Urteil des HessVGH vom 11.06.2008

VGH Kassel: anbau, vollstreckung, baurecht, beseitigungsverfügung, erfüllung, rohbau, ortsbild, form, fremdkapital, eigenkapital

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
3. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 A 880/08.Z
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 175 Abs 5 BauGB, § 177
BauGB, § 34 Abs 1 S 2
BauGB, § 72 Abs 1 BauO
HE 2002, § 9 Abs 2 BauO
HE 2002
Materielles Baurecht: Vollstreckung mehrerer
Rechtsplichten
Leitsatz
Ein weiß-grau-schwärzlicher fensterloser Gebäudetorso eines Wohnhauses, an dem seit
Jahren nicht weitergebaut worden ist, kann das Straßenbild verunstalten. Er wahrt auch
nicht die Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse im Sinne des § 34
Abs. 1 Satz 2 BauGB.
Die nach § 175 Abs. 5 BauGB zulässige Pflichtenkollision zwischen einem
bauaufsichtlichen Abrissgebot und einem gemeindlichen Instandsetzungsgebot kann
auf der Vollstreckungsebene aufgelöst werden.
Tenor
Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 12. Februar 2008 - 4 E 2934/06 (1) -
wird abgelehnt.
Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens zu je einem Drittel zu
tragen.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 40.000,00 € festgesetzt.
Gründe
Der klägerische Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor genannte
Urteil des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.
Die Voraussetzungen für die sämtlich geltend gemachten Zulassungsgründe des §
124 Abs. 2 VwGO sind nicht dargelegt.
Soweit die Kläger zunächst ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen
Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO rügen, ist ihnen nicht zu folgen. Das
Verwaltungsgericht hat die Anfechtungsklage der Kläger gegen die
Beseitigungsverfügung vom 18. November 2004 (Bl. 4 der Behördenakte - BA -) in
der reduzierten Fassung des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums
Darmstadt vom 28. Juni 2006 (Bl. 23 der Gerichtsakte - GA -) zu Recht
abgewiesen. Das Abrissgebot für den etwa 700 cbm großen Anbau oberhalb der
Kellerdecke auf dem Grundstück ...Straße 34 in J., Gemarkung L., Flur 8, Flurstück
63/1 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Zur Begründung nimmt der Senat gemäß
§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des
Verwaltungsgerichts. Dies gilt mit der Maßgabe, dass auf Seite 6 Mitte der
Urteilsabschrift ein offensichtlicher Schreibfehler dahin zu korrigieren ist, dass es
richtigerweise heißt, die Ermessensentscheidung des Beklagten, einen Abbruch
des Anbaues (nicht des Altbaues) anzuordnen, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Darüber hinaus hält der Senat die Zitate zu § 179 BauGB und zum Verhältnis der
baurechtlichen zu einer naturschutzrechtlichen Beseitigungsverfügung auf Seite 8
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baurechtlichen zu einer naturschutzrechtlichen Beseitigungsverfügung auf Seite 8
der Urteilsabschrift nicht unmittelbar für einschlägig, da sie sich gleichgerichtet mit
Beseitigungsgeboten befassen und nicht mit der Gegenüberstellung von
Abrissverfügung und Instandsetzungsgebot.
Gleichwohl verhilft die Begründung des Zulassungsantrags den Klägern nicht zum
Erfolg. Es kommt auch im Rahmen der hier gegebenen Verhältnismäßigkeit der
Abbruchverfügung nicht entscheidend darauf an, ob und inwieweit die Kläger
willens und in der Lage sind, an dem jetzt noch streitbefangenen Anbau zeitnah
und wirksam Instandsetzungsmaßnahmen durchzuführen. Die entsprechenden
Angaben der Kläger sind schon nicht glaubhaft. Dies folgt daraus, dass es die
Kläger ohne durchschlagende Gründe verabsäumt haben, ihre in der mündlichen
Verhandlung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in dem Eilverfahren 3 TG
1214/05 am 20. Juni 2005 übernommenen entsprechenden Verpflichtungen bis
zum 15. November 2005 zu erfüllen. Dabei scheint es ihnen nicht einmal an
Eigenkapital zu fehlen. Die Beschwerdebegründung gibt insoweit zu verstehen, sie
wollten es schonen, weil es steuerlich durch später aufgenommenes Fremdkapital
nicht mehr ersetzt werden könne.
Das angefochtene Urteil unterliegt auch sonst keinen ernstlichen Zweifeln an
seiner Richtigkeit. Dazu hat der Senat nach einer Ortsbesichtigung des
Berichterstatters bereits in seinem Beschluss vom 24. März 2006 - 3 TG 1214/05 -
festgestellt, der schon jahrelang unfertig vorhandene Anbau als weiß-grau-
schwärzlicher fensterloser Rohbau ab Oberkante Kellerdecke sei materiell illegal,
weil er entgegen § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB an der Hauptdurchfahrtsstraße von L.
das Ortsbild beeinträchtige. Entgegen dieser Vorschrift wahre der Gebäudetorso in
der vorhandenen Form auch nicht die Anforderungen an gesunde Wohn- und
Arbeitsverhältnisse. An dieser Auffassung wird festgehalten. Hinzu kommt, dass
der in optisch-ästhetischer Hinsicht als Schandfleck anzusehende Gebäudetorso
des Anbaus entgegen § 9 Abs. 2 HBO auch geeignet ist, das Straßenbild der
...Straße in der betreffenden Umgebung zu verunstalten.
