Urteil des HessVGH vom 10.11.2004

VGH Kassel: verordnung, schüler, einzelunterricht, sozialhilfe, bindungswirkung, stadt, hessen, verfügung, sonderschule, hauptsache

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
7. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 TG 1413/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 39 BSHG, § 40 Abs 1 Nr 4
BSHG, § 2 BSHG, § 49 Abs
1 SchulG HE
(Kein Anspruch eines behinderten Kindes gegenüber dem
Sozialhilfeträger auf Gestellung eines Integrationshelfers)
Leitsatz
Nach hessischem Landesrecht haben behinderte Kinder keinen Anspruch gegen das
Land Hessen bzw. den zuständigen Schulträger auf Gestellung eines sogenannten
Integrationshelfers (Unterrichtsbegleiters zur Ermöglichung des Schulbesuchs) oder auf
Übernahme der dadurch anfallenden Kosten.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird unter Abänderung des Beschlusses
des Verwaltungsgerichts Gießen vom 22. April 2004 der Antrag des Antragstellers
auf Erlass auf einer einstweiligen Anordnung vom 23. September 2003 abgelehnt.
Der Antragsteller hat - unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses auch
insoweit - die Kosten des gesamten Verfahrens mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf
4.000,-- € festgesetzt.
Gründe
I. Der Antragsteller begehrt die Verpflichtung des Antragsgegners, ihm eine
zusätzliche unterrichtsbegleitende Einzelbetreuung für die Zeit des Besuchs der C-
Schule in B-Stadt vorläufig zur Verfügung zu stellen.
Der am 19.11.1990 geborene Antragsteller leidet an einer autistischen
Verhaltensstörung, einer ataktischen Bewegungsstörung und einer intellektuellen
Behinderung. Das staatliche Schulamt für den Landkreis Gießen und den
Vogelsbergkreis stellte mit Bescheid vom 19.05.1998 gemäß § 54 Abs. 1
Hessisches Schulgesetz (HSchG) fest, dass für den Antragsteller
sonderpädagogischer Förderbedarf besteht, der Unterricht nach den
Rahmenplänen der Schule für Lernhilfe sowie den Richtlinien der Schule für
Körperbehinderte erforderlich macht.
Seit dem 01.08.1998 besucht der Antragsteller die Abteilung für Körperbehinderte
an der C-Schule für Lernhilfe und Körperbehinderte in B-Stadt.
Das Medizinische Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin der Justus-
Liebig-Universität stellte mit Gutachten vom 19.12.2000 fest, dass eine
Beschulung des Antragstellers nur mit einer Einzelbetreuung erfolgen könne, die
es ermögliche, den Antragsteller stundenweise aus dem Klassenverband
herauszunehmen.
Mit Schreiben vom 14.02.2001 beantragten die gesetzlichen Vertreter des
Antragstellers beim Sozialamt des Beigeladenen die Übernahme der Kosten für
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Antragstellers beim Sozialamt des Beigeladenen die Übernahme der Kosten für
eine Begleitperson während des Unterrichts. Diesen Antrag lehnte das Sozialamt
des Beigeladenen mit Bescheid vom 13.03.2001 ab. Zur Begründung hieß es im
Wesentlichen: Der Antragsteller gehöre zwar zum Personenkreis des § 39 BSHG.
Dem geltend gemachten Anspruch stehe jedoch der Nachranggrundsatz des § 2
BSHG entgegen, der es verbiete, dass der Sozialhilfeträger Leistungen der
Eingliederungshilfe erbringe, für die das Staatliche Schulamt im Rahmen der
sonderpädagogischen Förderung zuständig sei. Hiergegen legten die gesetzlichen
Vertreter des Antragstellers mit Schreiben vom 04.04.2001 Widerspruch ein. Sie
legten einen Schulbericht der D-Schule (Schule für Kranke am Universitätsklinikum
B-Stadt) vor, die der Antragsteller im Rahmen einer genehmigten Einzel-
Sonderunterrichtsmaßnahme in der Zeit vom 24.08.2000 bis 24.10.2000
besuchte. Diesem Bericht vom 22.06.2001 zufolge ist der Antragsteller nur zur
Mitarbeit bereit, wenn sich jemand direkt mit ihm befasst und ihn individuell
betreut. Nur eine direkte und individuelle schulische Betreuung, die auf die
besonderen Wünsche und den Lernbedarf des Antragstellers eingehe, ermögliche
die von Misserfolgen, Enttäuschungen und Frustrationen geprägten Konflikte zu
vermeiden. Dabei handele es sich nicht um die Abdeckung eines
sonderpädagogischen Förderbedarfs, sondern um eine zusätzliche, dringend
erforderliche individuelle schulbegleitende Maßnahme, ohne die der Antragsteller
an der C-Schule nicht erfolgreich lernen könne.
