Urteil des HessVGH vom 26.02.1996

VGH Kassel: aufschiebende wirkung, öffentliche ordnung, verfügung, aufenthaltserlaubnis, abschiebung, straftat, ort der begehung, vorsätzliche tötung, vorzeitige entlassung, körperliche unversehrtheit

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 1846/95
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 2 Nr 1 AuslG vom
28.04.1965, § 8 Abs 1
AuslG vom 28.04.1965, § 9
Abs 1 Nr 4 AuslG vom
28.04.1965, § 10 Abs 1 Nr
2 AuslG vom 28.04.1965, §
21 Abs 3 S 1 AuslG vom
28.04.1965
(Ausweisung eines mehrfach straffällig gewordenen
türkischen Staatsangehörigen - maßgeblicher
Beurteilungszeitpunkt; besonderer Ausweisungsschutz
nach EuNiederlAbk Art 3 Abs 3 bei
Ermessensausweisungen)
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen seine unbefristete Ausweisung und die Anordnung
seiner Abschiebung aus der Haft durch die Beklagte.
Der am 23. Dezember 1963 in Tunceli/Türkei geborene Kläger ist türkischer
Staatsangehöriger. Er reiste am 30. August 1979 in das Bundesgebiet zu seinem
bereits hier lebenden Vater ein und beantragte am 23. Oktober 1979 die Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Familienzusammenführung. Dieser
Antrag wurde zunächst mit Bescheid vom 14. März 1980 abgelehnt mit der
Begründung, die Mutter des Klägers lebe noch in der Türkei, so daß die
Nachzugsvoraussetzungen nicht gegeben seien. Gegen diesen Bescheid legte der
Kläger Widerspruch ein und machte ein Eilverfahren anhängig. Nach Einreise der
Mutter des Klägers im Mai 1980 und Rücknahme des Eilantrages durch den Kläger
widerrief die Ausländerbehörde der Beklagten mit Bescheid vom 18. Juni 1980 ihre
Verfügung vom 14. März 1980 und erteilte dem Kläger eine bis zum 22. Juni 1981
befristete Aufenthaltserlaubnis, die in der Folgezeit auf jeweils rechtzeitig gestellte
Anträge hin mehrfach verlängert wurde. Zuletzt wurde ihm am 24. Mai 1985 eine
Aufenthaltsberechtigung erteilt. Nach seiner Einreise nahm der Kläger bis zum Juli
1980 an einer von der Volkshochschule der Stadt angebotenen Maßnahme zur
sozialen und beruflichen Eingliederung ausländischer Jugendlicher teil und erlernte
die deutsche Sprache. Danach war er u. a. als Textilarbeiter und als Lehrergehilfe
für Sport und Musik tätig. Von Juli 1983 bis Mai 1985 arbeitete er als
Dachdeckergehilfe. Seit Juni 1985 betrieb er in R eine Cafeteria und einen
Imbißwagen. Ab April 1987 führte er mit Unterstützung seiner Familie, die an
sämtlichen Geschäften finanziell beteiligt war, zusätzlich ein Obstgeschäft in R.
Am 24. März 1988 verurteilte ihn das Landgericht Frankfurt am Main, -
Jugendkammer - (5/3 Kls - 43 Js 16272/87) wegen gemeinschaftlich begangenen
Totschlages zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren. Das Urteil ist seit dem 28.
Januar 1989 rechtskräftig. Der Kläger befand sich wegen dieser Tat bereits seit
dem 11. Juni 1987 in Untersuchungshaft. Der Verurteilung lag der folgende vom
Landgericht festgestellte Sachverhalt zugrunde: Der Kläger erwarb am 14.
September 1985 von dem Obst- und Gemüsehändler L zu einem Kaufpreis von
5.700 DM einschließlich Mehrwertsteuer einen Verkaufsstand, den L im
Einkaufszentrum in in einem Zugangsbereich hinter den Haupteingangstüren vor
einem Aldi-Markt aufgestellt und etwa drei Tage lang selbst betrieben hatte, wobei
der Grund für die Veräußerung des Standes schon nach drei bis vier Tagen nicht
geklärt werden konnte. In einem vom Kläger aufgesetzten Kaufvertrag
verpflichtete sich L zur Rückzahlung des Kaufpreises für den Fall, daß der Kläger
mit der Firma Aldi oder der Eigentümerin des Einkaufszentrums "Ärger oder
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mit der Firma Aldi oder der Eigentümerin des Einkaufszentrums "Ärger oder
Schwierigkeiten bekäme". Der Kläger betrieb den Stand bis November 1985 und
zahlte bis dahin auf die Kaufpreisforderung einen Betrag von 4.000 DM. Am 26.
November 1985 wurde durch einen Mitarbeiter des Kreisbauamte die sofortige
Schließung und Beseitigung des Verkaufsstandes angeordnet, da er in einem
Fluchtweg des Einkaufszentrums stehe. Der Kläger forderte daraufhin den bereits
gezahlten Kaufpreis zurück. L verweigerte die Rückzahlung und ließ im Gegenzug
durch einen beauftragten Anwalt am 30. November 1985 einen Mahnbescheid
über die restliche Kaufsumme von 1.700 DM gegen den Kläger erwirken. Dem
Kläger gegenüber erging seitens des Kreisbauamtes am 6. Januar 1986 ein
Bußgeldbescheid über 550 DM wegen Nichtbeseitigung des Verkaufsstandes
innerhalb der gesetzten Frist; durch Urteil des Amtsgerichts vom 5. Mai 1986
wurde die Geldbuße auf 200 DM reduziert. Der Kläger klagte im August 1986 vor
dem Amtsgericht auf Rückzahlung der bereits geleisteten 4.000 DM gegen L. Die
Klage wurde am 12. Februar 1987 abgewiesen, da die im Kaufvertrag festgelegten
Voraussetzungen des Rückzahlungsanspruchs nicht gegeben seien. Nachdem der
Kläger in der Folgezeit mehrfach erfolglos versucht hatte, von L das Geld
zurückzubekommen, beschloß er, sich an L, von dem er sich betrogen und
ungerecht behandelt fühlte, zu rächen. Dabei wurde der Kläger möglicherweise
bestärkt und unterstützt von den anderen Familienangehörigen. Es wurde der Plan
gefaßt, L bei einem seiner morgendlichen Einkäufe in der Großmarkthalle in
Frankfurt mit einer Eisenstange zusammenzuschlagen. Zur Tatausführung
bestimmte der Kläger seinen jüngeren Bruder Z, den niemand in der
Großmarkthalle kannte. Zur Tatausführung gab der Kläger seinem Bruder eine
etwa eineinhalb Meter lange, an einem Ende mit Beton gefüllte Eisenstange, mit
der Z auf L einschlagen sollte, wobei beide in Kauf nahmen, daß das Opfer an den
Schlägen stirbt. Am 9. Juni 1987 nahm der Kläger seinen Bruder und einen
unbekannt gebliebenen Dritten, der mit einer auf eineinhalb Meter
zurechtgesägten 4 cm starken Holzstange ausgerüstet worden war, in seinem
Fahrzeug mit zur Großmarkthalle, zeigte ihnen das Opfer und dessen Fahrzeug
und trennte sich sodann von beiden. Als L gegen 6.20 Uhr sein Fahrzeug mit den
eingekauften Waren belud, schlugen Z und der unbekannt gebliebene Dritte von
hinten auf ihn ein. Nachdem L, dem es zunächst gelang zu fliehen, zu Fall kam,
schlug ihm der Bruder des Klägers mit dem Eisenrohr von hinten so heftig auf den
Kopf, daß das mit Beton gefüllte Ende abbrach, während der Unbekannte mit der
Holzstange auf den Körper einschlug. Das Opfer erlitt durch die mit der
Eisenstange geführten Schläge auf den Kopf schwere Schädel- und
Hirnverletzungen, an denen er zwei Tage nach der Tat verstarb.
Die Ausländerbehörde der Beklagten nahm die Verurteilung des Klägers zum
Anlaß, diesen nach mit Schreiben vom 2. Oktober 1989 gegebener Gelegenheit
zur Stellungnahme mit Verfügung vom 6. März 1990 unter Anordnung des
Sofortvollzuges unbefristet auszuweisen. Gleichzeitig wurde die Abschiebung des
Klägers angeordnet. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt, der Kläger
erfülle nach rechtskräftiger Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren
wegen eines Verbrechens des Totschlages den Ausweisungstatbestand des § 10
Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965. Die im Rahmen der über die Ausweisung zu treffenden
Ermessensentscheidung erfolgte Prüfung habe ergeben, daß das öffentliche
Interesse an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber dem persönlichen
Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib größeres Gewicht beizumessen
und bei Abwägung der für und gegen diese Maßnahme sprechenden Umstände
die Ausweisung geboten sei. Dabei sei zum einen zu berücksichtigen, daß sich der
Kläger im Zeitpunkt der Tatbegehung ca. acht Jahre im Bundesgebiet aufgehalten
habe und im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung gewesen sei, die eine stärkere
Stellung gewähre als eine Aufenthaltserlaubnis sonstiger Form, die aber keinen
absoluten Schutz vor Ausweisung biete. Dieser Aufenthaltsverfestigung stehe
indes die vom Kläger begangene gravierende Straftat des Totschlags gegenüber.
