebracht, verletzt, entführt oder beraubt worden sind,
ohne daß die zuständigen staatlichen Behörden hiergegen eingeschritten sind,
obwohl ihnen dies möglich gewesen wäre (vgl. z.B. die Fälle in den vom 10. Senat
des Hess. VGH entschiedenen Verfahren X OE 847/81 und X OE 1131/81).
3. Es kann auch nicht festgestellt werden, daß der Kläger vor seiner Ausreise aus
anderen Gründen durch den türkischen Staat unmittelbar - etwa durch
Ausbürgerung - politisch verfolgt wurde (a), daß er in der Türkei von religiös
motivierten Übergriffen muslimischer Mitbürger betroffen war und dagegen
staatlichen Schutz nicht in Anspruch nehmen konnte (b) oder daß er in seiner
persönlichen Freiheit, in seiner körperlichen Unversehrtheit oder in seiner
Religionsfreiheit schon damals - etwa durch die bevorstehende Heranziehung zum
Militärdienst - so konkret bedroht war, daß ein asylrelevanter Eingriff unmittelbar
bevorstand und er deshalb als vorverfolgt anzusehen ist (c).
a) Ob eine Ausbürgerung des Klägers seitens des türkischen Staates, wäre sie
erfolgt, asylrechtliche Bedeutung hätte, bedarf keiner Klärung (vgl. hierzu
Kanein/Renner, Ausländerrecht, 4. Aufl. 1988, 2 GG/GK, RdNr. 54, u. Marx/Strate/
Pfaff, Asylverfahrensgesetz, 2. Aufl. 1987, § 1, RdNrn. 173 ff., jeweils m.w.N.). Denn
der Kläger bezweifelt zu Unrecht, daß er die türkische Staatsangehörigkeit besitzt.
Soweit er erstmals in der Klagebegründung vom 5. Mai 1983 vorgetragen hat,
türkische Behördenbedienstete hätten ihm bei der Ausreise erklärt, daß er kein
türkischer Staatsangehöriger (mehr) sei, hat der Kläger diese Behauptung bei
seiner Vernehmung durch den Berichterstatter des Senats am 11. Juli 1988 nicht
aufrechterhalten. Soweit er seine Bedenken nach wie vor auf den Umstand stützt,
daß seiner Mutter durch Beschluß des türkischen Ministerrats vom 7. Dezember
1969 die türkische Staatsangehörigkeit entzogen wurde, greifen diese zur
Überzeugung des Senats ebenfalls nicht durch. Seiner bei der Vernehmung
geäußerten vagen Erinnerung an ein entsprechendes Dokument irgendeiner
Meldebehörde, bei dem es sich den eigenen Angaben des Klägers zufolge auch
um eine Fälschung handeln könnte, ist in diesem Zusammenhang ebensowenig
maßgebliche Bedeutung beizumessen wie den geschilderten Schwierigkeiten
anläßlich der Einschulung des jüngsten Bruders Z. des Klägers, zumal seine Mutter
selbst angegeben hat, sie habe den ersten sicheren Nachweis ihrer Ausbürgerung
erst aufgrund einer Anfrage der Ausländerbehörde des Kreises Hersfeld-Rotenburg
erhalten (Bl. 83 der Akte VG Kassel II/3 E 8025/85). Dafür, daß der Kläger nach wie
vor türkischer Staatsangehöriger ist, spricht demgegenüber, daß ihm - wenn auch
angeblich gegen Zahlung eines Schmiergeldes - im Jahre 1980 Nüfus und
Nationalpaß von der zuständigen Behörde ausgestellt, daß seine Papiere bei der
Ausreise nicht beanstandet und daß eine Verlängerung des Passes vom
türkischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main nur unter Hinweis auf den noch
nicht geleisteten Militärdienst abgelehnt wurde, vor allem aber, daß ausweislich
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nicht geleisteten Militärdienst abgelehnt wurde, vor allem aber, daß ausweislich
einer im Klageverfahren der Mutter des Klägers eingeholten Auskunft der
Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Ankara, die ihrerseits beim
zuständigen Personenstandsamt in Mardin angefragt hatte, vom 15. August 1984
(Bl. 95 der Akte VG Kassel II/3 E 8025/85) der Kläger und seine Geschwister trotz
der Ausbürgerung ihrer Mutter die türkische Staatsangehörigkeit behalten haben.
b) Der Kläger war auch vor seiner Ausreise in der Türkei weder an dem früheren
Wohnort der Familie noch in Istanbul von dem türkischen Staat zurechenbaren
religiös motivierten Übergriffen moslemischer Eiferer betroffen. Seine Angaben zu
seinem Lebensschicksal und zu den Gründen und Umständen seiner Ausreise sind
allerdings im wesentlichen glaubhaft.