Nach einem Bericht der Klassenlehrerin des Antragstellers vom 15.01.2002 kann
der Antragsteller aufgrund seiner autistischen Verhaltensstörung nur bedingt am
Unterricht teilnehmen, d. h., er verweigert die Mitarbeit und zeigt nur geringe
Lernfortschritte. Ein sogenannter „Stützer“ könne ihn im Klassenverband einzeln
ansprechen, das Lernumfeld und die Lernsituation klar strukturieren und ihn zur
Erledigung des vorgegebenen Lernstoffs anleiten.
Am 12.04.2002 hatte der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht Gießen
beantragt, den Beigeladenen als Träger der Sozialhilfe im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, die Kosten für einen Integrationshelfer während des
Schulbesuchs des Antragstellers im Wege der Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40
BSHG zu übernehmen (VG Gießen, Aktenzeichen: 6 G 1357/02 ).
Mit Beschluss vom 16.05.2002 lud das Verwaltungsgericht Gießen in diesem
Verfahren das Land Hessen, vertreten durch das Staatliche Schulamt für den
Landkreis Gießen und den Vogelsbergkreis, zum Verfahren bei; dieses gab in dem
Verfahren keine Stellungnahme ab.
Mit Beschluss vom 14.06.2002 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ab. Zur Begründung wurde im
Wesentlichen ausgeführt: Der Gewährung der Eingliederungshilfe stehe der
Nachranggrundsatz der Sozialhilfe gemäß § 2 BSHG entgegen. Es sei Aufgabe des
Schulträgers, den während des Schulbetriebs an einer Sonderschule erforderlichen
Betreuungsaufwand durch zusätzliches Personal sicherzustellen.
Am 08.08.2003 erhob der Antragsteller Klage gegen den Vogelsbergkreis als
Träger der Sozialhilfe mit dem Begehren, die Kosten für einen Integrationshelfer
während des Schulbesuchs im Wege der Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 BSHG
zu übernehmen (VG Gießen, Aktenzeichen: 5 E 2796/03); über die Klage ist bislang
noch nicht entschieden worden.
Mit Schreiben vom 20.06.2002 beantragte der Antragsteller unter Bezugnahme
auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 14.06.2002 in dem
Verfahren 6 G 1357/02 bei dem Antragsgegner, ihm eine zusätzliche
unterrichtsbegleitende Einzelbetreuung für die Zeit des Besuchs der C-Schule zu
gewähren.
Mit einem (ohne Rechtsmittelbelehrung versehenen) Schreiben vom 06.09.2002
teilte der Antragsgegner den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers mit, der
Förderbedarf des Antragstellers werde durch die Beschulung in der C-Schule
erfüllt. Die Schule erhalte zur Umsetzung ihres pädagogischen Auftrags eine
Personalzuweisung, die sich an der Verordnung über die Festlegung der Anzahl
und der Größe der Klassen, Gruppen und Kurse in allen Schulformen vom 3.
Dezember 1992 (ABl. 1993 S. 2) orientiere. Eine höhere Personalzuweisung für
diese Schulform sei seitens des Landes nicht möglich.
Gegen dieses Schreibens legte der Antragsteller am 02.07.2003 Widerspruch ein,
über den noch nicht entschieden worden ist.