Angesichts der Schwere der Tat einerseits und der Geringfügigkeit ihres Anlasses
andererseits habe dem ordnungsrechtlichen Gewicht an der Ausweisung des
Klägers gegenüber seinem privaten Interesse am Verbleib im Bundesgebiet der
Vorrang gegeben werden müssen. Denn nach den Feststellungen des
Landgerichts in der Urteilsbegründung habe der Kläger die Straftat aus geringem
Anlaß begangen; Hintergrund sei nämlich ein Kaufvertrag gewesen, dessen
Abwicklung nicht seinen Vorstellungen entsprochen habe, was zur Begehung der
Tat aus Wut und Rache geführt habe. Die vom Kläger begangene Straftat stelle
zum einen eine erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar.
Zum anderen sei eine sachgerechte Ermessensausübung auch darin zu sehen,
daß durch die Ausweisung auf andere im Bundesgebiet lebende Ausländer
hingewirkt werden solle, keine Straftaten zu begehen. Auch darin liege das
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hingewirkt werden solle, keine Straftaten zu begehen. Auch darin liege das
ordnungsrechtliche Gewicht der Ausweisung. Sie verletze, wenn sie die in der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgezeigten Grenzen wahre,
weder das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG noch aus Art. 2 Abs. 1 GG. Der
ausländische Staatsangehörige werde nicht zum bloßen Objekt staatlichen
Handelns gemacht und auch nicht für mögliches Fehlverhalten anderer Ausländer
zur Verantwortung gezogen, sondern vielmehr ausgewiesen, weil er einen
Ausweisungstatbestand erfülle. Er müsse für sein eigenes Verhalten einstehen, an
das die gesetzliche, wenn auch nicht zwingende Rechtsfolge der Ausweisung
geknüpft sei. Die Anordnung der Abschiebung sei gemäß § 13 AuslG 1965
geboten, da die freiwillige Ausreise des Klägers nicht gewährleistet sei. Denn der
Landrat des W kreises habe den Kläger mit Schreiben vom 19. April 1989 darauf
hingewiesen, daß die Staatsanwaltschaft bei Ausländern, die ausgewiesen worden
seien, nach Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe auf eine weitere
Strafvollstreckung verzichten könne, wenn der Ausländer mit seiner Ausweisung
und Abschiebung einverstanden sei. Er habe aber mit Schreiben vom 1. Mai 1989
dem Landrat des W kreises mitgeteilt, daß er mit einer derartigen Regelung nicht
einverstanden sei, und gleichzeitig Widerspruch gegen eine derartige Maßnahme
eingelegt. Von der Androhung der Abschiebung mit konkreter Fristsetzung zur
Ausreise habe abgesehen werden können, weil die Abschiebung im Anschluß an
die Haftentlassung durchgeführt werden solle. Sie, die Beklagte, habe aber auf den
tatsächlichen Zeitpunkt der Haftentlassung keinen Einfluß. Allerdings stehe
aufgrund der Beurteilung zu einer neunjährigen Freiheitsstrafe fest, daß noch eine
mehrjährige Reststrafe zu verbüßen sei. Dem Kläger bleibe während dieser Zeit
genügend Raum, alle persönlichen und behördlichen Angelegenheiten vor der
Abreise aus der Bundesrepublik Deutschland zu erledigen. Insbesondere erfahre
die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG aufgrund des dem Kläger zur
Verfügung stehenden Zeitraumes keinerlei Einschränkung.
Der Kläger erhob gegen den am 8. März 1990 zugestellten Bescheid am 20. März
1990 Widerspruch. Nach Verzicht des Klägers auf Durchführung eines
Anhörungsverfahrens vor dem Anhörungsausschuß wies das Regierungspräsidium
mit Widerspruchsbescheid vom 15. August 1990 den Widerspruch zurück. Zur
Begründung ist im wesentlichen ausgeführt, die angegriffene
Ausweisungsverfügung erweise sich unter Würdigung aller Umstände als
ermessensfehlerfrei. Die Ausweisung sei aus spezialpräventiven Gründen
gerechtfertigt. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen sei Anlaß für
die Tat nicht eine dem ursprünglichen Kulturkreis des Klägers entstammende
Verpflichtung zur Wiederherstellung der Familienehre gewesen. Die Tat sei
vielmehr der aggressiven Einstellung des Klägers und eventuell der anderen
Familienangehörigen gegenüber dem späteren Opfer entsprungen. Nach den
weiteren Feststellungen des Gerichts habe es sich bei der Tat um einen Akt
rohester Vergeltung gehandelt, der in krassem Mißverhältnis zum Anlaß
gestanden habe. Die getroffenen gerichtlichen Feststellungen zeigten, daß der
Kläger den Tod eines anderen in Kauf genommen habe, weil er sich betrogen
gefühlt habe. Der Anlaß der Tat habe in krassem Mißverhältnis zu den
eingetretenen und vom Kläger in Kauf genommenen Folgen gestanden. Dadurch
habe er gezeigt, daß er bereit sei, Konflikte unter Einsatz körperlicher Gewalt
auszutragen, wobei für ihn Leben und körperliche Unversehrtheit des
Kontrahenten nur eine untergeordnete Bedeutung spiele. Es sei davon
auszugehen, daß der Kläger auch in Zukunft in ähnlichen Fällen das Mittel der
Gewalt einsetze. Darüber hinaus sei die Ausweisung auch aus generalpräventiven
Gründen geboten gewesen, um so anderen Ausländern zu verdeutlichen, mit
welchen Konsequenzen sie zu rechnen hätten, wenn sie ähnlich wie der Kläger
strafrechtlich auffielen. Im Hinblick auf die zugrundeliegende Tat und deren
Begehungsweise sei die Ausweisung auch geeignet, andere Ausländer von
ähnlichen Straftaten abzuhalten. Es sei davon auszugehen, daß andere Ausländer
mit Rücksicht auf eine drohende Ausweisung davor zurückschreckten, bei
Auseinandersetzungen Gewalttaten zu begehen bzw. sich an ihnen zu beteiligen.
Bei der vorzunehmenden Abneigung der öffentlichen Belange mit den
persönlichen Interessen des Klägers sei dessen langer Aufenthalt im Bundesgebiet
zu berücksichtigen, was aber nicht bedeute, daß eine Ausweisung schlechthin
unverhältnismäßig wäre. Vielmehr rechtfertigten Art und Schwere der Straftat
keine andere Beurteilung. Der Kläger habe erhebliches Unrecht begangen, was
durch die Höhe der verhängten Freiheitsstrafe bestätigt werde. Schwere
Gewalttaten gäben wegen ihrer Gefährlichkeit und wegen des hohen Ranges der
betroffenen Rechtsgüter Leben und Gesundheit hinreichenden Anlaß, die
gesetzlichen Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung weitgehend
auszuschöpfen. Insoweit komme dem öffentlichen Interesse erhebliches Gewicht
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auszuschöpfen. Insoweit komme dem öffentlichen Interesse erhebliches Gewicht
zu, so daß es selbst dann nicht ohne weiteres unangemessen erscheine, wenn
Ausländer, die, wie der Kläger, auch wegen einer solchen Gewalttat zu einer hohen
Strafe verurteilt worden seien, auch nach längerem Aufenthalt das Bundesgebiet
verlassen müßten, weil die aus Anlaß ihrer Verurteilung erfolgte Ausweisung
vergleichbaren Straftaten vorbeugen solle. Ein langer Aufenthalt hindere die
Ausländerbehörden nicht von vornherein, durch Ausweisungen kontinuierlich zu
verdeutlichen, daß Gewalttaten im Bundesgebiet nicht hingenommen, sondern
auch mit aufenthaltsrechtlichen Mitteln bekämpft würden. Stehe eine Ausweisung
aus generalpräventiven Gründen der langjährige Aufenthalt des Klägers im
Bundesgebiet nicht entgegen, gelte dies erst recht für die vorliegend auch aus
spezialpräventiven Gründen erfolgte Ausweisung. Der Ausweisungsschutz des § 11
Abs. 1 i. V. m. § 10 AuslG 1965 stehe dem Kläger nicht zur Seite. Auch die
Berücksichtigung der weiteren Lebensverhältnisse des Klägers erfordere keine
andere Entscheidung. Dem Kläger, der nach Ablauf von zwei Dritteln seiner
Haftzeit 33 Jahre alt sein werde, sei es zuzumuten, wieder in seine Heimat
zurückzukehren und sich dort in das wirtschaftliche und soziale Leben wieder
einzugliedern. Befürchtungen, daß ihm dies nicht gelingen werde, seien nicht
angebracht. Auch der Beziehung des Klägers zu seiner Lebensgefährtin komme
kein solches Gewicht zu, daß die Ausweisung unterbleiben müsse. Die
Lebensgemeinschaft könne in der Türkei fortgesetzt werden. Eine bloße
Lebensgemeinschaft falle nicht unter das Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG. Der
Ausweisung stehe auch nicht eine mögliche erneute Bestrafung des Klägers in
seiner Heimat entgegen. Unter Zugrundelegung der Auskunft des Auswärtigen
Amtes vom 23. Februar 1990 bemesse sich vorliegend der Strafrahmen für
Totschlag gemäß Art. 452 Abs. 1 i. V. m. Art. 448 des Türkischen
Strafgesetzbuches von acht bis 30 Jahren. Da die Tat des Klägers keinen
Türkeibezug aufweise, sei mit dem Auswärtigen Amt davon auszugehen, daß eine
erneute Verurteilung in seiner Heimat nicht zu erwarten sei. Im übrigen gebiete
allein die bloße Möglichkeit einer nochmaligen Verurteilung zu einer Haftstrafe
nicht, von einer Ausweisung des Klägers abzusehen, zumal in der Türkei die zu
Freiheitsstrafen verurteilten Straftäter nur 40 % der verhängten Strafe tatsächlich
verbüßten und im übrigen vorliegend nur die Differenz zwischen der im Ausland
verbüßten und der in der Türkei zu verbüßenden Freiheitsstrafe abzusitzen sei,
sofern das türkische Strafrecht eine höhere Strafe vorsehe. Die Anordnung der
Abschiebung zum Zeitpunkt der Haftentlassung in der ausländerbehördlichen
Verfügung sei nicht zu beanstanden, da die freiwillige Ausreise des Klägers nicht
gesichert sei. Denn er habe klar zu erkennen gegeben, daß er unter keinen
Umständen wieder in die Türkei zurückkehren wolle, so daß zu befürchten sei, daß
er nach seiner Haftentlassung untertauchen werde, um eine Rückreise in seine
Heimat zu verhindern. Die Beklagte habe gemäß § 13 Abs. 2 Satz 4 AuslG 1965
ausnahmsweise von einer Fristsetzung zur Ausreise und Abschiebungsandrohung
absehen können. Der Kläger solle nicht die Gelegenheit zur freiwilligen Ausreise
erhalten, sondern unmittelbar nach Verbüßung der Haftzeit aus der Haft
abgeschoben werden. Da zu befürchten sei, daß der Kläger in die Illegalität
untertauche, sei der nach § 13 Abs. 2 Satz 4 AuslG 1965 erforderliche besondere
Grund gegeben. Im übrigen habe der Kläger frühzeitig Gelegenheit, seine
Ausreisevorbereitungen zu treffen, da ihm bekannt sei, daß er am Tage der
Haftentlassung abgeschoben werde.