Danach steht fest, daß die Familie des Klägers zunächst in dem Dorf M. gelebt hat,
das - den weitgehend übereinstimmenden Angaben des Klägers im Asylantrag
vom 22. Mai 1980 sowie seiner Mutter und seiner Schwester M. in deren
Asylverfahren zufolge (Bl. 27 der Bundesamtsakte 163/70294/80, Bl. 44 der Akte
VG Kassel II/3 E 8025/85 und Bl. 33 der Akte Hess. VGH 12 UE 2487/85) - ca. zwei
oder drei Kilometer bzw. 15 Minuten Fußweg nordöstlich von Mardin liegt und
dessen Bevölkerung bis zum Ersten Weltkrieg rein christlich war, während etwa
1960 dort noch ca. 10 christliche Familien und im übrigen Moslems - im Jahre 1975
waren es 1656 Personen lebten. Daß das Dorf M. in der Aufstellung von Dörfern
mit assyrischer Bevölkerung im Tur'Abdin bei Yonan (1., S. 117 f.) nicht enthalten
ist, steht den vorstehend dargelegten Erkenntnissen des Senats nicht entgegen,
zumal die betreffende Aufstellung selbst keinen Anspruch auf Vollständigkeit
erhebt. Ebensowenig mißt der Senat den Umständen durchgreifende Bedeutung
bei, daß in den vorliegenden Akten des Klägers und seiner Verwandten
unterschiedliche Schreibweisen des Ortes auftauchen (etwa "M.", "M." und "M.")
und daß der Kläger laut Nüfus gar aus einem Dorf namens Y. - wobei es sich um
eine anderssprachliche Bezeichnung handeln mag - im Bezirk Mardin stammt.
Auch kann letztlich dahinstehen, ob der Kläger noch in der Gegend von Mardin
oder schon in Istanbul geboren ist. Während er selbst bei seiner Vernehmung am
11. Juli 1988 angab, er sei ziemlich sicher, nicht in Istanbul geboren zu sein, ist laut
Paß und Nüfus Istanbul der Geburtsort des Klägers. Uneinheitlich sind auch die in
diesem Zusammenhang bedeutsamen Angaben in den Akten der übrigen
Familienmitglieder: So sprechen die Bekundungen der Mutter des Klägers, der
Umzug der Familie sei etwa Mitte der 60er Jahre erfolgt, denn alle Kinder -
ausgenommen Z. - seien noch im Bezirk Mardin geboren (Bl. 44 der Akte VG
Kassel II/3 E 8025/85), für die Annahme des Klägers, ebenso das Vorbringen seiner
Schwester M. in deren Asylantrag (Bl. 3 der Bundesamtsakte Tür-S-38967), daß
sie zusammen mit der Mutter und drei Geschwistern - also wohl J., Y. und dem
Kläger - nach Istanbul geflohen sei. Andererseits erwecken die Angaben des
Bruders Y. in dessen Asylantrag (Bl. 3 der Bundesamtsakte Tür-T-16299) den
Eindruck, als sei der Umzug noch im Jahre 1960 erfolgt; dementsprechend hat M.