Was die von den Klägern so bezeichnete Pflichtenkollision zwischen dem
bauaufsichtlichen Abrissgebot vom 18. November 2004 und den gemeindlichen
Instandsetzungsgeboten vom 14. August 2007 an die Kläger zu 1. und 3. sowie
vom 21. April 2008 an den Kläger zu 2. anbelangt, lässt § 175 Abs. 5 BauGB dieses
Nebeneinander unterschiedlicher Regelungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen
gesetzlich zu. Nach der genannten Vorschrift bleiben im Zusammenhang mit
städtebaulichen Geboten die landesrechtlichen Vorschriften, hier § 72 Abs. 1 HBO,
unberührt. Mithin bedarf es keiner Erwägung darüber, ob die
Instandsetzungsgebote rechtlich etwa deshalb zurücktreten müssen, weil sie erst
deutlich später als das Abrissgebot erlassen worden sind.
Der Beklagte hat im Schriftsatz seines Rechtsamts vom 26. Mai 2008 plausibel
und in sich widerspruchsfrei zu erkennen gegeben, dass von ihm eine etwaige
Befolgung der Instandsetzungsgebote im Rahmen der möglichen Vollstreckung
der Beseitigungsverfügung zu beachten wäre, wovon auch das Verwaltungsgericht
im angefochtenen Urteil ausgegangen ist. Mithin sind die Kläger gegen die Gefahr
ungerechtfertigter doppelter Nachteile hinreichend gesichert, ohne an der
Erfüllung einer bestimmten Rechtspflicht gehindert zu sein. Die glaubhafte,
zeitnahe und tatsächliche Erfüllung einer der beiden Rechtspflichten lässt die
jeweils andere im Rahmen der Vollstreckung zurücktreten, die Kläger haben nur
nicht das Recht, sich unter Berufung auf die Pflichtenkollision auf der Situation
auszuruhen und weiterhin untätig zu bleiben.
Die geltend gemachten tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der
Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO führen ebenfalls nicht zur Zulassung
der Berufung. Angesichts der gesetzlich nach § 175 Abs. 5 BauGB grundsätzlich
zulässigen Pflichtenkollision verschiedener Gebote und deren möglicher Auflösung
auf der Vollstreckungsebene weist der Fall eher durchschnittliche rechtliche
Schwierigkeiten auf, die ihn aus der Gesamtheit sonstiger Fälle nicht besonders
hervorheben. Was die tatsächliche Seite anbelangt, ist die jahrelange vorwerfbare
Untätigkeit der Kläger trotz zu Gerichtsprotokoll eingegangener rechtlicher
Bauverpflichtungen so offenkundig, dass es etwa auf individuelle Nebenfragen, ob
eine Instandsetzung für die Kläger günstiger wäre als ein Abriss, nicht mehr
entscheidend ankommt.
Auch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr.
3 VwGO ist nicht dargelegt. Das rechtlich mögliche Nebeneinander von
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3 VwGO ist nicht dargelegt. Das rechtlich mögliche Nebeneinander von
Abrissverfügung und Instandsetzungsgebot lässt sich nach § 175 Abs. 5 BauGB
ohne weiteres aus dem Gesetz selbst entnehmen.
Auch die geltend gemachte Divergenz gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO führt nicht
zur Zulassung der Berufung. Dass der streitbefangene Anbau ab Oberkante
Kellerdecke als hässlicher Fremdkörper im Straßenraum materiell illegal ist, hat
der Senat bereits in seinem Beschluss vom 24. März 2006 - 3 TG 1214/05 - nach
einer Ortsbesichtigung des Berichterstatters festgestellt. Es ist nichts dafür
ersichtlich, dass die streitbefangenen Gebäudeteile als bloßer Torso in früherer
Zeit materiell legal gewesen sein könnten. Als jetzt vorfindlicher Torso ist der
Anbau jedenfalls "seit seiner Errichtung" unabhängig von Optik und Gestaltung
gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB im Übrigen auch wegen der nicht gewahrten
Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse materiell-rechtlich
unzulässig.
Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg auf einen entscheidungserheblichen
Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO stützen. Zwar ist das
Verwaltungsgericht dem weiträumigen Verlegungswunsch des Klägers zu 3. nicht
in vollem Umfang nachgekommen, gleichwohl hat es der Kläger zu 3. versäumt,
die in der mündlichen Verhandlung von ihm vorzubringenden Gesichtspunkte
konkret zu benennen, die eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung zu seinen
Gunsten hätten nahelegen oder erwarten lassen. Der Kläger zu 3. legt nicht dar,
seit wann und in welchem Umfang er sich professioneller Hilfe bedient und welche
konkreten Maßnahmen beauftragt sind. Er lässt es in soweit bei pauschalen
Hinweisen bewenden. Für das Geltendmachen eines entscheidungserheblichen
Verfahrensmangels reicht das nicht aus.
Soweit die Kläger darüber hinaus geltend machen, dem Verwaltungsgericht habe
sich eine Beweiserhebung gemäß § 86 Abs. 1 VwGO dazu aufdrängen müssen, ob
die Instandsetzung für sie tatsächlich wirtschaftlich günstiger wäre als ein Abbruch,
ist ihnen nicht zu folgen. Was für die Kläger wirtschaftlich günstiger ist, muss nicht
das Gericht herausfinden. Das Verwaltungsgericht konnte und durfte bei der
Beantwortung der Frage stehenbleiben, ob die Kläger bei gerichtlich festgestellter
formeller und materieller Rechtswidrigkeit des streitbefangenen Anbaus und
jahrelanger vorwerfbarer Untätigkeit bezogen auf die im Jahr 2005 bei Gericht
eingegangenen Verpflichtungen an einem bauaufsichtlichen Abrissgebot
festgehalten werden können, neben das erst Jahre später gemeindliche
Instandsetzungsgebote getreten sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO i. V. m. §
100 Abs. 1 ZPO, die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren auf den §§
52 Abs. 1, 47 Abs. 1 und 3 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m.
§ 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.