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Auf das entsprechende vorläufige Rechtsschutzbegehren des Antragstellers
verpflichtete das Verwaltungsgericht den Antragsgegner mit Beschluss vom
22.04.2004, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache eine
unterrichtsbegleitende Einzelbetreuung für den Besuch der C-Schule in B-Stadt zur
Verfügung zu stellen. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen folgende, im
Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 14.06.2002 (Aktenzeichen: 6 G
1357/02) enthaltene Ausführungen zu Eigen gemacht: „Kinder und Jugendliche, die
zur Gewährleistung ihrer körperlichen, sozialen und emotionalen sowie kognitiven
Entwicklung in der Schule sonderpädagogischer Hilfen bedürfen, haben nach § 49
Abs. 1 HSchG einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung. Den sich aus
diesem Anspruch ergebenden sonderpädagogischen Förderbedarf erfüllen die
Sonderschulen in ihren verschiedenen Formen (§ 49 Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz
HSchG). Der Anspruch auf sonderpädagogische Förderung wird durch die auf der
Ermächtigungsgrundlage des § 55 HSchG erlassenen Verordnung über die
sonderpädagogische Förderung vom 22.12.1998 konkretisiert. Nach § 14 Abs. 1
dieser Verordnung ist der Unterricht in den Sonderschulen gemäß den jeweiligen
Richtlinien nach sonderpädagogischen Gesichtspunkten so zu gestalten, dass er
den behinderungsspezifischen Erfordernissen der Schülerinnen und Schüler
entspricht. Über den Rahmen des Unterrichts nach den Stundentafeln hinaus
werden die Schülerinnen und Schüler in zusätzliche Fördermaßnahmen
einbezogen, die unterrichtsbegleitend oder -ergänzend stattfinden. In ihnen erfolgt
in kleinen Gruppen oder einzeln gezielte sonderpädagogische Förderung
entsprechend dem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf. Nach § 40
Abs. 1 Nr. 4 2. Halbsatz BSHG dürfen derartige Bestimmungen über die
Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht durch
Maßnahmen der Eingliederungshilfe nicht berührt werden. Vorliegend hat das
Staatliche Schulamt für den Landkreis Gießen und den Vogelsbergkreis mit
Bescheid vom 19.05.1998 für den Antragsteller sonderpädagogischen
Förderbedarf festgestellt. [...]. Erachtet die C-Schule im Rahmen des
sonderpädagogischen Förderbedarfs des Antragstellers eine pädagogische
Einzelbetreuung während des Unterrichts für erforderlich, hat nicht der
Sozialhilfeträger, sondern der Schulträger diesen Bedarf zu decken. Nach § 21
Abs. 4 der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung vom 22.12.1998
kann Unterricht an Sonderschulen nämlich nicht nur im Klassenverband und in
Lerngruppen, sondern auch als Einzelunterricht erteilt werden. Er orientiert sich am
individuellen Förderbedarf der einzelnen Schülerinnen und Schüler und ist durch
Formen der äußeren und inneren Differenzierung so zu gestalten, dass er
verschiedene Lernausgangslagen und Belastbarkeiten, unterschiedliche
Lernvermögen, Lernfähigkeiten und Lerntempi sowie die Neigungen und
Interessen der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen vermag.
Sonderpädagogische Förderung in diesem Sinne umfasst im Bedarfsfall auch die
unterrichtsbegleitende Einzel- oder Kleingruppenbetreuung. [...] Demzufolge ist es
Aufgabe des Schulträgers und nicht des Sozialhilfeträgers, den während des
Schulbetriebes an einer Sonderschule erforderlichen Betreuungsaufwand
gegebenenfalls durch zusätzliches Personal sicherzustellen und dafür Sorge zu
tragen, dass der Antragsteller im Unterricht individuell angeleitet wird.“
Der Antragsgegner hat gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt.
Er macht geltend, dass die Verordnung über die sonderpädagogische Förderung
vom 22.12.1998 (ABl. 1999 S. 47 ff.) eine Einzelbetreuung während des gesamten
Zeitraums des Schulbesuchs nicht vorsehe; die C-Schule könne aufgrund ihrer
Personalzuweisung lediglich eine punktuelle und zeitlich begrenzte Einzelbetreuung
leisten. Bei der Tätigkeit eines Integrationshelfers handele es sich um eine
medizinisch-therapeutische Aufgabe, die nicht der Schule obliege, sondern die
schulbegleitend die angemessene Schulbildung überhaupt erst ermöglichen solle.
