Urteil des HessVGH vom 09.09.1992
VGH Kassel: öffentliche sicherheit, grundstück, einfriedung, zustandsstörer, verhaltensstörer, eigentümer, behörde, pachtvertrag, gewalt, wochenendhaus
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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
4. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 UE 2451/89
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 83 Abs 1 BauO HE, § 3
Abs 1 S 1 BauO HE, § 112
BauO HE 1976 vom
16.12.1977, § 12 SOG HE
vom 26.01.1972, § 14 SOG
HE vom 26.01.1972
(Beseitigung eines illegalen Wochenendhauses:
Störerauswahl zwischen Verhaltensstörer und
Zustandsstörer)
Tatbestand
Der Kläger ist Eigentümer des im Außenbereich der Stadt gelegenen
Grundstückes Gemarkung, Flur, Flurstück. Die Voreigentümer, die Eltern des
Klägers, hatten das Grundstück mit Pachtvertrag vom 30.09.1969 an Herrn und
Frau auf die Dauer von 15 Jahren verpachtet. Gemäß Ziffer 4 des Vertrages
durften die Pächter Einrichtungen und Verbesserungen vornehmen und das von
ihnen gepachtete Ackerland einfrieden. Gemäß Ziffer 5 hatte der Verpächter den
Pächtern bei Pachtende die Aufwendungen ersetzen, die den Wert des
Grundstücks bei Pachtende erhöht haben. Während der Pachtzeit friedeten die
Pächter das Grundstück mit einem 1,75 m hohen Maschendrahtzaun ein, der an
Eisenbahnschwellen befestigt ist. Ferner brachten sie ein eisernes Eingangstor mit
einer Breite von 2,50 m an. Etwa 1975 errichteten sie anstelle einer Holzhütte ein
massiv gemauertes Gebäude mit den Maßen 5 m x 3 m x 2,50 m. An dieses
Gebäude schließt sich eine massiv gemauerte Gerätehütte mit den Maßen 3 m x
1,50 m x 1,60 m an.
Nach dem Tod ihres Ehemannes und dem Auslaufen des Pachtvertrages am
30.09.1984 gab Frau das Grundstück an den Kläger zurück und machte vor dem
Landgericht Hanau ein Verfahren wegen Erstattung von Aufwendungen u. a. für die
von den Pächtern errichteten baulichen Anlagen anhängig (Az.: 4 0 1260/84). In
diesem Verfahren wurde seitens des Klägers die Zahlung eines angemessenen
Betrages als Wertsteigerung für die Hütte davon abhängig gemacht, daß ihr
Bestand nachträglich durch die Bauaufsichtsbehörde durch Baugenehmigung
gesichert werde. Unter dem 05.12.1984 schlossen die Beteiligten jenes Verfahrens
vor der 4. Zivilkammer des Landgerichts einen Teilvergleich, in dem sich der Kläger
verpflichtete, als Entgelt u. a. für die Einfriedung einen Geldbetrag zu zahlen.
Auf zwei Anfragen des Landgerichts Hanau vom 18.07. und 20.12.1985 bezüglich
des Wertes der Gartenhütte teilte der Beklagte unter dem 06.09.1985 und
27.01.1986 mit, daß mit einer Abbruchverfügung gerechnet werden müsse. Unter
dem 07.03.1986 erging gegenüber Frau eine Abbruchverfügung und gegenüber
dem Kläger eine Duldungsverfügung. Frau legte gegen diese Verfügung
Widerspruch ein, indem sie u. a. vortrug, der Pachtvertrag sei ausgelaufen.
Nachdem der Kläger die Einfriedung übernommen und hierfür Entschädigung
geleistet habe, sei er nunmehr allein verantwortlich. Mit Abhilfebescheid vom
30.09.1986 nahm der Beklagte seine Verfügung vom 07.03.1986 gegenüber Frau
zurück.