bei ihrer Vorprüfungsanhörung geäußert, die Familie sei im Jahre 1960 nach
Istanbul übergesiedelt (Bl. 22 der Bundesamtsakte Tür-S-38967), und die Mutter
bei gleicher Gelegenheit, sie hätten die letzten 20 Jahre vor der Ausreise - also seit
1960 - in Istanbul gelebt (Bl. 27 der Bundesamtsakte 163/70294/80). Den
Paßeintragungen dürfte hierbei ein sonderlicher Beweiswert nicht zukommen, denn
nach Angaben der Schwester J. etwa hat die Paßbehörde als Geburtsort Istanbul
eingetragen, weil sie, obgleich sie aus M. stamme, darauf bestanden habe (Bl. 11
der Bundesamtsakte Tür-T-18926). Mag der Kläger nach alledem entweder noch in
M. oder schon in Istanbul geboren sein, so steht zur Überzeugung des Senats
doch fest, daß jedenfalls ihm in M. asylerhebliches nicht widerfahren ist. Er hat bei
seiner Vernehmung am 11. Juli 1988 selbst ausdrücklich bekundet, keine
Erinnerung an die Zeit in der Südosttürkei mehr und hiervon nur aus Erzählungen
seiner Mutter erfahren zu haben. Demgemäß läßt sich aus dem Tod seines
ältesten Bruders Y. am 15. Januar 1960 und der möglicherweise am selben Tage
erfolgten Verletzung seines Vaters, die letztlich für dessen Tod im Jahre 1979 in
irgendeiner Weise ursächlich gewesen sein könnte, ohne daß es einer näheren
Aufklärung der damaligen, von den übrigen Familienangehörigen unterschiedlich
geschilderten Umstände bedarf (vgl. etwa Bl. 3, 4 und 22 der Bundesamtsakte
Tür-S-38967 und Bl. 43 der Akte VG Kassel II/3 E 8025/85), jedenfalls keine
Vorverfolgung des seinerzeit noch gar nicht geborenen Klägers herleiten. Es ist
auch nicht dargetan, daß die muslimischen Einwohner aus M. und den
umliegenden Dörfern sich die zwangsweise Bekehrung der christlichen Einwohner
des Dorfes M. zum Ziel gesetzt hatten. Eine Erklärung dafür, daß die Mehrzahl der
christlichen Familien den Ort seit dem Ersten Weltkrieg verlassen hat, kann
ebensogut darin gefunden werden, daß es früher zu Übergriffen gekommen ist und
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ebensogut darin gefunden werden, daß es früher zu Übergriffen gekommen ist und
es sich dabei um gewöhnliche Straftaten handelte, bei denen es die Täter in der
Hauptsache auf den Besitz der Christen, insbesondere auf deren Viehherden und
Erntegut sowie unter Umständen auch auf deren Felder und Weinberge abgesehen
hatten. Die Vorfälle, die die christlichen Bewohner von M. zur allmählichen
Abwanderung bewogen haben, stehen demnach zwar in Beziehung zu ihrer
Religionszugehörigkeit und zu ihrer Eigenschaft als Bewohner eines christlichen
Dorfes in einer weitgehend muslimischen Umgebung. Sie erlauben damit aber
noch nicht - weder für sich genommen noch im Zusammenhang gesehen - den
Schluß, daß der Kläger, sofern er nicht erst in Istanbul geboren ist, zu den Christen
gehörte, in deren Person sich der oben beschriebene Zustand einer latenten
allgemeinen Gefährdung und Verdrängung der Christen aus der Osttürkei zu einer
individuellen Verfolgung oder unmittelbaren Verfolgungsgefahr verdichtet hatte.
Der Kläger ist nach Überzeugung des Senats auch in Istanbul, wo er sich, sofern er
nicht schon dort geboren ist, spätestens seit Mitte der 60er Jahre aufgehalten hat,
nicht in asylrechtlich erheblicher Weise verfolgt worden.
Soweit der Kläger anläßlich der Vorprüfungsanhörung am 21. August 1981
angegeben hat, er sei während des Grundschulbesuchs von 1971 bis 1976
benachteiligt worden und habe seine Rechte nicht wahrnehmen können, sind diese
Schilderungen viel zu unsubstantiiert und pauschal, um die Feststellung
asylrechtlicher Erheblichkeit zu ermöglichen. Zwar hat der Kläger bei seiner
informatorischen Anhörung vor dem Verwaltungsgericht am 3. Oktober 1985
hierzu ergänzend vorgetragen, er sei vom Lehrer beschimpft und geschlagen und
immer wieder zur Teilnahme am Religionsunterricht gezwungen worden. Bezieht
man die Aussage des Klägers bei seiner Vernehmung am 11. Juli 1988 mit ein, daß
es in Istanbul ganz gut gegangen sei, solange er klein gewesen sei, so wird
indessen deutlich, daß das Vorbringen des Klägers zur Darlegung einer
asylrechtlich relevanten Verfolgung nicht ausreicht. Denn zum einen bedeutet die
Verpflichtung zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht nicht ohne
weiteres Zwang zur Teilnahme an religiösen Handlungen, und zum anderen wären
entsprechende Maßnahmen eines einzelnen Lehrers dem türkischen Staat, der
sich den Grundsätzen des Laizismus verpflichtet fühlt, nicht ohne weiteres
zurechenbar, zumal der Kläger nicht einmal behauptet hat, daß seine Eltern sich
beim Schulleiter beschwert hätten (vgl. hierzu auch oben unter II. 2. b aa).