Der Kläger hat am 3. September 1990 gegen den Bescheid der Ausländerbehörde
der Beklagten und den Widerspruchsbescheid Klage erhoben und zur Begründung
ausgeführt, die zur Begründung der Ausweisung angestellten spezialpräventiven
Erwägungen seien fehlerhaft. Obwohl die Beklagte selbst von einem
Ausnahmecharakter zur Tat ausgehe, nehme sie an, er werde auch in Zukunft in
ähnlichen Fällen das Mittel der Gewalt einsetzen. Eine derartige Schlußfolgerung
könne aber gerade bei Ersttätern nicht gezogen werden. Soweit die Beklagte der
Annahme sei, er sei durch die Einwirkung des Strafvollzuges nicht im geringsten
beeindruckt, treffe dies nicht zu. Vielmehr arbeite er aktiv am Erreichen des
Vollzugszieles mit und gebe keinerlei Anlaß zu irgendwelchen Beanstandungen.
Aus dem festgestellten Sachverhalt könnten auch keine relevanten
generalpräventiven Erwägungen abgeleitet werden. Es lasse sich kein Ausländer,
der aufgrund eines Anstaus von Wut und Rachegefühlen die Bereitschaft zur
Begehung einer Straftat entwickelt habe, von dieser abhalten, nur weil er davon
ausgehen müsse, im Falle der Entdeckung eines in Kauf genommenen
Totschlages ausgewiesen zu werden. Im übrigen hätten im Ausgangsbescheid und
im Widerspruchsbescheid das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, das
im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides zwar noch nicht in Kraft
getreten, aber schon verkündet war, in die Ermessensentscheidung einbezogen
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getreten, aber schon verkündet war, in die Ermessensentscheidung einbezogen
werden müssen. Insbesondere hätte der in § 48 AuslG geregelte
Ausweisungsschutz zu seinen Gunsten Berücksichtigung finden müssen. Wie der
Vergleich zwischen alter und neuer Rechtslage zeige, genüge es nach neuem
Recht nicht mehr, wenn die in § 10 Abs. 1 AuslG 1965 ausgeführten Gründe
besonders schwer wögen. Vielmehr sei bei jeder Freiheitsstrafe über fünf Jahren die
Bejahung des Vorliegens eines besonders schwerwiegenden Grundes der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich, wenn ein
Ausweisungsschutzgrund vorliege. Es reiche also nicht aus, daß die
zugrundegelegte Straftat selbst eine erhebliche Störung der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung darstelle. Die Abschiebungsanordnung ohne Setzung
einer Ausreisefrist sei fehlerhaft, da besondere Gründe, die ein Absehen von der
Fristsetzung und Abschiebungsandrohung rechtfertigten, nicht ersichtlich seien.
Diese seien jedenfalls nicht aus dem Umstand abzuleiten, daß er seine
Abschiebung nach Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe abgelehnt habe.
Der Kläger hat beantragt,
die Verfügung des Oberbürgermeisters der Stadt Rüsselsheim vom 6. März 1990
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. August 1990 aufzuheben und die
Beklagte zu verpflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts
neu zu bescheiden.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat zur Verteidigung ihrer Entscheidung ihre Auffassung wiederholt, daß der
Kläger sowohl aus general- als auch spezialpräventiven Erwägungen
ermessensfehlerfrei habe ausgewiesen werden können. Sie hat darüber hinaus
ausgeführt, das neue Ausländergesetz 1990 sei weder als Rechtsgrundlage
anzuwenden gewesen noch hätten diese Regelungen in die Entscheidung auf der
Grundlage des Ausländergesetzes 1990 hineininterpretiert werden können, da es
bezüglich des anwendbaren Rechts allein auf den Zeitpunkt der Entscheidung der
Widerspruchsbehörde ankomme. Im übrigen hätte das Verhalten des Klägers nach
der neuen Rechtslage seine zwingende Ausweisung zur Folge gehabt, die lediglich
in eine Regelausweisung hätte umgewandelt werden müssen. Die erforderlichen
besonderen Umstände, die es geboten hätten, von einer Ausweisung des Klägers
ausnahmsweise abzusehen, seien indes nicht ersichtlich.
Das Landgericht Darmstadt - Strafvollstreckungskammer - hat mit
rechtskräftigem Beschluß vom 25. März 1993 (StVK 189/93) die Vollstreckung der
vom Kläger zu verbüßenden Restfreiheitsstrafe nach Verbüßung von zwei Dritteln
zur Bewährung ausgesetzt und die Entlassung des Klägers frühestens nach
Verbüßung des Zwei- Drittel-Zeitraumes am 6. Juni 1993 aus der Strafhaft
angeordnet. Die Beklagte hat den Kläger unmittelbar nach Entlassung aus der
strafhaft noch am 6. Juni 1993 auf dem Luftweg in die Türkei abgeschoben.
Das Verwaltungsgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 20. April 1995 die Klage des
Klägers abgewiesen. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt,
Rechtsgrundlage für die ergangene Ausweisungsverfügung sei § 10 Abs. 1 Nr. 2
AuslG 1965. Der Kläger habe den Ausweisungsgrund dieser Vorschrift erfüllt und
damit die Ermessensentscheidung der Beklagten über seine Ausweisung eröffnet.
Die von der Beklagten angestellten Ermessenserwägungen seien nicht zu
beanstanden. Insbesondere erweise sich die mit spezialpräventiven Erwägungen
begründete Ausweisung nicht dadurch als ermessensfehlerhaft, daß der Kläger
sich während des Strafvollzuges beanstandungsfrei geführt habe, weil die
ordnungsrechtliche Gefahrenprognose sich nicht nur am Verhalten des Ausländers
während des Strafvollzugs zu orientieren habe, sondern die Gesamtpersönlichkeit
zu würdigen sei, wie sie in seinem abgeurteilten und sonstigen Verhalten zum
Ausdruck komme. Danach sei es nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte auf das
krasse Mißverhältnis zwischen Tatanlaß und Tatfolgen sowie auf die ungewöhnliche
Brutalität der Tatausführung und auf die Haltung des Klägers nach der Tat, nämlich
keinerlei Reue zu zeigen, abgestellt und seinem Verhalten während des
Strafvollzuges keine entscheidende Bedeutung beigemessen habe. Die
Entscheidung sei auch nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil die ebenfalls
angeführten generalpräventiven Ziele mit ihr nicht erreicht werden könnten.
Insbesondere gehe die Annahme des Klägers fehl, kein Ausländer lasse sich von
einer Ausweisung abschrecken, wenn seine Bereitschaft zur Begehung von
Gewalttaten auf Wut und Rachegefühlen beruhten. Es sei nicht ersichtlich, warum
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Gewalttaten auf Wut und Rachegefühlen beruhten. Es sei nicht ersichtlich, warum
andere Ausländer, die sich in ihrem Handeln gleichfalls von Vergeltungsgefühlen
leiten ließen, durch die verfügte Ausweisung nicht zu einem besonnenen Verhalten
angehalten werden könnten. Dem Kläger komme auch der erhöhte
Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 Europäisches Niederlassungsabkommen
(ENA) nicht zugute, weil sein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung und die
Sittlichkeit nach dem festgestellten Sachverhalt besonders schwer wiege.
Entgegen der Auffassung des Klägers sei ausschließlich das Ausländergesetz 1965
anzuwenden gewesen, nicht jedoch das Ausländergesetz 1990, da maßgeblicher
Zeitpunkt für die Beurteilung eines belastenden Verwaltungsaktes die Sach- und
Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung sei. Dies sei der
Widerspruchsbescheid vom 14. August 1990, bei dessen Erlaß noch das
Ausländergesetz 1965 gegolten habe, das erst am 31. Dezember 1990 außer
Kraft getreten sei. Die Tatsache der Verkündung des neuen Ausländergesetzes
bereits im Juli 1990 führe zu keinem anderen Ergebnis. Der vom Kläger
offensichtlich aus dem Strafrecht herangezogene Grundsatz, wonach das mildeste
Gesetz anzuwenden sei, wenn das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gelte, vor
der Entscheidung geändert werde, sei von seinem Rechtsgedanken her auf
verwaltungsrechtliche Fragestellung nicht übertragbar, da die verfügte Ausweisung
keine weitere Bestrafung des Klägers bezweckt, sondern sicherheits- und
ordnungsrechtliche Ziele im Interesse der Allgemeinheit verfolgt habe. Welche
Maßnahmen hierzu ergriffen werden dürften, obliege der Entscheidungs- und
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, dem es freigestanden habe, die Regelung
der §§ 45 bis 48 AuslG zu einem früheren Zeitpunkt in Kraft zu setzen. Da er
davon ausdrücklich abgesehen habe, komme es allein auf die Regelung des
Ausländergesetzes 1965 an. Entgegen der Auffassung des Klägers habe auch eine
Abschiebungsandrohung nicht zu ergehen brauchen, weil dies durch besondere
Gründe im Sinne des § 13 Abs. 2 Satz 3 AuslG 1965 gerechtfertigt gewesen sei.