Die Finanzierung solcher Eingliederungshilfen obliege gemäß § 40 Abs. 1 Ziff. 4
BSHG dem Sozialhilfeträger.
Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 22.04.2004 aufzuheben und
den Antrag des Antragstellers abzulehnen.
Der Antragsteller beantragt unter Bezugnahme auf seinen erstinstanzlichen
Vortrag,
die Beschwerde zurückzuweisen.
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Der Beigeladene hat auf seine erstinstanzlichen Ausführungen verwiesen. Er ist
der Auffassung, dass die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen sei, da sie
entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO keinen bestimmten Antrag enthalte.
II. Die Beschwerde ist zulässig.
Zwar muss die Beschwerdebegründung gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO einen
bestimmten Antrag enthalten. Ein ausdrücklicher Antrag ist aber ausnahmsweise
dann entbehrlich, wenn aufgrund der Beschwerdebegründung das Rechtsschutzziel
unzweifelhaft feststeht (vgl. Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll,
VwGO, 2. Aufl., § 146 Rn 28). So verhält es sich im vorliegenden Fall, da aufgrund
des Beschwerdevorbringens unzweifelhaft feststeht, dass der Antragsgegner die
Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Antragsablehnung begehrt.
Die Beschwerde ist auch begründet.
Der Beigeladene nimmt zu Unrecht an, dass aufgrund der eingetretenen
Bindungswirkung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Gießen vom
14.06.2002 (Aktenzeichen: 6 G 1357/02) gemäß § 121 VwGO der Anspruch des
Antragstellers gegen den Antragsgegner auf eine zusätzliche
unterrichtsbegleitende Einzelbetreuung im Rahmen der sonderpädagogischen
Förderung bereits verbindlich festgestellt ist.
Zwar gilt § 121 VwGO auch für Beschlüsse nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 123 VwGO
(Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 121 Rdnr. 4). Beschlüsse nach § 123 VwGO und
§ 80 Abs. 5 VwGO entscheiden bindend jedoch nur über einen vorläufigen Zustand
und sind auch nur in diesem Sinne der materiellen Rechtskraft fähig. Wegen des
besonderen Zwecks des Eilverfahrens, einer faktischen Entwertung des
Rechtsschutzes in der Hauptsache entgegen zu wirken, unterliegen sie einer
erleichterten Abänderbarkeit (Eyermann, VwGO, 11. Aufl., § 121 Rdnr. 6). Der
formell und materiell rechtskräftige Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen
vom 14.06.2002 in dem Verfahren 6 G 1357/02 steht also unter Vorbehalt der
Hauptsacheentscheidung, die noch aussteht.
Unabhängig hiervon ist eine Bindungswirkung des Beschlusses des
Verwaltungsgerichts Gießen vom 14.06.2002 auch deswegen zu verneinen, weil die
in diesem Beschluss festgestellte Rechtsfolge, dass der Antragsteller keinen
Anspruch auf Kostenerstattung für eine unterrichtsbegleitende Einzelbetreuung
gemäß §§ 39 Abs. 1, 40 Abs. 1 Nr. 4 BSHG i. V. m. § 12 der Eingliederungshilfe-
Verordnung hat, für den im vorliegenden Verfahren zu beurteilenden Anspruch auf
Zurverfügungstellung eines Integrationshelfers als Bestandteil des Anspruchs auf
sonderpädagogische Förderung nicht präjudiziell ist (vgl. zur Bindungswirkung bei
Präjudizialität: BVerwG, U. v. 10.05.1994 - BVerwG 9 C 501.93 - BVerwGE 96, 24).