Soweit der Kläger - insbesondere bei seiner informatorischen Anhörung vor dem
Verwaltungsgericht am 26. September 1985 und bei seiner Vernehmung durch
den Berichterstatter des Senats am 11. Juli 1988 - über Schwierigkeiten bei
verschiedenen Arbeitsstellen in Istanbul geklagt hat, beschränkt sich sein
Vorbringen im wesentlichen auf Beschimpfungen, Beleidigungen und Bedrohungen
seitens seiner Arbeitskollegen; in einzelnen Fällen will er auch geschlagen worden
sein. Indessen ist dem Kläger seinen Angaben zufolge lediglich in einem Fall von
einem Arbeitgeber - nämlich von einem Schuhmacher - gekündigt worden; in allen
anderen Fällen scheint der Kläger selbst resigniert zu haben, denn er blieb jeweils
der Arbeitsstelle fern. Daß er sich wegen der Drangsalierungen an den Arbeitgeber
oder - sofern diese von strafrechtlich relevanter Intensität gewesen sein sollten -
an die Polizei mit der Bitte um staatlichen Schutz gewandt hätte, ist nicht
hinreichend substantiiert dargetan. Die vorgetragenen Übergriffe - sollten sie
überhaupt von asylrechtlich beachtlicher Intensität gewesen seien - sind deshalb
dem türkischen Staat jedenfalls nicht ohne weiteres zurechenbar.
Ähnliches gilt auch für die übrigen Vorfälle in Istanbul, von denen der Kläger im
Verlaufe seines Asylverfahrens berichtet hat. So kann er aus dem
Entführungsversuch betreffend seine Schwester M., über den die Darstellungen
der einzelnen Familienangehörigen jedenfalls in Einzelheiten stark differieren (vgl.
etwa Bl. 23 der Bundesamtsakte Tür-S-38967, Bl. 28 der Bundesamtsakte
163/70294/80, Bl. 74 und 75 der Akte Hess. VGH 12 UE 2487/85, Bl. 46 der Akte
VG Kassel II/3 E 8025/85 und die Angaben des Klägers bei seiner informatorischen
Anhörung am 26.09.1985), nichts für sein eigenes Asylverfahren herleiten. Daß er
von den Entführern geschlagen worden sein will, ist deshalb unerheblich, weil er
sich deswegen offenbar nicht an die Polizei gewandt hat. Gleiches gilt hinsichtlich
des bei der Vorprüfung am 21. August 1981 berichteten Überfalls durch vier
Unbekannte im Dezember 1978. Auch anläßlich der Handgreiflichkeiten im Februar
1980, zu denen es nach der Beleidigung einer Verkäuferin von Marienbildern
gekommen sein soll, hat sich der Kläger seinen Bekundungen bei der Vernehmung
am 11. Juli 1988 zufolge weder ausdrücklich an in der Nähe befindliche
Militärpolizisten noch später an die Polizei mit der Bitte um Hilfe gewandt. Wenn
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Militärpolizisten noch später an die Polizei mit der Bitte um Hilfe gewandt. Wenn
der Kläger bei seiner informatorischen Anhörung vor dem Verwaltungsgericht am
26. September 1985 pauschal angegeben hat, er habe die Polizei "von den
geschilderten Vorfällen manchmal unterrichtet", aber letztlich lohne sich das nicht,
so genügt dies für einen schlüssigen Vortrag nicht, da unklar bleibt, in welchen
Fällen die Polizei informiert worden ist und ob sie jeweils eingeschritten ist oder -
gegebenenfalls mit welcher Begründung - nicht. Ohne asylrechtlichen Belang ist
schließlich der ebenfalls vor dem Verwaltungsgericht mitgeteilte, im späteren
Verfahrensverlauf indessen nicht mehr erwähnte Vorfall, daß der Kläger anläßlich
einer Anzeigeerstattung auf der Polizeistation mit Stockhieben mißhandelt worden
sei, denn eine dem zugrundeliegende politische Motivation hat der Kläger nicht
nachvollziehbar dargelegt. Sollte der Kläger - wie er im Klageverfahren vorgetragen
hat (Bl. 30 d.A.) - im übrigen tatsächlich gehindert worden sein, ein Kreuz offen zu
tragen, so war jedenfalls nicht das religiöse Existenzminimum betroffen, vor
dessen Beeinträchtigung Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG allein schützt. Daß alle diese
Vorkommnisse wohl nicht sonderlich schwer zu gewichten sind, wird im übrigen
daraus deutlich, daß die Mutter des Klägers anläßlich ihrer Vorprüfungsanhörung
angegeben hat, außer dem Entführungsversuch in bezug auf die Schwester M. des
Klägers sei in Istanbul nichts vorgefallen, weswegen sie polizeiliche Hilfe hätten in
Anspruch nehmen müssen (Bl. 28 der Bundesamtsakte 163/70294/80).