Die Abschiebungsandrohung verfolge den Zweck, den Ausländer zu einer
freiwilligen Ausreise zu bewegen. Verfüge dieser nicht über die
Entscheidungsfreiheit, weil er sich in Strafhaft befinde und unmittelbar aus der Haft
abgeschoben werden solle, sei dieser Zweck unerreichbar und der Erlaß der
Abschiebungsandrohung eine sinnlose Förmlichkeit. Insbesondere werde der
Kläger hierdurch nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns, da das von der
Rechtsordnung anzuerkennende Interesse zu erfahren, was mit ihm zu welcher
Zeit geschehe, bereits durch den Vollzugsplan gewahrt werde, in dem auch der
voraussichtliche Termin der Haftentlassung bekanntgegeben werde, so daß er sich
auf den Zeitpunkt, zu dem er das Bundesgebiet verlassen müsse, einrichten und
behördliche sowie private Angelegenheiten erledigen könne. Die mit seinem
Teilantrag auf die Verpflichtung zur Neubescheidung gerichtete Klage sei mangels
Rechtsschutzinteresses unzulässig, weil der Kläger mit einer etwaigen Aufhebung
der angefochtenen Ausweisungsverfügung wieder in den Genuß der erteilten
Aufenthaltsberechtigung gelange.
Der Kläger hat gegen den am 10. Mai 1995 zugestellten Gerichtsbescheid am 31.
Mai 1995 Berufung eingelegt. Er führt zur Begründung aus, die Verfügungen seien
bereits deshalb aufzuheben, weil die Ausweisung in fehlerhafter Weise mit general-
und spezialpräventiven Erwägungen begründet und ein besonderer
Ausweisungsschutz verneint worden sei. Zwar sei formal nicht zu beanstanden,
daß die Verfügung auf § 10 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965 gestützt worden sei.
Allerdings hätten in die nach dem alten Recht anzustellenden
Ermessenserwägungen auch diejenigen eingestellt werden müssen, die der
Gesetzgeber noch im Verlauf des Widerspruchsverfahrens für richtig gehalten
habe, nämlich die besonderen Ausweisungsschutzvorschriften des § 48 Abs. 1 Nr.
1 und 2 AuslG. Da noch vor Erlaß des Widerspruchsbescheides für die
Ausländerbehörden festgestanden habe, daß künftig, nämlich ab dem 1. Januar
1991, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen
müßten, wenn ein Ausländer, der zu einer Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren
verurteilt worden sei, ausgewiesen werden solle und er eine
Aufenthaltsberechtigung besitze oder wenigstens eine unbefristete
Aufenthaltserlaubnis. Wenn dieser Ermessensmaßstab im vorliegenden Fall nicht
hätte zur Anwendung kommen sollen, hätte es hierzu einer besonderen
Begründung in den Bescheiden bedurft. Dies sei unterblieben und mache die
angegriffene Verfügung insgesamt fehlerhaft. Im übrigen seien
Ausweisungsverfügung und Abschiebungsanordnung auch deswegen rechtswidrig,
weil der Staat, in den abgeschoben werden solle, ebensowenig bestimmt worden
sei wie eine Frist zur freiwilligen Ausreise. Von der Fristsetzung habe auch nicht
gemäß § 13 Abs. 2 Satz 3 AuslG 1965 abgesehen werden können, da er jedenfalls
eine Vollziehung der Abschiebung seinem Vollzugsplan nicht habe entnehmen
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eine Vollziehung der Abschiebung seinem Vollzugsplan nicht habe entnehmen
können. Einem Vollzugsplan sei nämlich keinesfalls notwendigerweise klar der
voraussichtliche Zeitpunkt der Haftentlassung zu entnehmen. Dies hänge allein
davon ab, ob und wann das Strafvollstreckungsgericht eine vorzeitige Entlassung
verfüge. In seinem Falle sei es sogar so gewesen, daß er Monate vor dem Zwei-
Drittel-Termin, an dem tatsächlich seine Entlassung und Abschiebung erfolgt
seien, Freigang erhalten und gearbeitet habe. Es habe zwar auch gemäß § 50 Abs.
2 Satz 1 AuslG keiner nachträglichen Fristsetzung bedurft, jedoch hätte die
Abschiebung gemäß Abs. 2 der Vorschrift zumindest eine Woche vorher
angekündigt werden müssen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat
der Kläger zusätzlich ausgeführt, er sei etwa einen Monat nach der Abschiebung
zurückgekehrt, habe einen inzwischen rechtskräftig abgelehnten Asylantrag
gestellt und sei seit Oktober 1995 mit einer deutschen Staatsangehörigen
verheiratet. Aus dieser Verbindung seien zwei Kinder hervorgegangen, die im
Januar 1993 und Dezember 1994 geboren seien. Mit Anklageschrift vom 4.
Dezember 1995 sei er des erpresserischen Menschenraubs, begangen am 18.
Oktober 1994, angeklagt.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 20. April 1995
abzuändern und die Verfügung des Oberbürgermeisters der Stadt vom 6. März
1990 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. August 1990 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt ohne weitere Begründung,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug sowie die
Strafakten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt/Main - 43 Js
16272/87, genommen, die sämtlich Gegenstand der mündlichen Verhandlung und
der Beratung waren.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist hinsichtlich der vom Kläger angegriffenen
Abschiebungsanordnung im Bescheid der Beklagten vom 6. März 1990 in der
Fassung der Widerspruchsbescheides vom 15. August 1990 zu verwerfen, weil das
hierfür erforderliche Rechtsschutzbedürfnis nicht gegeben ist, da die
Abschiebungsanordnung durch die Abschiebung des Klägers am 6. Juni 1993
vollzogen und damit erledigt ist (Hess. VGH, 10.08.1992 - 12 UE 2254/89 -, EZAR
032 Nr. 6 = NVwZ-RR 1993, 432 = MDR 1993, 703).
Die im übrigen zulässige Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat
die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Ausweisung in der ausländerbehördlichen
Verfügung der Beklagten vom 6. März 1990 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 15. August 1990 ist rechtswidrig und verletzt den
Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der
Ausweisungsverfügung ist der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides
am 15. August 1990. Denn es kommt für die Beurteilung einer
Ausweisungsverfügung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten
Behördenentscheidung an (vgl. BVerwG, 29.11.1989 - 1 B 418.87 -, Buchholz
402.24 § 10 AuslG 1965 Nr. 57; 20.05.1980 - 1 C 82.76 -, BVerwGE 60, 133 =
EZAR 120 Nr. 2; 16.10.1989 - 1 B 106.89 -, EZAR 124 Nr. 11 = Buchholz 402.24 §
10 AuslG 1965 Nr. 119. Zur Rechtslage nach dem neuen Ausländergesetz:
BVerwG, 12.12.1991 - 1 B 157.91 -, Buchholz 402.24 § 95 AuslG 1990 Nr. 3;
17.11.1994 - 1 B 224.94 -, InfAuslR 1995, 150; Hess. VGH, 20.10.1992 - 12 TH
1509/92 -, EZAR 034 Nr. 1 = InfAuslR 1993, 50). Dies gilt auch hinsichtlich der
insbesondere für die Gefahrenprognose maßgeblichen Umstände, wobei später
entstandene oder zugänglich gewordene Erkenntnismittel verwendet werden
dürfen und müssen, wenn diesen Anhaltspunkte für die Richtigkeit der im
Zeitpunkt des Erlasses der letzten Behördenentscheidung getroffenen
Einschätzung entnommen werden können; darin enthaltene Erkenntnisse über die
nach dem maßgeblichen Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung
eingetretene Entwicklung haben demgegenüber außer Betracht zu bleiben
(BVerwG, 16.10.1989, a. a. O.). Die von diesem Grundsatz abweichende
Bestimmung des § 77 AsylVfG ist auf Asylstreitverfahren beschränkt und einer
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Bestimmung des § 77 AsylVfG ist auf Asylstreitverfahren beschränkt und einer
erweiternden Auslegung und Anwendung auf ausländerrechtliche Verfahren nicht
zugänglich (Hess. VGH, 27.03.1995 - 12 UE 1462/94 -; 08.05.1995 - 12 UE 3336/94
-, EZAR 032 Nr. 11; a. A. betreffend Abschiebungsandrohung GK-AuslR, Stand:
Oktober 1995, § 50 AuslG Rdnr. 115). Damit ist der Überprüfung der
Ausweisungsverfügung das Ausländergesetz vom 28. April 1965 (BGBl. I S. 353) in
der Fassung der letzten Änderung vom 6. Januar 1987 (BGBl. I S. 89) -
Ausländergesetz 1965 - zugrundezulegen.
Danach ist die Ausweisung des Klägers sowohl im Bescheid der Beklagten als auch
im Widerspruchsbescheid zutreffend auf den Ausweisungstatbestand des § 10 Abs.