Mit Verfügung vom 15.10.1986 gab der Beklagte dem Kläger auf, das auf dem
Grundstück errichtete Wochenendhaus mit angebautem Geräteraum und die
Einfriedung unverzüglich, spätestens innerhalb von zwei Monaten nach
Unanfechtbarkeit der Verfügung abzubrechen und das anfallende Material
abzutransportieren. Zugleich hob der Beklagte seine Duldungsverfügung vom
07.03.1986 auf. Für den Fall der Nichtbefolgung der Beseitigungsanordnung drohte
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07.03.1986 auf. Für den Fall der Nichtbefolgung der Beseitigungsanordnung drohte
der Beklagte dem Kläger die Ersatzvornahme an, wobei er die Kosten für die
Beseitigung des Wochenendhauses vorläufig mit 2.500,-- DM und die Kosten für
die Beseitigung der Einfriedung mit 1.000,-- DM veranschlagte.
Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid des
Regierungspräsidenten in ... vom 28.10.1987 zurückgewiesen. Dieser führte u. a.
aus, eine vorrangige Heranziehung des Zustandsstörers sei dann nicht
ermessensfehlerhaft, wenn hierfür sachliche Gründe sprächen. Solche seien
vorliegend gegeben. Der Pachtvertrag sei beendet. Es sei daher sachgerechter,
auf den Kläger als den Inhaber der nunmehrigen tatsächlichen Gewalt über das
Grundstück zurückzugreifen. Er könne die Störung am ehesten unverzüglich
beseitigen. Dies sei bei einer Inanspruchnahme der Pächterin nicht in gleicher
Weise gewährleistet. Außerdem sei der Kläger als Grundstückseigentümer auch
wirtschaftlich leistungsfähiger als die ehemalige Pächterin, die mittlerweile
Rentnerin sei.
Am 27.11.1987 hat der Kläger Klage erhoben.
Das Verwaltungsgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 17.07.1989 die Verfügung
des Beklagten vom 15.10.1986 in der Fassung des Widerspruchsbescheides des
Regierungspräsidenten in Darmstadt vom 28.10.1987 aufgehoben und die
Entscheidung wie folgt begründet: Zwar seien die baulichen Anlagen auf dem
Grundstück des Klägers formell und materiell illegal; jedoch sei die streitbefangene
Verfügung ermessensfehlerhaft, weil der Beklagte zu Unrecht primär gegen den
Zustandsstörer vorgegangen sei. Die pflichtgemäße Ermessensausübung gebiete
in der Regel, zunächst primär gegen den Handlungsstörer vorzugehen. Etwas
anderes gelte nur dann, wenn gewichtige Gründe vorlägen, die ein Einschreiten der
Bauaufsichtsbehörde gegen den Verhaltensstörer als unzweckmäßig erscheinen
ließen, etwa weil voraussehbar sei, daß die Beseitigungsverfügung gegen den
Verhaltensstörer nicht oder nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand
durchgesetzt werden könne. Das Vorliegen solcher wichtigen Gründe habe der
Beklagte zu Unrecht bejaht.
Der Beklagte hat gegen den ihm am 04.08.1989 zugestellten Gerichtsbescheid
am 09.08.1989 Berufung eingelegt und diese wie folgt begründet:
Das Verwaltungsgericht habe in nicht zulässiger Weise sein Ermessen an Stelle
des Ermessens der Behörde ausgeübt. Diese habe nach pflichtgemäßem
Ermessen die Auswahl unter den verschiedenen Störern zu treffen. Im Polizeirecht
gelte allgemein der Grundsatz, daß der Verhaltensstörer vor dem Zustandsstörer
heranzuziehen sei. Die Inanspruchnahme des Zustandsstörers sei jedenfalls dann
rechtens, wenn durch den Handlungsstörer aus rechtlichen oder faktischen
Gründen eine wirksame Gefahrenbeseitigung nicht mehr gewährleistet sei. Durch
den Ablauf des Pachtvertrages sei die frühere Pächterin rechtlich gehindert, die
tatsächliche Gewalt über das Grundstück und die illegalen Baulichkeiten
auszuüben. Es sei deshalb im Rahmen des Auswahlermessen zulässig, wenn die
Behörde in einem solchen Fall den Eigentümer als Zustandsstörer heranziehe, der
zudem über § 94 BGB Eigentümer der Baulichkeiten geworden sei und die
tatsächliche Gewalt über das Grundstück ausübe.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid vom 17. Juli 1989 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt zur Begründung vor, er habe keine Einwendungen gegen das Betreten
seines Grundstücks zum Zwecke der Beseitigung der illegal errichteten Hütte
erhoben und aus diesem Grunde auch die Duldungsverfügung widerspruchslos
hingenommen. Insoweit sei auch der Umstand, daß die frühere Pächterin nicht
mehr die tatsächliche Gewalt über das Grundstück ausübe, kein sachlicher Grund,
im vorliegenden Fall den Zustandsstörer vor dem Handlungsstörer in Anspruch zu
nehmen. Da keine sachlichen Gründe gegeben seien, die es rechtfertigen würden,
den Kläger als Zustandsstörer vor der früheren Pächterin als Handlungstörerin in
Anspruch zu nehmen, sei der vom erkennenden Senat entwickelten
Rechtsprechung zu folgen, wonach im Polizeirecht grundsätzlich der
Verhaltensstörer vor dem Zustandsstörer zur Beseitigung des Zustands
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Verhaltensstörer vor dem Zustandsstörer zur Beseitigung des Zustands
heranzuziehen sei.