c) Soweit der Kläger als Grund für das Verlassen seines Heimatstaats die Furcht
vor der Behandlung im Militärdienst angegeben hat kann angenommen werden
daß für ihn der bei der Ausreise aus der Türkei 18 Jahre alt war, eine Einberufung
zum Militärdienst bevorstand, obwohl er einen entsprechenden Bescheid noch
nicht erhalten hatte. Es kann weiter als glaubhaft erachtet werden, daß er
aufgrund von Erfahrungen eines Cousins, der während der Militärdienstzeit ein
Auge verloren haben soll, seinerzeit die Befürchtung hegte, er werde als
christlicher Wehrpflichtiger in der türkischen Armee unter vielfältigen
Schwierigkeiten zu leiden haben. Es könnten zwar gewisse Bedenken gegen die
Annahme bestehen, der Kläger sei, obwohl die Wehrpflicht in der Türkei erst mit
dem 20. Lebensjahr einsetzt (56.), bereits damals aktuell von einer möglichen
Verfolgung während der Militärdienstzeit betroffen gewesen. Dies kann aber hier
dahinstehen. Es sind nämlich, wie bereits oben (unter II. 2. b aa) ausgeführt
worden ist, zwar gelegentliche Übergriffe auf christliche Wehrpflichtige in der
türkischen Armee in der Vergangenheit festgestellt worden, die Wahrscheinlichkeit
war für den Kläger jedoch nicht als so groß anzusehen, daß sie als asylrelevant
gelten kann (vgl. Hess. VGH, 30.08.1984 - X OE 306/82 -, 22.02.1988 - 12 UE
1071/84 - u. 13.06.1988 - 12 OE 94/83 -). Der Kläger hat zwar bei der
Vorprüfungsanhörung geltend gemacht, viele Christen seien beim Militär körperlich
mißhandelt worden und hätten dabei Verletzungen davongetragen, und bei der
informatorischen Anhörung vor dem Verwaltungsgericht hat er auf weitere den
Christen seiner Ansicht nach drohende Benachteiligungen hingewiesen. Indessen
kann - wie oben (unter II. 2. b aa) dargelegt - eine asylrechtliche Verantwortlichkeit
des türkischen Staates für die vereinzelt festgestellten Übergriffe auf Christen im
Militär nicht festgestellt werden. Das Verwaltungsgericht ist demgegenüber in dem
angegriffenen Urteil davon ausgegangen, daß syrisch-orthodoxe Christen
asylerheblichen Übergriffen von muslimischen Wehrpflichtigen ausgesetzt seien,
ohne daß Vorgesetzte oder andere Stellen dies im notwendigen Umfang
verhinderten, weshalb die betreffenden Verfolgungshandlungen dem türkischen
Staat zurechenbar seien. Diese Schlußfolgerungen erscheinen dem Senat unter
Berücksichtigung der oben (unter II. 2. b aa) ausgewerteten Erkenntnisquellen
nicht gerechtfertigt; vielmehr kann nicht davon ausgegangen werden, daß
eventuelle Übergriffe auf christliche Wehrpflichtige in der türkischen Armee zur Zeit
der Ausreise des Klägers ausdrücklich oder stillschweigend von vorgesetzten
Stellen bzw. vom türkischen Staat geduldet wurden. Der Umstand, daß der Bruder
des Klägers wegen des bevorstehenden Militärdienstes rechtskräftig Asyl erhalten
hat, gebietet - entgegen der Auffassung des Klägers - kein anderes Ergebnis.