1 Nr. 2 AuslG 1965 gestützt. Gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965 kann ein
Ausländer u. a. ausgewiesen werden, wenn er wegen einer Straftat verurteilt
worden ist. Diese Voraussetzung liegt mit der Verurteilung durch das Landgericht
Frankfurt am 24. März 1988 zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren vor. Bei
Vorliegen eines Ausweisungstatbestandes entscheidet die Ausländerbehörde über
die Ausweisung nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei hat sie die schutzwürdigen
Interessen des Ausländers am Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland gegen
das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung
abzuwägen. In die anzustellenden Ermessenserwägungen hat sie eine
ordnungsrechtliche Gefährdungsprognose einzustellen, dahingehend, ob der
weitere Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet zu künftigen Beeinträchtigungen
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Belange der
Bundesrepublik Deutschland führt (BVerwG, 27.10.1978 - 1 C 91.76 -, BVerwGE 57,
61 = DVBl. 1979, 288 = EZAR 124 Nr. 1; 17.10.1984 - 1 B 61/84 -, InfAuslR 1985,
33 = EZAR 121 Nr. 5). Die Ausweisung anläßlich einer strafgerichtlichen
Verurteilung kann auch schon nach der Begehung einer einzigen Straftat zulässig
sein, wenn im jeweiligen Einzelfall aus dem abgeurteilten Verhalten und der darin
zum Ausdruck kommenden Gesamtpersönlichkeit des Ausländers auf die
erforderliche künftige Gefährdung geschlossen werden kann (BVerwG, 02.06.1983
- 1 B 80.83 -, InfAuslR 1983, 307). Der anzustellenden Gefahrenprognose kann ein
allgemein gültiger Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht zugrundegelegt werden.
Vielmehr erfordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinsichtlich des Grades
der Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen eine an Art und Ausmaß der möglichen
künftigen Schäden ausgerichtete Differenzierung. Dies rechtfertigt es, bei
strafgerichtlichen Verurteilungen wegen Gewalttaten an die Wahrscheinlichkeit
weiterer Straftaten des Ausländers nur geringe Anforderungen zu stellen. In
solchen Fällen darf die Ausweisung wegen der Schwere der Tatfolgen und der
möglichen erneuten Gefährdung in der Regel mit der Begründung erfolgen, daß
eine Wiederholungsgefahr (im weiteren Sinne) nicht ausgeschlossen werden kann
(BVerwG, 27.10.1978, 17.10.1984, a. a. O.), was indes nicht bedeutet, daß in
jedem einzelnen Falle der Verurteilung wegen einer Gewalttat die Ausweisung
rechtmäßig ist oder gar vorgenommen werden muß. Vielmehr ist auch in diesen
Fällen über die Ausweisung in Anwendung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit aufgrund einer umfassenden Abwägung aller wesentlichen
Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (BVerwG, 17.10.1984, a. a. O.).
In Anwendung dieser Vorgaben ist rechtlich nicht zu beanstanden, daß die
ausländerbehördliche Verfügung sowie der Widerspruchsbescheid ihrer
Gefahrenprognose die rechtskräftig abgeurteilte Straftat des Klägers
zugrundelegen. Denn diese stellt eine schwerwiegende Beeinträchtigung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar, die allgemein die Besorgnis rechtfertigen
kann, die weitere Anwesenheit des Klägers in Deutschland stelle eine Gefahr für
die öffentliche Ordnung oder Sicherheit dar. Der Widerspruchsbescheid, der,
anders als der Ausgangsbescheid der Beklagten, die Ausweisung in erster Linie auf
spezialpräventive Erwägungen stützt, ist auch insoweit nicht zu beanstanden, als
in ihm offensichtlich angenommen wird, daß die Straftat des Klägers zum Bereich
der Schwerkriminalität zu rechnen ist und daß in solchen Fällen allgemein
geringere Anforderungen an das Bestehen einer Wiederholungsgefahr zu stellen
sind.
Indessen leidet die Ausweisungsverfügung der Beklagten in der Fassung des
Widerspruchsbescheides an einem Ermessensfehlgebrauch zu Lasten des Klägers,
weil der zu seinen Gunsten bestehende erhöhte Ausweisungsschutz aus Art. 3
Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955
(Gesetz vom 30. September 1959, BGBl. II S. 997, in Kraft getreten am 23.
Februar 1965, Bek. vom 30.07.1965, BGBl. II S. 1099) - ENA - erkennbar nicht
berücksichtigt worden ist. Nach dieser Vorschrift ist die Ausweisung eines
Staatsangehörigen eines Vertragsstaates, der seit mehr als zehn Jahren seinen
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Staatsangehörigen eines Vertragsstaates, der seit mehr als zehn Jahren seinen
ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates hat, nur
noch aus Gründen der Sicherheit des ausweisenden Staates oder dann zulässig,
wenn die übrigen Gründe nach Art. 3 Abs. 1 ENA, zu denen auch die Sittlichkeit
und öffentliche Ordnung gehören, besonders schwerwiegend sind. Der Kläger fällt
unter den Schutzbereich dieser Vorschrift, weil die Türkei Vertragsstaat dieses
Abkommens geworden ist. Allerdings brauchte die Beklagte in ihrer
ausländerrechtlichen Verfügung vom 6. März 1990 den erhöhten
Ausweisungsschutz des ENA nicht zu berücksichtigen, da dieses Abkommen für
die Türkei erst am 20. März 1990 mit Hinterlegung der Ratifikationsurkunde in Kraft
getreten ist (Bek. vom 21.12.1990, BGBl. II S. 397; VGH Baden-Württemberg,
06.05.1991 - 1 S 2891/90 -, EZAR 124 Nr. 13 = InfAuslR 1991, 223). Der dem
Kläger zugute kommende Ausweisungsschutz des Art. 3 Abs. 3 ENA war jedoch im
Widerspruchsbescheid vom 15. August 1990 zu berücksichtigen. Denn
maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei der
Entscheidung über einen Widerspruch ist grundsätzlich der des Ergehens des
Widerspruchsbescheides (Kopp, VwGO, 10. Aufl., § 68 Rdnr. 15 m. w. N.), der, wie
bereits ausgeführt, auch der gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit
der Ausweisung zugrundezulegen ist. Hieran ändert sich auch dann nichts, wenn
die Ausländerbehörden verspätet über das Inkrafttreten des Abkommens im
Verhältnis zur Türkei unterrichtet worden sein sollten.
Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach
Art. 3 Abs. 3 ENA, weil er einen mehr als zehnjährigen ordnungsgemäßen
Aufenthalt im Sinne dieser Vorschrift aufweisen kann. Die Ordnungsgemäßheit des
Aufenthalts des Ausländers im Sinne des ENA setzt voraus, daß er den nationalen
Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland über Einreise, Aufenthalt,
Freizügigkeit und Ausübung einer Erwerbstätigkeit entspricht, insbesondere sein
Aufenthalt erlaubt ist (Hess. VGH, 10.07.1995 - 12 TG 1800/95 -, EZAR 030 Nr. 3;
zuletzt: 09.11.1995 - 12 TG 2783/95 - demn. EZAR 035 Nr. 12 DVBl. 1996, 216 nur
Leitsatz).
Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen
des Art. 3 Abs. 3 ENA vorliegen, ist allerdings nicht der der Prüfung der
Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung grundsätzlich zugrundezulegende
Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung, sondern der der Bekanntgabe der
Grundverfügung durch die Ausländerbehörde. Das Abstellen auf den späteren
Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides würde dazu führen, daß
derjenige Ausländer, der sich auf den Ausweisungsschutz des ENA berufen kann,
die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 3 ENA schon deshalb nicht erfüllen könnte,
weil er mit Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung die für den ordnungsgemäßen
Aufenthalt erforderliche gefestigte aufenthaltsrechtliche Position die ihm
grundsätzlich nur eine Aufenthaltsgenehmigung zu verschaffen vermag, verliert
(Hess. VGH, 09.11.1995 - 12 TG 2783/95 -, a. a. O., auch dazu, daß ein vorläufiger
verfahrensbedingter Aufenthalt kein ordnungsgemäßer im Sinne des Art. 3 Abs. 3
ENA ist). Denn sowohl gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 4 des vorliegend anzuwendenden
Ausländergesetzes 1965 als auch gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG erlischt eine
Aufenthaltsgenehmigung - das Ausländergesetz 1965 kannte insoweit nur die
Aufenthaltserlaubnis und die Aufenthaltsberechtigung -, wenn der Ausländer
ausgewiesen wird. Diese Wirkung der Ausweisung wird auch nicht durch die
Einlegung der Rechtsbehelfe Widerspruch und Anfechtungsklage, die gemäß § 80
Abs. 1 VwGO grundsätzlich aufschiebende Wirkung haben, beseitigt. Vielmehr
bleibt der weitere Aufenthalt des Ausländers unrechtmäßig, bis die
Ausweisungsverfügung in einem Hauptsacheverfahren als rechtswidrig aufgehoben
wird.
Für das neue Ausländerrecht folgt das aus § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG. Nach dieser
Vorschrift lassen Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden
Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsaktes,
der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt. Mit dieser Regelung
stellte der Gesetzgeber klar, daß nach seinem Willen die Rechtmäßigkeit des
Aufenthalts mit Erlaß einer entsprechenden Verfügung ungeachtet ihrer
Anfechtung enden soll (BT-Drs. 11/6321, S. 81). Nichts anderes kann aber für die
Ausweisung nach § 10 AuslG 1965 gelten. Allerdings kennt dieses eine dem § 72
Abs. 2 AuslG vergleichbare Regelung nicht. In der Kommentierung zum
Ausländergesetz 1965 wird die Auffassung vertreten, erst die rechts- bzw.
bestandskräftige Ausweisungsverfügung führe zum Erlöschen einer
Aufenthaltserlaubnis bzw. Aufenthaltsberechtigung (Kanein, Ausländerrecht, 4.