Die Gerichtsakte 4 0 1260/84 des Landgerichts Hanau sowie die Behördenakten
liegen vor und waren Gegenstand der Beratung.
Entscheidungsgründe
Über die Berufung konnte das Gericht im Einverständnis mit den Beteiligten
gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die Berufung ist zulässig (§§ 124, 125 VwGO) und begründet. Die angefochtene
Verfügung des Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides ist
rechtmäßig.
Rechtsgrundlage der Abbruchverfügung ist § 83 Abs. 1 der Hessischen
Bauordnung (HBO). Nach dieser Vorschrift haben die Bauaufsichtsbehörden nach
pflichtgemäßem Ermessen die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der
Allgemeinheit oder von Einzelnen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und
Ordnung im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 HBO abzuwehren, die durch bauliche oder
sonstige Anlagen nach diesem Gesetz hervorgerufen werden.
Die streitigen Baulichkeiten widersprechen formellem und materiellem Recht. Das
Wochenendhaus mit angebautem Geräteraum und die Einfriedung sind formell
und materiell baurechtswidrig. Insoweit folgt der Senat der zutreffenden
Darstellung und den Gründen des angefochtenen Gerichtsbescheides (§§ 125 Abs.
1, 117 Abs. 5 VwGO).
Der Beklagte konnte im Rahmen seines Auswahlermessens den Kläger als
Eigentümer gleichrangig neben der früheren Pächterin als Handlungsstörer in
Anspruch nehmen. Der seinerzeit noch in Geltung befindliche § 112 HBO 1977
verwies hinsichtlich der Verantwortlichkeit für einen baurechtswidrigen Zustand u.
a. auf die §§ 12 und 14 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit
und Ordnung vom 26.01.1972 -- HSOG a.F. --. § 12 betrifft die Verantwortlichkeit
für eigenes Verhalten, während § 14 HSOG die Verantwortlichkeit für den Zustand
von Sachen betrifft. Maßgeblich für die zu treffende Ermessensentscheidung sind
die zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vorverfahrens bekannten Umstände und
angestellten Überlegungen (vgl. § 45 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 45 Abs. 2 HVwVfG).
Die Ursprungsverfügung des Beklagten vom 15.10.1986 war allerdings fehlerhaft.
Sie geht in den Gründen davon aus, daß die Abbruchsanordnung vom 07.03.1986
gegenstandslos ist und die Duldungsanordnung zurückzunehmen war, weil Frau
nicht mehr Pächterin gewesen ist. Ihr Wortlaut läßt darauf schließen, daß der
Beklagte zunächst anscheinend gar keinen anderen Weg als die Inanspruchnahme
des Eigentümers gesehen hat. Tatsächlich kann es nur darum gehen, ob der
Eigentümer neben dem Pächter des Grundstücks in Anspruch genommen werden
kann. Auch nach dem Auslaufen des Pachtvertrages ist es dem Pächter ohne
weiteres möglich, bauliche Anlagen, die er während der Pachtzeit errichtet hat --
gegebenenfalls nach entsprechender Duldungsanordnung gegenüber dem
Grundstückseigentümer -- zu beseitigen.