Denn dies beruht allein darauf, daß das Verwaltungsgericht in dem betreffenden
Fall die ihm vorliegenden Erkenntnisquellen anders gewichtet hat sowie daß der
Bundesbeauftragte hiergegen - was seiner freien Entscheidung obliegt - Berufung
nicht eingelegt hat. Hieraus folgt indessen keine irgendwie geartete Bindung des
Senats im vorliegenden oder in anderen Fällen (vgl. in diesem Zusammenhang
auch Hess. VGH, 30.05.1988 - 12 UE 2514/85 -).
4. War demnach der Kläger vor seiner Ausreise aus der Türkei nicht politisch
verfolgt und legt man demzufolge den "normalen" Wahrscheinlichkeitsmaßstab an
(vgl. BVerwG, 31.03.1981 - 9 C 286.80 -, EZAR 200 Nr. 3 = DVBl 1981, 1096,
25.09.1984 - 9 C 17.84 -, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12, u. 03.12.1985 - 9 C
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25.09.1984 - 9 C 17.84 -, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12, u. 03.12.1985 - 9 C
22.85 -, EZAR 202 Nr. 6 = NVwZ 1986, 760), so kann auch nicht festgestellt
werden, daß ihm bei einer Rückkehr im jetzigen Zeitpunkt als Angehörigen einer
kollektiv verfolgten Gruppe politische Verfolgungsmaßnahmen drohen.
Die Gefahr einer Gruppenverfolgung Syrisch-Orthodoxer in der Türkei vermag der
Senat auch für die Zukunft nicht festzustellen. Wie schon oben (unter II. 2. b)
ausgeführt, hatten die syrisch-orthodoxen Christen bis zur Ausreise des Klägers
aus der Türkei allgemein in der Türkei und insbesondere auch in Istanbul eine
derartige politische Verfolgung nicht zu befürchten. Inzwischen hat sich die
Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im September 1980
allgemein erheblich verbessert, und dies hat sich nach allgemeiner Einschätzung
auch zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul wie in anderen
Landesteilen ausgewirkt (vgl. dazu etwa: 18., S. 34; 21.; 26.; 29.; 30.; 37.; 39.; 41.).
Das Auswärtige Amt hat dazu nach eingehenden Gesprächen mit syrisch-
orthodoxen Geistlichen unter Bezugnahme auf einen deutschsprachigen Bericht in
dem Organ der Erzdiözese der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien in Europa
vom Dezember 1982/Januar 1983 einen zunehmenden staatlichen Schutz für die
syrisch-orthodoxen Christen nach der Machtübernahme durch die Militärs
festgestellt (37.). Die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei
berichtet davon, daß von der Geistlichkeit und von einzelnen Gemeindemitgliedern
immer wieder festgestellt werde, daß sich die Verhältnisse nach dem 12.
September 1980 gebessert hätten (26.). Die Sürjanni Kadim berichtet, ihre
Mitglieder befänden sich wie jeder anderer türkische Bürger nach dem 12.
September 1980 "in Ruhe und in Sicherheit" (29.). Nach Auskunft der
Sachverständigen Dr. Harb-Anschütz hat sich nach dem 12. September 1980
auch in Istanbul die Lage der syrisch-orthodoxen Christen wesentlich verbessert
(30.). Zu demselben Ergebnis gelangten die Teilnehmer einer von der
Evangelischen Akademie Bad Boll im Mai 1983 veranstalteten Studienfahrt in die
Türkei (34.,S. 7, 18.). Soweit eine Verbesserung der Sicherheitslage mit den
entsprechenden Auswirkungen auf die Situation der Syrisch-Orthodoxen in Istanbul
bezweifelt wird (36., S. 17ff.), fehlt es an konkreten Hinweisen darauf, daß sich
tatsächlich entgegen der allgemeinen Lebenserfahrung die in der Türkei in den
letzten Jahren zu beobachtende Verbesserung der Sicherheitslage nicht auch
zugunsten der christlichen Bevölkerung ausgewirkt haben könnte (so auch: Bay.