Aufl., § 9 AuslG Rdnr. 6; Huber, Ausländer- und Asylrecht, Rdnr. 261, 319;
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Aufl., § 9 AuslG Rdnr. 6; Huber, Ausländer- und Asylrecht, Rdnr. 261, 319;
Kloesel/Christ, Deutsches Ausländerrecht, 2. Aufl., § 9 AuslG Anm. 6, Stand: Januar
1990: Die Aufenthaltserlaubnis erlischt nicht, wenn durch einen gegen die
Ausweisung eingelegten Rechtsbehelf die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1
VwGO eingetreten ist), ohne dies jedoch zu begründen.
Indes folgt bereits aus den verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen über die
Wirksamkeit von Verwaltungsakten im Zusammenhang mit der Regelung über die
Wirkung von Rechtsbehelfen gegen belastende Verwaltungsakte in § 80 VwGO, daß
die Wirkungen der Ausweisungsverfügung nicht erst mit Bestandskraft des
Verwaltungsaktes eintreten bzw. die Einlegung von Rechtsbehelfen diese nicht
beseitigt. Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz vom 25. Mai 1976
(BGBl. I S. 1976, 1253) in der Fassung der letzten Änderung vom 14. September
1994 (BGBl. I S. 2325) - VwVfG - wird ein Verwaltungsakt trotz der insoweit
mißverständlichen Überschrift des zweiten Abschnitts des VwVfG mit
"Bestandskraft des Verwaltungsakts" nicht erst im Zeitpunkt der Erlangung der
Bestandskraft wirksam, sondern bereits im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe an den
Adressaten oder von ihm Betroffenen und bleibt gemäß § 43 Abs. 2 VwVfG
wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig
aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Der Eintritt
der Wirksamkeit des Verwaltungsaktes ist nicht auf die äußere Wirksamkeit
beschränkt, also auf das Existentwerden des Verwaltungsaktes gegenüber dem
Adressaten oder von ihm Betroffenen überhaupt. Er erfaßt auch die innere
Wirksamkeit des Verwaltungsaktes, d. h. die mit ihm intendierte bzw. kraft
Gesetzes damit verbundenen Rechtswirkungen gegenüber der Behörde, dem
Adressaten, dem Betroffenen oder sonstigen Dritten. Dies folgt bereits aus der
gesetzlichen Regelung des § 43 Abs. 1 Satz 2 VwVfG, wonach der Verwaltungsakt
mit dem Inhalt, mit dem er bekanntgegeben wird, wirksam wird.
Allerdings kann der Eintritt der inneren Wirksamkeit auch von anderen als in § 43
VwVfG genannten Voraussetzungen abhängen, insbesondere kraft Gesetzes oder
nach dem Inhalt des Verwaltungsakts, beispielsweise durch aufschiebende
Bedingung oder Setzung eines konkreten Termins für den Eintritt der Wirksamkeit,
auf einen späteren Zeitpunkt aufgeschoben sein (vgl. Kopp, VwVfG, 5. Aufl., § 43
Rdnr. 4 bis 6 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen). Diese Rechtslage
entspricht den bereits vor Inkrafttreten des VwVfG in der Rechtsprechung
entwickelten verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen (s. insoweit statt
vieler BVerwG, 21.06.1961, - VIII C 398.59 -, BVerwGE 13, 1 ff).
Die gesetzliche Regelung in § 9 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1965 läßt nicht erkennen, daß
nach dem Willen des Gesetzgebers die Erlöschenswirkung der Ausweisung erst
nach Bestandskraft ihrer Verfügung durch die Ausländerbehörde eintreten sollte.
Vielmehr spricht der Wortlaut des § 9 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1965 mit der
Formulierung "ausgewiesen wird" für den Eintritt der Wirksamkeit der
Ausweisungsverfügung bereits mit ihrer Bekanntgabe. Auch der
Entstehungsgeschichte läßt sich nicht entnehmen, daß nach dem Willen des
Gesetzgebers die Erlöschenswirkung der Ausweisung erst im Falle ihrer
Bestandskraft eintreten sollte. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, so hätte es
nahegelegen, daß er dies in Kenntnis der im Zeitpunkt der Verabschiedung des
Ausländergesetzes 1965 geltenden Verfahrensgrundsätze und der hierzu
ergangenen höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung durch eine
entsprechende Formulierung im Gesetzestext deutlich zum Ausdruck gebracht
bzw. den Gesetzestext insoweit später entsprechend geändert hätte, wie es im
Rahmen der Neuregelung des Ausländerrechts in § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG erfolgt
ist.
Die Wirkungen der Ausweisung, insbesondere das Erlöschen der
Aufenthaltsgenehmigung, werden auch nicht durch Widerspruch und
Anfechtungsklage, die gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung haben,
suspendiert. Dies wäre nur dann der Fall, wenn man die aufschiebende Wirkung
dieser Rechtsbehelfe in dem Sinne versteht, daß sie die äußere und innere
Wirksamkeit der Ausweisungsverfügung hemmen, was in Teilen der Literatur und
Rechtsprechung angenommen wird (sogenannte Wirksamkeitstheorie, vgl. Kopp,
VwGO, 10. Aufl., § 80 Rdnr. 15 mit zahlreichen Nachweisen).
Der Senat folgt indes der inzwischen herrschenden Auffassung, daß die
aufschiebende Wirkung nur die Rechtswirkungen des angefochtenen
Verwaltungsaktes, also dessen Vollziehbarkeit suspendiert und weder die innere
noch die äußere Wirksamkeit des Verwaltungsaktes berührt (sogenannte
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noch die äußere Wirksamkeit des Verwaltungsaktes berührt (sogenannte
Vollziehbarkeitstheorie, dazu grundlegend: BVerwG, 21.06.1961, a. a. O.; vgl. auch
Kopp, VwGO, a. a. O., § 80 Rdnr. 12 m. w. N.; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger
Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 3. Aufl., 1986, Rdnr. 487). Insoweit ist
der Hinweis in der oben zitierten Kommentierung von Kloesel/Christ zu § 9 Abs. 1
Nr. 4 AuslG 1965 auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 1961
zur Unterstützung der Auffassung, daß die Ausweisung mit Einlegung eines
Rechtsbehelfs erlösche, unzutreffend.
Auch der Senat geht davon aus, daß bereits der Wortlaut des § 80 VwGO in seinen
Absätzen 2 Nr. 4 und 3 ("sofortige Vollziehung") sowie Abs. 4 ("Vollziehung") für die
Hemmung nur der Vollziehbarkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes spricht.
Verdeutlicht wird dies durch den Regelungsgehalt des Abs. 2 Nr. 4, der die
Möglichkeit der vorläufigen Ausschaltung der aufschiebenden Wirkung nach Abs. 1
durch die Behörde regelt. Hierzu bedarf es danach gerade nicht der
Wiederherstellung der Wirksamkeit des Verwaltungsaktes durch seine erneute
Inkraftsetzung bzw. Neuerlaß, sondern nur der Verwirklichung der in ihm
ausgesprochenen oder sich aus ihm ergebenden weiteren Rechtsfolgen durch die
Anordnung seiner "sofortigen Vollziehung" (BVerwG, 21.06.1961, a. a. O.). Dieses
Ergebnis wird durch § 43 Abs. 2 VwVfG bestätigt, wonach ein Verwaltungsakt
wirksam bleibt, solange er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig
aufgehoben worden oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Die
Anfechtung des Verwaltungsaktes ist hier als die Wirksamkeit des
Verwaltungsaktes beendender Tatbestand nicht genannt. Insbesondere aber
spricht der Zweck der aufschiebenden Wirkung, nämlich effektiven vorbeugenden
Rechtsschutz vor dem Verwaltungsakt zu gewähren, für die Annahme lediglich
einer Vollzugshemmung. Denn hierfür genügt es, daß für die Dauer des
Schwebezustandes, in dem Ungewißheit über den Erfolg der Anfechtung besteht,
keine Maßnahme angeordnet oder vollzogen werden darf, die den Betroffenen
belasten könnte und die Rechtswirksamkeit des Verwaltungsamtes voraussetzen
würde. Demgegenüber ginge die Suspendierung der Wirksamkeit des
Verwaltungsaktes insbesondere hinsichtlich der dadurch ausgelösten Folgen weit
über den bezweckten vorläufigen Rechtsschutz hinaus, zumal die aufschiebende
Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO grundsätzlich auch im Falle der Unzulässigkeit
oder offensichtlichen Unbegründetheit des Rechtsbehelfs eintritt.
Den darüber hinausgehenden Interessen des Betroffenen ist allerdings dadurch
Rechnung zu tragen, daß er im Falle der Aufhebung des ihn belastenden
Verwaltungsaktes seiner ihm entzogenen Rechtsstellung nicht verlustig bleibt,
sondern er so zu stellen ist, wie es einer von Anfang an gegebenen vollen
Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes entsprochen hätte (Kopp, VwGO, a. a. O., §
80 Rdnr. 16 m. w. N.). Für den Bereich des neuen Ausländerrechts ist dies
nunmehr in § 72 Abs. 2 Satz 2 AuslG ausdrücklich geregelt. Danach tritt eine
Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht ein, wenn der sie
beendende Verwaltungsakt durch behördliche oder unanfechtbare gerichtliche
Entscheidung aufgehoben wird.