Mit dem Widerspruchsbescheid hat der Regierungspräsident eine neue
Ermessensentscheidung getroffen und das Auswahlermessen gegenüber dem
Kläger ausgeübt. Der von dem Verwaltungsgericht seiner Entscheidung als
Grundsatz zugrundegelegte Gesichtspunkt, daß der Verhaltens- vor dem
Zustandsstörer heranzuziehen ist (vgl. Hess. VGH, Beschluß vom 21.03.1988 -- 4
TH 3794/87 --; Kränz, BayVBl. 1985, 301), erscheint dort entkräftet, wo sich eine
andere Entscheidung sachlich begründen läßt (Drews/Wacke/ Vogel/Martens,
Gefahrenabwehr, 8. Aufl., 2. Band, S. 183 f.). Die im Widerspruchsbescheid als
Begründung der Auswahl herangezogene Erwägung, daß der Kläger als
Grundstückseigentümer wirtschaftlich leistungsfähiger sein soll als die ehemalige
Pächterin, "die mittlerweile Rentnerin ist", vermag die Entscheidung allerdings nicht
zu rechtfertigen. Der Regierungspräsident hat nicht nur unterlassen, die
persönlichen Verhältnisse des Klägers einerseits und der früheren Pächterin
andererseits zu ermitteln -- insoweit hat der Kläger zu Recht auf seine berufliche
Situation und seine Familienverhältnisse verwiesen --. In der Begründung der
Auswahlentscheidung wird auch verkannt, daß den für die Ersatzvornahme der
Beseitigung des Wochenendhauses und der Einfriedung veranschlagten
Beseitigungskosten von insgesamt 3.500,-- DM für die Pachtzeit von 15 Jahren
lediglich ein Pachtzins in Höhe von 600,-- DM gegenübersteht.
23 Im Widerspruchsbescheid wird darüber hinaus auch auf den Zeitablauf seit dem
Auslaufen des Pachtvertrages abgestellt. Dieser Gesichtspunkt unter
Berücksichtigung des Kenntnisstandes der Behörde, auf dessen Grundlage die
Entscheidung getroffen wurde, läßt auf dem Hintergrund des Pachtvertrages und
seiner Abwicklung die Heranziehung des Klägers als vertretbar erscheinen. Das gilt
zunächst für die Anordnung der Beseitigung der Einfriedung: Der Behörde war
durch mehrfache Anfragen des Landgerichts Hanau und den zu den
Behördenakten gegebenen Teilvergleich bekannt, daß die von der früheren
Pächterin und ihrem Ehemann errichtete Einfriedung nach Pachtende auf die im
Pachtvertrag unter Ziff. 5 vorgesehene Weise im Wege des Aufwendungsersatzes
vom Kläger abgelöst worden war. Insoweit war im Verhältnis zwischen der früheren
Pächterin und dem Kläger mit Abschluß des Vergleichs ein Beseitigungsrecht nicht
mehr gegeben. Insoweit entspricht der Sachverhalt der dem Urteil des Senats
vom 11.11.1977 (IV OE 44/76) zugrundeliegenden Fallgestaltung. In dieser
Entscheidung hat der Senat die Heranziehung des Grundstückseigentümers zur
Beseitigung einer baulichen Anlage, die der Pächter im Rahmen des
Pachtvertrages errichtet hat, als ermessensfehlerfrei angesehen. Dasselbe muß
aber auch für das Wochenendhaus gelten. Der Kläger hat dessen Errichtung nicht
etwa als gegen den Pachtzweck verstoßend angesehen und sich ihr widersetzt.
Vielmehr spielte -- wie die wiederholten Anfragen des Landgerichts Hanau bei der
Bauaufsichtsbehörde bestätigen -- die Frage, ob das Wochenendhaus Bestand
haben oder jederzeit mit einer Abbruchverfügung der Bauaufsichtsbehörde
gerechnet werden konnte nur insoweit eine Rolle, als dieser Umstand für die Höhe
des Betrages von Bedeutung war, der bei der Auseinandersetzung gemäß § 5 des
Pachtvertrages gegebenenfalls auszugleichen war. Der Kläger war bereit den mit
dem Bestand des Hauses auf dem Grundstück verbundenen Vorteil zu nutzen,
wollte jedoch mit den Kosten für seine Beseitigung nicht belastet werden. Unter
diesen Umständen konnte er gleichrangig neben dem Pächter als Pflichtiger
herangezogen werden.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.