VGH, 29.11.1985 - 11 B 85 C 35 -; VGH Baden-Württemberg, 20.06.1985 - A 13 S
221/84 -, bestätigt durch BVerwG, 16.10.1986 - 9 C 320.85 -; VGH Baden-
Württemberg, 09.02.1987 - A 13 S 709/86 -; OVG Bremen, 14.04.1987 - 2 BA
28/85 u. 32/85 -; OVG Hamburg, 10.06.1987 - Bf V 21/86 -; OVG Nordrhein-
Westfalen, 19.02.1987 - 18 A 10315/86 -; Hess. VGH, 30.08.1984 - X OE 306/82 -,
22.02.1988 - 12 UE 1071/84, 1587/84 u. 2585/85 -,16.05.1988 - 12 UE 2571/88 -,
30.05.1988 - 12 UE 2500/85 u. 2514/85 -, 13.06.1988 - 12 OE 94/83 -, 27.06.1988 -
12 UE 2438/85 - sowie 04.07.1988 - 12 UE 2573/85 u. 12 UE 25/86 -;a.A. OVG
Rheinland-Pfalz, 10.12.1986 - 11 A 131/86 -, aufgehoben durch BVerwG,
06.10.1987 - 9 C 13.87 -, EZAR 203 Nr. 4 = InfAuslR 1988, 57).
5. Ferner kann für den Kläger - mangels einer Änderung der hierfür in Betracht zu
ziehenden Prognosetatsachen - nicht zur Überzeugung des Senats festgestellt
werden, daß gerade ihm bei einer Rückkehr in seine Heimat im derzeitigen
Zeitpunkt politisch motivierte (Einzel-)verfolgung droht.
Ob ein Asylbewerber in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, ohne dort mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen
ausgesetzt zu sein, ist für das gesamte Territorium des Heimatstaats zu
beantworten; eine Beschränkung auf etwa den Geburtsort oder den letzten
Aufenthaltsort ist weder geboten noch statthaft. Droht einem Asylbewerber
nämlich eine Verfolgung in Teilen seines Heimatlandes erstmals oder wiederholt,
dann kann er darauf verwiesen werden, dort Aufenthalt zu nehmen, wo er
innerhalb seines Heimatstaats ohne Furcht vor politischer Verfolgung leben kann
(sog. interne Fluchtalternative; vgl. BVerfG, 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -,
BVerfGE 54, 341 <359 ff.> = EZAR 200 Nr. 1, sowie BVerwG, 02.08.1983 - 9 C
599.81 -, BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1, 15.02.1984 - 9 CB 191.83 -, EZAR
203 Nr. 2 = DVBl 1984, 570, 02.07.1985 - 9 C 58.84 -, EZAR 203 Nr. 3 = NVwZ
1986, 485, 06.10.1987 - 9 C 13.87 -, EZAR 203 Nr. 4 = InfAuslR 1988, 57,
09.02.1988 - 9 C 55.87 - u. 16.06.1988 - 9 C 1.88 -).
Es kann hier dahinstehen, ob sich der Kläger gefahrlos in M. niederlassen kann, wo
seine Familie herstammt und er möglicherweise geboren ist; ein Asylrecht steht
ihm nämlich schon deswegen nicht zu, weil er in Istanbul, wo er aufgewachsen ist
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ihm nämlich schon deswegen nicht zu, weil er in Istanbul, wo er aufgewachsen ist
und mindestens etwa 15 Jahre lang gewohnt hat, ohne Furcht vor politischer
Verfolgung leben kann. Denn wie oben (unter II. 4.) dargelegt, hat sich die
Verbesserung der Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im
September 1980 auch zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul in
der Weise ausgewirkt, daß nicht angenommen werden kann, dort seien Männer im
Alter des Klägers von religiös motivierten Übergriffen muslimischer Türken
betroffen und diesen Verfolgungsmaßnahmen schutzlos ausgesetzt. Der Kläger
verfügt darüber hinaus, zumal er in Istanbul von 1971 bis 1976 die Grundschule
besucht hat, über gute türkische Sprachkenntnisse. Außerdem ist er nach seinem
Alter und seinem Gesundheitszustand arbeitsfähig und - mangels gegenteiliger
Anhaltspunkte - offenbar auch arbeitswillig. Es ist überdies nicht auszuschließen,
daß er als angelernter Goldschmied erneut bei einem seiner früheren Arbeitgeber
wird Arbeit finden können, zumal er nicht entlassen wurde, sondern jeweils
aufgrund eigener Entscheidung das Beschäftigungsverhältnis beendete. Selbst
wenn der Kläger nicht an einer seiner früheren Arbeitsstellen sollte unterkommen
können, fehlen Anzeichen dafür, daß es ihm nicht wie anderen Rückkehrern oder