Der Kläger hielt sich in dem danach maßgeblichen Zeitpunkt der
Ausweisungsverfügung seit mehr als zehn Jahren ordnungsgemäß im
Bundesgebiet auf. Er war vom Zeitpunkt seiner Einreise am 30. August 1979 bis
zur Vollendung des 16. Lebensjahres am 23. Dezember 1979 gemäß § 2 Abs. 2
Nr. 1 AuslG 1965 vom Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis befreit. Auf seinen vor
Vollendung des 16. Lebensjahres formgerecht gestellten Antrag wurde ihm mit
Bescheid vom 18. Juni 1980 eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die in der
Folgezeit auf jeweils rechtzeitig gestellte Anträge hin mehrfach verlängert worden
ist. Im Zeitpunkt der Ausweisung verfügte er über eine am 24. Mai 1985 nach
Maßgabe des § 8 AuslG 1965 erteilte Aufenthaltsberechtigung. Er hielt sich damit
im Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung seit zehneinhalb Jahren
ordnungsgemäß im Bundesgebiet auf. Insbesondere ist in dem Zeitraum von der
Vollendung des 16. Lebensjahres bis zum Erlaß der Aufenthaltserlaubnis am 18.
Juni 1986 keine schädliche Unterbrechung des ordnungsgemäßen Aufenthalts im
Sinne des Art. 3 Abs. 3 ENA zu sehen. Denn dem Kläger stand vom Zeitpunkt der
Antragstellung bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde die fiktive
Aufenthaltserlaubnis des § 21 Abs. 3 Satz 1 AuslG 1965 zur Seite, die den
Aufenthalt uneingeschränkt erlaubte (BVerwG, 15.12.1981 - 1 C 145.80 -, InfAuslR
1982, 86 = DVBl. 1982, 306 = EZAR 221 Nr. 18). Nach Erlaß der
Aufenthaltserlaubnis ist er rückwirkend so zu behandeln als habe er während des
fraglichen Zeitraumes nicht ein nur vorläufiges Aufenthaltsrecht besessen (Hess.
VGH, 09.11.1995 - 12 TG 2783/95 -, a. a. O.).
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Die Erlaubnisfiktion erlosch auch nicht durch die zunächst erfolgte Ablehnung der
Aufenthaltserlaubnis durch die Beklagte mit Bescheid vom 14. März 1980. Der
Kläger hatte dagegen Widerspruch eingelegt und beim Verwaltungsgericht um
vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Bei der Verfügung vom 18. Juni 1980, mit
der die Beklagte den ablehnenden Bescheid vom 14. März 1980 "widerrufen" und
dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hatte, handelte es sich in Wahrheit
um die Abhilfe des von ihm eingelegten Widerspruches, die offenbar auch unter
der Voraussetzung erfolgen sollte, daß der Kläger seinen Eilantrag beim
Verwaltungsgericht zurücknimmt, wie dem Aktenvermerk vom 21. Mai 1980 (Bl. 32
der Behördenakte) zu entnehmen ist. Daß die Beklagte am 18. Juni 1980 eine
Abhilfeentscheidung in dem anhängigen Widerspruchsverfahren getroffen und
nicht in einem neuen Verfahren über einen erneuten Antrag des Klägers
entschieden hat, folgt auch aus dem Schreiben der Ausländerbehörde an das
Rechtsamt der Beklagten vom 23. April 1980, in dem vorgeschlagen wird, das
Widerspruchsverfahren auszusetzen, bis feststehe, daß die Mutter des Klägers
eingereist sei. Diese Art der Verfahrensführung durch die Beklagte kann jedoch
nicht dem Kläger zum Nachteil gereichen. Vielmehr ist das Verfahren vom
Zeitpunkt der Antragstellung bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis mit
Verfügung vom 18. Juni 1980 als ein Antragsverfahren anzusehen, währenddessen
dem Kläger die Erlaubnisfiktion des § 21 Abs. 3 AuslG 1965 zugute kam. Bei
korrekter Handhabung hätte die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen die
Verfügung vom 14. März 1980 zurückweisen und ihn auf eine erneute
Antragstellung nach Einreise seiner Mutter verweisen müssen.
Somit steht fest, daß der Kläger nur unter den erschwerten Voraussetzungen des
Art. 3 Abs. 3 ENA ausgewiesen werden kann. Dies erfordert eine negative
Gefahrenprognose dahingehend, daß die Wiederholung einer besonders
gewichtigen Störung der öffentlichen Sittlichkeit oder Ordnung ernsthaft zu
befürchten ist. Daran schließt sich im Falle der Ermessensausweisung - wie
vorliegend - eine Ermessensentscheidung unter Abwägung der für und gegen den
Verbleib des Ausländers sprechenden Gründe an, die allerdings an dem
besonderen Ausweisungsschutz des Art. 3 Abs. 3 ENA ausgerichtet sein muß.
Nach Auffassung des Senats sind vorliegend besonders schwerwiegende
Ausweisungsgründe im Sinne des Art. 3 Abs. 3 ENA gegeben. Wann Gründe der
öffentlichen Ordnung, die eine Ausweisung rechtfertigen, als besonders
schwerwiegend anzusehen sind, läßt sich nicht allgemein festlegen. Die
strafrechtliche Qualifizierung einer Handlung des Ausländers als Verbrechen oder
Vergehen ist für sich ebensowenig entscheidend wie etwa die strafrichterliche
Wertung eines gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstoßenden
Verhaltens als nicht besonders schwerwiegend (BVerwG, 25.04.1968 - 1 C 72.65 -,
Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 3). Maßgebend sind die konkreten Umstände des
Einzelfalls; dabei sind Art, Schwere und Häufigkeit bisher begangener Straftaten
ebenso erheblich wie z. B. die Folgen dieser Tat (BVerwG, 25.10.1977 - 1 C 31.74 -,
BVerwG 55, 8). Nach dem Sinn der Vertragsbestimmung soll in den Fällen eines
sehr langen ordnungsgemäßen Aufenthalts die Ausweisung nur noch zulässig sein,
wenn sie für den Staat unvermeidbar erscheinen muß, wenn also die
maßgebenden Gründe so gewichtig sind, daß die Anwesenheit des Ausländers
auch bei Anlegung strenger Maßstäbe nicht länger hingenommen werden kann.
Diese Beurteilung ist an den Ausweisungszwecken auszurichten, nämlich daran,
daß die Ausweisung künftigen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
oder Beeinträchtigungen erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland
vorbeugen soll (BVerwG, 19.10.1982 - 1 C 100.78 -, EZAR 124 Nr. 6 = NVwZ 1983,
227; BVerwG, 18.08.1981 - 1 C 23.81 -, BVerwGE 64, 13 = EZAR 124 Nr. 5 = NVwZ
1982, 117; Hess. VGH, 24.04.1995 - 12 UE 3028/94 -). Art, Schwere und Häufigkeit
bisher begangener Straftaten sind dabei von Bedeutung, entscheidend ist jedoch
Art und Maß der zukünftig von dem Ausländer ausgehenden Gefahr (Hess. VGH,
24.04.1995 - 12 UE 1878/94 -). Es muß deshalb eine konkrete Gefahr einer neuen
Störung gegeben sein, an deren Wahrscheinlichkeit keine zu geringen
Anforderungen gestellt werden dürfen (BVerwG, 18.08.1981 - 1 C 23.81 -, a. a. O.).
Hierbei können Beurteilungshilfen die Maßstäbe bieten, die für die Ausweisung von
Ausländern gelten, die mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet sind
(BVerwG, 18.08.1981 - 1 C 23.81 -, a. a. O.; VGH Baden-Württemberg, 12.02.1990
- 1 S 788/89 -, EZAR 124 Nr. 12; zu den Anforderungen an die Bejahung besonders
schwerwiegender Gründe im Sinne des Art. 3 Abs. 3 ENA vgl. auch Hess. VGH,
10.07.1995 - 12 TG 1800/95 -, EZAR 030 Nr. 3). Dabei handelt es sich bei dem
Begriff der besonders schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung um
einen gerichtlich voll nachprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff, der von der
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einen gerichtlich voll nachprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff, der von der
Ausländerbehörde durch Feststellung entsprechender Tatsachen auszufüllen ist
und bei dessen Prüfung ihr insoweit kein Ermessensspielraum zusteht (Hess. VGH,
08.08.1994 - 12 UE 2589/93 -; 08.05.1995 - 12 UE 3336/94 - EZAR 032 Nr. 11;
09.11.1995 - 12 TG 2783/95 -, a. a. O.).
Bei Anwendung dieser Vorgaben ist das Vorliegen besonders schwerwiegender
Ausweisungsgründe im Sinne des Art. 3 Abs. 3 ENA im Falle des Klägers zu
bejahen. Dabei finden die oben ausgeführten Grundsätze über den
zugrundezulegenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab bei der Ausweisung wegen
Gewalttaten, wonach die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit weiterer
Straftaten um so geringer sind, je gewichtiger die abgeurteilte Straftat und je
gravierender die Tatfolgen sind, auch im Bereich des Art. 3 Abs. 3 ENA
Anwendung.