Denn der Anspruch auf sonderpädagogische Förderung ist nicht vom Bestehen
bzw. Nichtbestehen des sozialhilferechtlichen Anspruchs abhängig. Das Bestehen
eines schulrechtlichen Anspruchs gegen das Land bzw. den Schulträger ist wegen
des Nachrangs der Sozialhilfe gemäß § 2 Abs. 1 BSHG vielmehr eine materiell-
rechtliche Vorfrage für das Bestehen des sozialhilferechtlichen Anspruchs, deren
gerichtliche Beantwortung keine Bindungswirkung nach § 121 VwGO entfaltet (vgl.
zur fehlenden Bindungswirkung, wenn in den Entscheidungsgründen materiell-
rechtliche Vorfragen geprüft werden: Redeker/von Oertzen, VwGO, 13. Aufl., § 121
Rdnr. 8).
Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss
besteht auch nach dem (insoweit allein maßgebenden [vgl. BVerwG, B. v.
13.06.2001 - BVerwG 5 B 105/00 - ZfSH/SGB 2001, 615]) hessischen Landesrecht
kein Anspruch behinderter Kinder gegen das Land Hessen bzw. den zuständigen
Schulträger auf Bestellung eines sogenannten Integrationshelfers
(Unterrichtsbegleiters zur Ermöglichung des Schulbesuchs) oder auf Übernahme
der dadurch anfallenden Kosten.
Zwar haben Kinder und Jugendliche, die zur Gewährleistung ihrer körperlichen,
sozialen und emotionalen sowie kognitiven Entwicklung in der Schule
sonderpädagogischer Hilfen bedürfen, einen Anspruch auf sonderpädagogische
Förderung (§ 49 Abs. 1 HSchG). Der Anspruch auf sonderpädagogische Förderung
wird durch weitere Vorgaben des Hessischen Schulgesetzes und durch die auf der
Ermächtigungsgrundlage des § 55 HSchG erlassene Verordnung über die
sonderpädagogische Förderung vom 22. Dezember 1998 (ABl. 1999 S. 47)
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sonderpädagogische Förderung vom 22. Dezember 1998 (ABl. 1999 S. 47)
konkretisiert. Nach § 14 Abs. 1 Satz 2 dieser Verordnung ist in den Sonderschulen
der Unterricht gemäß den jeweiligen Richtlinien nach sonderpädagogischen
Gesichtspunkten so zu gestalten, dass er den behinderungsspezifischen
Erfordernissen der Schülerinnen und Schüler entspricht. Über den Rahmen des
Unterrichts nach den Stundentafeln hinaus werden die Schülerinnen und Schüler in
zusätzliche Fördermaßnahmen einbezogen, die unterrichtsbegleitend oder -
ergänzend stattfinden. In ihnen erfolgt in kleinen Gruppen oder einzeln gezielte
sonderpädagogische Förderung entsprechend dem festgestellten
sonderpädagogischen Förderbedarf.
Die Verordnung über die sonderpädagogische Förderung sieht somit zwar
erforderlichenfalls zusätzliche unterrichtsbegleitende Fördermaßnahmen vor, die in
Kleingruppen oder auch als individuelle Maßnahmen stattfinden können. Eine
Anspruchsgrundlage für eine Einzelbetreuung durch einen Integrationshelfer
während des Unterrichts, um den Behinderten in die Lage zu versetzen, das
Lehrangebot überhaupt wahrnehmen zu können, ermöglicht die Verordnung über
die sonderpädagogische Förderung demgegenüber nicht. Auch aus § 21 Abs. 4
Satz 1 dieser Verordnung, wonach der Unterricht an Sonderschulen im
Klassenverband, in Lerngruppen oder als Einzelunterricht erteilt werden kann,
ergibt sich ein solcher Anspruch nicht. Aus dem Umstand, dass der einschlägigen
Verordnung zufolge erforderlichenfalls auch Einzelunterricht erteilt werden kann,
kann entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht - im Sinne eines
argumentum a maiore ad minus - gefolgert werden, dass auch eine
Einzelbetreuung während des Unterrichts zu den sonderpädagogischen
Maßnahmen gehört. Dies gilt auch deswegen, weil - wie der systematische
Zusammenhang der §§ 14 und 21 Abs. 4 mit § 25 der Verordnung über die
sonderpädagogische Förderung zeigt - Einzelunterricht nur als zeitlich begrenzte
Fördermaßnahme möglich ist, so dass eine Integrationshilfe, die eine
Einzelbetreuungsmaßnahme während des gesamten Zeitraums des Schulbesuchs
darstellt, nicht zu den sonderpädagogischen Maßnahmen zählen kann. Dass
zeitlich nicht begrenzter ständiger Einzelunterricht nicht im Rahmen des regulären
Sonderschulunterrichts, sondern in Form eines Sonderunterrichts erfolgen soll,
ergibt sich nämlich aus § 25 Abs. 1 der Verordnung über die sonderpädagogische
Förderung, wonach u. a. Schülerinnen und Schülern, die auch in einer
Sonderschule nicht gefördert werden können, Sonderunterricht im Umfang bis zu
acht Wochenstunden erteilt wird. Hieraus folgt, dass nur für den in § 25 der
Verordnung genannten Schülerkreis eine auf Dauer angelegte Einzelbeschulung
möglich sein soll.
Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass die Integrationshilfe bei einem Schüler mit
autistischer Verhaltensstörung nicht die Erteilung von Unterricht oder andere
Tätigkeiten, die zum Kernbereich pädagogischer Arbeit gehören, umfasst. Für die
Unterrichtsbegleitung bedarf es nach dem jugendpsychiatrischen Gutachten des
Prof. Dr. med. E. und der Dr. F. vom 19.12.2000 keiner pädagogisch ausgebildeten
Person. Erforderlich ist lediglich, dass die Betreuungsperson mit dem beziehungs-
und kontaktgestörten Kind angemessen umgeht und eine gewisse Kontinuität in
der Betreuung stattfindet.
Unabhängig hiervon steht der Anspruch auf sonderpädagogische Förderung unter
dem Vorbehalt des in Abwägung mit anderen gesellschaftlichen Bedürfnissen
Leistbaren, also unter dem des Haushalts und der Ressourcen, die der
Haushaltsgesetzgeber für diesen Zweck zur Verfügung stellt (Köller/Achilles,
Hessisches Schulgesetz, Stand: August 2004, § 49 Rdnr. 3). Der Antragsgegner
hat insoweit vorgetragen, dass die Sonderschulen zur Umsetzung ihres
pädagogischen Auftrags eine Personalzuweisung erhalten, die sich an der
Verordnung über die Festlegung der Anzahl und der Größe der Klassen, Gruppen
und Kurse in allen Schulformen vom 3. Dezember 1992 (ABl. 1993. S. 2) orientiert.
Für die von dem Antragsteller besuchte Schule für Lernhilfe und Körperbehinderte
bedeutet dies, dass einer Klasse mit minimal vier und maximal acht Schülerinnen
und Schülern je eine Lehrkraft zugewiesen wird. Ferner sind gemäß der Richtlinie
für die Tätigkeit von Erziehern und Erzieherinnen an den Schulen für praktisch
Bildbare und an den Schulen für Körperbehinderte (Sonderschulen) vom
21.10.1988 (ABl. 1988 S. 877), geändert durch Erlass vom 20.12.1991 (ABl. 1992
S. 114), an der Schule des Antragstellers vier Erzieherinnen beschäftigt. Der
Anspruch des Antragstellers auf pädagogische Förderung wird somit dadurch
erfüllt, dass er in einer Schule mit sehr kleinen Lerngruppen (maximal acht
Schüler) beschult wird und eine zusätzliche Betreuung durch Erzieher erhält. Diese
Personalausstattung ermöglicht es zwar, den Förderbedarf im Einzelfall
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Personalausstattung ermöglicht es zwar, den Förderbedarf im Einzelfall
stundenweise auch durch Einzelunterricht gemäß § 21 Abs. 4 der Verordnung über
die sonderpädagogische Förderung zu decken; eine ständige Einzelbetreuung
während des Gruppenunterrichts durch einen sogenannten Integrationshelfer ist
aber nicht leistbar, ohne zugleich den Bildungsanspruch der Mitschüler zu
gefährden. Hierauf besteht auch kein gesetzlicher Anspruch, da der Anspruch auf
sonderpädagogische Förderung nur im Rahmen der durch den
Haushaltsgesetzgeber für die sonderpädagogische Förderung zur Verfügung
gestellten Mittel erfüllt werden kann. Ferner besteht auch kein subjektiv-rechtlicher
Anspruch gegen das Land bzw. den Schulträger auf Bereitstellung einer
bestimmten Anzahl von Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften und sonstigen
Hilfspersonals (vgl. zur Problematik: OVG Koblenz, U. v. 16.07.2004 - 12 A
10701/04 - JAmt 2004, 432; OVG Koblenz, B. v. 05.09.2002 - 12 B 11355/02 - FEVS
54, 137; VG Koblenz, U. v. 18.12.2002 - 5 K 1591/02.KO - NDV-RD 2004, 36; OVG
Lüneburg, B. v. 18.05.2000 - 13 L 549/00 - FEVS 52, 140; VG Leipzig, B. v.