Zuwanderern aus dem Tur'Abdin gelingen sollte, sich vor möglichen Übergriffen
Andersgläubiger in Istanbul hinreichend zu schützen und insbesondere auch eine
Beschäftigung zu finden, die es ihm ermöglicht, seinen Unterhaltsbedarf zu
befriedigen. Er hat schließlich schon einmal über lange Zeit in Istanbul gelebt und
gearbeitet und kann deshalb nicht als so unerfahren und ortsunkundig angesehen
werden wie andere Christen, die unmittelbar aus dem Tur'Abdin nach Istanbul
ziehen. Offenbar gibt es aus jüngerer Zeit keine Bezugsfälle, in denen männliche
Christen in Istanbul ernsthaft an der Ausübung ihrer Religion gehindert worden sind
oder aber eine ausreichende materielle Lebensgrundlage nicht erlangen konnten;
jedenfalls sind die unsicheren Verhältnisse vor September 1980, die den Kläger
letztlich zum Verlassen der Türkei bewogen haben, inzwischen soweit verbessert,
daß für ihn nicht nur ein Leben "am Rande des Verderbens" (vgl. dazu BVerwG,
06.10.1987 - 9 C 13.87 -, EZAR 203 Nr. 4 = InfAuslR 1988, 57, u. Hess. VGH,
16.05.1988 - 12 UE 2571/85 -) gewährleistet ist. Hinzu kommt, daß die Familie des
Klägers schon vor ihrer Ausreise von einer christlichen Gemeinde eine Wohnung
zur Verfügung gestellt bekommen und finanzielle Unterstützung erhalten hatte, so
daß der Kläger im Rückkehrfalle einen zusätzlichen Anknüpfungspunkt vorfinden
dürfte.
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß dem Senat auch keinerlei
Erkenntnisquellen vorliegen, aus denen sich eine Verschlechterung der Situation
christlicher Wehrpflichtiger in der türkischen Armee seit der Ausreise des Klägers
ergibt.
III.
Die Entscheidungen über die Kosten des Verfahrens und die vorläufige
Vollstreckbarkeit beruhen auf §§ 154 Abs. 1, 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11 und 711
Satz 1 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor;
insbesondere rechtfertigt es nicht die Zulassung der Revision, daß der Senat von
den Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtshöfe)
abweicht, soweit er eine kollektive Verfolgung der christlichen Minderheit im
Tur'Abdin für die Zeit vor Mitte 1980 verneint.
R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
Die Nichtzulassung der Revision kann durch Beschwerde innerhalb eines Monats
nach Zustellung dieser Entscheidung angefochten werden. Die Beschwerde ist
durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule
einzulegen. In der Beschwerdeschrift muß die grundsätzliche Bedeutung der
Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, von der
die Entscheidung abweicht, oder ein Verfahrensmangel bezeichnet werden, auf
dem das Urteil beruhen kann (vgl. § 132 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -
und § 18 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der
obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 - BGBl I S. 661).
Die Revision ist auch ohne Zulassung statthaft, wenn einer der in § 133 VwGO
genannten Verfahrensmängel gerügt wird. In diesem Fall ist die Revision innerhalb
eines Monats nach Zustellung dieser Entscheidung durch einen Rechtsanwalt oder
einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule schriftlich einzulegen und
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einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule schriftlich einzulegen und
spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen. Die Revision muß die
angefochtene Entscheidung bezeichnen. Die Revisionsbegründung oder die
Revision muß einen bestimmten Antrag enthalten, ferner die verletzte Rechtsnorm
und die Tatsachen bezeichnen, die den gerügten Verfahrensmangel ergeben.
Beschwerde und Revision sind einzulegen bei dem
Hessischen Verwaltungsgerichtshof
Brüder-Grimm-Platz 1
3500 Kassel
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.