Danach rechtfertigen der Anlaß der zur Ausweisung führenden vom Kläger
begangenen Straftat, die Art und Weise ihrer Planung und Durchführung sowie ihre
Folgen, aber auch das Verhalten des Klägers nach der Tat die begründete
Annahme, daß die Wiederholung eines derart gravierenden Verstoßes ernsthaft zu
befürchten ist. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, daß der Anlaß für die Tat in
einem besonders krassen Mißverhältnis zu ihren Folgen steht. Der Kläger plante
und realisierte die vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen aus einem
vergleichsweise nichtigen Anlaß, nämlich weil er sich um eine von ihm geleistete
Kaufpreiszahlung betrogen, und, nach den getroffenen Feststellungen durch das
Landgericht, wohl auch in seiner Ehre als Geschäftsmann verletzt sah. Hinzu
kommt, daß der Kläger sich nicht zu einer Affekt- oder Leidenschaftstat hat
hinreißen lassen. Vielmehr wurde der Überfall auf das spätere Opfer wohlüberlegt
geplant. Zeitpunkt und Ort der Begehung wurden so gewählt, daß das Opfer keine
Chance hatte, dem Anschlag auf sein Leben zu entgehen. Um das Risiko einer
Entdeckung möglichst gering zu halten, handelte der Kläger nicht selbst, sondern
bestimmte seinen jüngeren offensichtlich leicht beeinflußbaren Bruder zur
Tatbegehung. Besonderes Gewicht kommt der an den Tag gelegten enormen
Brutalität des Vorgehens zu. Denn es wurde ein Tatwerkzeug, nämlich eine
eineinhalb Meter lange an einem Ende mit Beton gefüllte Eisenstange, ausgewählt,
das eine kontrollierte Handhabung von vornherein nicht zuließ. Dies zeigt deutlich,
daß es dem Kläger nicht lediglich auf einen Denkzettel, auf eine "Züchtigung"
ankam, sondern daß brutal Vergeltung geübt werden sollte unter Inkaufnahme der
später eingetretenen schweren Folgen. Demgegenüber fallen bei der
anzustellenden Gefahrenprognose die zugunsten des Klägers sprechenden
Umstände nicht entscheidend ins Gewicht. Allerdings ist der Kläger vor Begehung
der Tat nicht straffällig oder sonst einschlägig auffällig geworden. Auch hat er nach
der Tat den Strafvollzug beanstandungsfrei und unauffällig bewältigt, was
offensichtlich zur Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nach Verbüßung von
zwei Dritteln der Haftstrafe führte. Dies allein vermag jedoch im Hinblick auf die
soeben getroffenen Feststellungen eine ihm günstige Gefahrenprognose nicht zu
begründen. Insbesondere hindert die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung
nach Teilverbüßung nicht eine negative ordnungsrechtliche Gefahrenprognose.
Denn die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB, die u. a.
erfolgt, wenn verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb
des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird, setzt die Überzeugung,
der Ausländer werde in Zukunft nicht mehr straffällig werden, die auch im Rahmen
der ordnungsrechtlichen Gefahrenprognose von erheblichem Gewicht ist, nicht
voraus (BVerwG, 19.10.1982 - 1 C 100.78 -, EZAR 124 Nr. 6 = NVwZ 1983, 227).
Dies schließt eine Berücksichtigung strafprozessualer Beurteilung des künftigen
Verhaltens eines Ausländers nicht schlechthin aus. Vielmehr kann diese bei der
anzustellenden prognostischen Entscheidung von Bedeutung sein, eine rechtliche
Bindung besteht aber nicht (BVerwG, 17.10.1984 - 1 B 61.84 -, EZAR 121 Nr. 5 =
DVBl. 1985, 570; Hess. VGH, 20.10.1992 - 12 TH 1509/92 -, EZAR 034 Nr. 1 =
InfAuslR 1993, 50). Vorliegend vermag der ohne nähere Begründung ergangene
Beschluß des Landgerichts Darmstadt vom 25. März 1993 über die Aussetzung
der Reststrafe zur Bewährung eine dem Kläger günstige Prognose nicht zu
begründen. Voraussetzung hierfür wäre vielmehr zumindest, daß der Kläger sich
mit den Ursachen und Folgen seiner Tat auseinandergesetzt hätte, und zwar in
einer Art und Weise, die erkennen ließe, daß er dazu imstande ist, künftig in
vergleichbaren Situationen nicht in gleicher Weise zu handeln. Davon kann jedoch
auch nicht ansatzweise gesprochen werden. Im Gegenteil wird aus dem Schreiben
des Klägers vom 9. August 1990 an die Ausländerbehörde der Beklagten (Bl. 223
der Behördenakte), in dem er um nochmalige Überprüfung der
Ausweisungsverfügung sowie der Möglichkeit der Erteilung einer
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Ausweisungsverfügung sowie der Möglichkeit der Erteilung einer
Bewährungsduldung bittet, deutlich, daß eine ernsthafte Auseinandersetzung mit
der Tat überhaupt nicht stattgefunden hat. So schildert er recht ausführlich
zunächst sein Vorleben im Bundesgebiet bis zur Tat und seine Zufriedenheit mit
sich selbst und seinem Leben bis dahin. Er berichtet von den Problemen seiner
Familie infolge seiner Inhaftierung. Die Tat selbst wird aber als Unglücksfall für ihn
und insbesondere die Familie angesehen, für die danach nicht etwa die Tat,
sondern seine Inhaftierung ein großer Schock war. Für den Kläger ist offenbar
entscheidend, daß die Familie und er durch Tätigung ihrer Investitionen im
Bundesgebiet und regelmäßige Zahlung der Steuern Leistungen erbracht hätten,
die nunmehr zu honorieren seien. Er empfindet vor diesem Hintergrund die
Ausweisung als ungerechte Behandlung, mit den von ihm gesetzten Ursachen
hierfür findet aber überhaupt keine ernsthafte Auseinandersetzung statt.
Insgesamt läßt die Bewertung der sich aus den Umständen und der Begehung der
Straftat sowie dem nachfolgenden Verhalten ergebende Gesamtbild von der
Persönlichkeit des Klägers ernsthaft befürchten, daß er sich auch künftig in
vergleichbaren Situationen ähnlich verhält und vergleichbare Straftaten begehen
wird.
Indessen ist die Ausweisung ermessensfehlerhaft erfolgt. Die in der
Ausweisungsverfügung der Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides
angestellten Ermessenserwägungen sind aus Rechtsgründen zu beanstanden, weil
die behördliche Ermessensentscheidung ersichtlich nicht an der letztlich
maßgeblichen Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 ENA ausgerichtet ist. Die
Ausländerbehörden haben bei ihrer Ermessensentscheidung über eine Ausweisung
alle für und gegen diese Maßnahme sprechenden Belange gegeneinander
abzuwägen. In diese Abwägung sind sämtliche maßgeblichen tatsächlichen und
rechtlichen Gesichtspunkte einzustellen (BVerwG, 16.06.1970 - I C 47.69 -,
BVerwGE 35, 291; vgl. auch Kopp, VwGO, a. a. O., § 114 Rdnr. 12). Die
Nichtberücksichtigung wesentlicher tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte
führt zur Unvollständigkeit der Ermessensentscheidung und damit zu ihrer
Fehlerhaftigkeit.
Dieser Ermessensfehlgebrauch kann im gerichtlichen Verfahren nicht korrigiert
werden, da die Gerichte im Falle von Ermessensentscheidungen den
Verwaltungsakt im Rahmen des durch § 114 VwGO vorgegebenen
Prüfungsumfanges nur auf das Vorliegen von Ermessensfehlern überprüfen und
eigene Erwägungen nicht an die Stelle unterlassener oder fehlerhafter Erwägungen
im Verwaltungsakt stellen dürfen.
Ausweislich des Inhalts des insoweit allein maßgeblichen Widerspruchsbescheides
war sich die Widerspruchsbehörde darüber, daß dem Kläger der besondere
Ausweisungsschutz des Art. 3 Abs. 3 ENA zugute kommt, erkennbar nicht im
klaren. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß sie gar nicht erkannt hat, daß auf
ihn der Ausweisungsschutz dieser Vorschrift anzuwenden ist. Denn der im übrigen
ausführlich gehaltene Widerspruchsbescheid setzt sich eingehend mit der
möglichen Ausweisung des Klägers, insbesondere aus spezial- aber auch aus
generalpräventiven Gründen auseinander, erörtert das Fehlen des
Ausweisungsschutzes nach § 11 Abs. 1 AuslG 1965 und behandelt im Rahmen der
Ermessenserwägungen ausführlich den Gesichtspunkt der Doppelbestrafung. Im
Bescheid ist jedoch mit keinem Wort die Möglichkeit erhöhten
Ausweisungsschutzes nach Art. 3 Abs. 3 ENA erwähnt. Die im
Widerspruchsbescheid angegebenen spezialpräventiven Erwägungen sind
ersichtlich nicht an der letztlich maßgeblichen Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 ENA
ausgerichtet. Die Ausführungen lassen vielmehr erkennen, daß sich die
Widerspruchsbehörde ausschließlich an den Anforderungen des nationalen Rechts
an eine Ermessensausweisung, das an das Vorliegen besonders schwerwiegender
Ausweisungsgründe gerade nicht anknüpft, orientiert hat. Dies führt zur
Unvollständigkeit der Ermessensentscheidung und damit zur Rechtswidrigkeit der
Ausweisungsverfügung insgesamt, so daß unter Abänderung des
Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Darmstadt die Bescheide
aufzuheben waren.
Die Beklagte hat die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen (§§ 154 Abs. 1,
155 Abs. 1 Satz 3 VwGO). Zwar hat die Beklagte hinsichtlich der vom Kläger
angegriffenen Abschiebungsanordnung obsiegt. Indes kommt nach der
Rechtsprechung des Senats der Abschiebungsanordnung ebenso wie der
Abschiebungsandrohung kein eigenständiges Gewicht zu, so daß von einem
Unterliegen des Klägers nur zu einem geringen Teil i.S.d. § 155 Abs. 1 Satz 3
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Unterliegen des Klägers nur zu einem geringen Teil i.S.d. § 155 Abs. 1 Satz 3
VwGO auszugehen ist. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit
ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.