21.11.2000 - 2 K 1589/00 - LKV 2001, 382; vgl. auch Beckermann, Finanzierung
individueller Betreuungen behinderter Schülerinnen und Schüler zum Schulbesuch,
Behindertenrecht 2002, 77).
Folglich kann auch der Sozialhilfeträger die Übernahme der Kosten eines
Integrationshelfers gemäß §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 4 BSHG i. V. m. § 12 Nr. 1
Eingliederungshilfe-Verordnung nicht unter Hinweis auf vorrangige
Leistungsansprüche auf schulrechtlicher Grundlage ablehnen. Dies gilt
insbesondere auch deswegen, weil der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe (§
2 Abs. 1 BSHG) der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers dann nicht
entgegensteht, wenn der Schulträger die zusätzlichen Kosten für einen
Integrationshelfer während der Zeit des Schulbesuchs - trotz unterstellter
Verpflichtung - tatsächlich nicht aufbringt (Schellhorn, BSHG, 16. Aufl., § 40 Rdnr.
41; OVG Koblenz, U. v. 29.04.1999 - 12 A 13055/96 -). Selbst wenn der
Sozialhilfeträger in einem solchen Fall meint, die Schulverwaltung müsse für die
Kosten des Integrationshelfers aufkommen, ist er verpflichtet gemäß § 44 Abs. 1
BSHG dem behinderten Kind vorläufig Hilfe zu leisten, bis feststeht, ob ein anderer
zur Hilfe verpflichtet ist (Bayerischer VGH, B. v. 17.04.2002 - 12 CE 01.297-RdLH
2002, 161; OVG Münster, U. v. 12.06.2002 - 16 A 5013/00 - RdLH 2002, 104; ders.,
U. v. 15.06.2000 - 16 A 2975/98 -; OVG Brandenburg, B. v. 28.04.2000 - 4 B 9/00 -
LKV 2001, 77; VG Koblenz, U. v. 18.12.2002 - 5 K 1591/02.KO - a. a. O.). Der Streit
über die Kostenträgerschaft soll nicht auf dem Rücken des behinderten Kindes
ausgetragen werden. Es ist dem Hilfesuchenden auf der Grundlage des § 2 Abs. 1
BSHG daher nicht zuzumuten, einen - vermeintlichen - Rechtsanspruch gegen
einen Dritten gerichtlich durchzusetzen, wenn z. B. wegen der Ungeklärtheit der
Rechtslage keine rechtzeitige Deckung des sozialhilferechtlichen Bedarfs erwartet
werden kann (BVerwG, B. v. 02.09.2003 - BVerwG 5 B 259/02 -; BVerwG, B. v.
13.05.1996 - BVerwG 5 B 52.96 - Buchholz 436.0 § 2 BSHG Nr. 20).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Billigkeit gebietet es nicht, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen für
erstattungsfähig zu erklären, da der Beigeladene keinen Antrag gestellt und somit
nicht am Kostenrisiko teilgenommen hat (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 13 Abs. 1 Satz 2 a. F. i. V. m. § 72 Nr.
1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 a. F. i.
V. m. § 72 Nr. 1 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.